Patrick Reinbott - Kommentare
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Alle Kommentare von Patrick Reinbott
Schon in seinem letzten Film „Short Term 12“ beschäftigte sich Destin Daniel Cretton mit der Tatsache, dass Familie etwas ist, das man sich nicht aussuchen kann. Die durch eigene Erfahrungen inspirierte Geschichte über ein Heim für schwer erziehbare oder extrem problembelastete Kinder und Jugendliche sowie diejenigen, die sich dem Schicksal dieser jungen Menschen annehmen, formte der Regisseur zu einem sensibel erzählten, mit zahlreichen emotionalen Höhen und Tiefen angereicherten Werk, das Cretton auf einen Schlag als neues Wunderkind im amerikanischen Indie-Sektor etablierte.
Für seinen dritten Langfilm „The Glass Castle“, der auf den gleichnamigen Memoiren von Jeannette Walls beruht, führt der Regisseur die Thematik des Familiären fort und beschäftigt sich mit der autobiographischen Lebensgeschichte der Autorin und Journalistin. Cretton setzt im New York des Jahres 1989 an, in dem Jeanette als stilvoll gekleidete, erfolgreiche Frau an der Seite ihres Verlobten David auftritt, der ebenfalls erfolgreich als Finanzberater arbeitet. Die geplante Hochzeit des Paares wird jedoch von dem Umstand überschattet, dass Jeanette in sämtlichen Gesprächen, die sie im Beisein von David mit potentiellen Kunden führt, falsche Informationen über ihre Eltern erzählt. In ausführlichen Rückblenden, die der Regisseur regelmäßig zwischen die Szenen des 80er-Jahre-Handlungsstranges schneidet, rollt Cretton Jeannettes Familiengeschichte von ihrer frühesten Kindheit her auf.
Stück für Stück beleuchtet er so, wie sich aus einem Mädchen mit drei weiteren Geschwistern und zwei Eltern, von denen der Vater alkoholabhängig und die Mutter eine freigeistige Künstlerin ist, jene Frau entwickelt hat, die nur mithilfe von Lügengeschichten vor ihrer eigenen Vergangenheit Schutz suchen kann. Mit einer einfühlsamen Ausgeglichenheit, die der Regisseur zuvor auch schon in „Short Term 12“ einbrachte, verwandelt Cretton Jeannettes Lebensgeschichte in ein umfassendes Familienporträt, in dem er weichgezeichnete Hochglanzbilder gängiger Indie-Produktionen genauso aufbietet wie er sie im nächsten Moment als ernüchternden, düsteren Trugschluss entlarvt.
Der zwiespältige, hin und her gerissene Erzählton von „The Glass Castle“ spiegelt sich hierbei nahezu perfekt in Woody Harrelsons wieder einmal überragend gespielter Figur von Jeannettes Vater Rex wider. Dem temperamentvollen Alkoholiker ist es geschuldet, dass die Familie in den 60ern und 70ern ständig dazu gezwungen wird, in ein neues Zuhause umzuziehen. In diesem Zusammenhang führt der finanzielle Notstand irgendwann dazu, dass sie neben kaum vorhandenen Nahrungsmitteln nicht einmal mehr über Strom oder fließendes Wasser verfügen. In einer herzzerreißenden Szene schildert der Regisseur die Hungersnot der Geschwister, wenn die jüngste der Schwestern verzweifelt über ein Stück Butter herfällt, das Jeannette zuvor mit Zucker zu einer süßen Masse verrührt hat.
Das Leid der Familie verkommt unter Crettons Regie trotzdem nie zum voyeuristisch-manipulativen Faktor, sondern wird von vielen Momenten ergänzt, in denen vor allem die Ambivalenz der komplexen Vaterfigur eine wichtige Rolle spielt. Auch wenn Rex durch seinen Alkoholismus und dem damit einhergehenden, regelmäßigen Verlust von Jobs kaum mehr fähig ist, für seine Familie zu sorgen, was er sich in Anwesenheit seiner Kinder in teilweise schmerzhaft eindringlichen Augenblicken selbst eingestehen muss, verweist der Regisseur im Verhalten des Vaters unentwegt auf die schwierigen Facetten dieser Krankheit, die gleichermaßen von Höhen und Tiefen begleitet wird.
Neben den unverantwortlichen Handlungen und schockierenden Missständen, die Cretton aus Jeannettes Biographie keineswegs ausspart, stellt sich „The Glass Castle“ in Teilen auch als eine persönliche Huldigung an die mitunter kreativen, aufopferungsvollen Gesten eines Vaters heraus, der nicht nur unentwegt mit dem Kopf in den Wolken hängt, wenn es um die Zukunft seiner Familie geht, sondern seinen Kindern beispielsweise anbietet, dass sich diese einen Stern am Himmel aussuchen dürfen, da ihm kein Geld für den Kauf von Weihnachtsgeschenken zur Verfügung steht.
Zwischen berührenden Einlagen, die sich nur selten am Rande von verklärendem Kitsch bewegen, hartem Realismus, der die ausweglose Situation dieser Familie ein ums andere Mal schonungslos abbildet, und einem sprunghaften Erzählrhythmus, der die verschiedenen Zeitebenen aufgrund der tollen Darsteller in weitestgehend sinnvollen Übergängen verknüpft, wirkt „The Glass Castle“ lediglich gegen Ende zu glattgebügelt und versöhnlich. Obwohl die Autorin ihrer eigenen Geschichte im Nachhinein selbst einen Artikel veröffentlichte, in dem sie für Crettons Umgang mit der Vorlage überaus lobende Worte fand und Befürchtungen einer möglichen „Hollywoodisierung“ zerschlug, erscheinen die Ecken und Kanten, die der Regisseur im Laufe des Films in seinem Film anbringt, ganz zum Schluss dann doch etwas zu abgerundet und sauber abgeschliffen. Ein talentierter, emotional hingebungsvoller Regisseur, der großartige Schauspielführung längst auf bemerkenswerte Weise verinnerlicht zu haben scheint, bleibt der 38-jährige Filmemacher aber weiterhin.
Mit einem ungewohnten Blickwinkel eröffnet Michael Haneke seinen neuen Film „Happy End“. Die vertikal im Hochformat gefilmten Videoaufnahmen eines Smartphones würde man sicherlich eher in einem der modernen Horrorfilme vermuten, die sich der Technologie unserer Gegenwart bedienen, und weniger in einem Werk des mittlerweile 75-jährigen Regisseurs. Zu Beginn ist es die eigene Mutter, die von ihrer 13 Jahre alten Tochter Eva im Bad gefilmt wird, wobei das Mädchen jede Handlung der Frau aus sicherer Entfernung in kurzen Textfetzen geradezu dirigiert. Ähnlich wie die Videokamera in „Benny’s Video“, auf der ein grauenvoller, kaum erträglicher Mord festgehalten wird, oder die Videobänder in „Caché“, die gerade aufgrund ihrer unspektakulären Bilder eine umso beunruhigendere Wirkung ausstrahlen, nutzt Hanke die Möglichkeiten zeitgemäßer Technik abermals, um seine Figuren in anonyme Distanz zu hüllen, in der ihr wahres Ich erst vollends zum Vorschein kommt.
Nachdem Eva noch im Vorspann des Films mit ihrem iPhone dokumentiert, wie sie ihrem Hamster Antidepressiva der Mutter ins Futter gemischt hat und den Tod des Tieres lediglich mit einem lapidaren „voilà“ kommentiert, wähnt man sich spätestens in dieser Szene als Haneke-erfahrener Zuschauer in jener gefühlslosen Eiseskälte wieder, die beinahe jeden Film des österreichischen Provokateurs durchzieht. Nachdem er in seinem fünf Jahre zurückliegenden Meisterwerk „Amour“ ungewohnt einfühlsame, warme Töne angeschlagen hatte, markiert „Happy End“ eine überdeutliche Rückkehr Hanekes zu dessen Lieblingsmotiven.
Im Mittelpunkt der Handlung befindet sich eine reiche Bauunternehmerfamilie, die abgeschottet vom politischen Weltgeschehen um sich herum in einem eindrucksvollen Anwesen haust. Während Großvater und Familienoberhaupt Georges im hohen Alter ebenso verbittert wie lebensmüde nur noch nach dem eigenen Ableben strebt, liegt es an seiner Tochter Anne, das von ihr geleitete Familienunternehmen an ihren Sohn Pierre weiterzureichen. Der entpuppt sich allerdings als lustloser, zerrissener Problemfall, welcher nach einem durch seine Unachtsamkeit ausgelösten Arbeitsunfall auf einer Baustelle des Unternehmens in Schwierigkeiten steckt und ohnehin keinerlei Interesse daran zeigt, das Erbe weiterzuführen.
Komplettiert wird der dysfunktionale Familienkosmos durch Annes Bruder Thomas, der mit seiner zweiten Frau Anaïs, ihrem neugeborenen Sohn und Eva, seiner Tochter aus erster Ehe, nach dem Suizidversuch von Evas Mutter ebenfalls in das geräumige Anwesen der Familie einzieht. Ein weiteres Mal widmet sich Haneke in seinem Film den Abgründen der Laurents, die er mit einer Mischung aus bitterem Familiendrama und galliger Gesellschaftskritik seziert. Die einzelnen Figuren, deren familiäre und private Verbindungen sich erst nach und nach erschließen, nutzt der Regisseur wie gewohnt als Projektionsflächen für sein pessimistisch gefärbtes Bild einer westlichen Wohlstandsgesellschaft, die bereits derart unfähig im zwischenmenschlichen Umgang miteinander geworden ist, dass nur noch die Aussicht auf den Tod als letzte Instanz einen Funken Leben in ihr erstarrtes Dasein bringt.
War man von Hanekes Filmen bislang gewohnt, wie von Faustschlägen gebeutelt nach der Sichtung mit vielen Gedanken zurückgelassen oder zumindest in seinen persönlichen Ansichten herausgefordert zu werden, vermittelt „Happy End“ hingegen mehrfach den Eindruck eines Déjà-Vus. Durch die Rückbesinnung auf verschiedene Motive seiner bisherigen Arbeiten sowie Figuren, die hier eher holzschnittartig umrissen werden, erweckt der Film den Eindruck eines Querschnitts durch Hanekes eigenes Schaffen, in dem die einzelnen Elemente mühsam zusammengeführt werden und ganz am Ende trotzdem kein stimmiges Gesamtbild ergeben wollen.
Die formstrengen, oftmals sehr lang gehaltenen Einstellungen, die nur wenige Regisseure so kontrolliert beherrschen wie Haneke, laden erneut dazu ein, sich in kleinsten Schauspielnuancen des hervorragend besetzten Ensembles zu verlieren und jedes Setting genauestens nach auffälligen Details abzusuchen, mit denen der Regisseur viele der Szenen versieht. Im schonungslosen Umgang mit seinen Figuren stellt sich bei „Happy End“ trotzdem ein Gefühl ein, das man mit Hanekes Werken sonst kaum verbindet: Vorhersehbarkeit. Der Regisseur bekräftigt den Zuschauer in dessen Ansatz, stets mit dem Schlimmsten zu rechnen, indem er die französische Familiendynastie wenig überraschend demontiert, demaskiert, gegeneinander in Stellung und aneinander zum Verzweifeln bringt. Dabei sorgen schmutzige Chatverläufe auf Desktopoberflächen, eine unvergleichlich schrille Karaoke-Sequenz, ein Krankenhausbesuch in typisch knochentrockener Haneke-Manier oder eine ebenso absurde wie bissige Einbindung der am Schauplatz der Geschichte vorherrschenden Flüchtlingskrise zumindest geringfügig dafür, dieses routiniert-souverän inszenierte Potpourri aus Best-of, Selbstreferenzialität, Groteske und künstlerischer Stagnation mit tiefschwarzen Ausreißern aus dem qualitativen Mittelmaß zu erheben. Am Ende verbleibt man trotzdem mit dem ungewohnten Gefühl, einen Film von Michael Haneke in einem seltsam unbetroffenen, fast schon beschwingten Zustand zu verlassen.
In Benedict Andrews‘ „Una“ existieren zwei Versionen der titelgebenden Hauptfigur. Eine davon ist das 13-jährige Mädchen, das sich zu gleichen Teilen verunsichert und verführerisch auf einen Mann einlässt, der als Nachbar gegenüber lebt und ein guter Freund ihres Vaters ist. Die andere Version ist die mittlerweile 28-jährige Frau, die diesen Mann namens Ray, der 15 Jahre später nur noch unter dem Namen Pete bekannt ist, an dessen Arbeitsplatz aufsucht.
Basierend auf dem preisgekrönten Theaterstück „Blackbird“ von David Harrower, der sein eigenes Werk für das Drehbuch von Andrews‘ Verfilmung adaptierte, handelt „Una“ auf ebenso provokative wie erschütternde Weise von dem Verhältnis zwischen zwei Menschen, die aufgrund ihrer gemeinsamen Vergangenheit nie den Sprung in die Gegenwart geschafft haben, in der sie erneut aufeinandertreffen. Mit dem Wechsel zwischen zwei verschiedenen Zeitebenen, auf denen sich der Regisseur jeweils mit der 13- und 28-jährigen Una beschäftigt, die sich nichtsdestotrotz zu ein und derselben Person zusammenfügt, wirft Andrews Fragen auf, die sich in ihrer problematischen Natur nur schwer beantworten lassen.
Könnte man hinter den Beweggründen von Unas erneuter Konfrontation mit dem Mann, der nicht nur ihr Vater sein könnte, sondern sich in der Öffentlichkeit zeitweise als dieser ausgegeben hatte, anfangs einen späten Racheakt vermuten, eine schonungslose Bloßstellung vor dem gesamten Personal, das Ray in seinem neuen Leben als Pete in seiner Position als Manager in einem Lager beschäftigt, so unterläuft Andrews diese Erwartungshaltung sehr früh, indem er seinen Film in eine ganz andere Richtung lenkt.
In den Rückblenden zur 13-jährigen Protagonistin wirkt „Una“ stattdessen wie die Geschichte tragischer Missverständnisse, bei denen die aufkeimende Liebesbeziehung zwischen zwei Menschen so abrupt endet, wie sie drei Monate zuvor begonnen hatte. Die unbequeme, anstößige Natur dieses Szenarios geht dagegen von dem Umstand aus, dass zwischen diesen Menschen ungefähr 30 Jahre Altersunterschied liegen und das Mädchen weit von der Volljährigkeit entfernt ist. Anstelle einer Geschichte über den sexuellen Missbrauch an einer Minderjährigen erzählt Andrews wesentlich komplexer eine Geschichte über mehrdeutig gesendete Signale, schwer verständliche Handlungsentscheidungen sowie intensive Gefühle, die zwei Leben ebenso bereichert wie unwiderruflich zerstört haben.
Die Lagerhallen, verwinkelten Gänge und spärlich eingerichteten Pausenräume, in denen sich Una und Ray schließlich nach langer Zeit wieder begegnen, inszeniert der Regisseur folglich als beengendes Gefühlslabyrinth, in dem Unausgesprochenes und Empfundenes droht, die Situation in verschiedensten Ausprägungen implodieren zu lassen. Das herausragende Schauspiel von Rooney Mara und Ben Mendelsohn, die sich in ihren gemeinsamen Szenen annähern, belauern, wieder voneinander abweichen, nur um doch wieder gefährlich nahe zusammenzurücken, macht aus „Una“ ein konzentriertes Schlachtfeld, auf dem keiner von beiden als Sieger hervorgehen kann.
So hallt die bitterste Erkenntnis dieses Films bis über den Abspann hinaus, wenn Ray am Ende zu Una sagt, sie wäre die einzige gewesen. Der Gesichtsausdruck der erwachsenen Frau, die sich kurz zuvor im Aufenthaltsraum des Lagers zwischen Müllresten, die sie und Ray ausgelassen durch den Raum warfen, auf dem Boden wälzt und wie das 13-jährige Mädchen von damals lacht, verdeutlicht zuletzt, dass Una keinen passenderen Satz als diesen ebenfalls zu Ray sagen könnte.
Ein hungriger, streunender Hund genügt zu Beginn von Mike Flanagans „Gerald’s Game“, um die unsichtbaren Risse zwischen den Figuren zum Vorschein zu bringen. Als sich das Paar Gerald und Jessie auf der Fahrt zu einem ländlich gelegenen Ferienhaus befindet, steht das Tier plötzlich mitten auf der Straße vor ihnen. Während Gerald das Tier beinahe übersieht und dadurch überfährt, ist es Jessie, die dem Hund das Leben rettet und sich zusätzlich um das Wohl des Tieres kümmern will. Nachdem die beiden im Ferienhaus angekommen sind, wo sie offenbar das Wochenende verbringen wollen, erscheint der Hund wieder und schleicht sich aus dem Gebüsch auf das Anwesen zu. Als Jessie ihm teures Fleisch schneidet und auf einem Teller hinstellt, reagiert Gerald zunächst gereizt, um sich kurz darauf wieder zu fassen und seine Partnerin ins Schlafzimmer zu führen.
Ohne mit der Vergangenheit des Paares und somit ihrer Hintergrundgeschichte vertraut zu sein, streut Flanagan in seiner Stephen-King-Verfilmung nur über die verschiedenen Umgangsweisen mit dem streunenden Hund erkennbare Spannungen zwischen Gerald und Jessie, deren Beziehung offenbar von Konflikten belastet ist. Um ihrem Liebesleben frischen Wind einzuhauchen, verführt Gerald seine Partnerin zu einem Rollenspiel, bei dem er seine Liebste mit Handschellen ans Bett fesselt, während er sich noch eine Viagra-Pille einwirft, um Jessie anschließend in ein grobes Machtspielchen zu verwickeln. Ihr gemeinsames Spiel findet allerdings ein jähes Ende, nachdem Jessie nicht nur aufgebracht fordert, dass Gerald von ihr ablässt, sondern dieser zusätzlich einen Herzinfarkt erleidet, der ihn leblos auf den Boden des Schlafzimmers fallen lässt.
Durch diesen überraschenden Umstand, mit dem der Regisseur der Situation einen extremen Dreh verleiht, wandelt sich „Gerald’s Game“ fortlaufend zu einem finsteren Kammerspiel, in dem die weibliche Hauptfigur in Handschellen am Bett gefesselt zurückbleibt und gegen ihr ebenfalls drohendes, grausames Ableben in Form von Dehydrierung ankämpfen muss. Kings knapp über 300 Seiten lange Buchvorlage, in der der Schriftsteller neben dem reduzierten Setting hauptsächlich innere Monologe der Protagonistin verwendet, um ihre Gedanken, Ängste und Details aus ihrer Jugend herauszuarbeiten, formt Flanagan für seine Verfilmung zu einer Konfrontation mit verschiedenen Abbildern aus Jessies Psyche um.
Dabei erscheint ihr nicht nur Gerald auf einmal wieder als lebendige Variante ihres eben verstorbenen Partners, sondern auch sie selbst. Mithilfe der pointierten Leistungen des Hauptdarsteller-Duos Carla Gugino und Bruce Greenwood, die sich den verschiedenen, teils schwarzhumorig zugespitzten Charakterfacetten ihrer Figuren gekonnt verschreiben, entwickelt sich „Gerald’s Game“ über weite Strecken zu einer ansprechend inszenierten Mischung aus Geschlechter- und Überlebenskampf sowie schwerwiegender Traumabewältigung. Trotz einiger Längen im Mittelteil, in dem die Handlung etwas auf der Stelle tritt, gelingt es Flanagan auf überzeugende Weise, die ästhetisch schwierig zu visualisierende Sprache aus Kings Buch filmisch ansprechend umzusetzen.
Mithilfe von absurd-surreal anmutenden Passagen inmitten des Schlafzimmers, das der Regisseur in einen tödlichen Käfig verwandelt, beunruhigenden Rückblenden in Jessies Kindheit, die lange zurückliegende Schatten der Vergangenheit in einen gegenwärtigen Horror übertragen, und vereinzelten Spannungssequenzen, unter denen ein später „Höhepunkt“ des Films für offene Münder sorgen und zahlreiche Zuschauer in Schockstarre versetzen dürfte, entpuppt sich der Film als bislang gelungenste King-Adaption dieses Filmjahres.
Während bei „The Dark Tower“ kaum noch auszumachen war, für wen dieser löchrig zusammengeschusterte Flickenteppich eines epischen Fantasy-Blockbusters überhaupt konzipiert wurde und die Neuverfilmung von „It“ als unausgegorene, ohne den nötigen Grusel ausgestattete Anbiederung an ein von generischen Horror-Konventionen verblendetes Zielpublikum zwar nicht finanziell, aber zumindest künstlerisch scheiterte, ist „Gerald’s Game“ eine King-Verfilmung, die mit deutlich erkennbarem Feuereifer eines treuen Fans und zugleich fähigen Regisseurs verwirklicht wurde.
Dem mitreißenden Potential der reichlich skurrilen Ausgangslage verleiht Flanagan eine ebenso persönliche Handschrift wie Jessies Persönlichkeit, deren im Dunkeln verborgenen Abgründe der Regisseur ebenso sensibel an die Oberfläche befördert wie er sie mit morbiden, bösen Spitzen auf den Zuschauer feuert. Selbst das Ende aus Kings Buch, das an hanebüchener Absurdität nur schwer zu überbieten sein dürfte, realisiert der Regisseur mit einer konsequenten Selbstverständlichkeit, durch die es Flanagan trotz der geradezu trashigen Abseitigkeit der finalen Auflösung gelingt, einen furiosen Schlussstrich unter Jessies lebenslangen Kampf zu ziehen.
[...] Eine völlig entfesselte Bandprobe zu Beginn von Vier Fliegen auf grauem Samt genügt, um Dario Argentos (Suspiria)außergewöhnliches Verständnis für den Umgang mit inszenatorischen Mitteln des Mediums Film offenzulegen. In der mehrminütigen Sequenz zerstückelt der italienische Regisseur den Prozess des Musizierens zu einer fiebrigen Abfolge ausgefallener Einstellungen, für die Argento seine Bilder nicht nur im wilden Takt der jazzigen Rhythmik von Protagonist und Schlagzeuger Roberto anordnet, sondern die Kamera an den ausgefallensten Positionen und Winkeln montiert, so dass der Betrachter die Jam-Session unter anderem aus dem Inneren einer Gitarre heraus verfolgt. Es ist ein getriebener Auftakt, bei dem der Regisseur zwischen den Szenen der Bandprobe kurze Einstellungen von Roberto aufblitzen lässt, in denen sich der Schlagzeuger offenbar von jemandem verfolgt fühlt. Argento nutzt die rohe, schweißgetriebene Energie der dabei entstehenden Musik, um das Gefühl von Paranoia und Verfolgungswahn der Hauptfigur auf intensive Weise in ein desorientierendes Delirium zu überhöhen. [...] Im Mittelpunkt von Vier Fliegen auf grauem Samt wohnt der Betrachter neben dem atmosphärisch verunsichernden Grundton stattdessen besonders ausgefeilten set pieces bei. In diesen fetischisiert Argento gemeinsam mit Ennio Morricones brillanter Musikuntermalung die zwischen nervöser Anspannung sowie panischer Todesangst pendelnde Verfassung seiner Mordopfer in ausgedehnten Spannungssequenzen und transformiert gewöhnliche Schauplätze mithilfe von Kamerakunststücken zu abstrakten Konstrukten, in denen die Enge sowie Ausweglosigkeit labyrinthische Ausmaße annimmt, bis der Regisseur die Sequenzen konsequent explodieren lässt und genau zum richtigen Zeitpunkt abblendet. Wenn sich Argento gegen Ende des Films schließlich um eine Auflösung der Mordfälle und somit um die Enthüllung der Identität des Täters bemüht, verkommt der Film aufgrund eines hanebüchenen Drehbucheinfalls beinahe endgültig zur albernen Farce. Im Finale selbst, in dem Roberto bewusst wird, dass er durch seine eigenen Augen einer Täuschung aufgesessen war, findet der Regisseur hingegen einen mehr als adäquaten Ausdruck für die manipulative Macht des Kinos, mit dem Argento den Zuschauer hier so geschickt in seine inszenatorischen Tricks und Kniffe einwickelt. [...]
Im Jahr 2001 saßen Stefan und Kai das letzte Mal zusammen auf der Couch, wobei sie sich zu diversen Joints über sämtliche Kuriositäten unterhielten, die ihnen währenddessen durch die berauschten Synapsen schossen. Mit „Lammbock - Alles in Handarbeit“ gelang dem Filmdebütanten Christian Zübert damals ein Film, der die Herzen zahlreicher, vorwiegend jüngerer Filmfans schnell für sich gewinnen konnte und bis heute als absoluter Kultfilm gilt. Bei seiner Geschichte um die zwei Würzburger Kumpels, die ihre gemeinsam betriebene Pizzeria als getarnten Drogenumschlagplatz nutzten und dadurch in allerlei skurrile Verstrickungen gerieten, orientierte sich der Regisseur überdeutlich am dialoglastigen Independent-Kino der 90er, wobei ihm stilprägende Filmemacher wie Quentin Tarantino oder Kevin Smith offensichtlich als große Vorbilder dienten.
Im Jahr 2017 ist es derweil höchst interessant zu beobachten, dass eine auffällige Anzahl von Fortsetzungen zu länger zurückliegenden Kultfilmen oder Klassikern ihren Weg ins Kino oder Fernsehen finden. Danny Boyle kehrte mit „T2: Trainspotting“ zu den Figuren seines eigenen Anti-Drogen-Meilensteins „Trainspotting“ zurück und zog gemeinsam mit den ebenfalls gealterten Protagonisten ebenso melancholisch wie ernüchternd Bilanz. David Lynch und Mark Frost kreierten mit „Twin Peaks: The Return“ eine Art 18-stündigen Film fürs Fernsehen, der die ursprüngliche Serie, welche bis heute ihre Spuren im Sektor der sogenannten Qualitätsserien hinterlässt, derart radikal fortsetzte, dass man es selbst gesehen haben muss, um dieses erneut womöglich Maßstäbe setzende Stück Fernsehen fassen zu können. Außerdem erhielt Ridley Scotts einflussreicher Science-Fiction-Klassiker „Blade Runner“ durch „Blade Runner 2049“ von Denis Villeneuve ebenfalls ein Sequel, das für viele als wichtigstes Blockbuster-Ereignis des Jahres gelten dürfte.
An diesen Trend knüpft auch Zübert an, der mit „Lommbock“ 16 Jahre nach seinem Debüt ebenfalls zu den beiden Hauptfiguren zurückkehrt, um zu sehen, wie es Stefan und Kai in der Zwischenzeit ergangen ist. Im Fall von Stefan, der als Unternehmer im Maßanzug in Dubai gelandet ist und bald die attraktive Tochter eines reichen Firmenchefs heiraten will, fällt das vorläufige Urteil denkbar positiv aus. Als Stefan wegen einer Geburtsurkunde, die er für die Hochzeit unbedingt benötigt, kurz nach Würzburg reisen will, wird er am Flughafen bereits von Kai empfangen, der ihn mit auf eine ungewollte Reise in die Vergangenheit nimmt.
Kai scheint es im Gegensatz zu Stefan weniger gut getroffen zu haben. Die Pizzeria von damals ist mittlerweile ein Asia-Lieferservice, der kurz vor der Schließung steht, und mit seiner Frau Sabine und dem rebellischen Stiefsohn Jonathan kommt es regelmäßig zu Streitereien. Was zunächst wie eine lockere Auseinandersetzung mit den mittlerweile so grundverschiedenen Lebenswegen der einstigen Kumpels wirkt, formt Zübert zu einer nostalgisch gefärbten Komödie, die sich gelegentlich an Humorpfeiler des Vorgängers klammert, wenn Stefan und Kai den ersten Joint seit langer Zeit entzünden und zu einer ihrer ikonischen Konversationen zwischen Kiffer-Philosophie und Gaga-Unsinn ansetzen.
Trotz vorhandener Referenzen umschifft der Regisseur in „Lommbock“ plumpe Fanservice-Gefälligkeiten allerdings weitestgehend, um sich im weiteren Verlauf der Handlung, in der wenig überraschend noch der ein oder andere turbulente Haken geschlagen wird, vor allem auf die klaffende Lücke zwischen Teil 1 und Teil 2 zu konzentrieren. Auch wenn es Lucas Gregorowicz und Moritz Bleibtreu gelingt, mühelos wieder in ihre Paraderollen zu schlüpfen, macht sich auch in ihren Gesichtern die verstrichene Zeit bemerkbar, die Zübert keinesfalls vernachlässigt.
Ging es in „Lammbock - Alles in Handarbeit“ neben den ausgelassenen Konversationen und der humorvollen Situationskomik vordergründig um ein spezielles Lebensgefühl, bei dem die Protagonisten aus Angst vor einer ungewissen Zukunft krampfhaft im Stillstand verharren wollten, springt der Regisseur im Nachfolger in genau diese Zukunft, um den Blick von der dortigen Gegenwart aus wehmütig zurückschweifen zu lassen. Auch im zweiten Teil besinnt sich Zübert durch vereinzelte Titeleinblendungen auf die episodenhafte Struktur des Vorgängers, mit der er die Wiedervereinigung von Stefan und Kai in einzelne, untergeordnete Nebenhandlungen aufteilt, die mal mehr, mal weniger gelungen mit witzigen Einfällen punkten. So bleibt es beispielsweise fraglich, ob ein Wiedersehen mit Wotan Wilke Möhrings Frank unbedingt notwendig war, nachdem die vulgär-verbalen Ausfälle der am Tourette-Syndrom erkrankten Figur schon im ersten Teil zur Genüge ausgereizt wurden.
Seine stärksten, eigenständigen Qualitäten entfaltet „Lommbock“, ganz ähnlich wie Boyles diesjähriges „Trainspotting“-Sequel, aber letztlich im Umgang mit Gregorowiczs und Bleibtreus Hauptfiguren. Die stellt Zübert mit einer stimmigen Mischung aus ernüchterter Melancholie, rosigem Nostalgie-Esprit und aufrichtiger Empathie wieder vor die großen Fragen des Lebens, deren Antworten zwischen alten Wegbegleitern, neuen Bekanntschaften, wirrem Chaos und dichten Cannabis-Rauchschwaden ein weiteres Mal verblassen.
[...] Tobias Nölle (Heimatland) beginnt sein Spielfilmdebüt Aloys als melancholische Studie über die beklemmende Einsamkeit, die den Protagonisten unentwegt umgibt. Der Regisseur zeigt Aloys als einen Verlorenen, Suchenden, der durch den Tod seines Vaters endgültig jeglichen Halt im Leben verloren zu haben scheint. Mit tristen Bildern, die das Großstadtleben Zürichs als seltsam unbelebtes Gefängnis zwischen Betonbauten, verlassenen Räumen und menschenleeren Straßen zum Ausdruck bringen, vermittelt Nölle das Gefühl von Isolation in scheinbarer Freiheit, das vielen Menschen nicht nur vertraut sein dürfte, sondern sich ebenfalls wie ein blass-grauer Faden durch deren Leben zieht. [...] Nachdem Aloys die Anruferin wenig später identifizieren kann, als diese aufgrund eines Suizidversuchs von Sanitätern abtransportiert wird und sich als Vera entpuppt, die im gleichen Gebäude wie er wohnt, ergründet Nölle fortwährend das Verhältnis zwischen diesen beiden Figuren, die sich in ihrer schmerzlichen Einsamkeit auf tragische Weise gleichen. In surrealen Impressionen inszeniert der Regisseur die Telefonate der beiden, die sich nie wirklich begegnen, als traumähnliche Annäherung, bei der sich Aloys und Vera zeitweise in der harmonischen Idylle eines Waldes umkreisen, bis Aloys die Stimme am anderen Ende der Leitung mehr und mehr als konkrete Person wahrnimmt, die ihm Nähe und Geborgenheit bietet und gleichzeitig ihre Aufmerksamkeit schenkt. Trotz der mitunter redundanten, zu aufdringlichen Verwendung bildstarker Symbole und Metaphern, durch die der Regisseur sein Werk gelegentlich in die Nähe prätentiöser, selbstverliebter Kunstfilm-Experimente rückt, findet Nölle im Zentrum der Erzählung immer wieder zum ungeschützten Kern seiner Figuren und ihrer verzweifelten Einsamkeit, die hilfesuchend durch die Bilder schimmert. Georg Friedrich (Wild) spielt die exzentrischen Macken von Aloys dabei ebenso gewohnt großartig wie die verunsicherte Zärtlichkeit seiner Figur, wenn diese wie ein Getriebener nach menschlicher Zuneigung strebt. An seiner Seite erweist sich Tilde von Overbeck in der Rolle von Vera als mindestens genauso zerbrechliches, sensibles Gegenwicht, wobei beide erst im gemeinsamen Spiel zu jener poetisch-leisen Strahlkraft finden, die den bisweilen mäandernden Charakter der Einstellungen überwindet und mit der sich Aloys selbst über das recht eindeutige Ende hinweg genügend von seiner unergründlichen, ambivalenten Aura bewahrt. [...]
[...] Die Auseinandersetzung und Konfrontation mit der überwiegend unkontrollierten Körperlichkeit seiner Figuren zeichnet sich durch diese anfänglichen Szenen schnell als eine Art Leitmotiv ab, das sich durch André Téchinés (Weit weg) Mit Siebzehn zieht. Der Regisseur inszeniert seine Geschichte über jugendliches Heranwachsen und die verschiedenen Komplikationen damit einhergehender Emotionen als einen Film, der sich selbst dauerhaft in Bewegung befindet und dort ansetzt sowie nach tiefgreifenden Gefühlen forscht, wo die dazu passenden Worte ausbleiben. Losgelöst vom eigentlichen Inhalt der Bilder erzählt bereits Julien Hirschs leicht unruhig geführte Handkamera von einem nervösen Zittern, das sich unmittelbar auf die zentralen Figuren übertragen lässt. Neben dezent eingestreuter Musikuntermalung ist es das einzige auffällige Stilmittel, das Téchiné verwendet, um einen nach außen verlagerten Ausdruck für die innere Verfassung von Thomas und Damien zu finden. [...] Befriedigende Erfüllung und wütende Auslastung scheint sich bei den beiden, aus so unterschiedlichen erzieherischen Milieus stammenden, Jugendlichen jedoch nur einzustellen, sobald ihre Körper wuchtig und schmerzhaft in wiederholten Konfrontationen aufeinanderprallen und erst hierdurch unverfälschte Empfindungen zum Vorschein bringen. Vergleichbar mit dem 2013 erschienenen, vierten Spielfilm Sag nicht, wer Du bist! des 28-jährigen Regie-Talents Xavier Dolan (Mommy), in dem sich sexuelle Spannungen zwischen den Protagonisten über physisch kraftvolle Auseinandersetzungen und bedrohliche Machtspiele entluden, folgt der mittlerweile 74 Jahre alte Téchiné einem ähnlichen Ansatz des filmischen Erzählens. Ebenso roh wie sinnlich widmet sich der Regisseur der adoleszenten Phase im Leben von Thomas und Damien mit neugieriger Spannung, die von einem überraschend einfühlsamen Gespür für die vielschichtigen, komplexen Charakterfacetten der jungen Hauptfiguren zeugt. Neben dem starken Schauspiel der männlichen Hauptdarsteller Kacey Mottet Klein (Winterdieb) und Corentin Fila (Lieber Leben), die Damien und Thomas in all ihrer sensiblen Verletzlichkeit sowie aggressiven Unsicherheit verkörpern, räumt der Regisseur das Feld gelegentlich für Sandrine Kiberlain (Männer und die Frauen) in ihrer Rolle als Marianne. Da die sympathische, im Umgang mit Patienten oftmals selbstlose Ärztin der Auslöser dafür ist, dass sich das Verhältnis zwischen den Jugendlichen zuspitzt, wird sie von Téchiné als bedeutende Schlüsselfigur gezeichnet. Inmitten des unreifen Kräftemessens der Jugendlichen, dem der Regisseur schlussendlich mit intensivem Optimismus neue Tore öffnet, hat Damiens Mutter ihre ganz eigenen Kämpfe auszutragen, die sie hinter einer warmherzigen, langsam bröckelnden Fassade verbergen muss. [...]
Roberto San Sebastíans Langfilmdebüt „La noche del virgen“ reiht sich mit ungestümen Nachdruck in die jüngste Reihe aufsehenerregender, provozierender Filme wie „Tenemos la carne“, „The Greasy Strangler“ oder „Kuso“ aus den Randgebieten der herkömmlichen Filmindustrie ein. Dem unabhängig sowie mit wenig Budget produzierten Werk ist von Anfang an anzumerken, dass sich der Regisseur und seine Crew in jeder einzelnen Einstellung keine Sekunde lang Gedanken darüber machten oder überhaupt machen mussten, was ihr Publikum von ihnen erwartet. Gleichzeitig ist „La noche del virgen“ aber auch ein Film, der brachial und liebevoll zugleich für ein Publikum maßgeschneidert wurde, das sich im prall gefüllten Kinosaal bei schmuddeligen, vulgären und fortwährend komplett aus dem Ruder laufenden Ekel-Exzessen am wohlsten fühlt. In dieser Hinsicht hat Sebastían mit seinem Werk einen glatten Volltreffer gelandet, der zweifellos zu den unterhaltsamsten Party-Krachern des Jahres gehören dürfte.
Eröffnet wird der Film, neben einem ausgedehnten Meta-Gag über ein reales spanisches TV-Duo, das eine Show zum kurz bevorstehenden Jahreswechsel moderiert, mit erfolglosen Flirtversuchen von Nico. In der Silvesternacht will der mit unattraktivem Überbiss ausgestattete Protagonist endlich seine Jungfräulichkeit verlieren, weshalb er in der Disco eine Frau nach der anderen antanzt, nur um jedes Mal blitzschnell abserviert zu werden. Erst die etwas ältere Medea zieht die Aufmerksamkeit des Anfang 20-Jährigen auf sich und sorgt dafür, dass beide in ihrer Wohnung landen. Hier scheint Nico seinem Ziel so nahe zu sein wie nie, doch gleichzeitig nimmt die ganze Situation immer seltsamere Ausmaße an.
Aufgrund des pubertären Tonfalls und dem herrlich schmerzbefreiten Spiel von Hauptdarsteller Javier Bódalo, der durch Slapstick-Einlagen, die an einen sexbesessenen, optisch versch(r)obenen Charlie Chaplin aus Spanien erinnern, mit schräger, unterhaltsamer Situationskomik aufwartet, ist „La noche del virgen“ zunächst ein ungehemmter Spaß. Als Nico direkt bei seiner Ankunft in Medeas Wohnung eine Kakerlake zertritt und darüber belehrt wird, dass so etwas böse Konsequenzen für ihn haben wird, bewegt sich der Regisseur allerdings schnell in Regionen verschrobener Andersartigkeit vor. Nicht nur Nico ist ein äußerst spezieller Zeitgenosse, der sich fremden, unbekannten Körperflüssigkeiten neugierig mit seiner Zunge nähert. Auch Medea scheint mit dem deutlich jüngeren Mann etwas im Schilde zu führen, was offensichtlich mit dessen Jungfräulichkeit und einigen ominösen Büchern sowie einer Skulptur in ihrem Wohnzimmer zusammenhängt.
Bevor Nico realisiert, was nach einer Reihe unglücklicher Verkettungen in der Wohnung von Medea mit ihm geschehen soll, brechen in Sebastíans Film plötzlich alle Dämme. Medeas aggressiver, eifersüchtiger Ex-Freund Spider, der von außen brüllt und gegen die Tür hämmert, und ein unaufhörlicher Bassrhythmus, der von einem monotonen Techno-Track aus der darüberliegenden Wohnung stammen muss, vermischen sich zu einer beinahe unerträglichen Tonkulisse, die Nicos Nerven genauso zermalmt wie die des Zuschauers. Inmitten von abstoßenden Bildern, die der Regisseur teilweise in stakkatoartigen Montagen inszeniert, sowie einem Überfluss an Blut, Sperma und anderen Körperflüssigkeiten, die in horrenden Mengen über die Leinwand verteilt oder abgefeuert werden, öffnen sich in „La noche del virgen“ langsam die Tore zur Hölle, in die Sebastían und sein Team mit einer Mischung aus freudigem Ekel, ausgelassener Exzentrik und spaßigem Irrsinn blicken.
Auch wenn sich der Streifen über die Laufzeit von fast zwei Stunden stellenweise unerträglich in die Länge zieht und manche Szenen in fast schon provokativer Länge zelebriert werden, spiegelt dieser Umstand den Gemütszustand von Nico, der hier in einem endlosen Albtraum gefangen zu sein scheint, nur allzu konsequent. Die Meinungen spalten dürfte aber das unbeschreibliche, ausgedehnte Finale von Sebastíans Film, in dessen Mittelpunkt sich ein gut 10-minütiger Höhepunkt befindet, bei dem „La noche del virgen“ endgültig aus allen Rohren schreit, kotzt und presst. Spätestens hier sollten Anhänger des Transgressiven und Dadaistischen diesen sympathischen und urkomischen Tabubrecher zumindest ein wenig in Herz geschlossen haben, auch wenn sie den Film womöglich kein weiteres Mal mehr sehen wollen.
In Stephen Kings Mammutroman „It“ sucht das Grauen ungefähr alle 27 Jahre die fiktive amerikanische Kleinstadt Derry in Maine heim. Dieser Zyklus erscheint im Zuge der gewaltigen Werbekampagne, von der die Neuverfilmung der Vorlage seit Monaten begleitet wird, wie ein geschickter Meta-Schachzug. Genau 27 Jahre nach der 1990 ausgestrahlten, zweiteiligen TV-Miniserie kommt „It“ nun auch wieder in die Kinos und schlägt aufgrund des Box-Office-Weltrekords in den USA ein weiteres Mal hohe Wellen durch ein popkulturelles Gedächtnis, in das sich Kings Roman bei etlichen Lesern auf ewig eingebrannt haben dürfte.
Andy Muschietti, der bereits mit seinem Langfilmdebüt „Mama“ als Horror-Regisseur auf sich aufmerksam machen konnte, wurde nach einer eher durchwachsenen Produktionsgeschichte, bei der wieder einmal diverse Namen im Zusammenhang mit dem Projekt genannt und dann wieder ausgewechselt wurden, als Regisseur für die Neuverfilmung auserkoren. Muschiettis vorheriges Werk fiel vor allem durch einige originelle Design-Ideen auf, mit denen der Argentinier deutlich in die stilistische Richtung eines Guillermo del Toro rückte, der dem Film prompt seinen Stempel als ausführender Produzent aufdrückte und somit sicherlich zu einer weitläufigeren Bekanntheit verhalf.
Daneben zeichnete sich „Mama“ aber auch durch eine Art von Horror-Verständnis aus, bei dem sich die Angst niemals vollends durch eindringliche Bildkompositionen verdichten durfte, sondern mithilfe von Jumpscares überlaut entladen wurde. Diese weitestgehend mutlose, massenkompatible Form des Schreckens übernahm Muschietti nun bedauerlicherweise ebenfalls für seine Neuverfilmung von Kings Roman, was zugleich die größte Schwäche dieses Films darstellt. Im Vergleich zur 1990 erschienenen Miniserie entwirrt der Regisseur die über 1000 Seiten lange Vorlage dahingehend, dass sich der zwischen Kindes- und Erwachsenenalter hin und her springende Erzählfluss des Buches in der 2017er Version ausschließlich auf die Erlebnisse der Kinder beschränkt.
Zeitlos beängstigend und atmosphärisch entfaltet sich auch in Muschiettis Version der gnadenlose Auftakt der Geschichte, in dem das Papierschiffchen von Georgie bei strömendem Regenwetter in einen Gully gespült wird. Die bedrohliche Clownsfratze, die dem sechsjährigen Jungen daraufhin aus dem Gullyschlitz entgegengrinst und wenig später zu dessen gewalttätigem Ableben führt, ist genauso als ikonisches Symbol der Geschichte verbreitet wie Georgies gelber Regenmantel oder ein roter Luftballon, der als beunruhigendes Vorzeichen durch die einzelnen Settings schwebt, um die furchteinflößende Präsenz eines gestaltenwechselnden Grauens anzukündigen.
Diese grundsätzlich namenlose Präsenz, die folglich nur als „It“ bezeichnet werden kann, tritt in ihrer bekanntesten Erscheinungsform als Clown Pennywise auf. Der Clown, normalerweise ein Symbol für kindliche Freude, geriet unter der Feder von King endgültig zum Sinnbild kindlicher Furcht, die auf Erwachsene dieselbe beängstigende Wirkung ausübte. Den Horror der Romanvorlage, den King vordergründig als metaphorische Manifestierung innerer Ängste und Traumata der Protagonisten begriff, funktioniert Muschietti in seiner Neuverfilmung zu bekömmlichem Grusel um, der, ähnlich einer Geisterbahnfahrt durch dunkle Gänge voller schriller Attraktionen, ebenso seicht wie vergessenswert am Betrachter vorbeirauscht.
Kaum eine Impression, die der Regisseur zumindest kurzzeitig mit wohligem Horror auflädt, endet ohne einen überlauten, penetranten Knall auf der Tonspur. Mit diesem lässt Komponist Benjamin Wallfisch die jeweilige Szene entweder wirkungslos verpuffen oder in noch hektischeres Gepolter münden, das der irgendwann viel zu konkreten Erscheinung von Pennywise endgültig sämtliche Facetten des subtilen Angsterzeugens raubt. Hierzu passt auch Bill Skarsgårds enttäuschende Darbietung der Figur, die weit hinter Tim Currys Leistung aus der 1990er Verfilmung zurückbleibt und abseits von übermäßiger CGI-Unterstützung lediglich aus überzogenem Overacting besteht.
Erweist sich „It“ aus dem Jahr 2017 somit als blasser, nach generischen Schockeffekten gestrickter Horrorfilm, der sich zu sehr an erfolgreiche, moderne Vertreter des Genres anbiedert, so überzeugt Muschiettis Werk immerhin als stellenweise berührender Coming-of-Age-Film. Den zentralen Losers' Club, der aus sieben Freunden besteht, die dem übernatürlichen Horror während ihrer Sommerferien im Jahr 1988 trotzen müssen, füllt der Regisseur mit Jungschauspielern, die sich weit über die mitunter stereotypen Eigenschaften ihrer Figuren hinaus als charakterstarke Persönlichkeiten behaupten können.
Neben den üblichen 80er-Jahre-Retro-Nostalgie-Schauwerten, von denen in letzter Zeit auffällig viele Filme oder Serien durchzogen waren und die sich auch in vielen Bildern dieses Films widerspiegeln, ist „It“ in seinen besten Momenten eine Geschichte über den unschätzbaren Wert von Freundschaft und Zusammenhalt, der hier buchstäblich dazu dient, Leben zu retten. Muschietti hat über die Laufzeit von 135 Minuten manchmal sichtlich Mühe, sämtliche Kinderfiguren ausreichend zu beleuchten. Das einfühlsame Band, das er nach und nach zwischen ihnen knüpft, sowie die Chemie aus zaghafter Neugierde, kindlicher Naivität und aufgeweckter Direktheit, die in gemeinsamen Szenen des Losers‘ Club aufkeimt, überstrahlen die routiniert abgespulten Mechanismen der vorhersehbaren, wirkungslosen Horrorszenen hingegen mühelos.
Wenn sich Beverly, das einzige Mädchen der Clique, zitternd und leise durch die Räume ihres eigenen Hauses schleichen muss, da hinter jeder Ecke ihr Vater lauern könnte, der sie offensichtlich missbraucht, oder der hypochondrische Eddie wieder und wieder mit Pillen vollgestopft wird, die sich wiederum als Placebos entpuppen, mit denen seine psychisch labile Mutter den Jungen an sich binden will, findet „It“ zu wesentlich gelungeneren Momenten des Horrors. Horror, der sich voll und ganz im realistischen und dafür umso beängstigenderen Mikrokosmos nachvollziehbarer Verletzlichkeit während des Kindesalters ereignet und der so viel stärker wiegt als ein herumpolternder, grimassierender Clown, der sich schlussendlich mit einigen lockeren Sprüchen überwinden lässt.
[...] Lenzis Drehbuch fährt Figuren auf, die kaum eindimensionaler und flacher sein könnten und von ebenso hölzernen Schauspielern verkörpert werden, so dass ihr Schicksal von vornherein nur dazu vorherbestimmt zu sein scheint, in möglichst grausamen Sequenzen zu Tode kommen. Bis es allerdings zur titelgebenden Rache der Kannibalen kommt, irrt der kaum vorhandene Spannungsbogen des Films durch ein Labyrinth aus idyllischen Dschungelpanoramen, flachen Dialogen, widerwärtigem Tier-Snuff, der hier noch willkürlicher und selbstzweckhafter wirkt als in Kannibalenfilmen ohnehin üblich, sowie kurzen Einschüben aus dem New Yorker Handlungsstrang, der sich spätestens gegen Ende des Films als überflüssiges Füllmaterial erweist, wo er vollständig ins Leere verläuft. Auch wenn Lenzi ebenfalls Spuren von Gesellschaftskritik einstreut, indem er die zivilisierten Menschen als Wurzel allen Übels darstellt, nachdem das anfängliche Trio auf zwei Drogenhändler trifft, die im Amazonas auf der Suche nach Kokain und Smaragden sind und zuvor Menschen aus einem Stamm Eingeborener brutal folterten oder töteten, erweist sich dieser Ansatz lediglich als plumpes, notdürftig angeheftetes Alibi, um den nachfolgenden Racheakt ansatzweise moralisch abzufedern. Letztlich ist der Regisseur aber an kaum etwas anderem als dem barbarischen Exzess interessiert, der den Touristen schließlich in der zweiten Hälfte des Films widerfährt. Mit der recht grafischen Darstellung von abgetrennten oder mit Nadeln durchstochenen Geschlechtsteilen, Körpern, die ausgeweidet und deren Innereien verspeist werden oder Schädeldecken, die mit einem Machetenhieb vom Besitzer abgetrennt werden, mag Die Rache der Kannibalen vereinzelt für Aufruhr gesorgt haben und unterliegt genauso wie Deodatos Werk einer weitläufigen Beschlagnahmung. In einem Film, in dem ein Ameisenbär vorsätzlich vor einer Anaconda ausgesetzt und festgebunden wird, damit die Verantwortlichen dessen panische Schreie in einer qualvoll ausgedehnten Szene einfangen können, sobald sich die Schlange um das Tier wickelt und zu würgen beginnt, verpuffen die fiktiv inszenierten Gewalttaten gegenüber menschlichen Schauspielern jedoch weitestgehend. Die Rache der Kannibalen fördert neben überwiegend dilettantischem Handwerk, bei dem sich lediglich der atmosphärische Score von Roberto Donati und Fiamma Maglione positiv erwähnen lässt, hölzernen Schauspielleistungen, nicht vorhandener Spannung oder stimmiger Gesellschaftskritik sowie plakativen Gewaltmomenten daher vor allem einen moralisch verabscheuungswürdigen Ansatz zu Tage, bei dem die mehrfach vorhandene, reale Gewalt gegen Tiere kaum in einen sinnstiftenden Kontext gestellt wird und somit einen mehr als bitteren Geschmack hinterlässt. [...]
[...] Atcheson etabliert das postapokalyptische Szenario seines Films als reduziertes Kammerspiel, das sich lediglich auf die limitierte Ausstattung der Bunker beschränkt, die bei sämtlichen Bewohnern identisch ist. Wofür sich der Regisseur in diesem Zusammenhang am meisten interessiert, ist der soziale Aspekt, den dieses ungewöhnliche Setting mit sich bringt. In Domain nimmt der ohnehin zeitgemäße Trend, zwischenmenschliche Kontakte überwiegend mittels virtueller, nicht-körperlicher Möglichkeiten zu pflegen, ein noch extremeres Ausmaß an. Vollständig voneinander isoliert erfahren die Figuren eine Form von Interaktion, bei der physische Nähe in letzter Konsequenz vollkommen aufgehoben wurde. Mit deutlichem Fokus auf das Verhältnis zwischen den verschiedenen Protagonisten, deren charakterliche Hintergründe zunächst bewusst vage gehalten sind, entfaltet sich Atchesons Werk wie eine etwas behäbig ausgewälzte Episode der von Charlie Brooker geschaffenen Science-Fiction-Serien-Dystopie Black Mirror. [...] Domain entpuppt sich schließlich als jene Art von Film, bei der eine entscheidende Wendung oder finale Auslösung möglichst lange verborgen gehalten wird. Auch wenn der Regisseur recht spät eine folgenschwere Überraschung präsentiert, die der ein oder andere Zuschauer sicherlich schon lange im Voraus erahnen konnte, legt Atcheson noch mindestens einen Twist nach und stellt einen bedeutenden Teil der Geschichte komplett auf den Kopf. So ist sein Film nicht nur ein postapokalyptisches Szenario, das sich etwas zu viel Zeit lässt und bisweilen auf der Stelle tritt, sondern ein perfides, manipulatives Spiel mit den Sympathien der Zuschauer, auf die genauso wie auf so manche Figur ein böses Erwachen wartet.
[...] Carrers Hommage an die großen surrealen Klassiker des europäischen 70er-Jahre-Kinos wirkt, als wolle der Regisseur die angebrachten Vergleiche zu Refns Schaffen in jeder einzelnen Szene mit geradezu unerträglichem Nachdruck bekräftigen. [...] Dabei gelingt es dem Regisseur anfangs durchaus, neben den auf intensive Farbdramaturgie bedachten Bildern und flackernden Stroboskop-Einschüben für ein gewisses Gefühl von Anspannung zu sorgen, das Carrer durch langsam schleichende Suggestion und wabernde, grollende Synthesizer-Klangwelten entfaltet. Aufgrund des immer stärker ausufernden Schauspiels von Hauptdarstellerin Jessica Vano (Berkshire County), die irgendwann zu groteskem Overacting übergeht, kippt Death on Scenic Drive allerdings rasch ins unfreiwillig Komische, sobald der Regisseur die beunruhigenden, surrealen Vorzeichen plötzlich konkretisiert. Wirkte der Film zuvor stellenweise wie eine überzogene Parodie großer Vorbilder, für die Carrer experimentelle Arthouse-Stilmittel so geballt aufbietet wie grotesk überzieht, wandelt sich der Streifen im letzten Drittel schließlich vollends zu einem reißerischen Slasher der uninspiriertesten Sorte. Mit unnötig expliziten Tötungsszenen und billigen Effekten auf der einen sowie weiterhin bizarr überstilisierten Einstellungen auf der anderen Seite versinkt Death on Scenic Drive als völlig misslungener Stil-Overkill und Substanz-Albtraum im frustrierenden Nirgendwo. [...]
[...] Kameramann Prathap Joseph ist hierbei der eigentliche Star dieses Films, in dem die ruhelose Bildsprache als Ausdruck innerer Gemütsverfassungen dient und sich zunehmend wie ein brutaler Klammergriff um die Kehle des Zuschauers legt. Wenn sich die Kamera gemeinsam mit dem Pärchen in das Innere des Fahrzeugs zwängt und somit als eine Art unsichtbarer Begleiter und Beobachter fungiert, vermittelt Sexy Durga ein beklemmendes Mittendrin-Gefühl, das potentielle Konflikte und schwebende Ungewissheit unter die bisweilen unerträglich langen, schnittlosen Einstellungen mischt. Die Nacht selbst, die der Regisseur nur mit meist spärlich vorhandenen Lichtquellen wie Straßenlaternen oder Autoscheinwerfern zu einem eigenen Charakter werden lässt, stellt das faszinierende Zentrum des Films dar. Die meist kaum erkennbaren Gesichter der Figuren, denen Durga und Kabeer begegnen, verschwimmen mit der Schwärze der Nacht zu finsteren Silhouetten, die unweigerlich als Bedrohung auftreten. Auch wenn Sasidharan seinen Film vordergründig als gesellschaftskritische Abhandlung über sein eigenes Land verstanden wissen will, in dem weibliche Göttinnen angebetet werden, während sich Frauen alleine oftmals nur mit einem mulmigen Gefühl auf die Straße trauen können, ist Sexy Durga im Kern ein sensorisches Erlebnis, in dem es fernab von konkreten Charakterisierungen um das pure Empfinden geht. In dem unaufhörlich vor sich hin treibenden Handlungsfluss, den der Regisseur vollständig ohne Drehbuch und nur mithilfe von Improvisation der beteiligten Schauspieler kreiert hat, wirken die teilweise minutenlang ausgebreiteten Dialoge im Fahrzeug, die zwischen banalen Gesprächen und penetranter Aufdringlichkeit schwanken, bewusst erschöpfend. Gelegentlich verlässt die Kamera den Rücksitz durch das Fenster und schweift in die Ferne ab. In diesen Momenten, in denen die aufgeregten Stimmen der Figuren kurzzeitig gedämpft werden und die Zeit nahezu stillsteht, tastet sich die Kamera ebenso orientierungslos wie verzweifelt in die Dunkelheit vor. Genauso wie Durga und Kabeer, die immer wieder aussteigen, um wenig später doch wieder von Autoscheinwerfern ins Visier genommen zu werden, findet Sexy Durga dabei nichts als Finsternis inmitten von Finsternis, wobei das Licht des anbrechenden Tages womöglich für immer auf sich warten lässt. [...]
[...] Mit dicht inszenierten Einstellungen bildet das Regie-Duo abwechselnd die schummrigen Entzugserscheinungen ihres Protagonisten ab und bringt zugleich ein sich drastisch zuspitzendes Duell zwischen Mensch und Mensch in Stellung, das durch die flirrende Wüstenhitze bewusste Züge eines Neo-Westerns erhält. Die packende Geradlinigkeit, bei der Dietsch und Gibson ruhigen Thrill und durchaus harte Actionmomente, die selten zu explizit ausfallen, kombinieren, macht aus Happy Hunting ein packendes, recht kurzweiliges Stück Genrekino, das gelegentlich an die Schnörkellosigkeit derberer Reißer aus den 70er Jahren erinnert und auch so manche schwarzhumorige Überraschung parat hält. Was den Streifen aber schließlich von ähnlich passablen Vertretern dieser Art Filme abhebt, sind die politisch brisanten Untertöne, mit denen die Regisseure ihr Werk nicht gerade subtil, aber dafür umso nachdrücklicher aufladen. Mit der Darstellung der Jagdkommune greifen Dietsch und Gibson das aktuell vorherrschende Klima eines Amerikas auf, in dem durch die Wahl von Donald Trump zum 45. US-Präsidenten vor allem die frustrierte, abgeschlagene Bevölkerung ländlicher Regionen in einen stärkeren öffentlichen Fokus gerückt ist. In Happy Hunting denkt das Regie-Duo die Mentalität dieser Bevölkerungsschicht auf ebenso erschreckende wie zynische Weise weiter. So erzählt der Film auch von gerne übergangenen, mitunter vergessenen Teilen Amerikas, die sich alte Traditionen und Bräuche, in diesem Fall die jährliche Jagdsaison, auf ihre ganz eigene Weise bewahren und weiterführen. Mit einer spät gelieferten Begründung des lokalen Sheriffs, der die Motivation hinter der makaberen Menschenjagd erklären will, erweist sich der Streifen zusätzlich als bissig-böse Anekdote zum mehr als dürftigen Gesundheitssystem der USA, in der sich die Bewohner schließlich selbst derer entledigen, denen ihrer Meinung nach ansonsten ein langfristiges Martyrium bevorstehen würde. Zuletzt ist Happy Hunting neben den gesellschaftspolitischen Bezügen aber auch eine besonders diabolische Form des kalten Entzugs von Warren, der nach anfänglichem Ringen mit seinen inneren Dämonen feststellen muss, dass diese längst nach außen gekehrt wurden und ihn noch unmittelbarer heimsuchen. [...]
„A Teströl és Lélekröl“ wird von Bildern eines verschneiten Waldes eröffnet, in dem sich zwei Tiere, ein männlicher Hirsch und eine weibliche Hirschkuh, zaghaft einander annähern. Diese Situation, die sich wenig später als Traum herausstellt, der von zwei Menschen auf die gleiche Weise Nacht für Nacht geträumt wird, erweist sich als enigmatisch-ruhiges Gegengewicht zum sonstigen Alltag von Endre und Mária. Beide arbeiten in einem ungarischen Schlachthaus, er schon länger als Finanzdirektor, sie erst seit kurzem als Qualitätskontrolleurin. Während Endre trotz seiner etwas eigenbrötlerischen Art und einem körperlichen Handicap aufgrund eines steifen Arms ein solides Verhältnis zu seinen Kollegen pflegt, hat es Mária als Neuankömmling wesentlich schwerer. Aufgrund ihrer verschlossenen, introvertierten sowie abweisenden Art wird sie schnell als Außenseiterin abgestempelt, welche die Mitarbeiter des Schlachthauses wahlweise ignorieren oder bloßstellen.
In dieser kalten, brutalen Tristesse, die durch sämtliche Gänge des Schlachthauses weht, ergründet Regisseurin Ildikó Enyedi auf surreal überhöhte Weise gemeinsame Berührungspunkte zwischen Endre und Mária, die in der Realität nur äußerst widerwillig eine Konversation beginnen können. Auch wenn er von Anfang Interesse an der schüchternen jungen Frau zeigt, ist sie es, die einer Begegnung mit ihm lieber aus dem Weg geht. Als in dem Betrieb eines Tages ein Potenzmittel gestohlen wird, das normalerweise Bullen verabreicht wird, beauftragt die Polizei aufgrund mangelnder Beweislage eine Psychologin, um Profile der gesamten Belegschaft zu erstellen, aus denen der Täter hervorgehen soll. Hierbei stellt sich schließlich heraus, dass Mária und Endre jede Nacht dieselbe Situation träumen, in der sie sich als Hirsch und Hirschkuh inmitten des verschneiten Waldes begegnen.
Was die Psychologin verwirrt und an der Glaubwürdigkeit der beiden zweifeln lässt, nutzt die Regisseurin hingegen als originellen Zugriff auf das Innenleben ihrer zwei Hauptfiguren, dem sie durch die Kraft des Imaginären, Unterbewussten nachspürt. In der ersten Hälfte zeichnet sich „A Teströl és Lélekröl“ durch eben diese Form der Inszenierung aus, bei der sich Enyedi durch die triste Atmosphäre des ungewöhnlichen Settings hindurch ebenso behutsam wie zärtlich einen Weg zu ihren Figuren bahnt. So führt sie zwei Menschen auf fast schon magische Weise zusammen, die ansonsten in bedrückender Isolation in ihren eigenen Leben gefangen sind und erst im Schlaf, wo sie körperlich getrennt und doch seelisch vereint sind, eine neue Form von Zwischenmenschlichkeit erfahren können.
Mit berauschenden Bildern, in denen Kameramann Máté Herbai die unterschiedliche Einsamkeit der Figuren in den kargen Schauplätzen des Schlachthauses spiegelt und erst in weißlich schimmernden Traumwelten aufzuheben vermag, strahlt der Film eine andersartige Poesie aus, der man sich als Zuschauer wie in Trance hingibt. Obgleich sich Enyedi mit ihrer Geschichte auffällig viel Zeit lässt und immer wieder in Abschweifungen verweilt, die zugleich einen tieferen Einblick in die Persönlichkeiten von Endre und Mária bieten, stellt die zweite Hälfte des Films einen drastischen Wendepunkt dar, bei dem man teilweise annehmen könnte, die Regisseurin sowie Drehbuchautorin sei ausgetauscht worden.
Mit der Annäherung zwischen den beiden Protagonisten, die abseits ihrer Träume weitere Schritte aufeinander zu wagen, lenkt die Regisseurin den Fokus etwas stärker auf Mária, die nun versucht, sich mit den Eigenschaften einer gewöhnlichen Beziehung auseinanderzusetzen und diese zu verinnerlichen. Auch wenn die Erkrankung niemals explizit beim Namen genannt wird, ist Márias Verhalten und Charakter ein mehr als deutlicher Beweis dafür, dass die junge Frau an Autismus oder dem Asperger-Syndrom leidet. Während es der Regisseurin in frühen Szenen noch gelingt, Symptome und Ticks dieser Erkrankung in ebenso aufschlussreicher wie zurückhaltender Art aufzuzeigen, läuft „A Teströl és Lélekröl“ in der zweiten Hälfte mehr als einmal Gefahr, zur puren Farce zu verkommen.
Wenn Mária gezeigt wird, wie sie in einem Musikgeschäft einen ganzen Stapel CDs probehören will, wobei sie bis Ladenschluss an der Theke verweilt und selbst zu härtester Metal-Musik keinerlei Regung zeigt, sich Hardcore-Pornos ansieht und emotionslos Gummibärchen dazu nascht oder über eine Wiese voller Menschen läuft und diese wie ein Alien bei gefühlvollen Interaktionen beobachtet, erscheint Enyedis Film bisweilen karikaturesk und zielt auf Lacher des Publikums ab, die in dem ansonsten sensiblen, ernstzunehmenden Tonfall schlichtweg unangebracht wirken und nur durch das hingebungsvolle, fantastische Schauspiel von Géza Morcsányi und Alexandra Borbély aufgefangen werden.
Als misslungener Tiefpunkt erweist sich schlussendlich das Finale, dem die Regisseurin zunächst einen übereilt erzwungenen, schmerzhaft anzusehenden Höhepunkt voranstellt, um Márias Erkrankung und somit ihr Wesen als etwas zu erklären, das es unbedingt zu heilen gilt. Am Ende hintergeht Enyedi ihren eigenen Ansatz, dem das Potential einer wahrlich wundersamen Form alternativer Zwischenmenschlichkeit innewohnt, und verrät die betörende Kraft des Unergründlichen an konkret werdenden Kitsch, der die eigentümliche Anziehung des Unterbewussten in der letzten Einstellung endgültig aus dem Film verbannt hat.
Wie ein launisches Kind schreit und zappelt sich die Protagonistin in Luc Bessons „Nikita“ durch den Gerichtsprozess, bei dem sie am Ende wegen der Ermordung eines Polizisten zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilt wird. Zuvor hatte die drogenabhängige Nikita mit ein paar Junkie-Freunden eine Apotheke ausrauben wollen, wobei ihre Freunde, der Apotheker und einige Polizisten durch einen wüsten Schusswechsel ums Leben kamen. Die lebenslängliche Haftstrafe tritt die junge Frau jedoch nie an, da sie von Vertretern einer geheimen Spezialeinheit der Regierung verschleppt wird. Die täuschen zunächst ihren Tod vor, um Nikita einer Ausbildung zu unterziehen, aus der sie als professionelle Auftragskillerin hervorgehen soll.
Besson inszeniert seinen Film von Anfang an als ein Werk der Gegensätze, in dem zwei verschiedene Welten immer wieder miteinander kollidieren. Die Protagonistin erscheint wie eine Mischung aus Kleinkind und wildem Tier, die durch die Einschränkung ihrer Freiheit, strengen Reglementierungen und unnachgiebigem Drill gewissermaßen domestiziert werden soll. An den extremen Kontrasten in Nikitas Persönlichkeit, die im Verlauf ihrer Entwicklung zwischen einem unsicheren, eingeschüchterten Mädchen und einer eiskalten, attraktiven Killerin pendelt, ist der Regisseur ebenso interessiert wie an den daraus resultierenden Schwankungen der verschiedenen Genres, zwischen denen sich „Nikita“ bewegt.
Anflüge eines konzentrierten Charakterdramas, das Nikitas Konflikt zwischen einem bürgerlichen Leben und ihrer tödlichen Berufung beleuchtet, von der sie unfreiwillig wieder und wieder eingeholt wird, durchdringt der Regisseur oftmals bewusst durch seinen unbedingten Stilwillen zur virtuosen Action-Poesie. Bessons Gespür für grandios gefilmte und geschnittene Auseinandersetzungen, in denen die Kugeln mitunter im Sekundentakt durch die Szenerie gefeuert werden, sorgt in Verbindung mit dem höchst atmosphärischen Score von Éric Serra für einige beeindruckende Setpieces, die zugleich völlig losgelöst von der eigentlichen Handlung für sich stehend bestaunt werden dürfen.
Die wohl beste Sequenz des Films gelingt dem Regisseur hingegen, als er sowohl das Privat- wie auch Berufsleben seiner Protagonistin aufeinanderprallen lässt. Nachdem Nikita für unbestimmte Zeit in die Freiheit entlassen wird und den sympathischen Kassierer Marco kennenlernt, mit dem sie eine Beziehung eingeht, klingelt ihr anderes Leben während eines romantischen Urlaubs in Venedig buchstäblich bei ihrem jetzigen an. Über ein Telefon erhält sie die Benachrichtigung über einen anstehenden Auftragsmord, den sie mithilfe eines im Badezimmer deponierten Gewehrs durchführen soll, während Nikitas Freund unwissend auf dem Bett auf sie wartet.
Wie Besson die packende Dynamik des Auftrags nicht nur mit mechanischer Präzision in audiovisuell messerscharfen Bildkompositionen montiert, sondern nebenbei auf drastische Weise Nikitas Gefühlsleben durcheinanderwirbelt, die mit einem Scharfschützengewehr in der Hand vor dem Badezimmerfenster über ein Headset mit ihrem Auftraggeber verbunden ist, während sie gleichzeitig mit Marco sprechen muss, der von außen an die Tür klopft, ist das inszenatorische Glanzstück dieses Films, für den der Regisseur Action, Spannung und innere Konflikte der Hauptfigur manchmal holprig, aber dafür stets konsequent zusammendenkt.
Als Vorgänger von „Léon“ ist dieser Film daher weitaus mehr als eine bloße Fingerübung. Auch wenn Besson die Mischung aus Charakteren und Action noch nicht so feinfühlig und souverän gelingt wie in dem vier Jahre später folgenden Meilenstein, weist „Nikita“ bereits Spuren von außergewöhnlichem Talent auf. Dieses spiegelt sich nicht nur in bereits formvollendet wirkenden Action-Sequenzen wider, sondern auch im Umgang mit der Hauptfigur, die Besson nach anfänglicher Misshandlung durch ein gewalttätiges, unterdrückendes Umfeld zur gleichermaßen verletzlichen, sensiblen wie starken, unabhängigen Action-Ikone erhebt.
„To Anton“ erscheint in kleinen Buchstaben rechts unten auf der schwarzen Leinwand, bevor der eigentliche Abspann von Gabe Klingers „Porto“ einsetzt. Der erste Spielfilm des amerikanisch-brasilianischen Regisseurs ist zugleich einer der letzten Auftritte von Schauspieler Anton Yelchin, der letztes Jahr mit gerade einmal 27 Jahren durch einen unglücklichen Unfall ums Leben kam. Die Vergänglichkeit des Lebens tritt in Klingers Film mit diesem Vorwissen über Yelchins frühen Tod unweigerlich in jeder Einstellung zum Vorschein, in der die Kamera auf ihn gerichtet ist.
„Porto“, in dem der amerikanische Schauspieler selbst wie ein ausgemergelter, lebensmüder Geist wirkt, der ziellos und einsam durch die Straßen der titelgebenden Stadt Portugals wandelt, handelt zwar nicht vom Tod, beschäftigt sich aber ebenfalls mit einer Form von schmerzlicher Vergänglichkeit. Yelchin spielt Jake, den Sohn eines Diplomaten, der in Porto gelandet ist, um sich mit wechselnden Gelegenheitsjobs durchzuschlagen, für die er rein gar nichts empfindet. Neuer Lebensmut flammt in dem 26-Jährigen erst auf, als er in einem Café zum wiederholten Male der wunderschönen Mati begegnet. Die aus Frankreich stammende, sechs Jahre ältere Archäologiestudentin lädt ihn mit zu sich in ihre Wohnung ein, wo beide eine Nacht miteinander verbringen, die als folgenschweres Ereignis im Zentrum dieses Films steht.
Non-linear inszeniert Klinger die Geschichte einer kurz erstrahlenden und ebenso schnell wieder verglimmenden Liebe als zerbrechliches Mosaik, von dem einzelne Teile abgesplittert sind, die immer wieder auf den tiefsten Kern der Handlung zusteuern, nur um an dessen erhabener Unergründlichkeit abzuprallen. Das Verhältnis zwischen Jake und Mati interpretiert der Regisseur mit einer gleichermaßen sinnlichen wie tragischen Erzählweise aus Erinnerungsfetzen, die er in drei verschiedene, auf Film gedrehte Bildformate kleidet. Der Zugang zu „Porto“ gestaltet sich daher zunächst als frustrierend, denn zwischen den wechselnden 8mm-, 16mm- sowie 35mm-Aufnahmen, deren Inhalte scheinbar einer zeitlich willkürlichen Chronologie entspringen, und einer musikalischen Untermalung, bestehend aus penetranten Klaviermelodien und wehmütigen Geigen, erscheint Klingers Spielfilmdebüt wie das forciert experimentelle, nach Arthouse-Klischees des europäischen Kinos der 60er und 70er Jahre gestrickte Erstlingswerk eines prätentiösen Filmstudenten.
„Porto“ ist aber auch ein Werk, das den Zuschauer nach einem durchaus frustrierenden Einstieg belohnt und immer stärker zu sich heranführt, bis es einen mit seiner verletzlichen Schönheit, flüchtigen Zärtlichkeit, deprimierenden Melancholie und brutalen Endgültigkeit vollkommen in seinen Bann gezogen hat. Ähnlich zwiegespalten wie Hauptfigur Jake, dessen Verhalten zwischen brutaler Verzweiflung und gefühlvoller Wärme schwankt, stellt der Regisseur bedeutungsschwere Formverliebtheit neben poetische Eindringlichkeit, um über den Verlauf des recht kurzen 75-minütigen Werks zu einem eigenartig faszinierenden Rhythmus zu finden. Klinger manipuliert die zeitliche Abfolge seiner Geschichte, um Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft sowie unpräzise Eventualitäten in einem berührenden Strom aus suchenden, tastenden Gesten und zeitweise wie erstarrten Gesichtsausdrücken, in denen Klinger ganze Seelenlandschaften abbildet, verschmelzen zu lassen.
Mutig kehrt der Regisseur mitunter zu bereits gezeigten Momenten zurück, um kleinere Informationen in den Gesprächen oder die Anordnung der Szenerie minimal zu verändern oder zu erweitern. Verstärkt wird hierdurch der Eindruck, den jeder kennen dürfte, der schon einmal durch die tiefsten Winkel seiner eigenen Erinnerungen gegraben hat, um zwischen unklaren Details entscheidende Momente greifen zu können und sie zumindest imaginär noch einmal aufleben zu lassen. Klinger mag im Umgang mit experimentellen Spielarten und natürlich klingenden Dialogen noch auf der Suche nach der für ihn perfekten Form sein, doch das einzigartige Wesen der Liebe, das der Regisseur sowohl in seiner einzigartigen Schönheit als auch fatalen Kurzlebigkeit heraufbeschwört, beleuchtet er in seinem Spielfilmdebüt schon jetzt wie einer von den ganz großen Filmemachern. Und nebenbei ermöglicht er seinem Hauptdarsteller ungewollt einen würdigen Abschied, in dem sich die unvollständige Sinnsuche von Jake auf treffende, emotionale Weise mit Yelchins eigenem Schicksal zu verbinden scheint.
Ungemein warmherzig und zugleich amüsant meldet sich Steven Soderbergh zunächst aus seinem verkündeten Ruhestand als Filmregisseur zurück, der ganze vier Jahre andauerte, bis er nun doch wieder einen Film veröffentlicht hat. Mit „Logan Lucky“ widmet sich Soderbergh der weißen, in den Südstaaten angesiedelten Unterschicht Amerikas, welche die Außenwelt gerne als Beispiel für die typische Trump-Wählerschaft heranzieht.
Das derzeitig vorherrschende, politische Klima ignoriert der Regisseur jedoch, denn ihm geht es keineswegs um eine umfassende Annäherung an diese Gesellschaftsschicht, die wahlweise als wütender, arbeitsloser, rassistischer oder übergangener Mob charakterisiert wird. Das Bild, das Soderbergh zu Beginn seines Films von West Virginia und seinen Figuren, die diesen Bundesstaat bevölkern, zeichnet, ist stattdessen von schlichter Sympathie geprägt, die nur gelegentlich von brodelnden, ernsteren Untertönen durchzogen wird.
Die Hauptfiguren sind die Brüder Jimmy und Clyde Logan, die jeweils mit unterschiedlichen Problemen zu kämpfen haben. Während Jimmy direkt in der ersten Szene des Films als liebevoller Vater gezeigt wird, der sich rührend um seine kleine Tochter Sadie kümmert, offenbart sich nur kurze Zeit später, dass er mit seiner Tochter nur an ausgewählten Wochenenden Zeit verbringen darf, da seiner Ex-Frau Bobbie Jo das Sorgerecht für das Kind zusteht. Als Jimmy auch noch seinen Job als Arbeiter in einer Mine verliert, da ihn seine Vorgesetzten aufgrund seines leicht humpelnden Gangs, der aus einer jahrelang zurückliegenden Sportverletzung resultiert, als Risiko einstufen, scheint er weiter unten angekommen zu sein als je zuvor.
Nicht viel besser geht es seinem Bruder Clyde. Der hat früher während seiner Zeit im Militär bei einem Irak-Einsatz einen seiner Arme verloren und schlägt sich mittlerweile als Besitzer einer Bar über die Runden, wo sein Einkommen eher mäßig ausfällt und er zudem aufgrund seiner Armprothese immer wieder lächerlich gemacht wird. Auch wenn die Protagonisten in „Logan Lucky“ somit eher den klassischen Verlierertypen entsprechen, die niedergeschlagen und frustriert gegen ihren eigenen Abstieg ankämpfen, nähert sich Soderbergh ihnen anfangs mit verständnisvoller Empathie, bei der die humorvoll eingestreuten Momente niemals zur bloßen Herabwürdigung verkommen.
Leider stellt der Auftakt, bei dem der Regisseur mithilfe von ebenso eigenwilligen wie charismatischen Figuren, atmosphärischen Südstaaten-Impressionen und ausgiebig zerdehnten Kaugummi-(Fake-)Slangs einen stimmigen Mikrokosmos entwirft, in den man als Zuschauer immer tiefer eintauchen möchte, bereits den gelungensten Teil dieses Films dar. Sobald die Brüder gemeinsam mit ihrer Schwester Mellie beschließen, ein NASCAR-Rennen am Memorial-Day auszurauben, lässt sich Soderbergh in die schwungvoll getakteten Heist-Mechanismen zurückfallen, die er unter anderem mit seiner eigenen „Oceans“-Trilogie selbst entschieden mitprägte.
Der eigentliche Clou von „Logan Lucky“ besteht dabei in der Erzählstruktur, durch die der Regisseur den Zuschauer inmitten der nicht gerade intelligenten Figuren auf einmal zum vermeintlich dümmsten Mitstreiter des dargebotenen Szenarios erklärt. Anstelle eines minutiös geschilderten Plans inszeniert Soderbergh den Überfall als mehrstufige Abfolge von Aktionen, bei denen sich das Vorhaben der Beteiligten nur durch ihre Handlungen erschließt und somit gelegentlich Fragezeichen aufwirft, bis eine darauffolgende Szene plötzlich neuen Sinn stiftet.
Der Film verkommt somit zur plotgetriebenen Räuberpistole, die in möglichst raffinierte Manöver gekleidet wird, bei der sich souveräne Tricks und unvorhergesehene Komplikationen miteinander abwechseln. Je länger sich das Wechselspiel aus gewitzter Bauernschläue, turbulenten Verstrickungen und mitunter grenzdebilen Dialogen jedoch vor einem ausbreitet, desto öder wirkt das hierbei entstehende Gesamtbild. Der eigentliche Plan entpuppt sich nicht nur als wesentlich simpler, als er inszeniert wird, sondern drängt sich in ungeschickt dominanter Manier vor die Persönlichkeiten der eigentlichen Figuren, die Soderbergh am Anfang erst ausführlich vorstellt, bevor er sie mehr und mehr zu albernen Schachfiguren degradiert, die sich plumpen Scherzen und mäßig durchdachten Entwicklungen unterordnen müssen.
Auch wenn sich der Regisseur ein äußerst vielversprechendes Ensemble beschaffen konnte, unter dem immerhin Channing Tatum das Maximum aus seiner unterentwickelten Figur herausholt, wirken Adam Driver, Daniel Craig oder Riley Keough beispielsweise eher bemüht als ausgelassen und kauen sich zeitweise wie Karikaturen durch ihre falschen Südstaaten-Dialekte. Es ist ernüchternd mitanzusehen, wie Soderbergh die Balance aus vielversprechenden Figuren und der eigentlichen Handlung misslingt. Drei Szenen, die jeweils zeigen, wie Gummibärchen dazu dienen, eine Bombe zu bauen, einen großartigen Gag über „Game of Thrones“ zelebrieren und mit einer Gesangsperformance von „Take Me Home, Country Roads“ fast zu Tränen rühren, kosten das vorhandene Potential zumindest ansatzweise aus.
Ansonsten ist „Logan Lucky“, der spätestens in den letzten 20 Minuten, die der Film ohnehin zu lang ist, auch noch einen ungelenk wirkenden Handlungsstrang um zwei Ermittler einführt und zuletzt mit seichter Anbiederung endet, definitiv kein Werk, für das Soderbergh unbedingt aus dem filmischen Ruhestand zurückkehren musste.
[...] Oftmals ist das Kino in gewisser Weise eine Zeitmaschine, die es dem Betrachter ermöglicht, Ereignisse oder Zustände der Vergangenheit zu besichtigen. Der japanische Anime-Regisseur Hayao Miyazaki (Das Schloss im Himmel) ist in dieser Hinsicht einer der größten Kino-Magier. In seinen Werken, die sich meist bei großen und kleinen Zuschauern gleichermaßen einen Platz mitten im Herzen ergattern, gelingt es dem Filmemacher nicht nur, Orte und Ereignisse der Vergangenheit zu bereisen, sondern Gefühle, die vor allem bei älteren Zuschauern vermutlich schon viele Jahre zurückliegen und plötzlich doch wieder ganz konkret spürbar sind. [...] Auf den ersten Blick wirkt die Geschichte eines Vaters und dessen zwei kleinen Töchtern, die zu Beginn des Films in ein neues Haus auf dem Land einziehen, fast schon überraschend unspektakulär. Schon die ersten Szenen, in denen der Umzug stattfindet, verdeutlichen aber, dass es Miyazaki nicht so sehr darum geht, was er da gerade erzählt, sondern darum, durch welchen Blickwinkel die Geschehnisse durchwegs erlebt werden. Aus der Perspektive der vierjährigen Mei und ihrer sechs Jahre älteren Schwester Satsuki gestaltet der Regisseur die Anreise zu dem neuen Haus der Familie sowie die sich daran anschließende Ankunft als kindlich-verspieltes, in bunten Bildern erstrahlendes Abenteuer. Als die beiden Geschwister zum ersten Mal mit strahlenden Gesichtern durch das Grundstück mitsamt Garten sowie dem Inneren des Hauses toben und jeden Winkel mit purer Begeisterung erkunden, entfacht Mein Nachbar Totoro jenes einzigartige, unvergleichliche Gefühl der Kindheit, in dem jeder neue Tag mit schier endlosen Möglichkeiten anbricht, deutlich länger erscheint, als er eigentlich ist und die naive Begeisterung grundsätzlich der zögernden Skepsis überwiegt. Miyazakis Werk ist aber nicht nur eine Ode an genau dieses Lebensgefühl, in dem sich junge Zuschauer sofort bestätigt fühlen und ältere Zuschauer in wohliger Nostalgie schwelgen dürfen, sondern ebenso ein Appell an die Kraft der Fantasie. [...] Totoros Auftritte, die genauso gut auch nur der kindlichen Vorstellungskraft der beiden Mädchen entsprungen sein könnten, nutzt Miyazaki als bewusst gewählte Fluchtpunkte aus der Realität, die für die Geschwister innerhalb der Handlung durchaus einige Hürden bereithält. Obwohl Mein Nachbar Totoro dadurch überrascht, dass dem Film ein gewöhnlicher Antagonist fehlt, den es gegen Ende der Geschichte zu überwinden gilt, und auf eine klassische Einteilung in Gut und Böse ebenfalls vollständig verzichtet wird, begeistert der Regisseur im Gegenzug mit einem einfühlsamen Verständnis für familiäre Konflikte, die sich nach und nach aus der Abwesenheit von Mei und Satsukis Mutter entfalten, welche im Krankenhaus liegt. Mit behutsamer Dramatik, die niemals in allzu ernste Gefilde entgleitet, erzählt Miyazaki von kindlichen Verlustängsten, die sich nie logisch erklären lassen, von zärtlichem Verantwortungsbewusstsein der jeweiligen Familienmitglieder untereinander und von überbordendem Optimismus, der durch fantasievolle Überhöhung unterstützt wird, bis er sich zuletzt vor dem Fenster der erkrankten Mutter mit trostspendendem Gelächter zu erkennen geben darf. [...]
Gleißende Sonnenstrahlen durchfluten das spanische Urlaubsparadies, in das sich das englische Pärchen Tom und Evelyn begibt, um abzuschalten. Angereist sind sie ohne ihre beiden Kinder, ein drittes befindet sich aktuell noch im Bauch der hochschwangeren Evelyn. Generell scheinen Kinder das bestimmende Thema von Narciso Ibáñez Serradors „¿Quién puede matar a un niño?“ zu sein, auf die der spanische Regisseur bereits im Vorspann ausdrücklich verweist.
In einer knapp achtminütigen Sequenz wühlt sich Serrador direkt zu Beginn mithilfe realer Archivaufnahmen durch verschiedene Gräueltaten der Menschheit, die sich durch das 20. Jahrhundert zogen. Bilder aus Konzentrationslagern des Zweiten Weltkriegs, grausige Impressionen des Koreakriegs oder verhungernder Menschen in Afrika verweisen dabei nicht nur auf die Gesamtzahl der Toten, sondern betonen separat auch immer die Anzahl der verstorbenen Kinder, die stets unschuldig Opfer von etwas wurden, das sie nie richtig begreifen konnten, bevor es längst zu spät war.
So plakativ und aufdringlich dieser Prolog, der zusätzlich immer wieder vom fröhlichen Summen kindlicher Stimmen durchzogen wird, auch sein mag, verfehlt er seine Wirkung beim Betrachter kaum, bis er zugunsten der eigentlichen Geschichte auch schon wieder verschwindet. In den darauffolgenden Szenen etabliert der Regisseur mit der Anreise der beiden Urlauber schließlich konträr zu den zuvor gezeigten Archivaufnahmen einen Zustand der schwelgerischen Postkartenidylle, unter die sich langsam bedrohliche Unklarheit mischt.
Nachdem Tom und Evelyn bei ihrer Ankunft im spanischen Küstenort Benavis zunächst von lokalen Feierlichkeiten überrumpelt werden, fahren sie am nachfolgenden Tag mit einem Boot zu der rund vier Stunden entfernten Insel Almanzora. Auf dieser Insel, die Tom früher schon einmal bereiste, verspricht sich der Biologe mit seiner Frau eine ruhige, entspannte Zeit fernab von all der Hektik und dem Getümmel, zwischen dem sich das Paar einen Tag zuvor sichtlich unwohl gefühlt hat. Die entspannte Ruhe fällt allerdings anders aus als erwartet, denn Almanzora wirkt aufgrund der menschenleeren Häuser und Läden, neben denen das Paar nur einigen Kindern begegnet, wie ausgestorben.
Mit seinem bedächtigen Spannungsaufbau erweist sich Serrador als perfider Horrorfilm-Regisseur, der die schockierende Endgültigkeit seines Szenarios lange hinter jenen gleißenden Sonnenstrahlen verbirgt, die sich von Anfang an durch die malerische Kulisse der Schauplätze ziehen. Als Tom und Evelyn ein kleines, freundlich wirkendes Mädchen dabei beobachten, wie dieses mit einem Stock auf einen alten Mann einschlägt, wandelt sich die vermeintliche Geisterstadt zu einem Hort des Terrors, in dem es für das Paar fortan ums blanke Überleben geht. „¿Quién puede matar a un niño?“, was ins Deutsche übersetzt so viel bedeutet wie „Wer kann ein Kind töten?“, stellt sich als verstörende Umkehrung des Prologs heraus, indem der Regisseur die unverständlichen Gräueltaten, die Kindern in der bisherigen Menschheitsgeschichte durch Erwachsene widerfahren sind, in eine verstörende, gegensätzliche Richtung verdreht.
In Serradors Werk sind es Kinder, die Erwachsene töten, wobei der Regisseur meist nur die brutalen Konsequenzen ihrer Taten zeigt, ohne das gewohnte Erscheinungsbild der Kinder zu verändern. Auch wenn der Film in Deutschland anfangs unter dem unsinnigen Titel „Tödliche Befehle aus dem All“ veröffentlicht wurde und den Handlungen der Kinder durch veränderte Schnitte eine außerirdisch geprägte Motivation angedichtet wurde, bleibt der Horror im unveränderten Original ein abstrakter, nicht greifbarer. Ein naives, unverstelltes Lächeln auf den Gesichtern der Kinder wird für Tom und Evelyn zum Sinnbild des unerklärlichen Schreckens, vor dem sie so lange flüchten, bis sie unvermeidlich mit der titelgebenden Frage konfrontiert werden, ab wann es womöglich moralisch gerechtfertigt ist, eine Schwelle zu übertreten, vor der ein Großteil der Menschheit eigentlich zurückschrecken würde.
Mit eindringlichen Bildern, in denen sich die schweißtreibende Hitze sowie eingezwängte Ausweglosigkeit des Geschehens bündelt, und einer effektiven Klanguntermalung gelingt es dem Regisseur, über das manchmal eher ungeschickt oder fragwürdig erscheinende Verhalten der beiden Protagonisten hinwegzutäuschen. Kompromisslos führt Serrador den panischen Überlebenskampf des Paares nicht nur auf einen moralischen Scheideweg, sondern darüber hinaus zu einem markerschütternden, bestürzenden „Höhepunkt“, der innerhalb der filminternen Logik nicht nur konsequent gewählt ist, sondern ebenso zu überraschen weiß, bis hin zu einem nahezu nihilistischen Schluss, der den endlosen Horror in der Tradition einflussreicher Genre-Meilensteine wie George A. Romeros „Night of the Living Dead“ noch einmal dort verankert, wo er am unbequemsten keimt: In der menschlichen Gesellschaft, die Fehler der Vergangenheit unaufhörlich zu wiederholen scheint.
Subtilität war noch nie ein Merkmal der Werke von Darren Aronofsky. Seit seinem Debüt „Pi“ von 1998 vertraut der New Yorker Regisseur viel mehr auf die unmittelbare audiovisuelle Kraft des Mediums Film, um seine oftmals von verstörender Intensität geprägten Geschichten zu erzählen. Zuletzt konnte man Aronofsky dabei beobachten, wie sein eigenwilliger Stil maßgeblich mit den zuschauerfreundlichen Richtlinien eines großen Studios kollidierte, als er für Paramount „Noah“ drehte. Das Resultat war ein schizophrener, 125 Millionen teurer Arthouse-Blockbuster-Hybrid, in dem der Regisseur gewaltige Schauwerte und biblische Epik mit einem psychotischen Charakter-Psychodrama sowie seiner persönlichen, atheistischen Lebenseinstellung kreuzte, um unvorbereitete Zuschauer wie treue Fans seines Schaffens vor den Kopf zu stoßen und herauszufordern.
Auch wenn sich „Noah“ mit einem Einspielergebnis von insgesamt rund 363 Millionen Dollar für Paramount in finanzieller Hinsicht als zufriedenstellende Investition erwiesen haben dürfte, überrascht es doch, wie viel Vertrauen das Studio ein weiteres Mal in Aronofsky gesetzt hat. Mit einem wesentlich niedrigeren Budget von lediglich 30 Millionen Dollar, einem kleineren Cast von Schauspielern, unter denen hauptsächlich Jennifer Lawrence und Javier Bardem als publikumswirksame Stars gelten dürften, sowie nur einem einzigen Schauplatz erweckt „mother!“ rein von den Produktionsvoraussetzungen her den Anschein, als sei der Regisseur ein wenig zu seinen Wurzeln zurückgekehrt, um einen kleineren, intimen Film zu drehen.
Klein und intim entfaltet sich Aronofskys siebter Film zunächst auch tatsächlich, denn auf den ersten Blick scheint es sich bei „mother!“ lediglich um die Betrachtung einer Ehe zu handeln, die von ebenso mysteriösen Hintergründen wie unheilvollen Anzeichen und Symptomen aus der Gegenwart überschattet wird. Lawrence und Bardem verkörpern das namenlose Ehepaar, das sich in ein ländliches Haus zurückgezogen hat. Während sie die klassische Rolle der umsorgenden Hausfrau einnimmt und überwiegend damit beschäftigt ist, das Haus nach einem schweren Brand zu renovieren und laut eigener Aussage ein Paradies für sich und ihren Mann zu kreieren, ist er ein anerkannter Poet, der offenbar schon eine ganze Weile nichts mehr veröffentlicht hat, da er an einer unaufhörlichen Schreibblockade zu leiden scheint.
Bereits ab dem Auftakt des Films erzeugt Aronofsky eine unangenehme, beklemmende Atmosphäre, die der Regisseur wie schweres Blei über die Szenen des Films legt und mit jeder fortschreitenden Minute der Laufzeit weiter auf den Körper des Zuschauers verlagert. Neben seltsamen Geräuschen und Erscheinungen, von denen Lawrences Figur regelmäßig heimgesucht wird, erscheint das Haus dabei selbst irgendwann wie ein lebendiger, pulsierender Organismus, welcher scheinbar auf alles reagiert, was in dessen Inneren vor sich geht. Die zunehmend bizarreren Vorfälle wie ein Herz, das den Abfluss einer Toilette verstopft und sich wenige Sekunden später in Luft auflöst, oder ein Loch im Boden, aus dem es wiederholt blutet, verfolgt der Zuschauer dabei ebenso hilflos und überfordert wie die weibliche Hauptfigur, die sich als Dreh- und Angelpunkt der Handlung entpuppt.
Die klaustrophobisch beengenden Close-ups von Aronofskys Stamm-Kameramann Matthew Libatique bestimmen nicht nur einen Großteil des Films, sondern heften sich dazu unentwegt an Lawrences Gesicht oder verfolgen das Geschehen hinter ihrem Rücken. Es ist ganz klar ein Film aus ihrer Perspektive, die spürbar werden lässt, wie es sich anfühlt, wenn etwas Unerklärliches oder Unerwünschtes dort eindringt, wo man sich selbst eigentlich am sichersten wähnt. Mit der Ankunft eines weiteren Paares, das ebenfalls namenlos bleibt und von der männlichen Hauptfigur geradezu mit offenen Armen empfangen wird, schildert der Regisseur schließlich einen paranoiden Kontrollverlust jener Privatsphäre, die schon zu Beginn unter trügerischen Vorzeichen etabliert wurde.
Mithilfe eines exzellenten Sound-Designs, durch das der Betrachter selbst mit den Figuren in den Räumlichkeiten des Hauses zu versinken droht, kreiert Aronofsky gänzlich ohne musikalische Untermalung das Gefühl von authentischer Realitätsnähe, die aufgrund der vermehrt auftretenden, rätselhaften Elemente immer wieder in einen surrealen Zwischenraum kippt. Nach zwei Dritteln, die der Regisseur als konzentrierten, von unheimlich verdichteter Anspannung durchzogenen Psychothriller inszeniert, der nach einem nicht genauer bestimmten Zeitsprung kurz zur Ruhe kommen darf, setzt Aronofsky jedoch zu einem finalen Drittel an, das sich als brachialer Frontalangriff auf sämtliche Sinne entpuppt.
Weshalb der Film bei seiner Weltpremiere bei den diesjährigen Filmfestspielen von Venedig nicht nur Applaus, sondern stürmische Buhrufe erntete, lässt sich nur allzu gut nachvollziehen. Der Regisseur stürzt Lawrences Figur nicht nur in einen martialischen, delirierenden Fiebertraum, in dem diese beinahe buchstäblich Höllenquälen durchleiden muss, sondern lenkt sein Gesamtwerk unklar zwischen verschiedene Interpretationssätze, die ebenso verwirren wie anregen. Als Meditation über den Zustand der Erde, die von der Menschheit bewusst mit Füßen getreten wird, Reflexion über den künstlerischen Schaffensprozess, der zwischenmenschliche Beziehungen aufgrund unüberwindbarer Egos der Schöpfer in den blanken Wahnsinn reißt, oder garstige, völlig losgelöste sowie erneut mit biblischen Referenzen gespickte Dekonstruktion privater Lebensumstände von in der Öffentlichkeit stehenden Personen scheint „mother!“ aufgrund der Dichte an Symbolen, Metaphern und allegorischen Motiven bisweilen aus allen Nähten zu platzen.
Aronofsky zeigt allerdings auch hier, inmitten der chaotischen, mitunter kaum erträglichen Eskalation, einen Hang zum Apokalyptischen, das er geschickt ins Intime verlagert. Wie auch schon das letzte Drittel von „Noah“, das sich fast ausschließlich an Bord der Arche ereignet und sämtliche Konflikte im Privaten verhandelt, bündelt der Regisseur in diesem Film plötzlich aktuelle Missstände des politischen Weltgeschehens auf exzessive Weise in den eigenen vier Wänden von zwei Menschen, die spätestens im Finale nicht einmal mehr als solche wahrnehmbar sind. Auch wenn Aronofsky hierbei deutlicher als je zuvor Gefahr läuft, aufgrund seines ungestümen Ansatzes erboste Reaktionen und hämisches Gelächter zu ernten, liegt genau darin vielleicht der größte Clou von „mother!“ verborgen. Er stellt das Schrille, Überbordende und Skandalöse, Schockierende auf gleiche Weise nebeneinander wie das Zärtliche, Zerbrechliche und Intime, Verletzliche, wodurch der Regisseur genauso zum offenen Kern des Kinos vordringt wie zum Inneren der Menschheit, die er hier wahlweise verdammt oder retten will. Möglich wäre natürlich beides.
[...] Obwohl sich der Regisseur recht stark der typischen Biopic-Struktur beugt und chronologisch bedeutende Stationen im Leben von Flynt zeigt, wird Larry Flynt - Die nackte Wahrheit von Anfang an durch auffällig abrupte Schnittfolgen mit regelrechter Rasanz vorangetrieben, während sich Hauptdarsteller Woody Harrelson (Natural Born Killers) mit grandioser Versessenheit in seine Rolle stürzt. Neben der Detailverliebtheit, durch die der Regisseur die jeweiligen Jahrzehnte der Geschichte optisch originalgetreu aufleben lässt, ist es die elektrisierende Leistung von Harrelson, der Flynt geradezu denkwürdig zu gleichen Teilen als schroffen Exzentriker, schrägen Vogel, charismatischen Geschäftsmann und fragwürdigen Provokateur verkörpert, die etwas über die nach und nach auftretenden Mängel und Ungereimtheiten des Gesamtwerks hinwegtäuscht. Je weiter die Handlung voranschreitet, in der Forman gelegentlich größere Zeitsprünge vornimmt und bedeutende Entwicklungen aus dem Leben der Hauptfigur übereilt abzuwickeln scheint, desto stärker fokussiert sie sich vor allem auf Flynts Auseinandersetzungen mit dem Justizsystem der Vereinigten Staaten, das dem Hustler-Herausgeber unentwegt Steine in den Weg legte und dessen pornographische Inhalte bei jeder Gelegenheit unter hohe Strafen stellen wollte. Durch wiederholte Gerichtsszenen, die der Regisseur mit der Unterstützung eines glänzend aufgelegten Edward Norton (Fight Club) in der Rolle von Flynts Anwalt als ebenso unterhaltsame wie prägnante Scharmützel inszeniert, entwickelt sich Larry Flynt - Die nackte Wahrheit aus der Geschichte eines einzelnen Menschen heraus zu einem flammenden Plädoyer für die Bedeutung der Meinungsfreiheit, die sich Flynt wieder und wieder vor Gericht erkämpfen wollte, während er dem bigotten, prüden Teil der amerikanischen Gesellschaft folgerichtig einen Spiegel vorhielt und diese gehörig aufwirbelte. Trotz der zwiespältigen Charaktereigenschaften, von denen die Hauptfigur auch später, als Flynt nach einem missglückten Attentat von der Hüfte abwärts gelähmt im Rollstuhl sitzt, noch begleitet wird, wirkt er in diesem Zusammenhang mehr wie ein glorreicher Einzelkämpfer, den Forman als trotziges, widerspenstiges Vorzeigebeispiel für seine eigene Botschaft verwendet. Die dunklen Schatten aus Flynts Biographie, der unter dem Deckmantel der Satire erst recht um jeden Preis anecken wollte, indem er beispielsweise skandalträchtige Karikaturen von einem Cartoon-Zeichner auch dann noch anfertigen ließ, als dieser längst wegen Kindesmissbrauchs verurteilt wurde, oder seine psychischen Probleme, denen eine nachgewiesene, bipolare Persönlichkeitsstörung zugrunde lag, verblassen im Angesicht einer Geschichte, in der Forman von den komplexen Facetten Flynts auf einen viel größeren Rahmen abzielt, bei dem ihm die erzählerischen Feinheiten und der kritische Raum zunehmend entgleiten. [...]
[...] Wüsste man es nicht besser, könnte man behaupten, die Geschichte von Michael Showalters (Hello, My Name Is Doris) The Big Sick ist eine, wie sie nur im Kino geschrieben werden kann. In ihrem Kern befinden sich zwei Menschen, die sich zufällig begegnen und scheinbar wie füreinander bestimmt sind, bis sich wenig später ein unvorhersehbares, tragisches Ereignis zum denkbar unpassendsten Zeitpunkt zwischen die beiden drängt und ein ungewisses Schicksal für ihre gemeinsame Zukunft bereithält. Diese Geschichte ist dabei allerdings keineswegs fiktionalen Ursprungs, sondern beruht auf wahren Hintergründen aus dem Leben von Kumail Nanijani (Fist Fight) und Emily V. Gordon (The Carmichael Show), die sich gemeinsam für das Drehbuch verantwortlich zeichnen. [...] Showalters Film, der vor allem durch die Persönlichkeiten von Nanijani und Gordon geprägt wird und eigentlich viel mehr deren Film ist, zieht sich plötzlich ganz langsam vom Fokus auf eine einzelne Beziehung zurück und gewährt einen breiteren Raum für ebenso behutsam wie liebevoll errichtete Verästelungen in dieser Geschichte, die spätestens ab hier die meisten Zuschauer für sich gewonnen haben dürfte. Nicht einmal der Stempel, den Judd Apatow (Beim ersten Mal) dem Werk mit seiner Produktionsschmiede aufdrückt, macht sich abseits einiger ausschweifend eingefangener Stand-up-Auftritte bemerkbar, wodurch der Humor stets in sanften Bahnen verläuft. Womöglich könnte man es als Schwäche auslegen, dass The Big Sick somit ein Film ist, der es sich fast schon zu einfach macht, indem die Verantwortlichen genau wissen, wann sie welche Knöpfe drücken müssen, was für ein Maß an bewegender Tragik sie wann unter den leichtfüßigen Tonfall ihres Drehbuchs mischen und wann sie diese Tragik durch amüsante Pointen oder witzige Dialoge wieder abfedern, um jederzeit in die Herzen des Publikums vordringen zu können. Bewundernswert ist es aber trotzdem, wie unprätentiös, ambivalent und ohne übermäßige Selbstbezogenheit Gordon und Nanijani nicht nur eine Geschichte über ihre eigene Beziehung erzählen, sondern gleichzeitig eine Liebeserklärung an diejenigen formulieren, die ihnen in dieser Zeit auf die eine oder andere Art am nächsten standen. So sind es beispielsweise Holly Hunter (Dreizehn) und Ray Romano (Wie das Leben so spielt) in den Rollen von Emilys Eltern, denen das Autoren-Duo die mitunter stärksten, wenngleich womöglich dezent fiktional überhöhten Szenen dieses Films widmet, während Nanijani im späteren Verlauf in einem Streitgespräch mit seinen Eltern gewissermaßen ein Stück weit mit seiner eigenen Persönlichkeit abrechnet und seinen Eltern dadurch den Respekt zollt, zu dem er zum damaligen Zeitpunkt vielleicht nie fähig gewesen ist. [...]
Mit staunenden Augen betritt Mae ihren neuen Arbeitsplatz, der sich kaum stärker von ihrem alten unterscheiden könnte. Im Vergleich zur tristen, unpersönlichen Büroatmosphäre, in der die Mittzwanzigerin zuvor zwischen altmodischen Trennwänden am Schreibtisch ein ödes Dasein als Service-Hotline-Ansprechpartnerin fristete, wirkt ihr Wechsel zum schwer angesagten Tech-Unternehmen „The Circle“ inmitten des Silicon Valley wie ein aufregendes Abenteuer.
James Ponsoldt, der mit „The Circle“ den gleichnamigen Bestseller von Dave Eggers verfilmt hat, führt seine Protagonistin zu Beginn in ein hippes Wunderland des technologischen Fortschritts. Hier strahlt das sterile Weiß der Inneneinrichtung genauso wie die überwiegend jungen, aufgeschlossenen Kollegen, zu denen Mae auch über das reine Arbeitsverhältnis hinaus möglichst viel Kontakt pflegen soll. Neben Vorstellungsgesprächen, die auf alternative, spontane Weise geführt werden, einer durchwegs gelockerten Stimmung, Arbeitszeiten, die aufgrund eines großzügigen Gleitzeit-Modells sowie einer Wohnunterkunft in der Nähe der Firma kaum mehr als solche bezeichnet werden können und Präsentationen des Firmenmitbegründers, der in Jeans auftritt und wie ein guter Freund scherzt, erhalten Maes Vorstellungen einer schönen neuen Welt allerdings frühe Risse.
Als sie nach einem Wochenende zuhause bei der Familie zu ihrem Arbeitsplatz zurückkehrt, wird sie von zwei Mitarbeitern des Unternehmens nicht nur darüber aufgeklärt, dass sie zahlreiche Wochenendaktivitäten auf dem Firmengelände verpasst habe, sondern bemerkt dadurch auch, dass diese jeden ihrer Schritte verfolgen. Das Geschäftsziel von „The Circle“, jeden Menschen mithilfe einer digitalen Identität rund um die Uhr miteinander zu vernetzen, zu großen Teilen der Realität zu entreißen und irgendwann zwanghaft an die eigene Software zu binden, formen Ponsoldt und Eggers zu einem Überwachungsalbtraum der totalen Transparenz sowie des vollständigen Verlusts der Privatsphäre.
In Mae, die irgendwann selbst den passenden Schlüsselsatz äußert, dass Geheimnisse Lügen seien, finden die Autoren dabei einen idealen Spielball, der sich naiv der formelhaften Dramaturgie sowie den teilweise schmerzhaft lehrbuchartigen Thesen des Drehbuchs fügt. In einem global vernetzten Informationszeitalter, in dem die Menschen tagtäglich an aktuelle Trends und Entwicklungen des Weltgeschehens angebunden werden, wirkt ein Film wie „The Circle“, der sich eigentlich mit einer hochbrisanten Thematik voller zeitgemäßer Dringlichkeit auseinandersetzt, längst antiquiert, bevor der Abspann läuft.
Eggers‘ unheilvolle Vision eines Überwachungsmonopols, das sich über den Staat erheben und die alleinige Vorherrschaft über das Privatleben des Individuums erzwingen will, leidet hierbei unter einem stark vereinfachten, äußerst oberflächlich konstruierten Handlungsgerüst. Mae, die höchst bedenkliche Informationen leichtgläubig hinnimmt und sich nur allzu leicht in die Machenschaften von „The Circle“ einspannen lässt, wird von Emma Watson ebenso blauäugig gespielt und erweist sich als ärgerliche Protagonistin, die ignoriert, was jeder Zuschauer lange zuvor schon erkannt hat.
So entzieht sich „The Circle“ bis zu seinem misslungenen Finale, das völlig falsche Töne anschlägt, beinahe jeglicher Kategorisierung oder treffender Genre-Zuordnung. Als beklemmende Dystopie ist die Geschichte der Realität kaum noch voraus, so dass ein Blick in soziale Netzwerke genügt, um sich einen authentischeren Überblick über die momentane Situation des Online-Verhaltens zu verschaffen. Als Thriller wiederum bleibt das Gesamtwerk trotz eines pulsierend wummernden Scores, der stellenweise an die Arbeiten von Trent Reznor und Atticus Ross erinnert, seltsam unbelebt, während die Bilder nur vereinzelt dazu imstande sind, die Grenzen zwischen Realität und Virtualität beängstigend aufzuheben und ein Drehbuch zu kaschieren, das höchstens technikfremde Zuschauer am Rande des Rentenalters in Alarmbereitschaft versetzen dürfte.