Patrick Reinbott - Kommentare

Alle Kommentare von Patrick Reinbott

  • 6

    [...] Dass mit dem französischen Filmemacher nach seinem letzten durchwachsenen Werk The Tall Man – Angst hat viele Gesichter aber durchaus noch zu rechnen ist, beweist Laugier nun mit seinem neuen Film Ghostland, für den er ohne Rücksicht auf Verluste mit ungebremster Zitierwut aus allen Rohren feuert. Dafür eröffnet der Regisseur den Film gleich zu Beginn mit einer Huldigung an H.P. Lovecraft, der sich als Autor diverser einflussreicher Horrorgeschichten unsterblich machte. Das Kreieren von Geschichten wird auch in Ghostland zum zentralen Bestandteil der Handlung, in der die alleinerziehende Mutter Colleen mit ihren beiden jugendlichen Töchtern Beth und Vera in das Haus zieht, das sie von ihrer kürzlich verstorbenen Tante geerbt hat. Nachdem eine der beiden Teenagerinnen das schaurig wirkende, mit allerlei finsteren Puppen dekorierte Anwesen damit kommentiert, dass sie sich nun in Rob Zombies Haus befinden würden, hat Laugier direkt eine weitere Referenz offengelegt, mit der sein aggressives Werk garniert ist. Überraschend schnell zieht der Regisseur seinem Publikum anschließend den Boden unter den Füßen weg, als sich zwei bizarre Eindringlinge Zutritt in das Haus verschaffen und die Jagd auf die dreiköpfige Familie eröffnen. Ähnlich wie schon in Martyrs lässt Laugier frühzeitig einen Reigen des puren Terrors über seine Figuren einbrechen, der sich aufgrund der viszeralen Erbarmungslosigkeit nahtlos auf die Verfassung des Zuschauers überträgt. Der Regisseur beweist in diesen Szenen abermals, dass er in erster Linie ein begnadeter Genre-Handwerker ist, der Horror als unaufhörliche Abfolge von Schlägen in die Magengrube begreift. [...] 16 Jahre später scheint zumindest eine der drei Hauptfiguren ihr Trauma ansatzweise überwunden zu haben, indem sie den lange zurückliegenden Schrecken auf kreative Weise als Buchautorin verarbeiten konnte. Beth, die sich schon als Teenagerin am Schreiben von Horrorgeschichten versuchte, landet mit ihrem neuesten, offenbar autobiographisch gefärbten Werk „Incident in a Ghost Land“ ihren bisher größten Erfolg, während sich die Geister der Vergangenheit erneut in ihr Leben drängen. Ein panischer Anruf ihrer Schwester führt sie zurück in jenes Anwesen, in dem vor 16 Jahren die Hölle auf Erden losgebrochen ist. Dort begegnet Beth nicht nur ihrer Mutter, die vergleichsweise entspannt in der Gegenwart angekommen zu sein scheint, sondern auch einer Vera, die sich hysterisch hinter abgeschlossenen Riegeln verschanzt hat, um sich vor einer ungewissen Bedrohung abzuschotten. Mit verschiedenen Genre-Versatzstücken und Einflüssen, die von Home-Invasion-Elementen über unsichtbare Haunted-House-Spukeinlagen bis hin zu exzessivem Body-Horror reichen, bei dem die Körper von Laugiers wieder einmal bevorzugt weiblichen Figuren entsetzlich entstellt werden, verknüpft der Regisseur verdrängte Traumata, konkrete Gefahren und verschwommene Realitätsebenen zu einem schrillen Horrorkabinett der garstigen Attraktionen, in dem das Subtile stets dem maximalen Effekt weichen muss. In der Tradition seines offensichtlichen Vorbilds H.P. Lovecraft, dem Laugier spät im Film sogar noch einen unerwarteten Auftritt verschafft, ist Ghostland neben seinen mitunter fragwürdigen Qualitäten als ungestümes, offensives Zitate- sowie Stilrichtungsfeuerwerk vor allem ein Film über jene Art von Geschichten, die wir Menschen uns gerne selbst erzählen, um mit den Unzulänglichkeiten des Lebens irgendwie zurechtzukommen. Im Fall des Regisseurs sind das blutdurchtränkte, von entstellten Körpern und fiktiven sowie leider allzu realen Monstern bevölkerte Geschichten, an deren Ende folglich nur ein bitteres Erwachen wartet.

    16
    • 7
      über Profile

      In unserem modernen Alltag, der von Bildschirmen unterschiedlichster Art beherrscht wird, ist der pure Horror oft nur einen Klick entfernt. Im Jahr 2014 hat der russische Regisseur Levan Gabriadze dieses Prinzip mit seinem Film „Unfriended“ einem innovativen Konzept unterzogen, indem sich die gesamte Handlung des Horrorfilms ausschließlich auf der Desktopfläche der jugendlichen Protagonistin abspielte. Was Gabriadze im Verlauf dieser Geschichte an konventionellen Schocks und fast schon beiläufig abgehandelten Todessequenzen aufbot, glich der Regisseur zugleich mit seiner konsequenten Machart aus, die den Mechanismen der gegenwärtigen, rund um die Uhr miteinander vernetzten Gesellschaft sowie generell überwiegend virtuell existierenden Welt verschrieben war. Der eigentliche Horror fand sich in „Unfriended“ daher weniger in Gestalt eines unsichtbaren Cyber-Dämons wieder, der eine Gruppe Jugendlicher innerhalb einer Skype-Session terrorisiert und schließlich umbringt, sondern vielmehr in der Erkenntnis, dass letztendlich niemand dem Drang entkommen kann, permanent online sein zu müssen.
      Timur Bekmambetov, Regisseur von Filmen wie „Abraham Lincoln: Vampire Hunter“ oder dem „Ben Hur“-Remake, wirkte an „Unfriended“ als Produzent mit und führt dieses vielversprechende Konzept des Desktopfilms, das sich im Gegensatz zum ansatzweise vergleichbaren Found-Footage-Genre in den letzten Jahren noch nicht totgelaufen hat, für sein eigenes neues Werk „Profile“ fort. Die Idee des Films stammt aus dem Buch der französischen Journalistin Anna Erelle, die für eine investigative Reportage Hintergründe über die Rekrutierungsmethoden von jungen Frauen durch ISIS-Anhänger aufdecken wollte. Wie auch schon in „Unfriended“ ist es in „Profile“ einzig und allein die MacBook-Desktopoberfläche der im Film britischen Journalistin, die der Regisseur als vielfältigen und doch eingeschränkten Handlungsraum nutzt. Hier verwandelt sich Amy Whittaker mithilfe eines Facebook-Fake-Profils in die konvertierte Muslima Melody Nelson, um mit einem Mitglied der Terrororganisation „Islamischer Staat“ Kontakt aufzunehmen.
      Zu diesem Zweck teilt sie lediglich ein paar ISIS-Videos, um nur Sekunden später auf ein Chatfenster zu blicken, über das sie ein gewisser Bilel kontaktieren will. Bilel entpuppt sich als konvertierter ISIS-Kämpfer mit pakistanischen Wurzeln, der genauso wie Amy aus England stammt. Über mehrere Skype-Videotelefonate gewinnt die getarnte Journalistin mehr und mehr das Vertrauen des charismatischen und doch fragwürdigen Mannes, der die von Amy geschaffene Melody, die sich vor Bilel stets in eine Burka verhüllt präsentiert, zu sich nach Syrien holen will. Durch verschiedene Nebenhandlungsstränge, die Bekmambetov parallel in Form von Amys Chefin Vick, dem muslimischen IT-Assistenten Lou, ihrem Freund Matt und ihrer besten Freundin Kathy über regelmäßig aufploppende Chatfenster oder Skype-Anrufe in das Geschehen einflechtet, erzeugt der Regisseur ein stellenweise schwindelerregendes Gefühl des Multi-Tasking-Chaos, das wie ein stürmisches Gewitter über die Journalistin hereinbricht.
      Ähnlich wie „Unfriended“ entwickelt somit auch „Profile“ seine dichte Anspannung über das zwanghafte Gefühl von Beklemmung sowie Drucksituationen, die lediglich aufgrund von unbeantworteten Textnachrichten und notdürftig weggeklickten Anruffenstern entstehen. Neben dem Jonglieren mit diesen digitalen Elementen, in denen sich meist die gesamte Lebenswirklichkeit der Protagonistin widerspiegelt, und einem gefährlichen Spiel mit unterschiedlichen Identitäten, die im Social-Media-Zeitalter noch einmal eine völlig neue Gestalt annehmen, ist Bekmambetovs Film auch ein effektives Zeugnis über die Verführungsmechanismen der Online-Welt.
      Auch wenn der Regisseur im späteren Verlauf auf durchaus konstruierte Wendungen und Zuspitzungen setzt, bleibt Amys Verhalten als Nutzerin im Angesicht des verlockenden Charismas des ISIS-Anhängers stets nachvollziehbar und glaubhaft. Der Mann, mit dem sie einen gemeinsamen, persönlichen Verlust teilt, wird für die Journalistin zunehmend zur Bezugsperson, während der Regisseur bis zum Finale auf moralische Ambivalenzen setzt, die sich über die Thriller-Struktur der Handlung einen Weg zum Zuschauer bahnen und diesen ähnlich wie Amy selbst im dichten Dschungel der virtuellen Zerstreuung zu verlocken und zu verwirren wissen. Nicht zu klicken ist ausgeschlossen.

      7
      • 5

        In seinem neuen Film „Don’t Worry, He Won’t Get Far on Foot“ versucht sich Gus Van Sant immer wieder beharrlich aus den Fesseln der konventionellen Biopic-Struktur freizusprengen. Als Hommage an den 2010 verstorbenen Cartoonisten John Callahan ist der Regisseur zunächst vor allem an dessen tiefem Fall interessiert, nach dem sich Callahan mühsam einen Weg zurück ins Leben kämpfen musste. Dass ihm dies gelungen ist, stellt der Regisseur hingegen nicht als chronologisch folgerichtiges Ereignis an das Ende seines Werks. Stattdessen zeigt er Callahan in einer der ersten Szenen des Films auf einer Bühne vor großem Publikum sitzen und einen Vortrag halten, das den im Rollstuhl sitzenden, querschnittsgelähmten Cartoonisten für seine herrlich schwarzhumorigen Zeichnungen feiert.
        Nur einen Schnitt später zeigt der Film jedoch einen ganz anderen Menschen, der kaum weiter von dieser Anerkennung entfernt sein könnte. Nun sitzt Callahan nicht mehr selbstzufrieden vor einer Masse an Menschen, sondern desillusioniert im Kreis einer kleinen Gruppe, die das gleiche Problem mit ihm teilen: Sie alle sind Alkoholiker. Zwangsweise trocken ist Callahan kurzfristig durch einen Unfall geworden, bei dem der starke Trinker auf dem Beifahrersitz saß. Gefahren ist seine Partybekanntschaft Dexter, den Callahan erst kurz zuvor kennengelernt hatte und der ihn nach einem feuchtfröhlichen Abstecher in eine Bar zur nächsten, ultimativen Party führen wollte.
        Ausgerechnet Dexter, der am Steuer saß, ist mit ein paar Kratzern davongekommen, während Callahan für den Rest seines Lebens querschnittsgelähmt wurde und seinen Alltag von nun an in einem elektrischen Rollstuhl bestreiten muss. Auch wenn Van Sant diesen verheerenden Schicksalsschlag und die damit einhergehenden Folgen mit einem sichtbaren Feingefühl für menschliche Stimmungslagen einfängt, entwickelt sich die nicht chronologische Inszenierung, für die der Regisseur unentwegt zwischen niederschmetternden Tiefpunkten und erbaulichen, geradezu beflügelnden Höhepunkten hin und her wechselt, schnell zu einem großen Problem des Films.
        Zumindest für kurze Momente präsentiert sich „Don’t Worry, He Won’t Get Far on Foot“ immer wieder als taktvolles, berührendes Charakterdrama, das die Hauptfigur facettenreich zwischen destruktivem Selbstmitleid, humorvoller Selbstironie und künstlerischer Begabung zeichnet. Diesen Ansatz torpediert der Regisseur allerdings oftmals nur eine Szene später, wenn die fiktiv aufgepeppte Biographie plötzlich von süßlichen Klischees, naiven Lebensweisheiten und aufgesetzter Versöhnlichkeit durchzogen wird. Konstruiert hat Van Sant den Film hierfür um das 12-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker herum, denen sich Callahan anschließt. Einen besonderen Draht findet er dabei schnell zu dem Anführer dieser Selbsthilfegruppe, die von dem homosexuellen, reichen Hippie Donnie geleitet wird.
        Neben Hauptdarsteller Joaquin Phoenix, der den durchaus komplexen sowie mitunter bewusst aneckenden Callahan ein wenig zu sehr als liebenswürdigen Behinderten sowie Künstler verkörpert, zeigt sich Jonah Hill als Donnie schauspielerisch von seiner besten Seite. Überhaupt finden sich in „Don’t Worry, He Won’t Get Far on Foot“ einige der besten Momente, sobald ausgerechnet die eigentliche Hauptfigur ein wenig in den Hintergrund rückt und andere interessante Figuren, beispielsweise in Form der Teilnehmer von Donnies Selbsthilfegruppe, die Bühne betreten. Wenn Callahan in einer der Gruppensitzungen mitgeteilt wird, dass er nicht der alleinige Mittelpunkt aller Geschehnisse sei, scheint sich Van Sant diese Belehrung zumindest vorübergehend ebenfalls zu Herzen genommen zu haben, bis er sich wenig später hingegen doch wieder vornehmlich darauf konzentriert, den vom Schicksal gebeutelten Protagonisten in die richtige Bahn zu lenken.
        Zu dieser Unterstützung bedient sich der Regisseur teilweise einiger gar ärgerlicher Kniffe, wenn er die sträflich unterforderte Rooney Mara zum Beispiel als stereotypes „manic pixie dream girl“ einsetzt, das keinerlei eigene Persönlichkeit erhält und nur dazu dient, Callahan liebevoll anzulächeln und ihm später als Partnerin ständig aufmunternd zuzusprechen. Wirklichen Biss und grandiosen Humor erhält die Geschichte des Cartoonisten bezeichnenderweise immer dann, wenn Callahans Kunst auf der Leinwand mit groben Bleistiftstrichen zum Leben erweckt wird. In den Sketchen, die weder vor entstellten Unfallopfern noch vor dem Ku-Klux-Klan Halt machen, findet Van Sants Film zu einer rebellischen Unangepasstheit, die man in der ansonsten naiv gezeichneten, vorhersehbaren Geschichte des Verlierertypen, der sich nur selbst akzeptieren muss, um neuen Halt im Leben zu finden, überwiegend vermisst.

        11
        • 4 .5

          [...] Fast 20 Jahre nach seinem Regiedebüt ist der Regisseur für The Smell of Us nun abermals zu jener Jugendkultur zurückgekehrt, die sich im Laufe der Jahrzehnte nach der Ansicht des Regisseurs offenbar kein bisschen verändert hat. Wie ein auf Valium gedrehtes Remake von Kids wirkt Clarks bislang achter Spielfilm, wenn die Kamera von Hélène Louvart erneut verschiedene Jugendliche einfängt, diesmal in Paris, die Kleidung von Skater-Modelabels wie Supreme tragen, an trostlosen öffentlichen Plätzen abhängen oder mit Joint im Mund Sex haben, während sie von Handykameras um sich herum gefilmt werden. Anstatt Telly und Casper tragen die Figuren hier Namen wie Math, JP oder Pacman, doch charakterlich gesteht der Regisseur ihnen kaum mehr als symbolischen Status zu. Wieder geht es Clark um entblößte Körper, die er in zahlreichen Nahaufnahmen erforscht. Wie eine Hand wiederholt unter die Hose in den Schritt wandert oder zwei Menschen eng umschlungen förmlich miteinander verschmelzen. Den regelmäßig angebrachten Vorwurf, er würde seine vorwiegend minderjährigen Darsteller vor der Kamera ausgiebig für pornographische Zwecke missbrauchen, scheint der Regisseur erst recht bekräftigen zu wollen, indem er diese Art von Szenen mit regelrechtem Überschwang zelebriert. Auch sich selbst hat Clark daher eine Rolle in diesen Film geschrieben, für die er einen in die Jahre gekommenen Obdachlosen mit dem Spitznamen Rockstar spielt, der neben einem Alkoholproblem offenbar eine Vorliebe für jüngere Männer hegt. Wie eine selbstgefällige Provokation wirkt in diesem Zusammenhang eine Szene, in der dieser Rockstar gut eine Minute lang an den Zehen eines Jugendlichen lutscht und saugt, welcher als Escort-Boy regungslos vor dem Mann liegt und dessen Fetisch stumm über sich ergehen lässt. In gewisser Weise stellt dieser Moment nebenbei eine adäquate Zustandsbeschreibung des Publikums dar, das sich diesen Film ansieht. Die meiste Zeit über wirkt The Smell of Us, für den der Regisseur zentrale Motive seines Schaffens wie jugendliche Verrohung, lethargische Isolation, abgestumpfte Körperlichkeit und seelisch missbrauchte Individuen zitiert, wie der uninspiriert ausgelebte Fetisch eines Regisseurs, der vom Zeitgeist längst abgehängt worden ist. Konsequent verzichtet Clark auf eine übergreifende Handlung, um seinen Film wie eine Abfolge loser Momentaufnahmen zu gestalten, die aufgrund der oftmaligen Unterstützung von Originalsongs auf der Tonspur den Eindruck verschiedener Musikvideos erwecken. Während der Regisseur vor Jahrzehnten noch zu den präzisesten Beobachtern der jeweiligen Jugendkultur zählte und sich trotz des schon damals erheblichen Altersunterschiedes als Filmemacher mit beängstigend dokumentarischer Kraft wie ein dazugehöriger Teil unter ihnen bewegte, wirkt er durch diesen Film hingegen wie ein ratloser, überforderter Außenseiter. Auch wenn vereinzelte Einstellungen gelegentlich die Gestalt von verpixelten Handyvideos annehmen, durch die die Perspektive einer modernen, auf digitale Bilder fixierten Generation zum Ausdruck kommen soll, behandelt der Regisseur die Jugendlichen in The Smell of Us, die ihre Körper aus purer Langeweile oder wegen der Aussicht auf teure Luxusgegenstände gegen Bezahlung wahlweise älteren Frauen oder Männern zur Verfügung stellen, wie blanke Abbilder der Jugendlichen, die sich in Clarks filmischen Anfängen auffinden lassen. Mit dem Unterschied, dass sich selbst diese im Gegensatz zum Regisseur vermutlich weiterentwickelt haben, während sich Clark wie ein widerspenstiges Relikt an unverbesserlich nihilistischen Traditionen festklammert. [...]

          14
          • 3 .5
            über Mute

            Für Duncan Jones war „Mute“ schon immer ein persönliches Herzensprojekt. Geplant hatte der Regisseur die Realisierung des Films bereits nach seinem furiosen Langfilmdebüt „Moon“ aus dem Jahr 2009, das Jones mit einem Schlag als neues, großes Talent innerhalb des anspruchsvollen Science-Fiction-Sektors etablierte. Wie es mit Träumen aber leider oftmals der Fall ist, blieb „Mute“, den der Regisseur als zweiten Teil innerhalb einer lose miteinander verbundenen Trilogie betrachtete, erst einmal nur ein Traum. Diverse Rückschläge, zu denen im privaten Umfeld des Regisseurs unter anderem der Tod seines Vaters David Bowie sowie die schwere Krebserkrankung seiner Frau zählten, setzten Jones weiter zu, während seine Blockbuster-Verfilmung des Videospiels „Warcraft“ Berichten zufolge durch erhebliche Studioeingriffe verändert wurde und aus künstlerischer Sicht einen überaus misslungenen Film ergab.
            Mithilfe der Unterstützung von Netflix ist „Mute“ nach langen Jahren der verzögerten Produktion im Jahr 2018 nun doch erschienen und versprach im Vorfeld das Werk eines Filmemachers, der mit vollständiger kreativer Freiheit endlich wieder seine ganz eigene Vision verwirklichen durfte. Wie es bei Träumen aber ebenfalls üblich ist, folgt auf sie häufig ein ernüchterndes Erwachen. Daher dürften wahrscheinlich die wenigsten damit gerechnet haben, dass die breite Auswahl an auffällig schön gestalteten Postern, die im Zuge der Werbekampagne von „Mute“ veröffentlicht wurden, bereits das Beste an diesem Film darstellen.
            Für seine Geschichte, die der Regisseur zusammen mit Michael Robert Johnson geschrieben hat, entwirft Jones ein dystopisches Zukunftsbild von Berlin, dessen düsterer, molochartiger Charakter inmitten von gleißenden Neonlichtern und Leuchtreklamen wieder einmal das revolutionäre Set-Design von „Blade Runner“ in Erinnerung ruft. Im Gegensatz zu Ridley Scotts Science-Fiction-Meilenstein erscheint Jones‘ Vision allerdings schon von Anfang an wie eine leblose Reproduktion, die als leerer Hohlkörper jenen einhüllenden Puls vermissen lässt, welcher das offensichtliche Vorbild bis heute Jahrzehnte überdauern ließ.
            Tatsächlich entpuppt sich alleine die Zuordnung in das Science-Fiction-Genre als bloßer Etikettenschwindel, denn desinteressierter am Aufbau und vor allem an der Erforschung einer originären Welt erwies sich auf vergleichbare Weise zuletzt höchstens David Ayers Action-Fantasy-Fehlschlag „Bright“, der passenderweise ebenfalls eine Netflix-Produktion darstellt. Stattdessen erzählt Jones eine erschreckend flache Geschichte, die noch dazu unnötig wirr in die Länge gezogen wird und anstelle eines Berlins aus der Zukunft exakt so auch in der gegenwärtigen deutschen Hauptstadt spielen könnte.
            Die angebliche Hauptfigur ist der stumme Barkeeper Leo, der als Amischer aufgezogen wurde und sich seinen Arbeitsplatz in einem Lokal für Erwachsene mit der Kellnerin Naadirah teilt, die im Privatleben seine Freundin ist. In seiner erschreckend unterentwickelten wie undankbaren Rolle wird Hauptdarsteller Alexander Skarsgård zu einem stoischen, roboterähnlichen Wesen verdammt, das höchstens zwei unterschiedliche Gefühlsregungen zeigen darf, bis seine Freundin auf einmal spurlos verschwunden ist. Auf der Suche nach Naadriah durchstreift Leo in repetitiven Szenenfolgen ein Berlin, das Ansätze einer faszinierenden Neo-Noir-Fantasie komplett außer Acht lässt, während der Regisseur den erzählerischen Fokus viel lieber immer wieder auf zwei andere Figuren lenkt, deren Bedeutung für die eigentliche Geschichte lange Zeit unklar bleibt.
            Paul Rudd und Justin Theroux verkörpern die beiden Militär-Chirurgen Cactus Bill und Duck Tedding, die offenbar ein homoerotisches Verhältnis führen und in einem finsteren Keller besondere Aufträge für korrupte Kriminelle erfüllen, wobei Rudds Figur auch noch eine kleine Tochter hat, die irgendwann als Schlüsselfigur herhalten muss. Über weite Strecken der viel zu lang geratenen 126 Minuten erscheint „Mute“ somit als schizophrenes Werk, in dem zwei unterschiedliche Filme förmlich gegeneinander um die Oberhand kämpfen. Dabei irritiert der Handlungsstrang rund um die beiden Chirurgen zusätzlich mit allerlei befremdlichen Einlagen wie die bizarre Enthüllung einer pädophilen Neigung, die kurze Zeit später kaum noch von Bedeutung zu sein scheint, während sich Rudd und Theroux mit albernen Schnurrbärten und aufgesetzten Haarteilen durch Figuren kämpfen müssen, die den Grat zur lächerlichen Karikatur mehr als einmal überschreiten.
            Auch wenn der überwiegend famose Score von Clint Mansell eine melancholisch-entrückte Schwere andeutet, ist von eindringlicher Atmosphäre in diesem Film nichts zu spüren. Chaotisch bis unverständlich erzählt kommt „Mute“ vielmehr einer zerfaserten, uninspirierten Bruchlandung gleich, die erstaunlicherweise sogar noch misslungener als Jones‘ zuvor vermurkster „Warcraft“-Film ist. Ein künstlerischer Befreiungsschlag, der kaum ein größeres künstlerisches Armutszeugnis darstellen könnte.

            21
            • 6 .5

              Da Steven Soderberghs geplanter Ruhestand als Filmregisseur wohl endgültig der Vergangenheit angehört, scheint sich der amerikanische Filmemacher dem Medium noch verspielter als jemals zuvor zu widmen. Nachdem sein letztes Werk „Logan Lucky“ bereits ohne jegliche finanzielle Unterstützung eines großen Studios entstanden ist, indem Soderbergh ein interessantes Konzept der Independent-Produktion verfolgte, bei dem er vollständige kreative Freiheit genoss, strahlt sein neuer Film „Unsane“ eine noch stärkere Do-it-yourself-Mentalität aus. Dieser Ansatz spiegelt sich am deutlichsten in der speziellen Ästhetik wider, für die der Regisseur die kompletten Dreharbeiten in nur zwei Wochen mit einem iPhone als Kamera abgeschlossen hat.
              Zuvorgekommen ist im hierbei bereits Indie-Regisseur Sean Baker, der seinen Film „Tangerine“ aus dem Jahr 2015 ebenfalls mit einem iPhone filmte, das er mit einem Steadicam-Stativ ausstattete. Während Baker diese Wahl alleinig aus finanziellen Gründen treffen musste, um den Film überhaupt realisieren zu können, verlieh die ungewöhnliche Smartphone-Ästhetik dem Streifen nebenbei zusätzlich einen überaus reizvollen Look. Baker erzählte nicht einfach nur eine Geschichte über zwei transsexuelle Prostituierte in Los Angeles, sondern fing mithilfe von Einstellungen, die aus allen konventionellen Nähten zu platzen schienen, das besondere Gefühl einer vermeintlichen Stadt der Engel ein, die abseits von oberflächlichem Glanz und Glamour gesellschaftliche Außenseiter, schmutzige Straßenstriche und vulgäre Dialogkaskaden offenbarte.
              Im Gegensatz zu Baker nutzt Soderbergh die Smartphone-Kamera nicht als ökonomische Kostensparmaßnahme, sondern als exzessives Stilmittel, das die klaustrophobisch-psychotische Wirkung von Jonathan Bernsteins und James Greers Drehbuch nur noch intensivieren soll. In der Geschichte, die der Regisseur schon in den ersten Einstellungen durch eine spezielle Perspektive filtert , bei der Gebäude und Räume leicht verzerrt wirken und gewohnte Farben mit ausgebrannten Kontrasten bewusst andersartig wirken, geht es um die Datenanalystin Sawyer Valentini. Zuletzt hat die Frau mit dem ausgefallenen Namen ihre Heimat in Boston hinter sich gelassen, um in das weit entfernte Pennsylvania zu ziehen. Als Motivation täuscht der Regisseur zunächst die Wahl des Berufs an, bis die wahren Beweggründe erst etwas später enthüllt werden.
              Als sich Sawyer für ein Gespräch zu einem Psychiater begibt, der ihr entlockt, dass sie nicht unbedingt ganz zufrieden mit ihrem derzeitigen Leben ist und auch schon mal Suizidgedanken hatte, wird aus der vermeintlich kurzen Therapiesitzung plötzlich ein Klinikaufenthalt mitsamt ungewollter Zwangseinweisung. Offenbar gegen ihren Willen wird die Protagonistin von nun an in Highland Creek als Patientin festgehalten, bis sich die Ereignisse mehr und mehr zuspitzen. In einem der Pfleger namens George Shaw erkennt sie einen Mann wieder, der in Wirklichkeit David Strine heißen soll. Laut Sawyer handelt es sich bei dem Mann um einen gefährlichen Stalker, der sie schon seit Jahren verfolgt hat, bis sie sich mit einem gerichtlichen Beschluss gegen ihn wehrte und schließlich ganz die Stadt verlassen hat.
              Mit unberechenbarer Vorliebe für Horror-Stoffe, in denen die psychische Verfassung der Protagonisten zum unklaren Mysterium verkommt, und provokanten B-Movie-Anleihen, die schwarzen Humor und absurde Wendungen in sich vereinen, gestaltet Soderbergh den unfreiwilligen Klinikaufenthalt seiner Hauptfigur als ausgelassene Genre-Achterbahnfahrt. Da der Regisseur erneut ohne jegliche Vorschriften eines Studios mit einer kleinen Crew zu Werke ging, genießt „Unsane“ sichtbare Freiheiten eines kleinen, charmanten, unangepassten Genre-Films, in dem Soderbergh fast schon beiläufig auch noch Kritik am amerikanischen Gesundheitssystem übt.
              Dass die Patienten in Highland Creek nur so lange als krank gelten, wie die Versicherung die Kosten für den Klinikaufenthalt übernimmt, ist eine gelungene Randnotiz, die unter den nachfolgenden Horror- sowie Psycho-Thriller-Bausteinen der Handlung rasch wieder verschüttet wird. Viel interessierter zeigt sich der Regisseur im Zusammenhang mit den zunehmend merkwürdigeren Vorfällen innerhalb der Klinik an der Verfassung und Wahrnehmung der menschlichen Psyche, die Soderbergh ähnlich wie seine unkonventionellen Smartphone-Aufnahmen immer wieder wie ein Gummiband dehnt, um sie im nächsten Moment mit ungewohnt intimen Nahaufnahmen unter die Lupe zu nehmen.
              Die überwiegend geradlinigen Genre-Pfade des Psychiatrie-Horrors, die der Regisseur über zwei Drittel des Films hinweg mit einigen unterhaltsamen Einschüben oder gelungenen Überraschungen aufbricht, kulminieren schließlich in einem letzten Drittel, in dem Soderbergh fast etwas zu spät, aber endlich doch noch merklich freidreht. Anstelle eines Verwirrspiels rund um die Frage, ob die Protagonistin wirklich klar bei Verstand ist oder diesen schon lange verloren hat, welche erwartungsgemäß von einem Twist aufgelöst wird, beantwortet der Regisseur diese Frage überraschend früh selbst, um sich in einem langgezogenen Finale erst so richtig austoben zu können.
              Zusammen mit der starken Leistung von Hauptdarstellerin Claire Foy stößt der Regisseur gegen Ende immer noch eine weitere neue Tür auf, um ein psychopathisches Duell in Ganz zu setzen, bei dem die Verteilung der Opfer- und Täterrollen in den schwach beleuchteten Räumlichkeiten der Klinik, die Gesichter besonders im späteren Verlauf nur als vage Silhouetten erkennen lassen, unklar verschwimmt. So entpuppt sich „Unsane“ weniger als Anklage gegen ein System, das Unschuldige gegen ihren Willen gefangen hält und wirklich bedürftige Patienten sträflich übergeht, sondern als bissiger, schwarzhumoriger Reißer, der die provokante These aufwirft, dass derartige Institutionen das psychopathische Potenzial der Menschen erst recht anfeuern und jene Monster gebären, die sie eigentlich bekämpfen wollen.

              13
              • 6

                Nach all den Ereignissen und Berichterstattungen, von denen Ridleys Scotts neuer Film „All the Money in the World“ bis kurz vor seiner Veröffentlichung begleitet wurde, ist es schier unmöglich, sich dem Werk zu nähern, ohne die ungemein turbulente Produktionsgeschichte zu berücksichtigen. Längst abgedreht war das Werk mit Kevin Spacey in der Rolle von J. Paul Getty, dem damals reichsten Mann aller Zeiten, als die schwerwiegenden Enthüllungen rund um Harvey Weinstein auch Spaceys wahre Persönlichkeit zum Vorschein brachten. Nachdem der Schauspieler von zahlreichen Männern der sexuellen Belästigung beschuldigt wurde, fand seine Karriere mit sofortiger Wirkung ein Ende. Scott, der sicherlich auch unter dem Druck von Sony handeln musste, die ihr Image in Gefahr sahen und die geplante Premiere des Films absagten, reagierte mit einem Angebot, das ebenso größenwahnsinnig wie erstaunlich war.
                Der Regisseur ließ Spacey komplett aus dem fertigen Film schneiden, um Christopher Plummer, den Scott ohnehin ursprünglich für die Rolle des 80 Jahre alten Getty vorgesehen hatte, als Ersatz anzuheuern. Der geplante Kinostart sollte dabei definitiv beibehalten werden, weshalb der 80-jährige Regisseur und der 88-jährige Schauspieler mit einer Art Parforceritt sämtliche Szenen mit Getty innerhalb von nur neun Tagen nachdrehten. Eine logistische Meisterleistung des Filmemachens, die Scott als strikter Handwerker bewältigte, indem er abgedrehte Szenen umgehend in den Schneideraum weiterleitete, wo die Verantwortlichen das Material über Nacht in den Film integrierten.
                Wahrscheinlich ist es das größte Kompliment für diesen Film, der anschließend auch noch von der Enthüllung begleitet wurde, dass Hauptdarsteller Mark Wahlberg 1,5 Millionen Dollar Gage für die Nachdrehs erhielt, während Hauptdarstellerin Michelle Williams nur gut 1.000 Dollar erhielt, dass „All the Money in the World“ als fertiges Werk nichts von dieser bewegten Produktionsgeschichte sichtbar aufweist. Vielmehr hat Scott ein Thriller-Drama wie aus einem Guss geschaffen, für das Drehbuchautor David Scarpa die realen Fakten aus John Pearsons Buch „Painfully Rich: The Outrageous Fortunes and Misfortunes of the Heirs of J. Paul Getty“ mit fiktionalen Spannungswerten angereichert hat, um ein finsteres, pessimistisches Gleichnis rund um das Verhältnis zwischen Geld, Macht und dem Wert eines Menschenlebens zu entwerfen.
                Zu Beginn der Geschichte, die im Italien des Jahres 1973 spielt, wird John Paul Getty III, Enkel des milliardenschweren Ölmagnaten, von Mitgliedern der italienischen Mafia entführt. 17 Millionen Dollar fordern die Entführer schließlich für die Entlassung des Jungen. Mit einem Voice-over-Kommentar führt der junge Getty den Zuschauer in seine schwierigen Familienverhältnisse ein, wobei er auf nüchterne Weise anmerkt, dass die Gettys zwar wie normale Menschen aussehen würden, mit diesen aber nichts gemeinsam hätten. Mithilfe von mehreren Zeitsprüngen, die dem Film zunächst einen recht hektischen Rhythmus verleihen, kreiert Scott das Bild einer Familiendynastie, die von zwischenmenschlicher Kälte geprägt wird und in der es für das gealterte Oberhaupt nichts gibt, das keinen Preis hat.
                Dieser Grundsatz scheint für Getty allerdings außer Kraft gesetzt zu sein, nachdem er von der Entführung seines Enkels erfährt. Auf die Frage, wie viel er bereit wäre, für die Freilassung des Jungen zu zahlen, antwortet er mit einem störrischen Grinsen lediglich: „Nothing“. Der Mann, der sich im Verlauf der Entführung ein Gemälde für 1,5 Millionen Dollar ohne lange zu überlegen kaufen wird, legt das Schicksal seines Enkels somit in die Hände von dessen Mutter Gail, die mit Gettys Sohn verheiratet war, bis dieser in Marokko zu einem Junkie wurde und Drogenpartys mit Mick Jagger feierte.
                In den elektrisierendsten Momenten dieser Mischung aus biopicähnlicher Erzählung, Entführungsthriller und Charakterdrama, die Scott in geradezu altmodischer Manier über teilweise schwerfällige 133 Minuten hinweg inszeniert, verschiebt der Regisseur den öffentlich geführten Kampf um das Wohl des jungen Getty-Enkels ins Private, wo Gail ihrer eigenen Aussage nach gegen ein ganzes Imperium ankämpfen muss, das in Gestalt eines einzelnen Mannes auftritt.
                Auch wenn er gerade am Anfang des Films noch häufiger zu sehen ist und im weiteren Verlauf immer stärker als unsichtbare, bedrohliche Entscheidungsmacht in den Hintergrund rückt, erweist sich gerade der kurzfristig neu besetzte Plummer als wuchtiges Zentrum der Handlung. Scarpas Drehbuch mag hierbei nicht immer die richtige Waage zwischen dem simpel gehaltenen Entführungsplot, der von klischeehaften Entwicklungen begleitet wird, und dem persönlichen Gewicht innerhalb des Getty-Familiengefüges finden. Wie Plummer den verbitterten Kapitalisten, der die Antworten auf an ihn gerichtete Briefe von Menschen in Not in einer Szene des Films von seinem eigenen kleinen Enkel aufschreiben lässt, als empathielosen Narzissten verkörpert, der aus jeder zwischenmenschlichen Konfrontation noch kalkuliertes Kapital schlagen will, ist ein Höhepunkt für sich.
                Neben dem souveränen Schauspiel von Michelle Williams als alleinerziehende Mutter, die ebenso verbittert wie verzweifelt gegen eine Übermacht ankämpfen muss, bleibt der von Mark Wahlberg profillos gespielte Fixer Fletcher Chase, der Gail zur Unterstützung an die Seite gestellt wird, ebenso wie die Entführer eher eine Randnotiz, die im Vergleich zu dem persönlichen Familienkonflikt der Gettys oftmals verblasst. Bemerkenswert schlägt sich zuletzt der Mann hinter der Kamera. Trotz der Tatsache, dass sich Scott generell als zügiger Auftragsregisseur gibt, setzt er innerhalb des manchmal behäbig verflochtenen Drehbuchs auffällige Akzente. So lädt er einen Polizeieinsatz inmitten von hohem Gras mit raffinierter Spannung auf, inszeniert überraschend brutal eine schier unerträgliche Szene, dessen Resultat es im Vorfeld bereits auf das Poster des Films geschafft hat, oder begleitet Getty mit schwebenden Kamerafahrten durch dessen einsames Luxusanwesen. Hier wirkt der Ölmagnat zwischen all seinen erworbenen Kunstwerken längst wie ein aus der Zeit gefallenes Relikt, das unter einer dicken Staubschicht in Vergessenheit zu geraten scheint und dem selbst alles Geld der Welt nicht dabei helfen kann, einer Auseinandersetzung mit dem Wert der Menschlichkeit sowie dem Kreislauf von Leben und Tod zu entrinnen.

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                • 7

                  Die Atmosphäre des Amerikas der auslaufenden 1950er- und frühen 1960er Jahre strahlt mit nostalgisch hingebungsvoller Liebe durch jedes Bild von Guillermo del Toros „The Shape of Water“. Schaut man sich Interviews mit dem unglaublich sympathischen mexikanischen Regisseur an, wird deutlich, dass del Toro selbst ein Kind des Kinos ist, das sich seine ewige Begeisterungsfähigkeit für fantasievolle Stoffe über monströse Geschöpfe und vernachlässigte Außenseiter über den gesamten Verlauf seiner Karriere als Filmemacher tief im Herzen bewahrt hat. Die Besonderheit der Filme des Regisseurs besteht ganz ähnlich wie bei den Filmen von Tim Burton stets darin, dass del Toro zwischen seinen menschlichen Randfiguren der Gesellschaft und den abseitigen Fantasiewesen oder furchteinflößenden Monstern keine Unterscheidung vornimmt, sondern beide Seiten als gleichwertige Existenzen wertschätzt, die er immer wieder bewusst zusammenführt.
                  Nachdem seine letzten Filme wie „Pacific Rim“ und „Crimson Peak“ die persönliche Hingabe des Regisseurs spürbar vermissen ließen, mit der del Toro beispielsweise in seinem grandiosen Werk „El Laberinto del Fauno“ die Schrecken des Spanischen Bürgerkriegs durch die Augen eines kleines Mädchens reflektierte und als möglichen Zufluchtsort fantasiedurchflutete Welten kreierte, ist er mit „The Shape of Water“ wieder stärker zu seinen Wurzeln zurückgekehrt. Del Toro selbst bezeichnet den Streifen gar als seinen bislang persönlichsten und zugleich besten Film, was man ihm angesichts der enormen Bandbreite an wuchtigen Emotionen, die durch dieses Werk strömen, gerne glaubt.
                  Hauptfigur ist die Putzfrau Elisa, die als Kind in der Nähe des Wassers gefunden wurde und als Waise aufwuchs. Drei Narben, die ihren Hals zieren, markieren die schüchterne Elisa als Stumme, die sich einem Großteil ihres Umfelds die meiste Zeit über als stille Zuhörerin geben muss, während nur ihre engsten Freunde in Zeichensprache mit ihr kommunizieren können. Bescheiden und doch unerfüllt führt sie ein Leben ihrem kleinen Apartment, das sich, passend für einen Film von del Toro, über einem Kino befindet. Die Musik sowie Dialoge älterer Schwarz-Weiß-Streifen und großen Gefühle vergangener Filmepochen hallen wie ein melancholisches Echo durch die Flure von Elisas Apartmentkomplex, während die Protagonistin jeden Morgen vor der Arbeit ihrer einsamen Routine folgt, bei der sie sich nicht nur Frühstück zubereitet, sondern zusätzlich ein warmes Bad einlässt, in dem sie anschließend masturbiert.
                  Womöglich erklärt Elisas persönliche Verbundenheit zu Wasser, in dem sie gewissermaßen geboren wurde und gleichzeitig ihre einzigen sexuellen Momente erlebt, ihre sofortige Faszination mit dem neuen Wesen, das in einem Wassertank in das Forschungslabor der Regierung gebracht wird, wo Elisa als Putzfrau arbeitet. Als eine Art Kreuzung aus Amphibienwesen und Mensch treibt die andersartige Entdeckung nicht nur einen weiteren Interessenskonflikt zwischen den USA und der Sowjetunion voran, die sich zum Zeitpunkt der Filmhandlung im Kalten Krieg miteinander befinden, sondern weckt speziell Elisas Neugier und Interesse an dem außergewöhnlichen Wesen.
                  Es ist das erste Mal, dass sie von jemandem oder etwas so wahrgenommen wird, wie sie ist, während die üblichen verwunderten Blicke oder unbeholfenen Gesten, die in ihrem Umfeld sonst aufkommen, in der Gegenwart des Fischmenschen vom ersten Augenblick an der Vergangenheit angehören. Als zärtliches Märchen für Erwachsene erzählt der Regisseur die Geschichte zwischen Elisa und dem namenlosen Amphibienwesen, das von einem südamerikanischen Fluss stammt und in der dortigen Region angeblich als Gottheit verehrt wurde.
                  Dabei entpuppt sich, typisch für del Toro, ausgerechnet ein Mensch als das größte Monster in diesem Film. Der von Michael Shannon gespielte Colonel Strickland will das Wesen zu Forschungszwecken aufschneiden und öffnen lassen, um dessen Innenleben genauer zu inspizieren. Stricklands eigenes Innenleben offenbart dagegen recht schnell einen simpel gestrickten Menschen, der zwischen rassistischen Tendenzen, kapitalistischem Gedankengut und zerstörerischer Rage zum ultimativen Bösewicht innerhalb der betont märchenhaft-fantasievollen Geschichte mutiert.
                  Zusammen mit Elisas bestem Freund und Nachbar Giles, der als arbeitsloser Werbezeichner ebenfalls ein Außenseiter der Gesellschaft ist und aufgrund seiner Homosexualität aus dem Diner verwiesen wird, auf dessen Kellner er ein Auge geworfen hat, und ihrer afroamerikanischen Arbeitskollegin Zelda, die sich gutmütig und selbstlos den Bedürfnissen anderer Menschen verschreibt, inszeniert del Toro eine gewagte Rettungsaktion, bei der der Regisseur erneut den Unterdrückten, Übersehenen oder Stummen eine starke eigene Stimme verleiht. Innerhalb der fantasievollen Geschichte wird „The Shape of Water“ somit auch zu einem unübersehbar politischen Film, der in Zeiten von zunehmender Ablehnung und Ausgrenzung für gefühlvollen Zusammenhalt plädiert und all denjenigen Aufmerksamkeit beschert, die üblicherweise aus der öffentlichen Wahrnehmung gedrängt werden.
                  Im Kern seines Films wendet sich der Regisseur zwischen fantastisch entworfenen Kulissen, die gemäß der nostalgischen Wärme des Films den Eindruck von klassischen Studiobauten entstehen lassen, und zeigefreudigen Ausreißern, für die der Regisseur auf ein angenehmes Maß an expliziter Nacktheit und gewalttätigen Momenten setzt, aber vor allem den ganz großen Gefühlen zu. Für die Dauer eines erträumten Moments bringt del Toro die Stumme und das Monster, als Variation der Schönen und dem Biest, gemeinsam zum Tanzen und Singen, lässt Kiemen wachsen, wenn die Luft wegbleibt und flutet ein ganzes Badezimmer mit Wasser, damit zwei sich Liebende in der besonderen Form des Wassers eins werden, während die Wassertropfen durch die Bodendielen in das darunter liegende Kino tropfen, wo ein sanft eingeschlafener Zuschauer im Kinosessel wieder aufgeweckt wird, um zurück in den Bann des Kinos gezogen zu werden. Eine schönere Sequenz ist dem einfallsreichen Regisseur mit dem großen Herzen selten geglückt.

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                  • 6 .5

                    Als kultureller Meilenstein für das afroamerikanische Blockbuster-Kino wird „Black Panther“ mitunter gehandelt. Für den 18. Film des MCU, der zugleich den ersten Solo-Auftritt des titelgebenden Superhelden außerhalb seines kürzeren Gastspiels in „Captain America: Civil War“ markiert, wurde zu diesem Zweck Ryan Coogler für den Regieposten beauftragt. In der Vergangenheit hat sich der verhältnismäßig junge Regisseur aus Oakland erstmals als Indie-Regisseur einen Namen gemacht, als er mit seinem Spielfilmdebüt „Fruitvale Station“ den realen Fall von Oscar Grant aufgriff. Der 23-jährige Afroamerikaner wurde in der Silvesternacht von 2008 auf 2009 von einem Polizisten erschossen, obwohl sich im Nachhinein herausstellte, dass Grant völlig unbewaffnet war. Ein brisanter Fall, der die Thematik von Polizeigewalt in den USA in Verbindung mit institutionellem Rassismus erneut in der öffentlichen Wahrnehmung verankerte und hitzige Debatten in Bewegung setzte.
                    Auch wenn „Black Panther“ als gewohntes Bindeglied innerhalb der schier endlosen MCU-Produktionskette weitaus seichtere Unterhaltungsansprüche erfüllen muss, hat sich die Wahl von Coogler als Regisseur für diesen Film durchaus bezahlt gemacht. Nachdem er mit „Creed“ zuletzt ein Spin-off der „Rocky“-Reihe inszenierte, in dem er Sylvester Stallone in dessen ikonischer Rolle als mittlerweile in die Jahre gekommene Boxlegende Rocky Balboa einen würdigen Abgang in den Ruhestand beschert hat, stellt sich Coogler innerhalb der konventionellen Normen und Richtlinien, nach denen ein Film des MCU zumeist gestrickt werden muss, wieder deutlich den Fragen rund um die afroamerikanische Identität, die er wiederum mit teilweise ausuferndem Selbstbewusstsein in den Mittelpunkt der eigentlichen Handlung rückt.
                    Mit Comicverfilmungen wie „Blade“, „Catwoman“ und „Hancock“ bot die Filmgeschichte in der jüngeren Vergangenheit bereits afroamerikanische Superheldenfiguren, so dass „Black Panther“ keinesfalls die bahnbrechende Revolution markiert, zu der ihn viele Kritiker oder Fanstimmen im Zuge der Veröffentlichung des Films erhoben haben. Zugestehen muss man Cooglers Vision aber trotzdem, dass keine dieser bislang afroamerikanisch gefärbten Comicverfilmungen die Relevanz der eigenen Kultur derart zelebriert hat wie „Black Panther“.
                    Das womöglich deutlichste Zeichen setzt der Regisseur daher bereits mit dem zentralen Schauplatz des Films, wo T'Challa, der aktuelle Black Panther und Sohn des ermordeten T'Chaka als rechtmäßiger Thronfolger der neue König von Wakanda werden soll. Wakanda selbst entpuppt sich als Nation innerhalb Afrikas, die verschiedene Stämme in sich vereint und durch Vibranium, ein außerirdisches, übermächtiges Metall, extrem fortschrittliche Technologien zur Verfügung hat. Dabei schottet sich die Nation bewusst von äußeren Einflüssen ab und pflegt zugleich eine bewusst verfälschte Außenwirkung, indem sie vom Rest der Welt als armes Dritte-Welt-Land wahrgenommen und somit ignoriert wird.
                    Afrofuturismus lautet das Stichwort, mit dem Coogler den Schauplatz als pulsierendes Zentrum afroamerikanischer Rituale und Kulturen zum Leben erweckt und zugleich wie eine eigene Parallelwelt inszeniert, in der die spezielle Ästhetik des Afrofuturismus jahrhundertealte Traditionen der afroamerikanischen Historie mit Science-Fiction- und Fantasy-Elementen verschmilzt. Auch wenn „Black Panther“ weiterhin ein klarer Eintrag in das MCU bleibt, der im weiteren Verlauf fast schon pflichtbewusst einen Konflikt zwischen Gut und Böse etabliert und sich damit beschäftigt, wie T'Challa in seine Rolle als Thronfolger von Wakanda und zugleich Black Panther hineinwachsen muss, integriert Coogler diese inhaltlichen Aspekte überwiegend stimmig mit dem kulturellen Gewicht, das der Regisseur entgegen globaler Bedrohungen oder außerirdischer Übermächte, die die Erde bedrohen, konsequent nach innen richtet.
                    Ebenso wie den eigentlichen Superhelden, den er zugunsten der vielfältigen, mit Ausnahme von Martin Freeman ausschließlich afroamerikanisch besetzten Nebenfiguren teilweise gar zur Nebenfigur in seinem eigenen Film degradiert, behandelt Coogler auch den Gegenspieler Erik „Killmonger“ Stevens als Resultat der persönlichen Geschichte Wakandas, die nun mit voller Wucht auf die Nation zurückprallt. In diesem Zusammenhang handelt es sich bei dem von Michael B. Jordan gespielten Antagonisten um den interessantesten Marvel-Bösewicht seit langem. Der Regisseur inszeniert ihn nicht nur als zutiefst menschlichen Charakter, sondern gewissermaßen als wütendes Spiegelbild des eigentlichen Superhelden, das sich aus drastischen, persönlichen Gründen einen zornigen Weg in das Herz der eigenen Familie bahnen will und Anspruch auf das erhebt, was ihm rechtmäßig zusteht.
                    Sobald Coogler in den pflichtbewussten Rhythmus der MCU-Maschinerie verfallen muss und konventionelle Action inszeniert, die aufgrund der halbgaren Effekte eher störend aus dem Rahmen fällt, gerät der Film hierbei sichtlich ins Straucheln. Dass der Zuschauer hier ein kalkuliertes Franchise-Produkt zu sehen bekommt, das genaue Vorgaben zu erfüllen hat, rückt in „Black Panther“ ähnlich wie in dem zuletzt von Taika Waititi mit gehörigem Anarcho-Humor aufgeladenen „Thor: Ragnarok“ zugunsten von Cooglers konsequenter, ernstzunehmender Handschrift jedoch etwas in den Hintergrund.
                    Neben einigen überraschend stilvollen Einstellungen ist „Black Panther“ vor allem auf akustischer Ebene der wahrscheinlich beste Film, den dieses Franchise jemals erlebt hat. Die musikalische Untermalung von Ludwig Göransson, der sehr stark auf afrikanische Tribal-Rhythmen setzt, kombiniert der Regisseur mit wuchtigen Trap-Instrumentals, die zudem gelegentlich durch eigens für den Soundtrack aufgenommene Originalsongs ergänzt werden, für die der derzeitige Hip-Hop-Superstar Kendrick Lamar beauftragt wurde. In den besten Momenten besitzt der 18. Film des MCU durch die Verbindung der Afrofuturismus-Ästhetik und dem sorgfältig kreierten, außergewöhnlichen Sound einen ganz besonderen Groove, der „Black Panther“ entgegen üblicher Sehgewohnheiten als angenehmen Exoten innerhalb dieser Filmreihe ausstellt.
                    Ob „Black Panther“ am Ende tatsächlich eine revolutionäre Kehrtwende im Blockbuster-Kino auslöst, bleibt abzuwarten. Trotz konventionell gestrickter Franchise-Pflichterfüllung, unter die unter anderem die humorvollen Einschübe, regelmäßig einstreute Action-Setpieces und der klassische Konflikt zwischen Gut und Böse fallen, ist Coogler aber zumindest eine Comicverfilmung gelungen, die die eigene Kultur und Identität selbstbewusst in den Vordergrund stellt und einen Superhelden etabliert, den es zwischen audiovisuellem Groove sowie stilistischer Ausuferung, auffälligen Nebenfiguren von schillernder Menschlichkeit und Diversität sowie Konflikten, die tief in der eigenen afroamerikanischen Herkunft begründet liegen, so noch nicht gegeben hat.

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                    • 9
                      über Transit

                      Zu einem ewigen Transitraum formt Christian Petzold das Kino in seinem neuen Film „Transit“. Die Geschichte, die auf dem 1944 veröffentlichten Exilroman von Anna Seghers beruht und von einem namenlosen Ich-Erzähler handelt, der zur Zeit des Zweiten Weltkriegs als Deutscher auf der Flucht vor dem NS-Staat ist, verlagert der Regisseur hierbei mit einem fast schon surrealen Erzählkniff in das Marseille der Gegenwart. Hier befindet sich Protagonist Georg nach seiner Flucht aus Paris als moderner Flüchtling, um vor der ständigen Bedrohung durch französische Spezialeinheiten ein für alle Mal aus Europa zu entkommen. Wie so viele will auch er lediglich ein unbeschwertes Leben führen, wo er nicht unentwegt in Unsicherheit darüber leben muss, ob er im nächsten Moment nicht vielleicht bei einer Razzia aufgegriffen und verhaftet wird.
                      Virtuos verknüpft Petzold, der sich diesem dunklen Kapitel der Landesgeschichte schon in seinem vorherigen Werk „Phoenix“ auf ungewöhnliche Weise als Film noir genähert hat, die NS-Vergangenheit Deutschlands mit der Flüchtlingskrise der Gegenwart, um beide Themenkomplexe ineinander zu verschränken. In Szenen, in denen der Regisseur seinen Protagonisten in verschiedenen Konsulaten auf Gleichgesinnte treffen lässt, die jeder für sich ihre eigene Geschichte der Flucht erzählen wollen, wandelt sich „Transit“ speziell in dieser Passage zu einem Film, der verschiedene Einzelschicksale zu einem unklaren Hintergrundrauschen vermischt. Georg selbst ist es dabei, der dem Zuschauer des Films eingesteht, dass er all diese Geschichten eigentlich gar nicht mehr hören will. Aufgrund dieser vorgenommenen Abstraktion werden die Flüchtlinge in Petzolds Werk fernab von eindeutigen Herkunftsmerkmalen zu geisterhaften Erscheinungen, die verloren und abgeschlagen in der Zwischenwelt des Transitraums gefangen zu sein scheinen.
                      Das Geisterhafte, das aus dem Totenreich in die Welt der Lebenden überstrahlt, greift Petzold somit ebenfalls wie in „Phoenix“ auch für diesen Film wieder auf. Durch Zufall gelangt Georg an das letzte Manuskript des Schriftstellers Weidel, der sich in seinem Hotelzimmer das Leben genommen und für Georg nur noch ein blutüberströmtes Badezimmer als Anblick hinterlassen hat. Neben dem Manuskript findet Georg außerdem einen Brief von dessen Frau, die dem Schriftsteller versichert, dass die Visa für die Ausreise nach Mexiko bereits in Marseille für sie beide bereitliegen würden. Als es in einem Konsulat zur Verwechslung kommt und Georg für den verstorbenen Schriftsteller gehalten wird, nimmt dieser kurzfristig Weidels Identität an, um an das Transitvisum nach Mexiko zu gelangen.
                      Wie ein Kommentar zu seiner aktuellen Situation erklingt im weiteren Verlauf eine Stelle aus Weidels Manuskript, die Georg in einer Szene des Films vor einem Beamten des Konsulats rezitiert, der wiederholt die Identität des Mannes vor ihm zu prüfen scheint. In der Geschichte landet ein Mann im Fegefeuer, wo er sich nach seinem weiteren Schicksal erkundigen soll. Eine schier unendliche Zeitspanne vergeht, in der sich Minuten nicht mehr von Stunden unterscheiden lassen, bis der Mann einen Vorüberziehenden fragt, wo denn der Weg in die Hölle sei. Der erwidert dem Mann nur, dass sich dieser doch längst schon in der Hölle befinden würde.
                      Auch die Schauplätze in „Transit“, an denen der Regisseur inmitten von Vergangenheit und Gegenwart einen Zwischenraum eröffnet, entpuppen sich für die vielen umherirrenden, wartenden oder flüchtigen Menschen als eine Art Hölle, in der sie allem voran zum Stillstand verdammt sind. Gemeinsam mit seinem Protagonisten tastet sich Petzold dabei nach gefühlvollen Ankerpunkten vor, die Georg unter anderem in Gestalt des jungen Driss begegnen. Das Kind der Witwe eines verstorbenen Freundes, den Georg auf der Flucht nach Marseilles verlor, wird für den Protagonisten zum emotionalen Bezugspunkt, bis dieser letztlich doch wieder an seinem ursprünglichen Entschluss festhalten will. Die Entscheidung, Europa hinter sich lassen zu wollen und zwischen einer Heimat gefangen zu sein, die ihm keinen Halt mehr bietet, und mit einer ungewissen Zukunft zu liebäugeln, zerreißt den Flüchtigen geradezu. Hauptdarsteller Franz Rogowski müsste für seine Darbietung in "Transit" ohnehin endgültig als neuer Star am deutschen Schauspielhimmel gefeiert werden.
                      Und dann ist da noch die schöne Unbekannte, die Georg regelmäßig bemerkt. Zweimal wird er von ihr an der Schulter angetippt, doch als er sich umdreht, begegnet ihm die Frau mit einem Blick, als hätte sie eben einen Geist gesehen. Die erzählerische Wendung, durch die der Regisseur Georg und die junge Frau zusammenbringt, die sich als Marie vorstellen wird, ist vielleicht die Krönung dieses Films, der fortan zwischen surrealem Flüchtlingsdrama, einer außergewöhnlichen Vierecksbeziehung zwischen drei Menschen und einem melodramatischen Tango zwischen dem Reich der Lebenden und Toten auf ein erschütterndes, gänsehauterzeugendes Finale zusteuert. Zurück bleibt am Ende wieder nur die festgefahrene Einsamkeit, die ein wundervoll eingesetzter Matthias Brandt als stetiger Off-Erzähler in diesem Film schildert. Zurück bleibt in Petzolds Meisterwerk auch die Frage, ob es bei einer Trennung der Verlassene oder der Verlassende ist, der länger braucht, um über die zerbrochene Beziehung hinweg zu kommen. Zum Glück gibt es das Kino und Filme wie „Transit“, der einem diese Frage zwar nicht beantworten kann, aber dafür umso eindringlicher näherbringt und noch Stunden nach der Sichtung wie ein flüchtiges Irrlicht in den Gedanken umherkreisen lässt.

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                      • 5 .5
                        über Grass

                        Während die letzten Werke Hong Sang-soos von einer spürbar experimentellen Freude an den verspielten Möglichkeiten des minimalistischen Erzählens geprägt waren, stellt „Pul-lip-deul“ eine weitere Steigerung dieses inszenatorischen Prinzips dar. Gerade einmal 66 Minuten ist dieses Werk des Südkoreaners lang, wobei die Kamera den zentralen Schauplatz eines Cafés in Seoul nur für wenige Augenblicke verlässt und ansonsten unentwegt auf den Menschen verweilt, die sich innerhalb oder außerhalb des Cafés aufhalten. Nicht einmal Farbe hat der Regisseur seinem 15. Film im Zeitraum von nur 10 Jahren zugestanden, wodurch „Pul-lip-deul“ in schlichtem, stilvollen Schwarz-Weiß auf der Leinwand schimmert.
                        Umso schneller geschieht es daher, dass die typisch dialoglastigen Hong-Begegnungen, die sich in diesem Werk grundsätzlich auf Tischgespräche zwischen zwei oder drei Personen beschränken, gehörig aus dem Ruder laufen. Zu Beginn sitzen eine Frau und ein Mann am Tisch, wobei die Frau ihrem Gegenüber von einer Europa-Reise erzählt, die sie in Kürze unternehmen will. Plötzlich erhält die Konversation einen tragischen Dreh, nachdem eine kürzlich verstorbene Person erwähnt wird, an deren scheinbarem Suizid der Mann eine wesentliche Mitschuld tragen soll, wodurch die Schuld letztlich auf sie beide zurückfällt und verzweifelte Betretenheit sichtbar wird.
                        Noch extremer als sonst kippen die Situationen in „Pul-lip-deul“ von zunächst banalen Tischgesprächsthemen in existenzielle Krisen, bei denen der Tod diesmal eine ebenso gewichtige Rolle spielt wie Hongs ewiges Lieblingsthema der Beziehung zwischen Mann und Frau, das er hier selbstverständlich auch wieder aufgreift, um peinliche Betroffenheit mit amüsanter Bloßstellung zu verbinden. Immer gegenwärtig anwesend im Café ist dabei die aufstrebende Autorin Areum, die von Hong-Stammschauspielerin Kim Min-hee als schauspielerisches Glanzlicht zwischen stiller Beobachterin und perfider Manipulatorin verkörpert wird.
                        Areum scheint sämtliche Gespräche um sich herum wie ein Schwamm aufzusaugen und gleichzeitig in ihr MacBook einzutippen, wobei der Regisseur im Verlauf des Films bewusst offenlässt, ob die Autorin von den Geschehnissen der Realität in ihrem Schreiben beeinflusst wird oder ob es Areum ist, von der die verschiedenen kleinen Geschichten innerhalb des weitestgehend plotbefreiten Streifens stammen. Trotz dieses vergnüglichen Meta-Kniffs, mit dem Hong gewissermaßen sein eigenes Schaffen zu kommentieren scheint, bei dem das Verhältnis zwischen Kunst, die vom Leben geschaffen wird und dem Leben, das die Kunst imitiert, unklar verschwimmt, erscheint „Pul-lip-deul“ trotzdem wie eine spontane Fingerübung zwischen bedeutenderen Werken, die nur noch eingeschworene Anhänger des Regisseurs wirklich erreichen und berühren dürfte.
                        Zu beliebig erscheinen die flüchtigen Impressionen von Figuren, die sich eher schablonenartig und abgehakt in den erzählerischen Rhythmus einfügen müssen, während Hong ungefähr nach der Hälfte des Films den Soju auf den Tischen verteilt, damit dieser erneut so einige Gefühle hochkochen lässt. So wird „Pul-lip-deul“ ähnlich wie der Reisschnaps selbst zum seichten Sedativum, das den wohlig benebelten Zuschauer an vertrauten Elementen aus dem filmischen Hong-Kosmos entlang führt, bis am Ende durchaus ein Filmriss entstehen könnte, nach dem man sich nicht mehr sicher ist, was in diesem Werk tatsächlich geschehen ist und was das Unterbewusstsein nebenbei mit erwartungsgemäßen Hong-Traditionen aufgefüllt hat.

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                        • 7

                          Vielleicht liegt bereits im Titel von Wes Andersons neuem Film schon der erste augenzwinkernde Scherz verborgen. Ausgesprochen klingt „Isle of Dogs“ sicherlich nicht zufällig genauso wie „I love dogs“, was die massive Abwesenheit von Katzen erklären könnte. Die werden in Andersons zweiten Stop-Motion-Animationsfilm nach seinem beglückenden Meisterwerk „Fantastic Mr. Fox“ von 2009 zu großen Teilen mit sträflichem Desinteresse behandelt, während die Vierbeiner, die gerne als der beste Freund des Menschen bezeichnet werden, im Fokus der Geschichte stehen. Für „Isle of Dogs“ entwirft der amerikanische Regisseur, der sich über den Verlauf seiner Karriere eine unverwechselbare, eigenständige Handschrift erarbeitet hat, eine beunruhigende Zukunft 20 Jahre von unserer Gegenwart entfernt, in der alle Hunde aus der japanischen Stadt Megasaki City verbannt werden sollen, da von ihnen ein gefährlicher Grippeerreger ausgehen soll. Das sogenannte Schnauzenfieber animiert den skrupellosen Bürgermeister Kobaachi dazu, sämtliche Hunde auf eine Müllinsel zu verbannen, wo die Tiere ein geächtetes Außenseiterdasein führen und auf jedes Stück Abfall angewiesen sind, um nicht zu verhungern.
                          Dieses vermeintlich finstere Szenario nutzt Anderson wie von ihm mittlerweile gewohnt erneut für ein ideenreiches, verspieltes Abenteuer, nachdem der 12-jährige Atari auf der Müllinsel der Hunde eine Bruchlandung hinlegt. Der Junge ist nicht nur auf der Suche nach seinem eigenen Hund Spots, sondern stellt sich außerdem als Mündel des Bürgermeisters heraus, den dieser vor Jahren nach einem Zugunfall adoptiert hat, bei dem die Eltern des Kindes ums Leben gekommen sind. Wieder sind es also vertraute Lieblingsmotive von Anderson wie die Ausgestoßenen, die Problemfälle und die zerrütteten Familienverhältnisse, denen sich der Amerikaner in seinem neunten Film verschreibt. Daneben offenbart „Isle of Dogs“ aber auch die Liebe des Filmemachers zum japanischen Kino, die er ebenso durch die liebevolle, japanophile Ausstattung zum Vorschein bringt wie durch Alexandre Desplats recht ungewöhnliche Musikuntermalung, bei der überwiegend rhythmisches Getrommel an den Klangteppich älterer Akira-Kurosawa-Werke erinnert.
                          Im Kern bleibt „Isle of Dogs“ allerdings durch und durch ein Wes-Anderson-Film, was sich neben sorgfältig komponierten, streng symmetrischen Einstellungen, an denen die Kamera bevorzugt seitwärts entlang fährt, vor allem durch den höchst eigensinnigen, verschrobenen Tonfall bemerkbar macht. So schlicht die eigentliche Geschichte auch anmuten mag, in der sich der 12-jährige Protagonist zusammen mit einem kleinen Rudel Vierbeiner auf die Suche nach seinem vermissten Hund quer über die Müllinsel begibt, so auffällig sind die mitunter kantigen Details, die Anderson in den Erzählteppich verwebt. Schon der junge Protagonist wirkt nach seinem Flugzeugabsturz mit Blessuren im Gesicht sowie einem Stück Eisenstange, das noch in seinem Kopf feststeckt, wie ein Fremdkörper innerhalb der kindlichen Ästhetik. Bezeichnenderweise verbuchen die Hunde das Merkmal mit der Eisenstange in einer urkomischen Szene bei einer Besprechung über den Zustand des Jungen als Kontrapunkt und befürchten, dass dieser womöglich eine Schraube locker haben könnte.
                          Dabei streift Anderson innerhalb der Handlung, die er regelmäßig mit grandioser Situationskomik und trockenhumorigen Dialogzeilen auflockert, überraschend politische Dimensionen und schlägt immer wieder brutale Töne an. Kannibalismus, Hundeohren, die bei einer Auseinandersetzung abgerissen werden, und Tiere, die in ausführlicher Küchenarbeit innerhalb Anderson’scher Symmetrie-Tableaus filetiert werden, mischen sich unter die farbenfrohen Impressionen, während ein tyrannischer Machthaber, der potenziell gefährliche Minderheiten verbannen will, nicht von ungefähr an das gegenwärtige Politik-Klima des Landes erinnert, aus dem der Regisseur stammt. Selbst vor Bezügen auf die Ikonografie des Holocausts schreckt Anderson nicht zurück, was man durchaus verurteilen kann, die unberechenbare, eigenwillige Art dieses Regisseurs aber nur noch weiter verstärkt.
                          Was „Isle of Dogs“ aber letztlich von den größten Werken des Regisseurs trennt, ist die fehlende Konsequenz, durch die es Anderson vor allem gegen Ende nicht stimmig gelingt, die politischen Anleihen mit dem sanften Ton der eigentlichen Geschichte in Einklang zu bringen. Schlussendlich ist auch der neunte Anderson-Film immer noch das Werk eines kindlichen Träumers, der sich mit großen, staunenden Augen in eine eigens erdachte Welt begibt, in der die Verstoßenen doch noch zueinanderfinden dürfen und gemeinsame Probleme durch Zusammenhalt lösen. Ein großer Abenteuerspielplatz, der nicht einmal unbedingt für Kinder geeignet ist und auf dem der Regisseur diesmal deutlich gefährlichere Hindernisse platziert hat, die ihren ganz eigenen Reiz ausüben, bis sie vom Verantwortlichen sicherheitshalber aus dem Weg geräumt werden.

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                          • 8

                            [...] Christian Petzolds Jerichow handelt von Menschen, die innerhalb ihrer Existenzen unterschiedliche Leben führen, weil sie sich dazu gezwungen sehen. Am Anfang des Films kehrt der Soldat Thomas unehrenhaft aus dem Afghanistan-Krieg entlassen in das Haus seiner verstorbenen Mutter zurück, wo er von einem Gläubiger schon erwartet wird. Dass er im Garten Geld versteckt hat, um das Haus renovieren zu können, obwohl er angibt, nichts geerbt zu haben, fliegt schnell auf. Von einem Hieb niedergestreckt liegt er im Gras, ohne Geld, ohne Orientierung und ohne Perspektive auf ein Leben in der Heimat, in die er als wortkarger, gebrochener Mann zurückgekehrt ist. Petzold inszeniert diesen Auftakt mit unauffälliger Bestimmtheit, bei der Worte auf das Nötigste reduziert sind, während die Körpersprache und die Gesichter der Figuren das erzählen, was ansonsten unausgesprochen zwischen den Bildern flimmert. [...] Dabei ist Jerichow neben der sich immer dramatischer zuspitzenden Geschichte über Geheimnisse, die die Schlüsselfiguren (zu) lange voreinander verbergen und hoffungsvolle Lebensträume, die von der bitteren Realität im Keim erstickt werden, nach Aussage des Regisseurs selbst ein deutscher Film, in den das ausgeträumt Amerikanische Einzug gefunden hat. Verlassen und wie ausgestorben wirken die Landstriche, die Petzold mit der Kamera einfängt, während die meiste Zeit über kaum andere Menschen als die zentralen drei Hauptfiguren zu sehen sind. Die weitläufigen Autobahnen, die lediglich an vereinzelten Tankstellen und Supermärkten entlang führen, erinnern an amerikanische Highways und können doch nie ihren lokalen Charakter der ostdeutschen Provinz überschatten, in der sich der Regisseur seinen vom Kapitalismus gebeutelten, seelisch verkrüppelten Individuen widmet. Als ebenso nüchterne wie verzweifelte Kernaussage bleibt in diesem Zusammenhang der von Laura unter Tränen geäußerte Satz in Erinnerung, dass man sich nicht lieben kann, wenn man kein Geld hat. Wie eine unheilbare Krankheit hat die finanzielle Abhängigkeit von den Figuren in Petzolds Film längst Besitz ergriffen. Von Ali, der sich als ausländischer Geschäftsmann in einem fremden Land in erster Linie durch sein Vermögen definieren muss, von Thomas, dem direkt zu Beginn von Jerichow körperlicher Schaden wegen einem Bündel Geldscheine zugefügt wird, und von Laura, die weiteren körperlichen Schaden an sich selbst verhindern will und erst spät im Film gesteht, dass das Geld als Schuldenfluch auf ihr lastet. [...] Im Vergleich zur inspirierenden Romanvorlage, die auf eine mörderische Intrige zusteuert, findet Petzold hingegen zuletzt zu einer verblüffenden Wendung, die den Zwiespalt aus vergeblicher Sehnsucht und unerfüllter Liebe noch einmal auf einen besonders tragischen Höhepunkt führt. Ein finaler Knall schickt die Figuren schlussendlich abermals auf den ostdeutschen Highway, der erneut in die absolute Leere zu führen scheint. [...]

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                            • 7 .5

                              [...] Ein Mann und eine Frau begegnen sich und verbringen Zeit miteinander. Ähnlich wie ein solch spontanes, unscheinbares Ereignis zu etwas ungemein Komplexem heranwachsen kann, verhält es sich gewissermaßen auch mit den Filmen von Hong Sang-soo (In Another Country). [...] In Right Now, Wrong Then, der in der ersten Hälfte mit dem zunächst etwas irritierenden Titel Right Then, Wrong Now beginnt, erzählt Hong von dem Arthouse-Regisseur Ham Cheon-soo, der womöglich ein fiktives Abbild seiner selbst darstellen soll. Eigentlich wollte Cheon-soo nur für einen Tag nach Suwon reisen, wo einer seiner Filme bei einem örtlichen Filmfestival aufgeführt wird und er anschließend einen kurzen Vortrag halten soll. Angereist ist der Regisseur allerdings einen Tag zu früh, weshalb er seine zusätzliche Zeit in Suwon offenbar hauptsächlich damit verbringt, sich die Zeit totzuschlagen. Sein neugieriges Interesse wird erst wieder sichtlich geweckt, als er zum zweiten Mal die schöne, junge Frau erblickt, die ihm zuvor an diesem Tag schon einmal aufgefallen ist und die nun in einem Tempel nicht weit von ihm entfernt sitzt und Bananenmilch trinkt. Nachdem sich die Unbekannte als Malerin vorstellt, die den Namen des Regisseurs sofort wiedererkennt, begleitet er die Frau in ihr Atelier. Spätestens ab diesem Zeitpunkt entfaltet sich der gewohnt unaufgeregt-aufregende Erzählfluss Hongs, der die Begegnung zwischen Cheon-soo und Yoon Heejung zu einer Ansammlung von Handlungsvignetten formt, in denen viel geredet, noch mehr getrunken, einiges verschwiegen, wenig offenbart und schließlich vielleicht doch etwas zu viel offenbart wird. Mithilfe einer bewusst reduzierten Anzahl an Schauplätzen, die sich überwiegend auf das Atelier, ein Café, ein Sushi-Restaurant und die Wohnung einer Freundin von Heejung beschränken, schildert Hong milde Anflüge einer zärtlichen Romanze, die ebenso unvermittelt abbricht wie sie begonnen hatte. [...] Mit diesem einen Szenario will sich Hong aber scheinbar nicht zufriedengeben, weshalb Right Now, Wrong Then nach der ersten Hälfte einfach nochmal von vorne beginnt. Durch das Zurücksetzen auf die Ausgangslage hat sich der Regisseur einen gleichermaßen geschickten wie gelungenen Kniff ausgedacht, mit dem er die Begegnung zwischen dem Regisseur und der Malerin an der Oberfläche identisch ablaufen lässt, um dabei feine Details zu verändern, Gesprächen eine andere Klangfarbe zu geben oder überraschende Gefühlsausbrüche mit unerwarteter Wirkung und Konsequenz zu variieren. Zu einer glücklichen Liebesgeschichte entwickelt sich der Film dadurch aber trotzdem keineswegs. Auch wenn Hong in dieser Variante der Geschichte eine größere Offenheit anstrebt und das Verhältnis zwischen den beiden Hauptfiguren mit wesentlich milderem Optimismus abfedert, bleibt Right Now, Wrong Then auch in der zweiten Hälfte ein Film über eine Liebe, die in holprigen Bahnen nebeneinander her verläuft und sich letztlich doch knapp verpassen muss. Viel bedeutender erstrahlen hierbei jedoch die zahlreichen kleinen Beobachtungen, Verhaltensweisen und schicksalsträchtigen Fügungen, die Hong bei der spielerischen Untersuchung des Mythos zwischen Mann und Frau zum Vorschein bringt. [...]

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                                Aufzuwachsen bedeutet für einen jungen Menschen vor allem, seine Identität zu formen und dadurch ständig auf der Suche nach sich selbst zu sein. Dass dieser schwierige Prozess, der für einige mehr als nur manche Jahre andauern kann, mit ständigen persönlichen Veränderungen, einem Auf und Ab der Gefühle und natürlich auch bitteren Verletzungen einhergeht, ist vielleicht die Quintessenz des Lebens in Adoleszenz, der sich Indie-Shootingstar Greta Gerwig in ihrem Regiedebüt „Lady Bird“ annimmt. Dem äußeren Anschein nach greift die Regisseurin hierfür lediglich auf vertraute Versatzstücke des Coming-of-Age-Genres zurück, mit denen sie von der 17-jährigen Christine erzählt, die ihr letztes Schuljahr an einer katholischen Highschool in Sacramento verbringen muss, obwohl sie eigentlich viel lieber das kulturelle Leben in einer Millionenmetropole wie New York auskosten will.
                                „Lady Bird“ wird somit zu einem Film über die zahlreichen Weggabelungen und Sackgassen, die sich vor jungen Menschen auf der Schwelle zum Erwachsenwerden auftun. Protagonistin Christine, die jeder anstatt ihres wirklichen Namens nur Lady Bird nennen soll, zeichnet Gerwig dabei nicht einfach nur als Paradebeispiel des rebellischen, launischen Teenagertypus, sondern als komplexen Charakter, in dem die Regisseurin unverkennbare Parallelen zu ihrer eigenen Jugend einstreut. Auch Gerwig, die heute in New York lebt, stammt aus Sacramento, wobei ihr Blick auf ihre Heimatstadt ebenso von bittersüßer Nostalgie durchzogen ist wie von reifer Erkenntnis über die Irrungen und Wirrungen, von denen ein junger, heranwachsender Mensch geprägt wird.
                                Im Jahr 2002, in dem die Regisseurin ihre Handlung spielen lässt, sitzt die Hauptfigur zu Beginn des Films im Auto neben ihrer Mutter und wünscht sich, dass sie doch nur irgendetwas durchleben könnte. Dabei ist Gerwigs Film, der zudem immer wieder die Befindlichkeiten einer noch frisch traumatisierten Post-9/11-Gesellschaft im Zentrum Kaliforniens aufgreift und in Terror-Berichten über das Fernsehen oder das Radio spiegelt, genau das. Eine handwerklich wundervoll getaktete, vor allem aufgrund der ungewöhnlichen Montage hervorstechende Abfolge markanter Momentaufnahmen aus Lady Birds Leben und ihrem Umfeld, die Gerwig über den sprunghaften Verlauf eines einzigen Jahres inszeniert.
                                In einem Interview sprach die Regisseurin darüber, dass sie sich ihr Regiedebüt wie einen poppigen, eingängigen Song vorgestellt hat, der plötzlich traurige Töne anschlägt, sobald man sich eine Coverversion dieses Songs in einem langsameren Tempo anhört und derselbe Text eine völlig andere Wirkung erhält. „Lady Bird“ kommt vielmehr einem ganzen Album solcher fantastisch geschriebener Songs gleich, wobei Gerwig speziell die wechselhafte Tonalität und den eigentümlichen Rhythmus kaum wie eine Regiedebütantin, sondern eher wie ein erfahrenes Talent erstaunlich souverän im Griff hat.
                                Auf nahezu ikonische Coming-of-Age-Elemente wie verliebte Gesichter, die langsam zu einem ersten Kuss zusammenrücken, das erste Mal, das erwartungsgemäß in einer Peinlichkeit endet, die ständigen Konflikte mit der eigenen Familie oder der passende Song zur passenden Szene verzichtet auch Gerwig nicht, doch die Feinheiten ihres Werks offenbaren sich erst über den spielerischen Umgang mit diesen. Streitereien werden durch einen abrupten Schnitt ebenso schnell beendet wie sie begonnen haben, ein gefühlvoller Song, der eben erst so richtig anschwellt, weicht im nächsten Moment bereits einer völlig anderen Situation und für Charakterfacetten sowie Figurenhintergründe, die in anderen Filmen ähnlicher Art über Minuten ausgesprochen und diskutiert werden, benötigt Gerwig teilweise nur einen einzigen Satz, um alles Wesentliche auszudrücken.
                                „My mother was an abusive alcoholic“ sagt Lady Birds Mutter Marion in einer der vielen Streitsituationen fast schon beiläufig zu ihrer Tochter, bevor sie die Tür schließt und die Szene ihr Ende findet. Den Schmerz, den Marion fühlen muss, wenn sie als Mutter um das Wohl ihrer Tochter kämpft, zwei Jobs gleichzeitig ausüben muss und doch immer wieder mit der naturgemäß widerspenstigen Art des Mädchens zusammenprallt, verdeutlicht die Regisseurin mit einem Satz, wo andere Regisseure unzählige Sätze benötigen würden. Neben der Geschichte der Protagonistin ist „Lady Bird“ auch Marions Geschichte, wobei sich Saoirse Ronan und Laurie Metcalf als kraftvolles, mitreißendes Schauspielzentrum in diesem Film behaupten.
                                Ähnlich verhält es sich auch mit den vielen anderen Figuren, die Gerwig um ihre Hauptfigur herum platziert. Die Familie aus der Arbeiterklasse, die unter den Folgen von steigender Arbeitslosigkeit zu leiden hat, der erste Freund, der sich unter besonderen Umständen als der falsche Partner entpuppt, der zweite Freund, der künstlerisch anspruchsvolle Bücher mit der Zigarette im Mundwinkel liest und Bassist in einer Band ist oder die übergewichtige Freundin, die der eigenen besten Freundin selbstlos das Spielfeld überlässt. Diese Figuren, die durchaus Gefahr laufen, zu bloßen Stereotypen zu verkommen, entflammt Gerwig mit einer natürlichen Ausstrahlung und hervorragenden Dialogen, durch die die Regisseurin selbst in den offensichtlichsten Klischees wahrhaftige Momente zum Vorschein bricht und mit Seherwartungen des Zuschauers dezent bricht.
                                So endet die letzte Szene dieses Films, der seine Reise durch das Leben eines Teenagers zwischen Identität und Herkunft, Vorherbestimmung und Selbstbestimmung, Konflikten und Versöhnung, Liebe und Schmerz sowie Lachen und Weinen konsequenterweise mit dem Erreichen der Volljährigkeit nach gerade einmal 90 Minuten Laufzeit beendet, mit einem tiefen Durchatmen. Wieder liegen Erleichterung und Anstrengung so nahe beieinander wie alles andere in diesem unübersichtlichen Gefühlschaos, das Gerwig behutsam aus den vorüberziehenden Fetzen, Eindrücken und Momentaufnahmen schnitzt, um umso eindringlichere, nachhallende Momente des Lebens zu kreieren.

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                                • 6

                                  Mit „Wind River“ komplettiert Drehbuchautor Taylor Sheridan erstmals auch als Regisseur seine selbsternannte „Frontier“-Trilogie. In Sheridans bisherigen Drehbüchern zu „Sicario“ und „Hell or High Water“ ging es zumeist um Grenzgebiete der USA und um die mythologische Bedeutung von Amerikas Außengrenzen, die der Autor mithilfe klassischer Stilmittel des Westerns einer modernen Betrachtung unterzog und in einen gesellschaftlichen sowie politischen Kontext einbettete. So führte Sheridan den Zuschauer in dem von Denis Villeneuve famos inszenierten „Sicario“ an die Grenze zwischen den USA und Mexiko, wo eine FBI-Agentin in den grausamen Strudel des Drogenkriegs hineingezogen wird und an einer Welt aus vorwiegend brutalen, gefühlskalten Männern zerbricht.
                                  David Mackenzies „Hell or High Water“ entpuppte sich als staubiger, rauer Neo-Western, in dem Sheridan zwei Brüder zu getriebenen Outlaws stilisiert, die vom Gesetz in Form des örtlichen Sheriff-Departments gejagt werden. Dabei warf die Geschichte passend zum politischen Klima der Trump-Ära gleichzeitig einen Blick auf von der Gesellschaft ausgestoßene Individuen, die aufgrund der hohen Verschuldung im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise ebenso verzweifelte wie radikale Maßnahmen ergreifen müssen, um ihr Überleben zu sichern.
                                  In „Wind River“ führt Sheridan den Zuschauer nun in die frostigen Regionen Wyomings, wo der Jäger Cory Lambert als Angestellter für die Fischerei- und Wildabteilung in einem Indianer-Reservat arbeitet. Die blutigen Spuren im Schnee, auf die der Jäger bei einem seiner Streifzüge stößt, führen Cory zu der Leiche eines jungen Mädchens indianischer Abstammung. Bei der Obduktion stellt sich heraus, dass die 18-Jährige mehrfach vergewaltigt wurde, bevor sie kilometerweit barfuß durch den Schnee gerannt ist, bis ihre Lungen aufgrund der extremen Kälte geplatzt sind und das Mädchen an ihrem eigenen Blut erstickt ist.
                                  Mit derlei grausam geschilderten Details hält sich Sheridan als Regisseur und Autor ebenso wenig zurück wie mit der Darstellung der eisigen Region als unwirtlicher Schauplatz voller Menschen, deren Innenleben ebenfalls schon lange Zeit auf Eis gelegt zu sein scheint. Während die stark unterbesetzten Polizisten der Gegend den Fall nicht als Mord einstufen wollen, da das Mädchen letztendlich nicht durch fremde Hand zu Tode gekommen ist, kommen in dem Jäger unweigerlich starke Gefühle auf, durch die er an den Tod seiner eigenen Tochter erinnert wird, die drei Jahre zuvor durch exakt die gleichen Umstände im hohen Schnee ihr Leben lassen musste.
                                  Der eigentliche Kriminalfall, für den zusätzlich eine noch recht unerfahrene, junge FBI-Agentin aus Las Vegas abgezogen und in das Indianer-Reservat geschickt wird, erweist sich früh als inhaltlicher Hohlkörper, den Sheridan viel lieber mit menschlichen Figurenschicksalen ausstaffiert. Geradezu ironisch wirkt diesbezüglich eine Szene, in der der Polizei-Chef die Entwicklungen des Falls damit kommentiert, dass sich dieser wie von selbst lösen würde. Wesentlich eindringlicher gestalten sich stattdessen die erzählerischen Pfade abseits der überaus banal konstruierten Ermittlungsarbeiten, für die sich der Regisseur auf emotional bewegende Weise zwei schicksalhaft verbundenen Männern widmet, die mit dem Verlust ihres Kindes ringen müssen, während die eigentliche Geschichte auf die nach wie vor vorherrschenden Spannungen und Missstände eines Amerikas verweist, das in der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und dem Umgang mit seinen Ureinwohnern tiefe Narben aufweist.
                                  Ambitioniert versucht sich der Regisseur erneut an einer Vermengung von schnörkellosen Genre-Motiven, einer gesellschaftsanalytischen Sichtweise und einzelnen Charakterporträts, was im nunmehr dritten Teil der „Frontier“-Trilogie sichtliche Mängel und Schwächen offenbart. Wie ein Spiegelbild von Emily Blunts Figur aus „Sicario“ wirkt die von Elizabeth Olsen bemüht gespielte FBI-Agentin, die sich wieder in einer harten Männerwelt zurechtfinden muss und dabei auf sämtlichen Ebenen ins Straucheln gerät. Dass Sheridan ganz offensichtlich nicht dazu imstande ist, starke Frauenfiguren zu schreiben, zeigt sich in „Wind River“ so deutlich wie nie, während der angedeutete Tiefgang unter den Figuren mit fortschreitendem Verlauf zwischen konventionellen Thriller-Mustern verschüttet wird.
                                  Es hat durchaus etwas Überraschendes, wie der Regisseur gegen Ende des Films auf dem Weg zum Finale die lineare Erzählstruktur unterläuft, mit dem zeitlichen Rhythmus der Auflösung spielt und durch handwerkliche Präzision sowohl die unvermeidliche Eskalation wie auch den blitzartig einbrechenden Showdown inszeniert. Nach dem verheerenden Kugelhagel und dem archaisch bis zur letzten Konsequenz verfolgten Motiv der Rache und Vergeltung endet dieser Neo-Noir-Western allerdings so leise wie stumm, während eine finale Texttafel zurechtrücken muss, was der Regisseur selbst nicht mehr ausdrücken konnte.

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                                  • 6 .5

                                    Die frühen Szenen von David Bruckners Horrorfilm „The Ritual“ werden von einer bleiernen Stimmung durchzogen, die zunächst schwerer wiegt als der tatsächliche Horror, den der Regisseur mit beunruhigenden Vorzeichen ankündigt. Der gemeinsame Urlaub von vier Freunden aus England, die sich gemeinsamen zum Wandern in den schwedischen Wäldern eingefunden haben, stellt sich als letzte Ehrerweisung an ihren verstorbenen Freund Rob dar, den die Gruppe sechs Monate zuvor verloren hat. Direkt zu Beginn seines Films zeigt Bruckner das verheerende Ereignis, wenn Rob und Luke in einen bewaffneten Raubüberfall geraten, als sie nur noch kurz Alkohol in einem Convenience Store besorgen wollen.
                                    Dabei ist es Luke, der sich im Angesicht des Verbrechens, das sich vor ihren Augen abspielt, hinter einer Regalwand versteckt, wobei Rob von den beiden Tätern schließlich tödlich verletzt wird. Für einen kurzen Moment hält er die Schnapsflasche in seinen zitternden Händen wie eine Schlagwaffe, doch am Ende muss sich Luke fortan eingestehen, dass er nichts anderes tun konnte als sich zu verstecken, während er beim Sterben seines eigenen Freundes zugesehen hat. Neben den anderen drei Hauptfiguren interessiert sich Bruckner in „The Ritual“ vor allem für die innerliche Zerrissenheit von Luke, der einerseits die typischen Vorstellungen von tougher Männlichkeit erfüllen will, die innerhalb des Freundeskreises zu herrschen scheinen, während er andererseits von tiefen Schuldgefühlen geplagt wird, sobald ihn sein Unterbewusstsein erneut in die Gänge des Convenience Stores entführt, wo sich die Tat wieder und wieder vor Lukes Augen abspielt, wobei der fatale Ausgang stets derselbe bleibt.
                                    In den Tiefen der schwedischen Wälder, die der Regisseur mit ästhetisch farbentsättigten Bildern als düstere Verästelungen der seelischen Verfassung seiner Figuren inszeniert, lauert hingegen noch eine weitere Gefahr auf die vier Freunde. Bruckner kombiniert visuelle Elemente aus dem Bereich des Okkult-Horrors mit Genre-Stilmitteln des Wald-und-Wiesen-Horrors, um die bedrohliche Anspannung kontinuierlich zu steigern. Mysteriöse Runen, die ins Unterholz eingeritzt sind, ein ausgeweideter Hirsch, verlassene Hütten, in denen gruselige Strohpuppen wie für ein Opferritual drapiert wurden, und ständig wiederkehrende Geräusche, die sich weder Menschen noch Tieren zuordnen lassen, verdichtet der Regisseur zusammen mit den wiederholt auftretenden Traumsequenzen zu atmosphärisch eindringlich gefertigtem Psycho-Horror.
                                    Mit seinem auf einer Romanvorlage beruhenden Werk behauptet sich Bruckner, der bisher hauptsächlich Kurzfilmsegmente für Filme wie „V/H/S“ und „Southbound“ drehte, als horroraffiner, talentierter Handwerker, der klischeehafte Entwicklungen und vorhersehbare Momente des Drehbuchs mit einer deutlich erkennbaren Vorliebe für das Genre kaschiert, die der Regisseur in einigen überaus wirkungsvollen Horror-Impressionen kanalisiert. Über weite Strecken scheint sich „The Ritual“ somit aufgrund des vorwiegend psychologischen Zugriffs auf traditionelle Bausteine des effektiven Schauererlebnisses in die Riege jener Arthouse-Horrorfilme wie beispielsweise jüngst „The Witch“ oder „It Comes at Night“ einzureihen, in denen das überwiegend unsichtbare, kaum greifbare Grauen direkt dem schuldbefallenen Unterbewusstsein der Figuren zu entspringen scheint.
                                    Auf recht aufdringliche Weise wird es in Bruckners Film gegen Ende allerdings immer konkreter, wenn der Schrecken nicht nur in ein allzu altbackenes Erzählmuster eingebettet wird, sondern darüber hinaus eine derart physische Präsenz erhält, dass diese dem vorangegangenen Schrecken in Verbindung mit dem abrupt-unpassenden Schluss viel an Wirkung raubt. Die komplexen Traumata, die zuvor wie ein quälendes Echo durch die dicht verwachsenen Baumwipfel des Seelenwaldes hallen, verwandeln sich in ein regelrecht banales Schockszenario, das abschließend dort wieder Licht scheinen lässt, wo eigentlich nur Schatten sein dürfte.

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                                    • 9

                                      Die sechsjährige Moonee lebt in einem Zauberschloss. Zumindest lautet so der Name der Motelanlage, in der das Mädchen zusammen mit ihrer Mutter Halley in einem kleinen Apartment wohnt, das 35 Dollar pro Nacht kostet. Wie eine eigene kleine Parallelwelt inszeniert Regisseur Sean Baker diesen Ort namens Magic Castle, der den sozial Schwachen der amerikanischen Unterschicht zumindest so lange Unterschlupf gewährt, bis am Ende einer jeden Woche wieder einmal die Miete fällig wird und manche der verzweifelten Existenzen ohne jeglichen gesellschaftlichen Halt dazu gezwungen werden, weiterziehen zu müssen.
                                      Dass diese Motelanlagen irgendwo am Rande von Florida als eine Art letzte Bastion der Schutzlosen ausgerechnet an Disney World grenzen, ist ein bittersüßer Wink mit dem Zaunpfahl, den der Regisseur ohne jeglichen falschen Zynismus als strahlenden Kontrast neben der tagtäglichen Armut seiner Figuren etabliert. Hier, wo sich regelmäßig zahlreiche Touristen einfinden, um der gigantischen Erlebnisattraktion einen Besuch abzustatten, widmet sich Baker erneut viel lieber den sträflich vernachlässigten Außenseitern der Gesellschaft, die im politischen Klima des gegenwärtigen Amerikas gerne leichtfertig als die Abgehängten bezeichnet werden.
                                      Nachdem der Regisseur zuvor in „Starlet“ die freundschaftliche Beziehung zwischen einer jungen Pornodarstellerin und einer 85-jährigen Witwe urteilsfrei und einfühlsam zugleich beleuchtete und in „Tangerine“, für den Baker iPhones als Kameras verwendete, aus dem Leben von Transgender-Prostituierten in Los Angeles an Heiligabend erzählte, läuft der Regisseur mit „The Florida Project“ endgültig zur Höchstform auf und erweist sich als einer der begnadetsten, humanistischsten Regisseure des momentanen US-Independent-Kinos.
                                      Was an diesem Film von der ersten Szene an auffällt, sind die leuchtenden, strahlenden Farben. Ähnlich wie Harmony Korines letzter Film „Spring Breakers“ gleicht der Farbstil von „The Florida Project“ einer Tüte Skittles, wobei Baker die Kleidung seiner Figuren, die bunten Fassaden der Häuserwände innerhalb der Motelanlagen sowie einige der umliegenden Touristenattraktionen und Geschäfte mithilfe von wunderschönen 35-mm-Aufnahmen als fast schon unwirkliches Märchenland erstrahlen lässt.
                                      Die visuelle Kraft des Films wird somit auch zum Sinnbild für das schillernde Gemüt der Kinderfiguren, denen sich der Regisseur mit ganz besonderer Hingabe zuwendet. Obgleich die lose strukturierte Geschichte, die eher einer kreisenden Milieustudie aus einzelnen Momentaufnahmen gleicht, von trostlosem Pessimismus und trister Armut handelt, ist „The Florida Project“ alles andere als deprimierender Elendstourismus. Im Angesicht der misslichen Lage begibt sich Baker stattdessen gewissermaßen auf die Knie, damit die Kamera von Alexis Zabe vor allem den Kindern in diesem Werk möglichst auf Augenhöhe begegnen kann und sich so oft wie möglich in deren neugierigem Strahlen und funkelnden Augen verliert, während aus ihren Mündern teilweise diverse rabiate oder widerspenstige Aussagen purzeln.
                                      Für die kleine Moonee, die den heißen Sommer mit ihren Freunden Scooty und Dicky verbringt, ist das Leben in Magic Castle ein grenzenloser Hort der vielfältigsten Möglichkeiten. Dem kindlichen Entdeckerdrang verschreibt sich zugleich auch der Regisseur, wenn er verlassene Abrisshäuser als spannenden Abenteuerspielplatz inszeniert, während Türen, durch die die Kinder eigentlich nicht gehen dürfen, gerade aufgrund des ausgesprochenen Verbots erst recht einen ungeahnten Reiz auf sie ausüben. Selbst etwas so Kleines, Unscheinbares wie ein Softeis wird in dieser Welt der Kinder, die Baker konsequent als Welt der kindlichen Perspektive gestaltet, zum beglückenden Spektakel, das sie wie einen Pokal untereinander aufteilen und sich hin und her reichen.
                                      Den brutalen Ernst des von ihm porträtierten Milieus verliert der Regisseur trotzdem nie aus den Augen. So bewegend die vielen kleinen Momente in diesem Film auch eine verträumte Symphonie der puren Lebensfreude entstehen lassen, so niederschmetternd und erschütternd sind die Szenen, in denen dem Betrachter jedes Mal wieder aufs Neue bewusst wird, dass hier Menschen am Existenzminimum tagtäglich um ihr Überleben kämpfen müssen. Neben den Kinderfiguren, unter denen sich insbesondere Brooklynn Prince in der Rolle von Moonee als regelrechte Schauspiel-Sensation entpuppt, erzählt Baker speziell über die erwachsenen Figuren nochmal eine eigene Geschichte, die immer wieder bewusst bedrohlich in das schillernde Märchenland der Kinder einbricht.
                                      So erzählt der Regisseur auch von Motel-Manager Bobby, den Willem Dafoe grandios zwischen empathischem Einfühlungsvermögen, ruhiger Souveränität und tiefen Selbstzweifeln sowie ständigen Interessenskonflikten verkörpert. Und von Halley, die sich hinter dem typischen Erscheinungsbild des White-Trash-Klischees mit ihren vielen Tattoos, den grün gefärbten Haaren und einer frechen Zunge als Mutter entpuppt, die ihre Tochter rührend unentwegt mit ihrer Liebe überhäuft, während sie aufgrund der finanziellen Notlage bald zu extremen Maßnahmen greifen muss, um Moonee zumindest hin und wieder das reichhaltige Frühstück voll mit Pfannkuchen, Sirup und Speck zu ermöglichen, das das Mädchen so liebt.
                                      Nichts kann einen jedoch auf die abschließenden fünf Minuten dieses Films vorbereiten, in denen „The Florida Project“ zwischen tieftraurigem Realismus und magischem Surrealismus mit einer Schlusssequenz aufwartet, die in diesem noch überaus jungen Kinojahr 2018 nur schwer zu toppen sein dürfte. Auch wenn die bisherigen Werke dieses Regisseurs auf ihre ganz eigene Weise immer schon Geschenke waren, die dem Zuschauer ein Verständnis für Teile der Gesellschaft näherbringen, die im Kino sonst eher unterrepräsentiert sind oder gänzlich ignoriert werden, hat Baker mit diesem Film sein bisher reichhaltigstes Geschenk geschaffen.

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                                      • 7 .5

                                        In Hamburg sucht die junge Schauspielerin Younghee neue Zuflucht. Nachdem sie in ihrem Heimatland Korea eine Affäre mit einem bekannten verheirateten Regisseur hatte, wurden ihr all die unangenehmen Fragen und das Gerede darüber, was nun war und was nicht, offenbar zu viel. In der deutschen Hafenstadt scheint die Protagonistin von Hong Sang-soos Film „Bamui haebyun-eoseo honja“ ganz unscheinbar in der fremden Kultur zu versinken, wobei Younghee das Essen an deutschen Würstchenbuden ebenso genießt wie lange Spaziergänge durch Parks.
                                        In diesem ersten von zwei Kapiteln schildert der südkoreanische Regisseur jedoch keine optimistische Geschichte einer Aussteigerin, der durch einen radikalen Tapetenwechsel der erhoffte Neubeginn gelingt. Die winterliche Stimmung Hamburgs dient Hong stattdessen als Kulisse für eine melancholische Studie der Einsamkeit und Isolation, die der Regisseur nie aufdringlich in den Vordergrund rückt. Anhand der sehnsüchtigen oder vorsichtigen Blicke seiner Hauptdarstellerin Kim Min-hee formt Hong vielmehr das subtile Porträt einer ruhelosen Seele, die nirgendwo so richtig ankommen kann.
                                        Auch wenn Younghee viel Zeit mit ihrer koreanischen, älteren Freundin verbringt, die es nach dem Ende ihrer Ehe nach Deutschland gezogen hat, hinterlassen die zahlreichen Dialoge zwischen den beiden Frauen meist ein Gefühl der Unvollkommenheit und Orientierungslosigkeit. So kommen die Freundinnen in einer Szene auf schmerzhaft treffende Weise zu der Erkenntnis, dass die Einsamkeit an idyllischen, überwältigenden Orten nur noch stärker fühlbar ist. Hong zeigt seine Protagonistin oftmals in Bewegung, doch der Zustand des beständigen Treibens durch stetig neue Orte und Schauplätze scheint Younghee noch mehr in den Stillstand zu führen. In erfüllenden Einklang mit sich selbst scheint die Koreanerin erst zu kommen, wenn sie sich ganz alleine der vollkommenen Ruhe hingibt. An einem Strand von Hamburg erwacht die Protagonistin in einer Szene des Films, um von einem mysteriösen Unbekannten nur wenig später aus dem ersten Kapitel des Films getragen zu werden. Erneut erwachen lässt sie der Regisseur im nächsten Kapitel ausgerechnet im Kinositz, der nicht nur Younghees Rückkehr in deren Heimat markiert, sondern ein Band zwischen der Hauptfigur und der Leinwand knüpft, als würde Hong die Geschehnisse der Realität unweigerlich auf die Magie des Kinos zurückwerfen.
                                        So erhält auch „Bamui haebyun-eoseo honja“ selbst eine reizvolle Metaebene, wenn man das Werk des Regisseurs mit den Ereignissen vergleicht, von denen dieser zuletzt begleitet wurde. Berichten zufolge soll der verheiratete Filmemacher selbst eine Affäre mit der Schauspielerin gehabt haben, die in der Vergangenheit wiederholt in Hongs Filmen auftrat und nun auch wieder in diesem Werk die Hauptrolle übernahm. Durch die Geschichte des Films, die der Regisseur vorwiegend über Stimmungen erzählt, die den konstanten Fluss der vielen Dialoge eindringlich überlagern, spielt Kim in gewisser Weise ein Abbild von sich selbst.
                                        Dabei gelingen Hong die wohl aufrichtigsten Momente, sobald der Alkohol in geselliger Runde fließt. Zwei längere Passagen, in denen Younghee bei Freunden und Bekannten zum Essen eingeladen ist und der koreanische Reisschnaps Soju immer wieder nachgeschenkt wird, nutzt der Regisseur, um im Zustand des Betrunkenseins, der Betroffene bekanntermaßen zu unangenehmen Wahrheiten, unüberlegten Peinlichkeiten und hitzigen Gefühlsausbrüchen verleitet, wahrhaftige, ungespielte Selbstoffenbarung zu finden.
                                        Die ganz großen Fragen darüber, inwiefern die Menschen beispielsweise überhaupt für die Liebe qualifiziert sind, kann auch Hong selbstverständlich nicht beantworten. Der Regisseur, der sich gegen Ende womöglich noch einmal einen selbstreflexiven Auftritt in Form der fiktiven Filmfigur des Regisseurs verschafft, mit dem Younghee eine Affäre hatte und auf den sie in Hamburg vergeblich warten musste, führt seine Protagonistin viel lieber noch einmal an die harmonische Geborgenheit des Strandes zurück, an dem sie noch ein letztes Mal erwacht, als seien vorangegangene Teile dieses Films wieder nur ein Traum gewesen. Mit andächtiger Wehmut bleibt dem Zuschauer nichts anderes übrig, als zusammen mit Younghee einfach wieder aus Hongs Werk zu laufen, diesmal mit eigenen Schritten.

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                                          über Opfer

                                          Um ein Opfer wird es in Andrei Tarkowskis letzten Film gehen. So viel verrät bereits der Titel. Dabei hat der russische Regisseur, der mit seinen philosophisch-poetischen, zutiefst am menschlichen Bewusstsein ausgerichteten Mammutwerken Inspiration für zahlreiche andere Filmemacher war und bis heute in cineastischen Kreisen als einer der besten Regisseure aller Zeiten gilt, mit der Arbeit an seinem letzten Film gewissermaßen selbst ein Opfer erbracht. Schon länger hatte Tarkowski an gesundheitlichen Beschwerden gelitten, bis er in der Postproduktion von „Offret“ erfuhr, dass er an Krebs erkrankt ist und nicht mehr lange zu leben haben wird. Nur wenige Monate nach Fertigstellung des Films verstarb der Regisseur an seiner Krebserkrankung, während sein finales Werk seinem Sohn gewidmet ist, dem er Hoffnung und Vertrauen schenken will.
                                          Betrachtet man „Offret“ mit dem Wissen um Tarkowskis persönliche Umstände, von denen die Produktion begleitet wurde, sind die autobiographischen Bezüge kaum zu übersehen. Der Regisseur erzählt die Geschichte von Alexander, ein in die Jahre gekommener, ehemaliger Schauspieler, der seine Profession irgendwann aufgab, um als Journalist, Kritiker und Dozent zu arbeiten. Mit seiner Frau, seiner Stieftochter und seinem kleinen Sohn, der nach einer Halsoperation momentan nicht sprechen kann, lebt er zurückgezogen und friedlich in einem Haus auf einer schwedischen Insel, wo er zu Beginn der Handlung seinen Geburtstag in kleiner Runde feiern will.
                                          Mit einer ausführlichen Plansequenz, die von den staunenswerten Aufnahmen des Kameramanns und regelmäßigen Ingmar-Bergman-Kollaborateurs Sven Nykvist zärtlich und elegant zugleich vorangetrieben wird, führt Tarkowski den Betrachter in sein finales Werk. Mit einer auffälligen Dialoglastigkeit, die für den russischen Regisseur eher untypisch ist und vielmehr an Bergman erinnert, dringt Tarkowski langsam zu seiner Hauptfigur vor. Dabei verleihen Gespräche über Friedrich Nietzsches "Also sprach Zarathustra" und philosophische Sinnfragen über das menschliche Dasein, die Alexander zu Beginn des Films mit dem Postboten führt, dem Film zunächst eine theaterähnlich überhöhte, ungemein sperrige Ausstrahlung.
                                          Kammerspielartig bringt der Regisseur die wenigen Figuren in Alexanders Haus zusammen, wo die feierliche Geburtstagsstimmung nach weiteren tiefschürfenden Gesprächen über Kunst und Philosophie schlagartig kippt. Dunkle Wolken ziehen sich über dem Himmel zusammen, während der Boden zu beben beginnt und das Geschirr zur Erschütterung bringt. Aus dem Fernseher dringen beunruhigende Nachrichtenfetzen hervor, die dazu aufrufen, nicht in Panik zu verfallen. Auch von nuklearen Sprengköpfen ist kurzzeitig die Rede.
                                          Mit dem plötzlichen Wandel hin zum kryptischen Endzeitszenario, bei dem die Kamera über weite Strecken nichtsdestotrotz kaum einen Blick auf das Treiben außerhalb des Schauplatzes gewährt und wie in Gefangenschaft mit den Figuren im Inneren des Hauses verweilt, findet auch der Regisseur wieder zu jener traumartigen, schlafwandlerischen Ästhetik, die Werke wie „Solyaris“ und „Stalker“ auf bahnbrechende Weise zwischen sprödem Realismus und magischem Surrealismus verankert hat.
                                          Wie eingefroren erscheint der Erzählfluss hierbei, wenn Tarkowski den schweren Gefühlsausbruch von Alexanders Frau Adelaide, die angesichts der gleichermaßen drastischen wie unkonkreten Situation in Schreie und Tränen ausbricht, über viele Minuten hinweg festhält. Eine Form der äußeren Apokalypse dient dem Regisseur auch hier ein letztes Mal als Zustandsbeschreibung innerer Zusammenbrüche, die den Protagonisten schließlich dazu bewegen, sich an eine höhere Macht oder Gott höchstpersönlich zu wenden und sich dazu bereit zu erklären, alles zu opfern, was er besitzt, um die ursprüngliche Ausgangslage wiederherzustellen.
                                          Spätestens mit diesem radikalen Schritt formt Tarkowski sein Werk mehr und mehr zu einer mit Verzweiflung durchzogenen Erlöserphantasie, die der Regisseur mit ungewohnt aufdringlicher, religiöser Symbolik versieht. Neben Bäumen, die als Zeichen von Hoffnung und neu entstehendem Leben gepflanzt werden, dem Dienstmädchen Maria, mit dem Alexander schlafen soll, um die Welt retten zu können, und Referenzen aus der Kunstgeschichte, die ebenfalls religiöse Bezüge aufweisen, entpuppt sich „Offret“ aber schlussendlich auch wieder als Werk eines Regisseurs, der stets ganz nah am Menschen bleibt. Mit der Geschichte eines Vaters, der sich in allerletzter Konsequenz dem Maximum an Selbstaufgabe verschreibt, um seinen Sohn in eine womöglich bessere Zukunft zu geleiten, hat Tarkowski ein mitunter abstoßend intimes Abschlusswerk geschaffen, das den Zuschauer bewusst auf Abstand hält, während der Regisseur zwischen moralischem Verantwortungsbewusstsein, niederschmetternder Unausweichlichkeit sowie leisen optimistischen Tönen zu sich selbst findet, bevor nur noch sein Nachlass bleibt, der hier zuletzt noch einmal hohe Flammen schlägt, bevor sich die Kamera zum Abschied in die ewige Stille entfernt.

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                                            Im Jahr 2003 ging eine kleine Sensation durch die Filmlandschaft, die einen Kult der besonderen Art entfachte, welcher bis heute anhält. Auf einer einzigen Werbetafel in Hollywood war das gruselig wirkende Gesicht eines Mannes zu sehen, der einen Film namens „The Room“ bewarb und für Interessierte gleich noch seine private Telefonnummer angab, unter der er erreichbar war. Bei einem geschätzten Budget von 6 Millionen Dollar spielte der Film von Regisseur, Drehbuchautor, Produzent und Hauptdarsteller Tommy Wiseau nur rund 1.900 Dollar wieder ein, doch Zahlen können diesem Film ohnehin nicht gerecht werden. „The Room“ ist eine Sensation, wie man sie nur selten zu sehen bekommt.
                                            Mit seiner Geschichte hatte Wiseau eine große amerikanische Tragödie in der Tradition von Tennessee Williams im Sinn, herausgekommen ist ein bizarrer Anti-Film, bei dem auf sämtlichen Ebenen des filmischen Handwerks schlichtweg überhaupt nichts zusammenpasst. Dabei bezieht „The Room“ seine große Faszination aus dem Zwiespalt zwischen der sichtbaren Ambition, ein revolutionäres Meisterwerk zu kreieren, und der bitteren Realität, dass hier scheinbar jemand einen Film gedreht hat, der nicht einmal vom Planeten Erde stammt und noch nie mit einem Menschen in Berührung kam.
                                            Tatsächlich hat es Wiseau zu dem Ruhm gebracht, den er sich wahrscheinlich immer ersehnt hat. Allerdings nicht als bewegender Dramatiker, sondern als verschrobener Komiker, der ganze Menschenmassen bis heute in speziell veranstalteten Mitternachtsvorstellungen Tränen lachen lässt und eine Vielzahl an kleinen Ritualen inspiriert hat, die während einer Vorstellung des Films vom Publikum wie ausgelassene Happenings zelebriert werden. Neben dem Film selbst, den man als einzigartiges Ereignis mindestens einmal gesehen haben sollte, gibt es aber auch eine Geschichte hinter „The Room“, die Greg Sestero, einer der Hauptdarsteller des Films sowie langjähriger Freund von Wiseau, im Jahr 2013 zusammen mit Tom Bissell als Buch veröffentlichte.
                                            Da es zumeist eines verschrobenen Künstlers bedarf, um die Geschichte eines verschrobenen „Künstlers“ zu erzählen, hat sich Multitalent James Franco der Aufgabe angenommen, „The Disaster Artist: My Life Inside The Room, the Greatest Bad Movie Ever Made“ als Film unter dem verkürzten Titel „The Disaster Artist“ zu adaptieren. Im Gegensatz zum Buch, in dem die Geschichte in nicht chronologischer Reihenfolge konstruiert wurde und zwischen dem Kennenlernen von Sestero und Wiseau sowie den überaus chaotischen Dreharbeiten von „The Room“ hin und her wechselt, erzählt Franco die Geschichte in chronologischer Reihenfolge.
                                            Entstanden ist ein Werk, das sich entfernt mit Tim Burtons „Ed Wood“ vergleichen lässt, der seinerseits dem leidenschaftlichen Regisseur hinter Filmen wie „Plan 9 from Outer Space“ ein liebevolles Denkmal setzte, das die Trashfilm-Legende würdevoll huldigte. Francos Film über die zunächst aufkeimende Freundschaft zwischen Sestero und Wiseau, die sich in einem Schauspielkurs kennenlernen und beide den großen Traum haben, gefeierte Schauspielstars zu werden, ist in den besten Momenten ebenso wie Sesteros und Bissells Buch eine träumerische Auseinandersetzung mit dem Mythos Hollywood sowie der fast schon kindlich-naiven Hingabe an das Kino.
                                            Obwohl Sestero der eigentliche Protagonist dieser Geschichte ist, gehört das Zentrum dieses Films unbestreitbar Wiseau, den Franco selbst mit beängstigender Präzision verkörpert. Der Regisseur inszeniert sich und damit Wiseau glücklicherweise weiterhin als undurchdringbares Mysterium, bei dem das seltsame Erscheinungsbild und die unklaren Lebenshintergründe wie eh und je Rätsel darüber aufgeben, woher Wiseau stammt, wie alt er ist und woher das ganze Geld kommt, mit dem er sich über Jahre hinweg Apartments in San Francisco und Los Angeles leisten kann sowie eine millionenschwere Independent-Produktion ohne Probleme im Alleingang stemmt.
                                            Trotz seines skurrilen Aussehens, bei dem die bleiche Haut, der stark osteuropäische Akzent und der ausgefallene Kleidungsstil eher auf ein Fantasy-Wesen wie einen Vampir oder einen finsteren Filmbösewicht schließen lassen, lässt Franco Wiseau nie zur reinen Karikatur verkommen und beschreitet eine feine Gratwanderung zwischen schräger Situationskomik, aufrichtiger Anerkennung und einem dezent eingestreuten Gespür für düstere Zwischentöne, die vor allem im späteren Verlauf regelmäßig aus dem speziellen Verhältnis zwischen Sestero und Wiseau entspringen.
                                            Auch wenn Franco aufgrund seines merklich verknappten Erzählansatzes, für den er die Vorlage um diverse Nebenerzählungen und Details entschlackt hat, gerade die ernsteren Aspekte des Buchs manchmal etwas zu sehr vernachlässigt, die die Geschichte mitunter in einen regelrechten Psycho-Thriller verwandelt haben, bannt er die berührende Kernessenz von Sesteros und Bissells Werk nichtsdestotrotz stimmig auf die Leinwand.
                                            Neben dem Herzstück des Buchs, das die Dreharbeiten zu „The Room“ in ebenso absurden wie witzigen Erlebnissen schildert, ist „The Disaster Artist“ schlussendlich eine Geschichte des zwanghaft vorherbestimmten Scheiterns, in der aufgrund der unerschütterlichen Überzeugung und Hingabe zweier passionierter Träumer am Ende doch noch die ganz große Anerkennung steht. Ein Traum, durch Absurdität verwirklicht, und doch ein gelebter Traum.

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                                              Das Geräusch eines Messers, mit dem Butter auf einen Toast gestrichen wird, kommt in Reynolds Woodcocks Leben einer unerträglichen Lärmbelästigung gleich. Im London der 50er Jahre wird der renommierte Modedesigner vorwiegend unter den Reichen und Schönen als Genie geschätzt, das wunderschöne Einzelstücke für Frauen in perfektionistischer Detailarbeit zu jedem festlichen Anlass kreiert. In seinem achten Film „Phantom Thread“ führt Meisterregisseur Paul Thomas Anderson den Betrachter zu Beginn in die Welt des Modedesigners, die von festen Abläufen, präziser Koordination und strikten Regeln beherrscht wird. In bestechend komponierten Einstellungen schildert der Regisseur den Alltag im luxuriösen Anwesen der Hauptfigur, wo Woodcock lebt und arbeitet, als Abfolge starrer Prozesse, bei denen die künstlerische Schaffenskraft des Modedesigners in regelmäßigen Abständen mit dessen exzentrischer Persönlichkeit kollidiert. Ein falsches Geräusch am Frühstückstisch genügt, um Woodcock die Laune für den Rest des Tages zu vermiesen, während Überraschungen im Leben des Modedesigners einen hinterlistigen Angriff auf dessen routinierte Gepflogenheiten darstellen.
                                              Fast könnte man meinen, Anderson habe mit „Phantom Thread“ eine Art Nachfolger im Geiste für „There Will Be Blood“ im Sinn gehabt, wobei Woodcock ein Wiedergänger des ebenfalls von Daniel Day-Lewis gespielten Ölbarons Daniel Plainview sein könnte. Im Gegensatz zu seiner brillanten Auseinandersetzung mit dem Konflikt zwischen Kapitalismus und Religion im frühen 20. Jahrhundert, bei dem das Innenleben der Figuren mehr und mehr einem beängstigenden Eisblock glich, geht es dem Regisseur in seinem achten Film darum, große Gefühle in die Geschichte zu lassen und die komplexen Seelenlandschaften seiner überaus vielschichtigen Figuren auszuleuchten.
                                              In „Phantom Thread“ wird die erste bemerkenswerte Welle der knisternden Gefühle sichtbar, als Woodcock nach einem frustrierenden Frühstücksritual, das ihm durch eine der anwesenden Damen ruiniert wurde, ein Café aufsucht. Hier ist es die schüchterne, zärtlich wirkende Bedienung Alma, von der er sofort angetan ist, nachdem sie vor seinen Augen zunächst beinahe über ein Tischbein stolpert und vor Peinlichkeit knallrot anläuft. Bei der anschließenden Bestellung seines üppigen Frühstücks scheint Woodcock gar kein Ende mehr nehmen zu wollen und zählt eine Speise nach der anderen auf, während Alma alles mit einem aufmerksamen und doch zurückgenommenen Lächeln notiert. Auf einem ihrer Zettel, den sie dem Modedesigner schließlich reicht, bezeichnet sie ihn schlicht als einen hungrigen Jungen, was Woodcock endgültig dazu bewegt, die liebenswürdige Bedienung zum Essen einzuladen.
                                              Es ist der Beginn eines romantischen Verhältnisses, welches fortan das alles bestimmende Zentrum des Films einnimmt. Für den Modedesigner entwickelt sich Alma rasch zu seiner neuen Muse, der er unentwegt Stoffe auf den Leib maßschneidern will. Anderson inszeniert die aufkeimende Beziehung zwischen dem exzentrischen Genie und der anfangs sensibel wirkenden Frau erneut wie eine zweckmäßige, genauesten Prozessen unterliegende Kette von Abläufen, durch die sich Alma eher wie eine leblose Schaufensterpuppe in das Handwerk von Woodcock eingliedern soll. „Phantom Thread“ ist jedoch kein weiterer Film über den destruktiven Größenwahn des besessenen, verschrobenen Künstlers, sondern ein im besten Sinne klassisch erzählter Film über das unkontrollierte Ausmaß einer Liebe, die sich auf komplizierte Weise zwischen den beiden Betroffenen hin und her schlängelt wie eine Giftschlange, die nur darauf wartet, das erste Mal verheerend zuzubeißen.
                                              Im Vergleich zu seinen beiden vorherigen Werken „The Master“ und „Inherent Vice“, für die der Regisseur einen auffallend kryptischeren, sperrigeren Stil wählte und für einige Zuschauer zunehmend weniger greifbar wurde, gestaltet sich Andersons achter Film wieder wesentlich zugänglicher. Die makellos ausgestatteten sowie mit der Kamera staunenswert eingefangenen Bildkompositionen werden zusätzlich von Jonny Greenwoods herausragendem Score untermalt, dem es für seine Arbeit zu „Phantom Thread“ gelungen ist, den dezent psychedelisch-verstörenden Charakter seiner gewohnten Kompositionen mit wundervoll harmonischen Klängen zu verweben und ein ganz besonderes Verhältnis zwischen altbewährtem Traditionsbewusstsein und angenehmen Irritationen herzustellen.
                                              Dieser Ansatz spiegelt sich auch in Andersons Inszenierung wieder, für die der Regisseur den weitestgehend linearen Verlauf seiner toxischen Liebesgeschichte nebenbei mit offensichtlichen Referenzen an das Schaffen sowie die Persönlichkeit von Regie-Legende Alfred Hitchcock anreichert. Sicherlich nicht rein zufällig enden die Nachnamen des britischen Regisseurs und Andersons britischen Modedesigners auf das gleiche Wort, während sich Woodcocks Partnerin und Muse ebenfalls den gleichen Namen mit Hitchcocks Frau und Muse Alma teilt. An „Psycho“ wird der Zuschauer außerdem durch Woodcocks besonderes Verhältnis zu dessen verstorbener Mutter erinnert, die ihn in jungen Jahren bereits in das Handwerk des Schneiderns eingeführt hat und von der er eine Locke ihres Haares in seinen Anzug eingenäht hat, damit er einen Teil von ihr immer nah an seinem Herzen tragen kann.
                                              Wie Anthony Perkins‘ psychopathischer Motel-Besitzer Norman Bates spitzt der Modedesigner in einer tollen Sequenz des Films durch ein Schlüsselloch, um seine edle Kreation, die von Alma vorgeführt wird, wie ein lüsterner Voyeur aus sicherer Distanz zu betrachten. Diese Anflüge eines Psycho-Thrillers, die Anderson später im Verlauf des Films von seiner männlichen Hauptfigur auch noch auf den weiblichen Gegenpart übertragen wird, verleihen der eigentlichen Liebesgeschichte ein widerspenstiges Gewicht, durch das „Phantom Thread“ eigentlich auf einen vermeintlich tragischen Höhepunkt zusteuern muss.
                                              Die Höhen und Tiefen dieser außergewöhnlichen Beziehung, durch die der Regisseur seine Protagonisten schickt, wären ohne das zentrale Hauptdarsteller-Duo hingegen undenkbar. Mit seiner Darbietung, die er zugleich als seinen Abschied vom Schauspielgeschäft ankündigte, ist Day-Lewis in seiner womöglich letzten Rolle erneut eine verblüffende Urgewalt des Kinos, den man als Schauspiel-Gigant zurecht vermissen wird, falls es bei seiner Ankündigung bleiben sollte. Womit im Vorfeld allerdings nicht unbedingt zu rechnen war, ist die ebenfalls beeindruckende Leistung von Hauptdarstellerin und zugleich Neuentdeckung Vicky Krieps. Die in Luxemburg geborene und in Berlin lebende Schauspielerin fügt sich dem Rhythmus von Day-Lewis‘ Schauspiel wie bei einem Tanz, wobei sie mit jedem von dessen Schritten scheinbar mühelos mithält und sich spätestens in der zweiten Hälfte des Films sichtlich die Oberhand erkämpft.
                                              Bis zum überraschenden Abschluss bewahrt sich Anderson in seinem Werk den Glauben an eine Liebe aufrecht, die selbst über Umwege, bei denen der Regisseur den toxischen Faktor dieser außergewöhnlichen Liebesgeschichte nur allzu wörtlich nimmt, einen Ausklang findet, der nachhaltig aufrüttelt und mit einer abschließenden Gratwanderung zwischen einfühlsamer Sinnlichkeit und zynischer Boshaftigkeit aufwartet, mit der „Phantom Thread“ den amerikanischen Regisseur ein weiteres Mal als einen Meister seines Könnens aufweist, in dessen Liga momentan nur wenige vergleichbare Filmemacher verweilen.

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                                                Die messerscharf in Szene gesetzte Passage, in der die Kriminellen trotz offensichtlich genauestens einstudierter Überfallstrategie nach einem wüsten Schusswechsel zu Polizistenmördern werden, ist von einer erbarmungslosen, schnörkellosen Wucht geprägt, bei der Gudegast zwischen all den Beteiligten nie den Überblick inmitten der Action verliert und ein regelrechtes Feuerwerk aus getriebener Kinetik und ohrenbetäubendem Kugelhagel abbrennt. Den von 0 auf 100 angestiegenen Testosteronpegel kann anschließend nur Gerard Butler aufrechterhalten. Seine Rolle des abgehalfterten, aufgepumpten sowie dauerhaft unter aggressivem Strom stehenden Polizisten, der noch dazu auf den passenden Namen Big Nick hört, spielt der kernige Schotte so entfesselt wie lange nicht mehr.
                                                Eine derart offensiv auf permanenten Krawall gebürstete Figur wie Big Nick, der direkt in seiner ersten Szene den anfänglichen Tatort betritt und stark verkatert einen übriggebliebenen Donut des Toten isst, hat „Den of Thieves“ allerdings auch bitter nötig. Von dem starken Auftakt und einem nochmal ebenso starken Finale abgesehen bleibt von Gudegasts Film als Gesamtwerk kaum mehr als ein überaus schlicht gestrickter B-Movie-Heist-Action-Thriller, der normalerweise ohne Kinoauswertung als Schleuderware im Direct-to-Video-Sektor landen würde.
                                                Viel zu viel Zeit verwendet der Regisseur, der zuvor unter anderem als Drehbuchautor an „London Has Fallen“ beteiligt war, für die charakterlichen Hintergründe und Motivationen der Gangster, die trotzdem nichts anderes als simple Genre-Schablonen bleiben. Maskuline Posen und finstere Blicke bestimmen das Treiben dieser Gang, die nach dem missglückten Coup zu Beginn einen weiteren Überfall plant, bei dem ihnen Big Nick und seine kompromisslose Elite-Einheit endgültig den Garaus machen wollen. Als vermeintlich schwächstes Glied in der Kette erweist sich hierfür der Fluchtwagenfahrer Donnie, der von der Einheit frühzeitig brutal in die Mangel genommen wird und für sie als Informant arbeiten soll.
                                                Mit Nachdruck versichert Anführer Big Nick dem Eingeschüchterten noch einmal, dass nicht die Gangster, sondern die Cops die wahren Bösen seien. Aus dieser rabiaten Konstellation, bei der die zu allem bereiteten Gangster somit in ein Duell mit unnachgiebigen, aggressiven Cops geraten, formt Gudegast trotz seines handwerklich unübersehbaren Geschicks einen viel zu sehr mit der angezogenen Handbremse erzählten Genre-Film der verpassten Möglichkeiten. Zu ernst nimmt der Regisseur die stereotypen Figuren auf der Seite des Verbrechens, deren großer Coup in eine Reihe möglichst ausgefuchster Einzelaktionen zerlegt wird, die den Spannungsfluss aufgrund des mechanischen Ablaufs wie nach einem Uhrwerk erheblich ausbremsen.
                                                Auch wenn sich Pablo Schreiber in der Rolle des Anführers der Kriminellen in einigen Szenen ein wiederholtes Duell mit Butlers bulligem Cop liefern darf, das beide Schauspieler überwiegend durch schnaubendes Schweigen und stechend fixierte Blicke austragen, geraten die anderen Schauspieler, mit Ausnahme von O'Shea Jackson Jr., überwiegend zu blassem Beiwerk, die sich dem ohnehin viel zu lang geratenen Erzählrhythmus unterordnen müssen. Mit der Unterstützung von Komponist Cliff Martinez taucht Gudegast das Los Angeles seines Films mitunter in eine brodelnde Vorhölle, in der das Fegefeuer nur am Anfang und im Finale mit verheerender Kraft ausbrechen darf. Abgesehen von Butler, der hier oftmals glücklicherweise losgelöst von den anderen Darstellern in einem völlig anderen Film zu spielen scheint, stellt „Den of Thieves“ allerdings zu routinierte, stark nach Schema F gefertigte sowie stellenweise unter ihrer protzigen Attitüde kollabierende Standardware dar, die einen erst mit Einsetzen des ohrenbetäubenden Kugelhagels wieder vollends aus der inhaltlichen Lethargie reißt.

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                                                  Eine Rasierklinge, die seinen Gaumen zuerst blutig zerschneidet, bevor er sie schließlich als versteckte Waffe in seinen Backen platziert hat, wird für den 19-jährigen Malik in Jacques Audiards "Un prophète" zur einzigen Überlebensmöglichkeit. Für sechs Jahre wurde der arabischstämmige, in Frankreich lebende junge Mann zur Haft verurteilt, doch das Leben im Gefängnis hält nur eine Perspektive für ihn bereit. Malik muss sich anpassen, den vorherrschenden Strukturen organisierter Kriminalität beugen und neue Fähigkeiten erlernen, die sein nervöses, unsicheres Innenleben kaschieren. Vor die Wahl gestellt wird er eines Tages gegen seinen Willen von César Luciani. Der korsische Mafiaboss entpuppt sich innerhalb der Gefängnismauern schnell als Strippenzieher, der nicht nur gut vernetzte Geschäfte leitet, sondern über Leben und Tod entscheidet. Im Fall von Malik muss sich der 19-Jährige entscheiden, ob er den Mithäftling und ebenfalls arabischstämmigen Reyeb tötet oder selbst mit dem Leben bezahlen muss.
                                                  Mit kontinuierlicher Anspannung inszeniert Audiard die mörderische Mission seines Protagonisten wie eine schleichende, intensive Transformation, bei der Malik Stück für Stück mehr von seiner eigenen Persönlichkeit hinter sich lässt. Als es ihm nach anfänglichen Komplikationen doch noch gelingt, mit seinem Opfer alleine in einem Raum zu sein, verkommt der ausführlich durchgeplante Coup zum blutigen Desaster. In diesem Moment, der Malik über die gesamte Laufzeit des Films hinweg noch verfolgen wird, gewährt Audiard dem Zuschauer einen bedeutenden Blick in die Augen des Protagonisten, die Maliks wahren Gemütszustand hinter der mühsam aufrechterhaltenen, harten Fassade freilegen.
                                                  Im weiteren Verlauf der Handlung, die der Regisseur zwischen den erzählerischen Konventionen des Knast-Dramas und mafiösen Gangster-Thrillers ansiedelt, geht es Audiard vor allem um die komplex verwinkelte Aufstiegsgeschichte von Malik. Auch wenn er zu César fast schon so etwas wie ein familiäres Verhältnis aufbaut, bleibt Malik als Araber für die korsische Mafia ein Außenseiter, der für sie nichts weiter als ein einfacher Dienstbote ist, um ihnen das Essen und Trinken zu bringen. Ausgerechnet Reyeps Ratschlag, dem Mann, den er als erster töten musste, folgt er daher und lernt das Lesen und Schreiben, um sich schrittweise über die Limitierungen seiner eigenen Herkunft zu erheben.
                                                  Bei seinen Freigängen, die er sich nach einer Weile erwirkt hat, ist er weiterhin für César und die korsische Mafia als Botenjunge tätig, doch spätestens hier folgt "Un prophète" zunehmend moralisch verzwickteren Erzählpfaden. Den äußerst unterkühlten Stil, mit dem Audiard die kriminellen Strukturen innerhalb und außerhalb des Gefängnisses als brodelnde Schachpartie inszeniert, durchbricht der Regisseur wiederum durch poetisch-surreale Einschübe, die seinem Film zusätzlich zum eigentlichen Titel nahezu mythologisch überhöhte Züge verleihen. Im Verlauf der überwiegend vom Sozialrealismus geprägten Geschichte kehren die Toten als unüberwindbares Echo der Sünden aus der Vergangenheit wieder, während ein so unschuldig wirkendes Tier wie das Reh mitten auf der Straße als eine Art Opfergabe herhalten muss, um wie eine höhere Macht das Schlimmste im letzten Moment abzuwenden.
                                                  Es sind feine Brüche wie diese, gepaart mit dem kraftvollen, natürlichen Schauspiel der Darsteller und der psychologisch dicht gespannten Gratwanderung zwischen den Regeln eines korrumpierenden Systems und den Fesseln der eigenen Identitätsherkunft, die "Un prophèt" immer wieder über vorhersehbare Gesetzmäßigkeiten erheben und als stellenweise bestechendes Werk auszeichnen, das die altbekannten Erzählmuster des Genres nichtsdestotrotz nie so ganz verlassen kann.

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                                                    [...] Im Gegensatz zu den gängigen populären High-School-Filmen, von denen die 90er Jahre spätestens mit Beginn der Mitte des Jahrzehnts nahezu überflutet wurden, rückt Andrew Fleming (Vision der Dunkelheit) in seinem Film Der Hexenclub zur Abwechslung die gescholtenen Außenseiter in den Vordergrund. Nur ein Jahr zuvor entwarf Regisseurin Amy Heckerling (Kuck mal, wer da spricht) mit Clueless - Was sonst! eine rasch zum Kult avancierte Blaupause für bunte Teenie-Stereotypen, Cliquenbildung und alles, was zum turbulenten Alltag an US-amerikanischen Schulen dazugehört. Diese Vorlage, für die vor allem auch ein Gespür für den 90s-Zeitgeist und die dazugehörigen Outfits und Frisuren von entscheidender Bedeutung ist, greift Fleming für seinen Film dankend auf. [...] Den prägendsten Eindruck hinterlässt Der Hexenclub somit zwangsläufig durch seine modische Ästhetik, für die Fleming den federleichten Pop-Appeal der üblichen High-School-Komödien mit rotzigen Punk-Posen unterwandert und somit eine bestechende Mischung kreiert, die als eine Art Zeitkapsel direkt in das Bewusstsein aufrührerischer Teenie-Rebellionen führt. Wie einflussreich und inspirierend sich Flemings Film, der mit markanten Jungdarstellerinnen wie Neve Campbell (Scream - Schrei!) und Fairuza Balk (American History X) besetzt ist, entwickeln sollte, lässt sich in der Popkultur beispielsweise auch an nachfolgenden Veröffentlichungen ablesen. So haben die Schöpfer der Hexen-Mystery-Soap Charmed, die erstmals im Jahr 1998 ausgestrahlt wurde, für den Vorspann sicherlich nicht zufällig den Song How Soon Is Now? der Band Love Spit Love ausgewählt, die das Stück zuvor als Coverversion des Originals von The Smiths für den Soundtrack von Der Hexenclub beigesteuert haben. Auf der inhaltlichen Ebene entpuppt sich das Werk hingegen als leidlich innovative Abwandlung vertrauter Erzählklischees, die von Fleming weitaus weniger subversiv angeordnet werden als es zunächst den Anschein erweckt. Nachdem sich das Quartett immer stärker der dunklen Seite voller schwarzer Magie und Hexenkräfte hingibt und die neu erlangten Fähigkeiten dazu nutzt, ordentlich Chaos und Unheil zu stiften, bewegt sich die Handlung nach und nach auf einen vorhersehbaren Konflikt zwischen den Mädchen zu. Mit der Kombination aus unreifer Teenager-Adoleszenz und dunklem Humor sorgt Fleming für den ein oder anderen gelungenen, mitunter herrlich bösartigen Moment, wenn enttäuschende Liebhaber aus dem Fenster geschleudert werden, fiesen Mobberinnen die Haare ausfallen oder unliebsame Elternteile gleich vollständig das Zeitliche segnen. Einflüsse aus dem Horror-Genre bleiben jedoch kaum mehr als vergnügliche Spurenelemente, weshalb der banale Zwist zwischen den Protagonistinnen, den Fleming im Finale immerhin mit gehörigem Effekt-Gewitter aufpeppt, innerhalb der müden Konventionen des Teenie-Films verläuft, an dessen Ende zudem ausgerechnet die moralische Läuterung oder Bestrafung der rebellischen, gegen den Strich gebürsteten Außenseiterinnen steht. [...]

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