Patrick Reinbott - Kommentare

Alle Kommentare von Patrick Reinbott

  • 5 .5

    [...] Was in der Theorie nach einem Plot klingt, den man exakt so oder zumindest in leicht abgewandelter Form schon unzählige Male in anderen Filmen zu sehen bekommen hat, ist in Spielmacher ebenfalls genau das. Nach zunächst unspektakulären Botengängen, bei denen Ivo für seinen neuen Auftraggeber nur irgendwelche Umschläge oder Päckchen an Zielpersonen überbringen muss, wird der Protagonist schließlich in eine umfassendere Form der illegalen Sportwetten hineingezogen, die sich auf globaler Ebene abspielen und bis nach China reichen. Modersohn nutzt diese kurzen Einblicke in eine Art kriminelle Unterwelt allerdings nur als beiläufig angerissenen Nebenschauplatz, um stattdessen die Schlinge um den Hals des Protagonisten weiter zuzuziehen. Mit Frederick Lau (Der Hauptmann) hat der Regisseur für die Figur des Ivo hierbei einen passenden Hauptdarsteller gefunden. Nachdem sich der Berliner Schauspieler zuletzt mit Rollen in Filmen wie Victoria oder der Serie 4 Blocks zunehmend als kantiger, charismatischer Darsteller für grobe, raue Figuren etablieren konnte, in denen trotzdem stets ein charismatisches Herz pocht, stellt sich Lau für diesen Film ebenfalls als Idealbesetzung heraus. Zwischen all den offensichtlichen Klischees auf erzählerischer Ebene sowie den oftmals gekünstelt anmutenden Dialogen, die regelmäßig an realistischen Konversationen vorbeischrammen, ist Lau der treibende Motor von Spielmacher, der die vorhersehbare und dabei immerhin solide inszenierte Geschichte von Modersohns Film am Laufen hält. [...] Trotz der überwiegend ernsthaften Atmosphäre, die Modersohn durch düstere Bilder und eine passende Musikuntermalung erzeugt, gelingt es dem Regisseur bis zum Ende seines Films nicht vollständig, den inhaltlichen Käfig aus Stereotypen und mangelnden Konsequenzen zu durchbrechen. So ist Spielmacher, in dem es um den verheerenden Teufelskreis geht, der sich von der Hauptfigur aus in einem jüngeren Spiegelbild seiner selbst erneut zu manifestieren scheint, als Film ebenfalls in einem Teufelskreis gefangen, in dem das atmosphärisch dicht geschnürte Potenzial der Geschichte von unzureichend entwickelten sowie unstimmig zusammengeführten Einzelschicksalen dauerhaft in Schach gehalten wird. [...]

    11
    • 7

      New York, seiner geliebten Heimatstadt, die Woody Allen wiederholt als Schauplatz seiner neurosengeschwängerten, von erheiternden oder deprimierenden Lebensweisheiten durchzogenen Geschichten verwendet, kehrt der Regisseur in „Vicky Cristina Barcelona“ den Rücken zu. Zusammen mit den zwei Amerikanerinnen Vicky und Cristina entführt der Regisseur den Zuschauer stattdessen nach Europa, wo die besten Freundinnen ihren Sommerurlaub in Barcelona verbringen wollen. Durch die malerischen Impressionen der spanischen Stadt strahlt das Werk des amerikanischen Regisseurs eine vibrierende Wärme aus, die sich auch in den Farben widerspiegelt. In den Bildern scheint die Sonne unentwegt entweder aufzugehen oder unterzugehen, so sehr sind diese von einem orange-rötlichen Schimmer durchflutet.
      Der idyllische Eindruck täuscht allerdings, denn für „Vicky Cristina Barcelona“ erliegt der Regisseur nur auf den ersten Blick dem schönen Schein des perfekten Ferienparadieses. Einen Film mit Barcelona als eigene Hauptfigur wollte er mit diesem Werk drehen, doch am Ende sind es doch wieder die Menschen mit all ihren aufregenden wie problembehafteten Facetten, von denen Allen nicht ablassen kann. So entspannt Christopher Evan Welch als Erzähler aus dem Off auch mit typischem Allen-Tempo durch die Handlung führt, so schnell entpuppt sich auch dieser Film als scharfkantige Beobachtung der vielen Schwierigkeiten der Liebe, die schon bald komplizierte Ausmaße annehmen wird. Der wesentliche Auslöser hierfür ist der attraktive, charmante Juan Antonio, der sich Vicky und Cristina in einem Restaurant ungeniert annähert. Nachdem der Künstler den Freundinnen zuvor bereits mittags beim Besuch einer Kunstausstellung aufgefallen ist, steht er nun direkt vor ihnen und fragt die Freundinnen, ob sie mit ihm nicht vielleicht ein Wochenende in Oviedo verbringen wollen, wo er am liebsten mit beiden Frauen schlafen würde.
      Aus den gegensätzlichen Reaktionen von Vicky und Cristina schält Allen sogleich zwei neue Handlungsstränge hervor, die sich selbstverständlich noch kreuzen werden, um das Geflecht aus Erotik, Leidenschaft, Unsicherheit, Enttäuschung und Verletzung fortlaufend zu verdichten. Die von Rebecca Hall gespielte Vicky, die in Amerika mit dem Geschäftsmann Doug verlobt ist, weist das Angebot des Künstlers direkt von sich, während sich die von Scarlett Johansson gespielte Cristina mit lächelnder, erregter Neugier auf Juan Antonios Vorschlag einlassen will. Im Gegensatz zu Vicky, die zumindest zu Beginn eher konservativ und reserviert erscheint, gibt sich Cristina als weltoffener Freigeist, wobei sie vor allem gegenüber der Künstlerszene, mit all ihren Malern, Poeten, Musikern und Poeten, besonderes Interesse zeigt. Nicht nur aufgrund der unterschiedlichen Haarfarben der brünetten Vicky und der blonden Cristina wirkt es so, als habe Allen das Wesen der Liebe auf zwei konträre Frauen aufgespalten, die von Juan Antonio in ein reizvolles Liebesdreieck gezogen werden sollen.
      Einfacher wird die Situation allerdings keineswegs, nachdem Cristina dem Künstler verfällt und sich diesem hingibt. Zunächst nur als Erzählung existent, kommt später im Film zusätzlich Juan Antonios Ex-Frau María Elena ins Spiel. Nach einem missglückten Suizidversuch wird sie von dem Künstler auf unbestimmte Zeit zurück zu sich in das Haus aufgenommen, in dem auch Cristina vorübergehend wohnt. Die heißblütige Spanierin bringt noch einmal eine völlig neue Dynamik in die Geschichte, indem sie nicht nur in Running-Gag-Manier mehrfach mit Juan Antonio zwischen englischen und spanischen Wortgefechten wechselt, sondern irgendwann auch buchstäblich aus allen Rohren feuert.
      Als Vicky nach einem One-Night-Stand mit dem Künstler schließlich an ihrer derzeitigen Beziehung zu zweifeln beginnt, während ihr Verlobter ankündigt, sie spontan in Spanien besuchen und gleich an Ort und Stelle heiraten zu wollen, versinkt „Vicky Cristina Barcelona“ zunehmend in einem Chaos aus heiklen Situationen, einem ständigen Wechselbad der Gefühle und Konfrontationen, die Allen spätestens gegen Ende in seiner gewohnten Art gleichermaßen amüsant wie dramatisch auf die Spitze treibt. Wieder braucht der Regisseur hierfür lediglich knapp über 90 Minuten, durch die der Film geradezu am Zuschauer vorbeirauscht. Dabei lässt sich Allen selbst genüssliche, kulinarische Abschweifungen nicht nehmen, bei denen er seine Figuren in die Konditorei oder in den Supermarkt geleitet, wo diese köstliche kleine Törtchen oder frische Kirschen kaufen. So viel Zeit muss im malerischen Barcelona dann doch sein.

      20
      • 7 .5

        In seinem Langfilmdebüt „Distant Voices, Still Lives“ überträgt der britische Regisseur Terence Davies die Unterteilung des Titels in zwei Hälften zusätzlich auf die Struktur des Werks. Die erste Hälfte, lediglich als „Distant Voices“ benannt, schildert das Leben einer Familie aus der Arbeiterklasse im Liverpool der 40er Jahre. Hierbei folgt Davies keinen Regeln des linearen Erzählens, sondern inszeniert und montiert die einzelnen Szenen als frei durch die Zeit schwebende Erinnerungssplitter. Behutsam lässt der Regisseur die Kamera im Auftakt des Films durch ein Haus gleiten, während im Hintergrund ein älterer Popsong wie ein melancholisches Echo durch die Wände des Raums hallt. Zur Ruhe kommt die Kamera erst im Wohnzimmer, wo sich eine Mutter und ihre drei erwachsenen Kinder regungslos positioniert haben, als würden sie für ein Familienfoto stillstehen. Es wird nicht der einzige Moment dieser Art bleiben. Oftmals fühlt sich „Distant Voices, Still Lives“ auch tatsächlich so an, als würde man als Zuschauer durch ein älteres, vergilbtes Fotoalbum blättern.
        Durch die blassen Sepiatöne, mit denen Davies seine behutsam komponierten Einstellungen versieht, wirkt es so, als sei jeder Moment dieses Films bereits zu einem Dasein in der Vergangenheit verdammt, selbst wenn gerade so etwas wie Gegenwart herrscht. In sozialrealistischer Manier widmet sich der Regisseur der fünfköpfigen Familie, die ganz besonders unter dem patriarchalischen Oberhaupt leiden muss. „Distant Voices, Still Lives“ beginnt dort, wo sich die Familie an einem bedeutenden Wendepunkt befindet. Ein Leichenwagen ist zu sehen, der vor das Haus fährt. Der Tod des Ehemanns und Vaters scheint für die verbliebenen Familienmitglieder eine Form von Erlösung zu bringen. Vollständig lösen kann sich der nonlineare Erzählrhythmus aber nicht vom Bild des dominierenden Mannes, der immer wieder bedrohlich durch verschiedene Szenen des Films strahlt. Der tote Körper des Patriarchen mag langsam vergehen, doch sein gewaltiger Einfluss lastet weiterhin auf der Frau, ihren beiden Töchtern und dem Sohn.
        Was sich von Anfang an auffällig durch Momente von „Distant Voices, Still Lives“ zieht, sind die Songs, in die die unterschiedlichen Figuren verfallen. Davies durchbricht die sozialrealistische Ausrichtung seines Films mit Gesangseinlagen wie aus einem Musical, wobei er diesen Passagen zugleich auch immer eine existenzialistische Dringlichkeit verleiht. Wenn selbst der brutale Familienvater, der seine Töchter im Keller einsperrt, den Sohn schlägt und die eigene Frau unterdrückt, in einer Szene zu singen beginnt, dann wirkt der Gesang in den Momenten, in denen das Familienoberhaupt längst nicht mehr anwesend ist, wie eine aufrechterhaltene Tradition. In Wirklichkeit scheinen die Familienmitglieder hingegen zu singen, um gegen den Schmerz und die Trauer anzukämpfen oder die harte Realität schlichtweg auszublenden. In einer eindrucksvollen Szene verschanzen sich die Figuren in einem Luftschutzbunker, während auf der Straße die Bomben einschlagen. Auch dort unten, wo die Stille unentwegt vom Geräusch der Explosionen unterbrochen wird, ist es der Gesang des kleinen Mädchens, das der Vater schützend vor sich hält, der die Verzweiflung der Situation ausgleichen soll.
        Dabei ist „Distant Voices, Still Lives“ von autobiographischen Bezügen gespickt, durch die der Regisseur seine eigene Kindheit verarbeitet. Davies selbst wuchs mit neun Geschwistern in einer streng katholischen Arbeiterfamilie im Nachkriegs-Liverpool auf und erinnert sich bis heute an einen gewalttätigen Vater, der ihn beispielsweise einmal von einem Ende des Raums zum anderen getreten hat. So wird sein Film auch zur Selbsttherapie eines Menschen, der in seinen frühesten Erinnerungen an Songs und Filmen festhält, die ihn nachhaltig geprägt haben, und an einzigartigen Eindrücken wie den Geruch von Make-up und dem Drang nach ausgelassenem Feiern, von dem die Gegend aus Davies‘ Kindheit jedes Mal erfüllt wurde, sobald es Freitag war und das Wochenende begann. Ein gewisses Gefühl von Freiheit und die Möglichkeit, wieder richtig atmen zu können, stellte sich für den Jungen und seine Familie aber erst ein, nachdem der Vater gestorben ist, als Davies sechs Jahre alt war.
        Von diesem Gefühl wird auch die zweite Hälfte des Films beherrscht, die der Regisseur zwei Jahre nach der ersten Hälfte des Films mit denselben Schauspielern drehte. In „Still Lives“ kommt die Handlung, welche nun in den 50ern angesiedelt ist, sichtlich zur Ruhe und mit ihr ebenfalls der unsortierte, sprunghafte Rhythmus von „Distant Voices“. Die Haare der Mutter sind grauer geworden, die Kinder selbst zu Erwachsenen und doch scheint sich der Zyklus der Vergangenheit erneut zu wiederholen. Mittlerweile sind es die beiden Töchter, die zu Frauen herangewachsen und selbst zu Ehefrauen geworden sind, die mit autoritären Männern an ihrer Seite leben müssen. Trotz dieser Tatsache regiert in der zweiten Hälfte des Films der trockene Humor, mit dem sich die Frauen mehr als einmal gegen die Ehemänner behaupten und diesen mit frechen Sprüchen gehörig ihre Grenzen aufzeigen. Vom dunklen Schatten des Vergangenen vermag sich Davies‘ Film auch hier niemals vollständig zu lösen, doch zumindest hat der Regisseur einen Weg gefunden, wieder etwas Licht in das Leben zu lassen.

        10
        • 7 .5

          Virtuos gleitet sie kreisend über das Eis, schlägt Drehung um Drehung, bis die Konkurrenz im Schatten ihrer Fertigkeiten auf Schlittschuhen verblasst. Zur Siegesmedaille für die Spitzenposition hat es für die ehrgeizige Tony Harding aber trotzdem nie gereicht. Die Steine, die ihr von der Jury in den Weg gelegt wurden, hatten dabei rein gar nichts mit ihrem Talent zu tun. Bei der Beurteilung von Tonya spielte einzig und alleine ihre Herkunft eine Rolle, die gerne als White-Trash-Milieu bezeichnet wird. Erzogen wurde sie von einer unbarmherzigen, herrischen Mutter, die ihre Tochter bereits im Alter von drei Jahren zum Eiskunstlauftraining anmeldete, während es im vaterlosen Haushalt regelmäßig Ohrfeigen von der oftmals alkoholisierten LaVona hagelte.
          Als eine Mischung aus Biopic, Mockumentary, Drama und komödiantischer Groteske zeichnet Regisseur Craig Gillespie in seinem Film „I, Tonya“ den Lebenslauf der je nach Sichtweise tragisch gescheiterten oder tapfer um ihr Ansehen kämpfenden Frau nach, deren Name vor allem durch einen ganz speziellen Vorfall plötzlich jedem amerikanischen Bürger ein Begriff war. Bevor das berühmte Gerichtsverfahren gegen O. J. Simpson im Jahr 1995 wie ein Lauffeuer durch die Medien ging, war es ein Jahr zuvor Tonya Harding, auf die sich die Presse stürzte. Auf dem Weg hin zu jenem Vorfall, der bereits aufgrund der belegten Tatsachenberichte wie eine Verkettung skurriler Ereignisse aus einem Filmdrehbuch anmutet, entspinnt sich das Drehbuch von Steven Rogers zunächst als chronologisch erzählte Biographie über ein junges Ausnahmetalent, das wiederholt an nichts anderem als dem eigenen Familienstammbaum scheitert.
          Herausragend verkörpert Margot Robbie in der Hauptrolle ihr reales Vorbild zwischen hysterisch ungezogener Göre, unverstandenem, frustrierten Mädchen und charismatischem Wirbelwind. Gerade die Szenen, in denen die Grenze zwischen Robbies eigener Leistung und einem notwendigen Stunt-Double trügerisch verwischt, Tonya vollständig in ihrem Element über die Eisfläche rast und die Kamera von Nicolas Karakatsanis um die Protagonistin kreist und wirbelt, strahlen eine hypnotische Wucht aus, durch die „I, Tonya“ nicht nur in diesen Momenten eine visuelle Kraft besitzt, die als starker Kontrast zum harten, oftmals betont hässlichen Wesen dieses Films funktioniert.
          In ihrem Privatleben scheint sich Tonya nämlich zunehmend auf dem Pfad ihrer Mutter zu verlieren, nachdem sie relativ jung ihren damaligen Freund Jeff Gillooly heiratet. Der entpuppt sich ebenfalls wie die von Allison Janney mit konstanter Eiseskälte gespielte Mutter als impulsive, unberechenbare Zeitbombe, wenn er sich in Rage nicht anders zu behelfen weiß, als seiner Tonya mit der Faust ins Gesicht zu schlagen. Die Gefahr des bisweilen kaum erträglichen Sozialrealismus umschifft das Drehbuch hingegen gekonnt, indem sich „I, Tonya“ aufgrund der Mockumentary-Struktur, die ab der ersten Szene etabliert wird, immer wieder als wunderbar unzuverlässig erzählte Farce entpuppt, bei der nicht immer alles so ist, wie es zunächst den Anschein erweckt.
          Verschiedene zurückblickende sowie erinnernde Perspektiven, darunter Tonya, ihre Mutter LaVona, ihr Ex-Mann Jeff, ihr ehemaliger Bodyguard Shawn und der Fernsehproduzent Martin, zerfließen mit fortschreitender Laufzeit immer sprunghafter zu einem Strom der gegensätzlichen Ansichten, undurchsichtigen Tatsachen sowie widersprüchlichen Argumente. Wenn die Handlung des Films schließlich an jenem schicksalsträchtigen Vorfall angelangt, bei dem die Kniescheibe von Tonyas Konkurrentin Nancy Kerrigan zertrümmert wird und sie deshalb beim Wettbewerb der Olympischen Spiele aussetzen muss, erreicht das inhaltliche Niveau des Films beinahe das Level einer schwarzhumorigen, bizarren Geschichte, wie sie genauso gut auch einem Drehbuch der Coen-Brüder entliehen sein könnte.
          Mit lakonischer Fatalität und gewaltsamen Eskalationen hat Gillespies Werk aber trotzdem nur am Rande etwas zu tun. In „I, Tonya“ überwindet der Regisseur vielmehr die starren Grenzen des klassischen Biopics, indem die Wahrheit am Ende anstelle von öde heruntergekurbelten Wikipedia-Informationen nur noch ein unbrauchbarer Begriff geworden ist, der sich in mehrere Richtungen biegen und verdrehen lässt. Wenn die Protagonistin, die sich zwischen all den Rückschlägen nichtsdestotrotz stets zumindest so etwas wie ihre Würde bewahren will, selbst die bittere Erkenntnis äußert, dass das Land Amerika immer jemanden will, das es lieben kann, und jemanden, das es hassen kann, findet Gillespie mit einer famosen Montage, in der Tonya auf zweierlei Arten durch die Luft fliegt, noch einmal zur Essenz seines Films. Die Wahrheit ist kaum mehr als ein mit Schminke verschmiertes Gesicht, das unter Tränen noch ein Lächeln hervorpresst.

          22
          • 6 .5

            Eine schwierige Zeit steht der zentralen Familie in Isa Prahls Kinodebüt „1000 Arten Regen zu beschreiben“ bevor. Zu Beginn des Films stehen Vater Thomas, Mutter Susanne und Schwester Miriam mit einem Stück Kuchen vor der Zimmertür des gerade 18 Jahre alt gewordenen Mike und singen für ihn ein Geburtstagslied. Der Versuch, zu dem Jungen vorzudringen, bleibt jedoch vergebens, denn Mikes Tür bleibt für die Familie verschlossen und wird sich auch über den Rest der Laufzeit nicht öffnen. Nur in der Nacht, wenn die Familienmitglieder schlafen und die Kamera von Andreas Köhler ebenfalls nicht anwesend ist, verlässt Mike sein Zimmer kurz, um auf die Toilette zu gehen oder sich etwas zu essen und zu trinken zu holen.
            In Japan ist dieses Phänomen unter dem Begriff „Hikikomori“ bekannt. Betroffen sind hierbei vornehmlich Menschen im jungen Erwachsenenalter, die sich aus der Gesellschaft zurückziehen wollen und daher ein Leben in vollständiger Isolation führen. Auch Mike wird zu einem dieser „Hikikomori“ und bleibt für den Zuschauer ein Unsichtbarer, den er nie zu Gesicht bekommen wird. An der Ergründung von dessen Verhaltensmotiven ist die Regisseurin allerdings nicht interessiert, konkrete Antworten verwehrt sie ihrem Publikum ganz. Prahl nutzt die Ausgangssituation von Karin Kaçis Drehbuch vielmehr, um anhand der sichtbaren Familienfiguren verschiedene Konflikte zu entwerfen, die aus Mikes ebenso konsequenten wie frustrierenden Entschluss entstehen.
            Dabei bringt die dauerhafte Abwesenheit des Jungen, die die Figuren nach und nach als einen definitiven Verlust akzeptieren müssen, den sie nicht mehr verändern können, ganz unterschiedliche Reaktionen hervor. Während sich Familienvater Thomas stur in seine Arbeit als Vertreter von Produkten für pflegebedürftige Patienten flüchtet und einem speziellen Fall seine gesamte Aufmerksamkeit widmet, begegnet er dem Verhalten seines Sohnes zuhause mit offensiver Aggression. Im Gegensatz zu den vielen Schreien, die Thomas ausstößt, und dem Hämmern und Treten an Mikes Zimmertür behandelt Mutter Susanne ihren Sohn zunächst weiterhin ganz normal als vollwertiges Familienmitglied. Unverändert bereitet sie Essen zu, das sie ihm vor die Tür stellt, oder kauft ihm nach wie vor neue Kleidung.
            Nachdem sie den Kontakt zu Mikes ehemaligen besten Freund Oliver sucht und hofft, über ihn wieder an ihren Sohn gelangen zu können, scheinen die warmherzigen Begegnungen zwischen ihr und Oliver für Susanne zunehmend einen Ersatzsohn zu gebären, dem sie sich mit mütterlicher Fürsorge immer stärker annähert. Mikes einige Jahre jüngere Schwester Miriam wird unterdessen in einen Strudel der pubertären Gefühlsschwankungen gerissen, bei denen ihr Drang nach ausschweifenden Erlebnissen und ein sexuelles Bewusstsein, das wie eine defekte Kompassnadel in mehrere Richtungen ausschlägt, besonders in den Mittelpunkt rücken.
            Die dramaturgischen Entwicklungen, die Kaçi in ihrem Drehbuch vornimmt, schrammen dabei teilweise knapp an den üblichen Klischees des typisch deutschen Problemfilms vorbei und bringen den Cast, darunter in erster Linie Bjarne Mädel, Bibiana Beglau und Emma Bading, schauspielerisch hin und wieder sichtbar an deren Grenze. Auch einige Bilder, die Prahl in diesem Zusammenhang als Regisseurin für ihren Film wählt, muten mitunter arg platt an, was beispielsweise die Darstellung von heranwachsenden Jugendlichen betrifft, die in ausgedehnten Party-Montagen die Augen schließen und sich zu dröhnender Musik die Seele aus dem Leib tanzen wollen. Nichtsdestotrotz wirkt „1000 Arten Regen zu beschreiben“ nie allzu konstruiert und klischeebehaftet, sondern entwickelt stattdessen gerade auf inszenatorischer Ebene ein immer wieder angenehm intimes Bewusstsein für das Innenleben der Figuren, ohne auf unnötige Dialoge zu setzen, die dem Zuschauer Emotionen bis ins kleinste Detail erklären.
            Durch feine Poesie in vereinzelten Einstellungen oder Kamerabewegungen vermeidet Prahl die spröde, steife Ästhetik gängiger, für öffentlich-rechtliche Sender produzierte Fernsehfilme, um sich dem weiten Spannungsfeld innerhalb der Familie mitunter durch introvertierte Zärtlichkeit oder kurze Gesten zu nähern. Eine Hand, die liebevoll durch Haarsträhnen streift, genügt, um den stillen Drang nach Zuneigung einer Figur auszudrücken, während der aufreizende Versuch von Miriams Freundin, Mike aus seinem Zimmer zu locken, recht amüsant lediglich mit einem laut herunterkrachenden Rollo kommentiert wird. Kleine Zettel, die der Junge unter seiner Zimmertür hindurchschiebt und auf denen er aktuelle Regenberichte notiert hat, sind das einzige Lebenszeichen, das die Familie von ihm noch erhält. Derweil porträtiert die Regisseurin Thomas, Susanne und Miriam oftmals als Figuren, die entweder sinngemäß oder ganz buchstäblich selbst im Regen stehen. „1000 Arten Regen zu beschreiben“ mag den Figuren ebenso wie dem Zuschauer keine erlösenden Antworten auf dringliche Fragen bieten, doch ein Film gänzlich ohne jegliche Erlösung ist Prahls Debüt deswegen nicht. Sie kommt nur in einer anderen Form, als es sich die Figuren, die neben dem freiwillig eingeschlossenen Mike gewissermaßen selbst die ganze Zeit über Eingeschlossene waren, erhofft hatten.

            14
            • 6 .5
              über Like Me

              [...] Mit grellen Farben, warmen Lichtern und verstörenden Impressionen, die der Regisseur regelmäßig für nur wenige Sekunden in den Rhythmus des immer wieder gegen den Strom der Linearität schwimmenden Handlungsflusses montiert, erscheint Like Me wie ein avantgardistischer Hybrid aus Werken wie Nicolas Winding Refns Drive und Oliver Stones Natural Born Killers. Anders als ein zeitgemäßes Update von Stones ungebändigter Mediensatire, das der zu gleichen Teilen träumerischen wie verlorenen Großstadt-Atmosphäre von Refns Neo(n)-Noir-Crime-Drama unterliegt, scheint es Mockler beinahe sogar zu gelingen, konventionelle Erzählmuster endgültig hinter sich zu lassen und einen puren fiebrig-befremdlichen Albtraum in Filmform zu entwerfen. Wie ein einsames Irrlicht geistert Kiya durch die Sackgassen ihrer realen Existenz, um bei der passenden Gelegenheit ein neues Video zu kreieren, das ihr kurzfristig den Schein der Sichtbarkeit verleiht. Ihre Versuche, sich einer realen Person anzunähern und ein zwischenmenschliches Verhältnis aufzubauen, bleiben erfolglos. Ein Obdachloser, den sie zu einem gemeinsamen Fressgelage in ein Diner mitnimmt, lässt sie alleine am Tisch zurück, als die Protagonistin von der Toilette zurückkommt. Eine neue, aufregende Dynamik erhält Kiyas Leben erst, als sie den Motel-Manager Marshall mit einem Sex-Versprechen zu sich ins Zimmer lockt. Zunächst wird der von Larry Fessenden (Carnage Park) gespielte Mann, der optisch an Jack Nicholsons Jack Torrance aus Stanley Kubricks Shining erinnert, von der Protagonistin ebenfalls in eines ihrer dezent sadistischen Spielchen verwickelt und zur unfreiwilligen Hauptfigur eines Videoclips, der wieder einmal viral gehen wird. Zwischen Kiya und Marshall, der sich ebenfalls als einsames Individuum offenbart, entsteht anschließend allerdings eine ungewöhnliche Beziehung, die der Regisseur fortlaufend vertieft. Ab diesem Zeitpunkt, von dem an Mockler durchaus konkreter zu erzählen versucht und den experimentellen Charakter seines Films stellenweise stark vernachlässigt, wird Like Me von unnötig moralischen Tönen durchzogen, die in vorhersehbaren Konsequenzen münden. Trotz einer ausführlichen Tripsequenz, bei der das Konsumieren von Magic Mushrooms chaotische Folgen mit sich bringt, scheint sich Mocklers Streifen vermehrt um sich selbst zu drehen, wobei der audiovisuelle Rausch längst abgeklungen ist und seine Wirkung merklich verloren hat. Bedauerlich, denn so ist Like Me ein durchaus gelungener Film, dem das Potenzial innewohnt, zu einem herausragenden Film zu werden. Im Gegensatz zu formvollendeten Meisterwerken wie Harmony Korines nach wie vor sträflich unterschätzten Spring Breakers, bei dem dem Regisseur eine Art Transzendenz der von ihm ausgewählten Jugendkultur sowie des dazugehörigen Lebensstils vollends geglückt ist, gelingt es Mockler in letzter Konsequenz nicht, seinen Film auf die nötige nächste Ebene zu heben. Like Me bleibt bis zuletzt greifbar genug, wo nach einer gewissen Zeit eigentlich nur noch abstrakte Unerreichbarkeit sowie bizarre Reizüberflutung herrschen dürften. [...]

              14
              • 6 .5

                [...] Besonders interessant an der Verfilmung von Madeleine L’Engles Kinderbuch aus dem Jahr 1962 war bereits im Vorfeld die Wahl der Regisseurin. Bislang drehte die afroamerikanische Regisseurin Ava DuVernay zumeist betont afroamerikanisch-politische Werke. In Selma erzählte sie von Martin Luther King sowie einer entscheidenden Phase der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, während die Regisseurin in der Netflix-Dokumentation Der 13. die Geschichte von Sklaverei und Rassismus in Amerika von den historischen Anfängen aus aufrollte und einen Bogen bis hin zur Gegenwart spannte. Ungewöhnlich schien daher der nächste Schritt, für den eine Filmemacherin wie DuVernay, die sich vor allem in der Wahl ihrer Motive eine so klare Handschrift erarbeitete, von Disney ein gewaltiges Budget von 100 Millionen Dollar erhielt und einen familienfreundlichen Fantasy-Film drehen sollte. Entstanden ist ein Film, der gerade erzählerisch von einigen Holprigkeiten geprägt ist und für den sich die Drehbuchautoren Catherine Hand und Jim Whitaker scheinbar nicht so richtig entscheiden konnten, an welche Zielgruppe die Geschichte letztendlich gerichtet sein sollte. [...] Das Zeiträtsel führt den Zuschauer gemeinsam mit den Figuren in fremde Welten, welche beeindruckende Schauwerte, ungeahnte Möglichkeiten, bei denen die Grenzen der Physik außer Kraft gesetzt sind, und düstere Gefahren beherbergen. Dabei findet die recht überstürzt voranpreschende Geschichte, in der die Tonalität regelmäßig zwischen kindgerechter Seichtigkeit, geradezu drogentripartigen Visualisierungen und dramatischer Ernsthaftigkeit pendelt, aber immer wieder zu ihrem ungemein intimen Kern zurück. Auch wenn Meg, ihr Bruder Charles Wallace und Calvin, Megs Klassenkamerad sowie offensichtlicher Verehrer, auf ihrer turbulenten Reise durch die Dimensionen mit allerlei überbordenden Erlebnissen konfrontiert werden, bleibt Das Zeiträtsel allen phantastischen Elementen zum Trotz eine familiäre, fast schon kleine Geschichte im denkbar großen Rahmen. [...] In diesem Zusammenhang ist es nicht einmal zwingend notwendig, wenngleich nichtsdestotrotz empfehlenswert, den Film selbst als erwachsener Zuschauer mit dem neugierigen, aufgeregten Gemüt eines Kindes zu betrachten. Das Zeiträtsel, der im Original den wesentlich schöneren Titel A Wrinkle in Time trägt, lässt sich auf gewisse Weise mit Christopher Nolans Science-Fiction-Blockbuster Interstellar vergleichen. Ähnlich wie Nolan träumt auch DuVernay von einem Riss in der Zeit, der es den Figuren ermöglicht, sich zwischen den Grenzen von Raum und Zeit fortzubewegen. Noch viel wichtiger als bildgewaltige Impressionen, für die sie mitunter auf stark artifizielle Effekte zurückgreift, ist der Regisseurin aber der empathische, zutiefst menschliche Zugriff auf diese Geschichte, die bis zuletzt davon handelt, die Liebe als allmächtige, sämtliche Hürden überwindende Kraft zu akzeptieren und die eigenen Schwächen als Teil einer funktionsfähigen Persönlichkeit anzuerkennen. Allzu zynische, kitschresistente Zuschauer dürften zu DuVernays Vision daher kaum einen Zugang finden und den Film stattdessen als esoterisches Heile-Welt-Debakel zerreißen. So mängelbehaftet Das Zeiträtsel gerade bezüglich der Auftritte von Nebenfiguren wie den drei Wächterinnen, gespielt von Oprah Winfrey, Reese Witherspoon und Mindy Kaling, oder einem von Zach Galifianakis dargestellten Medium auch sein mag, so besitzt der Film doch ein pulsierendes Herz und ein ganzes Füllhorn an kreativen Einfällen, die die Regisseurin in ihrem ersten Ausflug in große Studio-Blockbuster-Regionen mit spürbarer Wärme über ihr Publikum ergießt. [...]

                8
                • 7

                  In „The Return of the Texas Chainsaw Massacre“ sind dem filmischen Wahnsinn keine Grenzen mehr gesetzt. Kim Henkel, der mit Tobe Hooper zusammen bereits das Drehbuch für „The Texas Chainsaw Massacre“ verfasste, hat als Drehbuchautor und Regisseur mit dem vierten Eintrag in das TCM-Franchise einen eigenwilligen, überdrehten Streifen geschaffen, der sich zwar inhaltlich gewissermaßen an den üblichen Richtlinien der Reihe orientiert, nur um an einem bestimmten Punkt vollends in eine Art verschrobenes Paralleluniversum abzudriften.
                  Dabei dauert es zunächst eine Weile, bis Henkels abstruse Mischung aus ungestümer Verstörung und selbstironischen, geradezu parodistischen Elementen in die Spur findet, also komplett aus der Spur gerät. Passend zum Zeitgeist der 90er-Jahre-Horrorfilm-Welle, in der vor allem US-amerikanische High-School-Teenager als Figuren dienten, feiern die anfangs eingeführten Protagonisten in „The Return of the Texas Chainsaw Massacre“ gerade ihren Schulabschluss. An das hitzige Hinterland von Texas, das in den bisherigen Teilen der Reihe stets so etwas wie einen eigenen Charakter einnahm, erinnert in Henkels Film allerdings kaum noch etwas. Im schummrigen Dunkel des nächtlichen Mondscheins fährt die kleine Gruppe Jugendlicher stattdessen durch die Wälder, wo ein versehentlicher Zusammenprall mit einem anderen Autofahrer schließlich eine verheerende Kettenreaktion in Gang setzt.
                  Als kurze Zeit später eigentlich Hilfe eintreffen sollte, um am Unfallort zu retten, was noch zu retten ist, erscheint stattdessen Matthew McConaughey. Dessen Figur des Abschleppwagenfahrers, der mit einer mechanischen Gehhilfe an einem Bein humpelnd die Szenerie betritt, ist die wahre Urgewalt des Films, wenn dieser unberechenbare Psychopath namens Vilmer seinen ersten Auftritt direkt damit verbringt, dem bewusstlosen Unfallopfer mit weit aufgerissenen Augen und einem irren Grinsen im Gesicht das Genick zu brechen. Den anderen jungen Mann, der sich zu seinem Pech ebenfalls am Ort des Geschehens befindet, überrollt er anschließend mit seinem Fahrzeug, indem er mehrmals zwischen dem Vorwärts- und Rückwärtsgang hin und her schaltet. Eine derart manische Schauspieldarbietung wie von dem damals noch weitestgehend unbekannten McConaughey, der mit ungebremster Hysterie am laufenden Band nassgeschwitzt durch seine Szenen tobt und den Begriff des Overactings auf ein völlig neues Level hebt, lässt sich nur schwer beschreiben. Daher gilt alleine aufgrund der Beteiligung des temperamentvollen Texaners in Bezug auf „The Return of the Texas Chainsaw Massacre“ die altbekannte Devise, dass man diesen Film schlichtweg selbst gesehen haben muss, um ihn fassen zu können.
                  Selbst die große Ikone des Franchise, Leatherface höchstpersönlich, ist in Henkels Werk vor nichts sicher und so wird der angsteinflößende Ruf des degenerierten, gesichtsmaskentragenden Menschenmetzgers vom Regisseur gnadenlos dekonstruiert. Auch wenn Leatherfaces erster Auftritt in diesem Film noch einen großartigen Horrormoment darstellt, indem zunächst lediglich der Körper der Figur hinter einem ahnungslosen Opfer auftaucht, das wartend auf einer Bank sitzt, zerbröckelt das Image zunehmend, sobald Leatherface in voller Pracht zu sehen ist. Henkel porträtiert die Horror-Ikone als verwirrtes, hilfloses Riesenbaby, das sich im Laufe des Films zur launischen Drag-Queen-Diva in Frauenkleidern verwandelt und sogar falsche Brüste trägt. Eine Unverschämtheit, die gerade hartgesottenen Verehrern von Hoopers Erstlingswerk die Zornesröte ins Gesicht treiben dürfte, wobei der Regisseur sukzessive immer stärker an den Schrauben des surrealen Irrsinns dreht. Als genüsslich zelebrierter Höhepunkt in diesem heillosen Chaos erweisen sich die letzten 30 Minuten des Films, in denen sich die Handlung wie gewohnt im Inneren des Hauses verdichtet, wo die mörderischen Familienmitglieder mit den übrig gebliebenen Opfern erneut ein Festessen veranstalten wollen. Statt Menschenfleisch wird diesmal allerdings Pizza serviert, während sich die Figuren, darunter selbstverständlich ein weiterhin ungehemmter McConaughey als Vilmer sowie eine junge Renée Zellweger als überraschend starkes, widerstandsfähiges Final Girl, unentwegt gegenseitig anschreien und aufeinander losgehen, bis sich plötzlich auch noch in schwarzen Anzügen gekleidete Mitglieder einer ominösen Geheimorganisation einmischen, die dem Horror sowie dem Leiden der Opfer zuletzt gar eine spirituelle Dimension andichten wollen (die Blaupause für Pascal Laugiers „Martyrs“?).
                  Obwohl in dieser offensichtlichen Low-Budget-Produktion, die nur noch gerade einmal 600.000 Dollar gekostet hat, praktisch kein einziger Tropfen Blut fließt, fühlt sich „The Return of the Texas Chainsaw Massacre“ für den Zuschauer trotzdem wie ein Schlachtfest an. Ein Schlachtfest an den Sehgewohnheiten und Nerven eines unvorbereiteten Publikums, das dieses unvergleichliche Kuriosum entweder euphorisch feiert oder entsetzt aus der Erinnerung streicht, nachdem Leatherface am Ende ein letztes Mal zu den Klängen von „Blue Moon at Dawn“ von The Coffee Sergeants den Tanz mit der Kettensäge vollführt und der Abspann einsetzt.

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                  • 5 .5

                    Nachdem Tobe Hooper mit „The Texas Chainsaw Massacre 2“ eine grelle, humorvolle Abkehr von jenen Wurzeln inszenierte, die er selbst mit seinem rohen, intensiven Terror-Meilenstein „The Texas Chainsaw Massacre“ schuf, stellt der dritte Teil des TCM-Franchise den Versuch dar, wieder zu den garstigen, finsteren Ursprüngen der Filmreihe zurückzukehren. Regisseur Jeff Burr distanziert sich mit einer anfänglichen Texttafel zunächst klar von den Ereignissen aus Teil 2, um direkt an die Handlung von Hoopers Erstling anzuknüpfen. Sein Film, der von New Line Cinema produziert wurde, nachdem das Studio die Rechte zuvor von der Cannon Group erwarb und die TCM-Reihe eigenständig mit neuen Teilen fortführen wollte, ist ein geradliniger, schnörkelloser Horrorfilm, in dem jedoch immer wieder merkliche Einschnitte durch das Studio sichtbar werden.
                    Schon vor der eigentlichen Veröffentlichung wurden Berichte veröffentlicht, in denen das Rating des Films Thema war. Ursprünglich sollte dieser von der MPAA ein X-Rating erhalten, was massive Folgen für den kommerziellen Erfolg nach sich gezogen hätte. New Line Cinema ordnete daher diverse Zensurschnitte an, um ein R-Rating zu erzielen, was dem Film ein breiteres Publikum ermöglichen sollte. Gebracht hat die vorläufige Verstümmelung aber trotzdem wenig, denn „Leatherface: Texas Chainsaw Massacre III“ wurde ein kommerzieller Flop, der bei einem Budget von gut 2 Millionen Dollar gerade einmal knapp 6 Millionen Dollar wieder einspielte.
                    Die Qualitäten des von Kritikern ebenfalls vielfach gescholtenen Werks sollte man mit diesem Umstand allerdings nicht zwingend in Verbindung bringen, da Burrs Vision, die sicherlich kaum den finalen Vorstellungen des Regisseurs entspricht, durchaus ihre Vorzüge aufweist. Bereits der Prolog erweist sich als ebenso atmosphärisch wie unbequem, wenn Leatherface, der längst zur Ikone in der Horrorfilmgeschichte aufgestiegen ist, dabei zu sehen ist, wie er einem unschuldigen weiblichen Opfer mit dem Vorschlaghammer ein brutales Ende bereitet und sich aus fleischlichen Überresten des Gesichts eine neue Maske zurechtschneidet.
                    Die Stimmung bleibt unheilvoll, als Michelle und Ryan, die beiden Protagonisten des Films, mit dem Auto durch das texanische Hinterland fahren und in der Nacht an einem abgesperrten Tatort vorbeikommen, an dem die Polizei verweste Leichenteile aus dem Sumpf sicherstellt. Schnell wird klar, dass sich Drehbuchautor David J. Schow deutlich an den beklemmenden Erfolgsbausteinen von Hoopers Original orientiert, um in der abgeschiedenen Einöde von Texas erneut eine Konfrontation zwischen zivilisierten Großstädtern und degenerierten Rednecks in Stellung zu bringen. Hierfür folgt Burr bei seiner Inszenierung ziemlich genau dem ungefilterten, dreckigen Stil aus „The Texas Chainsaw Massacre“, ohne jemals die eindringliche, schockierende Wirkung von Hoopers Meilenstein zu erreichen.
                    Zeitweise fühlt sich „Leatherface: Texas Chainsaw Massacre III“ somit eher wie ein loses Remake des Franchise-Erstlings an, das zwischen abgelegenen Tankstellen irgendwo inmitten der schwülen Texassonne, nächtlichen Passagen in Wald- und Morastgebieten sowie dem berüchtigten Haus der kannibalistischen Sawyer-Familie jenen verstörenden Terror heraufbeschwören will, den Hooper bereits mit seinem Meisterwerk von 1974 so unnachahmlich in Szene zu setzen wusste. Gespickt hat Burr seinen dritten Eintrag ins TCM-Franchise dafür mit einigen kleinen Höhepunkten, die den Streifen zumindest knapp über den Genre-Durchschnitt heben.
                    Auch wenn die Familie sowie Leatherface selbst, nach dem der Film immerhin benannt wurde, recht blass bleiben und nur wenige memorable Szenen erhalten, entpuppt sich das ausgedehnte Finale im Haus der Sawyers ähnlich wie auch schon im Erstling als gelungenes Stück Terror-Kino. Hier überzeugt ausgerechnet Schauspieler Viggo Mortensen in einer seiner früheren Rollen als Mitglied der Sawyer-Familie, während ein kleines Mädchen, das äußerlich noch unberührt und unschuldig wirkt, längst ebenso verrohte, psychopathische Charakterzüge aufweist wie der erwachsene Rest der Sawyers.
                    Eine willkommene Abwechslung im üblichen Täter-Opfer-Rollenschema stellt außerdem Horror-Veteran Ken Foree dar, der in seiner Rolle des Überlebensexperten einen überaus hartnäckigen Gegenspieler für die eigentlichen Antagonisten darstellt und der Sawyer-Familie speziell in einer gelungenen Szene mit geballter Waffenkraft den Kampf ansagt. Am Ende ist „Leatherface: Texas Chainsaw Massacre III“ trotz seiner geradlinigen Gangart, die kaum unnötige Abschweifungen zulässt, aber kaum mehr als ein passables Remake von Hoopers Erstling, das höchstens einige unfreiwillige Momente der Komik enthält und im Gegensatz zum kraftvollen, zeitlosen Original von 1974 sowie dem grellen, radikal andersartigen, ebenfalls von Hooper inszenierten Sequel aus dem Jahr 1986 aufgrund der fehlenden Eigenständigkeit kaum in Erinnerung bleibt und innerhalb des TCM-Franchise zu wenig eigene Akzente setzt.

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                    • 4

                      [...] Für sein größtenteils selbstfinanziertes Regiedebüt hätte Schauspieler Peter Vack (Mozart in the Jungle) keinen prägnanteren und zugleich passenderen Titel wählen können. Assholes ist eines dieser Werke, das dem Zuschauer aus jeder Einstellung förmlich entgegenbrüllt, was für einen anstößigen, anarchischen sowie unangepassten Film dieser gerade schaut. [...] Beginnt Assholes in diesen anfänglichen Szenen, die Vack in fast schon öden, überwiegend statischen Einstellungen inszeniert, noch als neurotische Tragikomödie über exzentrische New Yorker in ihren 30ern, verwandelt sich der Streifen recht schnell in ein surreales, dezent dadaistisches Chaos, das hauptsächlich aus Sketch-Comedy-ähnlichen Passagen und widerlichen Gross-Out-Einschüben besteht. [...] Durch seine ausgeprägte Vorliebe für das Abfilmen und gleichzeitig Zelebrieren von Körpern, die von unangenehm anzusehenden Krankheiten befallen sind und sich trotzdem unentwegt einander hingeben, sowie diversen Körperflüssigkeiten, die in diesem Zusammenhang ausgeschieden werden, strebt Vack unübersehbar eine Nähe zu den kontroversen Filmen von Filmemachern wie John Waters (Pink Flamingos) an, in deren Liga sich der Regisseur nur zu gerne bewegen würde. Je stärker der Exzess in Assholes dominiert, desto weiter entfernt sich Vack von jenem unmittelbaren Kultstatus, den er mit seinem Regiedebüt so offensichtlich anstrebt. Vollends aus dem Ruder läuft die Handlung schließlich, nachdem Aaron und Adah erneut drogenabhängig werden und zusammen am laufenden Band Poppers konsumieren. Wie ein improvisiertes Stück Guerilla-Comedy wirkt beispielsweise der Abschnitt, in dem der Regisseur sein zugedröhntes Liebespaar über den Times Square jagt, wo sich eine peinliche Situation an die nächste reiht, während der Kameramann Mühe hat, den beiden noch folgen zu können. Als Gesamtwerk zerfällt Assholes ab diesem Moment zunehmend in einzelne Vignetten, die ebenso unsortiert wie unnötig ausgedehnt über das Ziel hinausschießen. Auch wenn Vack mit fortschreitender Laufzeit immer offensiver aus allen Rohren feuert, wobei er unter anderem ein Abendessen zwischen Aaron, Adah, Adam und deren Eltern in einem Kotzgelage enden lässt und aus dem Hintern von Adah schließlich einen weiblichen, 70 Jahre alten Dämon namens Mephistopheles, Spitzname Mephi, beschwört, treibt die Handlung des Films zwischen derlei leeren Übertreibungen wirkungslos vor sich hin. Obwohl Assholes mit gerade einmal 74 Minuten Laufzeit angenehm kurz ausgefallen ist, fühlt sich Vacks Film lange vor Erreichen des Abspanns wie ein viel zu lang geratener Scherz an, dessen Pointe auserzählt ist, bevor der Regisseur dem albernen Konzept mit zumindest hin und wieder amüsanten Unvorhersehbarkeiten bemüht neues Leben einhauchen will. Sicherlich lässt sich der Streifen auch als unkonventionelles Plädoyer für die Liebe auffassen, die sich in der Geschichte selbst gegen absurdeste Widerstände zur Wehr setzt. Wenn Vack in seinem pubertären Werk zumindest etwas ernst nimmt, dann ist es die Beziehung zwischen seinen beiden Hauptfiguren sowie den Titel, den der Regisseur gegen Ende buchstäblich auf das Liebespaar überträgt. Sämtliche Ansätze von seriöser Empathie zerschießt Vack allerdings spätestens mit einem seltsamen Finale im Reality-TV-Stil, das Assholes endgültig als misslungene Karikatur seiner selbst bloßstellt. Ein zukünftiger Kultfilm, der keiner ist. [...]

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                      • 7

                        [...] In A Quiet Place ist die Welt zu einer postapokalyptischen Todeszone verkommen, in der schon das kleinste Geräusch, das einen bestimmten Lärmpegel überschreitet, zu einem schnellen Ableben führt. John Krasinski, der in der Vergangenheit als Schauspieler, Regisseur, Drehbuchautor und Produzent tätig war, hat mit diesem Werk seinen ersten Horrorfilm gedreht und doch zeugt sein Debüt innerhalb dieses Genres von einem ausgereiften Verständnis für die Mechanismen des Horrors, die Krasinski regelrecht souverän beherrscht. [...] Neben den offensichtlichen Gefahren in Form der Monster, die oftmals als unsichtbare, aber extrem tödliche Gefahr im Hintergrund lauern, ist A Quiet Place auch eine emotionale Parabel über das Verantwortungsbewusstsein von Eltern, die ihre Kinder in einer hoffnungslosen, lebensfeindlichen Zeit großziehen müssen. Auch wenn Krasinski immer wieder konventionelle Horrormomente inszeniert, die er zwischen stillem Spannungsaufbau, übereilter Panik und blankem Terror aufgrund des konsequent verfolgten Konzepts wie in einem Stummfilm orchestriert, verliert der Regisseur nie die komplexen Beziehungen zwischen seinen Figuren aus den Augen. Auf geschickte Weise erhalten zudem selbst die zurecht ungeliebten Jumpscare-Einlagen in diesem Film gewissermaßen eine Daseinsberechtigung, da gerade überraschend einsetzende, extrem laute Momente in diesem Szenario den größten Horror bedeuten und die überwiegend vorherrschende Stille mit besonders eindringlicher Intensität durchbrechen. Nichtsdestotrotz ist Krasinskis Film immer dann am effektivsten, wenn die eigentlichen Monster gar nicht zu sehen sind und stattdessen der beschädigte, instabile Kern der zentralen Familie sichtbar ist, denen die Trauer und der Verlust nach wie vor aus den Gesichtern abzulesen ist. Schuldgefühle, die sich nicht verdrängen lassen, Angst, ein neues Kind in diese Welt zu bringen, die keine wirkliche Zukunft bereithält, und der unbedingte Wille, den eigenen Nachwuchs zu sicherer Eigenständigkeit zu erziehen, falls der dringend benötigte Zusammenhalt irgendwann nicht mehr gewährleistet ist, sind allesamt bedrückende Faktoren, die wie eine schwere Last auf der eigentlichen Survival-Horror-Geschichte liegen. Krasinski versteht es, seinem Publikum Angst einzujagen und den Zuschauer zu erschrecken, doch noch viel mehr versteht er es, Figuren ohne viele Worte zu entwickeln, an deren Schicksal man vor allem im mitreißenden, rastlosen Finale wirklich interessiert ist. Ein Finale, das zeigt, dass es an der Zeit ist, die Stille endlich zu durchbrechen. [...]

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                        • 7

                          [...] Auf dem Höhepunkt der nicht enden wollenden Welle an Teenie-Filmen, von denen das Publikum Ende der 90er Jahre noch lange nicht genug bekommen konnte, erscheint ein Film wie Roger Kumbles Eiskalte Engel aus dem Jahr 1999 wie ein Wolf im Schafspelz. Die zeitgemäße Adaption des französischen Briefromans Gefährliche Liebschaften, der als Hauptwerk der französischen Literatur aus dem 18. Jahrhundert zählt, lockt die jugendliche Zielgruppe mit attraktiven, unverbrauchten Jungdarstellern wie Ryan Phillippe (Gosford Park), Sarah Michelle Gellar (Ich weiß was du letzten Sommer getan hast), Selma Blair (Scream 2) und Reese Witherspoon (Pleasantville). Anstelle der üblichen naiven Romanzen sowie unreifen Liebeleien entfesselt der Regisseur aber viel lieber hässliche Intrigen, bösartige Abgründe und sexuell eindeutige Motive. Wie eine Kreuzung zwischen der glatten Hülle bekannter Teenie-Streifen und den kalten, abgestumpften Eskapaden aus den Romanen von US-Schriftsteller Bret Easton Ellis wirkt Kumbles Blick auf die heranwachsende Upper Class New Yorks, die sich gelangweilt von all den funkelnden Oberflächen, teuren Luxusartikeln und flüchtigen Bettbekanntschaften nach neuen Kicks sehnt und sich in zunehmend destruktiveren Machenschaften verstrickt. [...] Ebenso bissig wie vergnüglich entwirft der Regisseur ein Figurengeflecht, in dem Gefühle im ständigen Wechsel missbraucht werden, Körper wie verführerische Lockmittel posieren und Dialoge von vorgetäuschter Ehrlichkeit in ehrliche Boshaftigkeit kippen. Dass Eiskalte Engel dabei die typische Ästhetik überzogen gespielter 90er-Jahre-Filme bedient und mit kitschigen RomCom-Klischees genauso jongliert wie mit gestelzten, bisweilen unnatürlich klingenden Dialogen, unterstreicht den subversiven Charakter von Kumbles Werk nur umso deutlicher. Trotz der poppigen Eingängigkeit, die durch passend ausgewählte Songs wie Every You Every Me von Placebo, Colorblind von Counting Crows oder Bitter Sweet Symphony von The Verve im Finale entsteht, und den äußerlich makellosen Darstellern, die sich mit sichtlicher Spielfreude in ihre Rollen zwischen intriganten Monstern und ahnungslosen Opfern stürzen, entwickelt sich die Handlung mehr und mehr zur bitteren Tragödie, bei der ausgerechnet aufkeimende Gefühle in dieser Geschichte der ausgeblendeten Gefühle bis zum Tod führen. Perfide nimmt der Regisseur diese Entwicklung schon im Vorspann seines Films vorweg, wenn die Kamera in einer Kranfahrt nicht nur erstmals Sebastian in seinem Jaguar fahrend zeigt, sondern neben dem Highway kurz vor New York außerdem einen Friedhof enthüllt, der zum Abspann mindestens einen Neuzugang verbuchen wird. Zuvor scheint sich Kumble wiederholt darin zu versuchen, durchaus ikonische Szenen innerhalb des Genres zu kreieren, das er im selben Moment vorführt. Ein erotischer Kuss zwischen Kathryn und Cecile brennt sich gleichermaßen mit knisternder Nachhaltigkeit ins Gedächtnis wie das Bild von Kathryn, die sich auf ihrem Stiefbruder räkelt, ihn immer weiter reizt und verführt, bis das erotische Spiel doch noch mit provokanter Verzögerung ein jähes Ende findet. Für sexuelle Erfüllung ist in Eiskalte Engel letztendlich aber ebenso wenig Raum wie für aufrichtige Gefühle, die an der giftigen Oberfläche dieses Yuppie-High-Society-Albtraums zerschellen wie Sebastians Jaguar, der durch einen kurzen Schlenker vom Highway direkt auf den nebenan gelegenen Friedhof rauscht. [...]

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                          • 7

                            "How do you define a big kid? A responsible big kid or just an irresponsible big kid because I think you have to be responsible but you don’t want to lose the child in you because that’s what keeps you young and that’s what keeps you in touch and keeps a smile on your face. I don’t quite know what it would be like to become an adult."

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                            • 6 .5

                              [...] Anhand seiner Hauptfigur, der Lelio mit der Kamera in kaum einer Szene jemals von der Seite weicht, entwirft der Regisseur in Eine fantastische Frau - Una mujer fantástica das Porträt einer Frau, die neben dem Kampf um die Anerkennung ihrer Identität nun auch darum kämpfen muss, um die Person trauern zu dürfen, die sie geliebt hat. Zusammen mit Hauptdarstellerin Daniela Vega, die selbst eine Transgender-Frau ist und auch im wahren Leben als Sängerin arbeitet, zeichnet Lelio Marina als ambivalente Persönlichkeit, deren Charakter zwischen diversen elliptischen Brüchen angenehm uneindeutig bleiben darf. Furios spielt Vega ihre Figur abwechselnd als entschlossene Frau, die auf ihr Recht zu trauern besteht, und als überforderte Ausgestoßene, die sich unentwegt vor ihrem Umfeld rechtfertigen muss und dabei unangenehmen Fragen ausgesetzt wird. Die Widerstände, denen Marina ausgeliefert ist, konstruiert der Regisseur dabei recht plakativ und klischeehaft, was den subjektiven Blickwinkel der Hauptfigur wiederum verstärkt. Von einem Polizisten, der im Krankenhaus ihre Personalien aufnehmen soll und im Ausweis der Frau noch ihren Männernamen entdeckt, wird sie nicht als Frau anerkannt, während Marina von einer Kommissarin gar verdächtigt wird, in den Tod von Orlando verwickelt zu sein. Noch schlimmer trifft es die Protagonistin hinsichtlich der Familie des Verstorbenen, von der sie abgesehen von Orlandos Bruder mit Abneigung, Skepsis und purem Hass gestraft und von der Beerdigung ausgeschlossen wird. Lelio inszeniert Marinas Welt zunehmend als eine Welt des Einsturzes, in der die Hauptfigur mitunter den Bezug zur Realität verliert, während sie alles daran setzt, ihre Würde aufrechtzuerhalten, die ihr immer wieder genommen werden soll. Den harten Realismus dieser Selbstermächtigungsgeschichte durchbricht der Regisseur mit theatralischer Musik und surrealen Einschüben, bei denen sich ein verzweifelter Clubbesuch der Protagonistin beispielsweise in eine hypnotisierende Musical-Sequenz verwandelt, während sich Marina selbst trotz der sie umgebenden Figurenklischees bis zuletzt einige Geheimnisse bewahren darf. Die mehrfach im Film adressierte Frage, was sich denn nun zwischen den Beinen der Hauptfigur befindet, bleibt ebenso unbeantwortet wie Marinas weiteres Schicksal. So führt das Ende, das zumindest ansatzweise eine Form von Erfüllung für die Protagonistin bereit hält, unweigerlich an den Anfang von Marinas Geschichte zurück und verweist auf die aussichtslose Spirale des täglichen Kampfes, den Menschen wie Lelios Hauptfigur tagtäglich bestreiten müssen. [...]

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                              • 6

                                [...] Die Buchvorlage, welche lange Zeit als unverfilmbar galt, hat der Regisseur mit dem gleichnamigen Film nun in einen rasanten Blockbuster verwandelt, der in ebenso artifiziellen wie rauschhaft-überbordenden Bildern in eine virtuelle Welt entführt, in der Nutzern keine Grenzen gesetzt sind, wer sie sein wollen und was sie tun möchten. OASIS nennt sich diese VR-Simulation, in die sich im Jahr 2045 ein Großteil der Weltbevölkerung regelmäßig flüchtet. [...] Wenig überraschend nimmt die eigentliche Realität in Ready Player One zunächst nur einen beiläufigen Nebenschauplatz ein. Spielberg stürzt sich ebenso wie die Nutzer von OASIS stattdessen in die ausufernden Möglichkeiten dieses Abenteuerspielplatzes, die er anhand eines frühen Autorennens spektakulär bündelt und veranschaulicht. In der Sequenz erscheinen nicht nur Fahrzeuge in Form des DeLoreans aus Zurück in die Zukunft oder des roten Motorrads aus Akira, sondern auch ungemütliche, überproportionale Hindernisse wie King Kong oder ein anderes Filmmonster, das direkt aus Spielbergs eigenem Schaffen in den Film zitiert wird. In Verbindung mit der fantastischen Kameraarbeit von Janusz Kamiński entwickelt sich die Sequenz, in der die Rennfahrer durch eine sich ständig verändernde Stadt rasen, zu einem ersten Höhepunkt, der die verlockenden Oberflächenreize und Schauwerte dieses Films in Kombination mit ständig neuen Popkultur-Easter-Eggs unmittelbar auf den Punkt bringt. [...] Sobald die Rahmenhandlung aus der realen Welt das Fantasievolle der virtuellen Welt verdrängt, treten die Schwächen von Spielbergs Film immer offener in Erscheinung. Man mag sich kaum einen anderen Regisseur für dieses Werk vorstellen, denn sobald die Figuren beispielsweise in einem schwerelosen Nachtclub zu der Musik von den Bee Gees durch die Lüfte tanzen, ein ikonisches Filmset einer meisterhaften Stephen-King-Verfilmung durchstreifen und dabei Schlüsselereignisse noch einmal durchleben müssen oder in einem langgezogenen Showdown etliche Avatare aus der Film- und Videospielgeschichte aufeinanderprallen, ist Ready Player One exzellente Blockbuster-Unterhaltung, für die Spielberg wie von der Leine gelassen auf einen visuellen Erfahrungsreichtum setzt, den er selbst über Jahrzehnte hinweg mitbegründet und perfektioniert hat. Problematischer gestaltet sich hierbei der Umgang mit den realen Figuren hinter den Avataren, die der Regisseur beispielsweise in eine bemühte Liebesgeschichte einbettet, während die farblose Realität und der Konflikt, den Spielberg gegen Ende immer stärker darin einbettet, zu oft von blassen Charakteren ausgetragen wird, die nur innerhalb des virtuellen Wunderlandes OASIS so richtig aufzublühen scheinen. Kurioserweise scheint sich der Regisseur selbst nicht so richtig sicher dabei gewesen zu sein, welche Botschaft er mit der Geschichte überhaupt verfolgen will. Ready Player One erstrahlt immer dann in vollem Glanz, wenn die triste Realität nur einen vagen Nebenschauplatz markiert, der kaum von Bedeutung ist. Als Kontrast hierzu fällt zum Ende hin aber mehr als einmal der Satz, dass nun mal nichts realer als die Realität sei, wodurch Spielbergs Film eine unscharfe Gratwanderung zwischen der Glorifizierung virtueller Möglichkeiten und einer Absage an genau diesen Realitätsverlust darstellt. Dabei ist Ready Player One allem voran ein Film, mit dem Spielberg überdeutlich ausdrückt, dass er doch eigentlich nur spielen will. [...]

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                                • 7

                                  [...] In einer ebenso wirren wie chaotischen Weltuntergangsstimmung siedelt Schwentke die Ereignisse des Films an, in der zahlreiche deutsche Soldaten Fahnenflucht begehen wollen, was von den übriggebliebenen Anhängern der Wehrmacht umgehend mit dem Tod bestraft wird. Auch Herold scheint einer dieser verzweifelten Deserteure zu sein, obwohl der Regisseur die Hintergründe über seine Hauptfigur bewusst offenlässt und der Zuschauer nichts über die Motivation des Protagonisten erfährt. Wichtig ist nur, dass ihm die Flucht und zugleich Tarnung gelingt, als er eine Offiziersuniform eines Hauptmanns der Luftwaffe findet, die völlig verlassen in einem Fahrzeug am Straßenrand auf einen neuen Besitzer zu warten scheint. Herold zögert nicht lange und streift sich die Uniform über, um anschließend einem versprengten Soldaten namens Freytag zu begegnen, der sich dem augenscheinlichen Hauptmann direkt unterwirft. Dieser kurze Beweis des blinden Machtgehorsams sowie der Obrigkeitshörigkeit ist der Startschuss für eine albtraumhafte Odyssee mitten in das Herz des Faschismus, den Schwentke in diesen letzten Zügen, in denen das deutsche Reich zu diesem Zeitpunkt lag, noch einmal in seiner ganzen diabolischen Grausamkeit heraufbeschwört. Von den glatten Zügen von Hollywood-Produktionen wie R.E.D. - Älter, Härter, Besser, R.I.P.D. - Rest in Peace Department, Die Bestimmung - Insurgent und Die Bestimmung - Allegiant, die der Regisseur zuletzt in Amerika für große Studios drehte, ist in Der Hauptmann nichts mehr zu spüren. Den finsteren Schwarz-Weiß-Bildern von Kameramann Florian Ballhaus ist vielmehr eine verstörende Drastik eingeschrieben, mit der sich Schwentke abstoßenden, bisweilen kaum erträglichen Vorbildern wie Pier Paolo Pasolinis Die 120 Tage von Sodom annähert. Schonungslos mischt der Regisseur psychologische Aspekte wie den Zerfall der menschlichen Seele in Zeiten des Nationalsozialismus mit explizit geschilderten Details, beklemmenden Andeutungen und mitunter überhöhten Stilmitteln der Groteske, um sein Porträt des versehentlichen Hauptmanns, der sich nach und nach in einen absurden Tötungsrausch steigert, zu verwirklichen. [...] Völlig frei von Identifikationsfiguren ist Der Hauptmann eine offensive, manchmal etwas arg plakative Studie der Gewalt und eine radikale Beobachtung faschistischer Mechanismen, die stellenweise gar ins Groteske kippt, ohne den realistischen Ernst der jeweiligen Situation jemals zu überschatten. Nur im Abspann schießt der Regisseur über das Ziel hinaus, wenn der Kampftrupp Herold Passanten auch noch in der heutigen Gegenwart terrorisiert. Eines der finalen Bilder, in denen Herold im Wald auf einem Feld von Skeletten steht und schließlich in den Wäldern verschwindet, wäre stattdessen ein idealer, surrealer Endpunkt für diesen Wahnsinn gewesen. [...]

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                                  • 5

                                    Berühmte Schauspieler, Geschäftsmänner, Rapper, Sportler und später auch Mitglieder der Russenmafia hatten alle einen Stammplatz am Pokertisch von Molly Bloom. In der Welt der Reichen war die aus Colorado stammende Frau irgendwann diejenige, die eigentlich die Karten in der Hand hielt und für das Ausrichten von exklusiven Pokerspielen verantwortlich war, bei denen die Buy-Ins ab einem gewissen Punkt gar 250.000 Dollar betrugen. Alleine das Trinkgeld, das ihr von jedem Teilnehmer stets bezahlt wurde, reichte aus, damit sich Molly ein riesiges Vermögen anhäufen konnte und selbst annähernd in jene luxuriösen Kreise aufstieg, in denen die Spieler an ihrem Pokertisch verkehrten. Aufgrund des rasanten Erfolgs haben die Probleme in dieser wahren Geschichte natürlich ebenso wenig auf sich warten lassen, so dass die Involvierung mafiöser Anhänger, ein ansteigendes Drogenproblem und schließlich die Aufmerksamkeit des FBI dazu führten, dass aus Mollys Geschichte eine typisch amerikanische Geschichte von Aufstieg und Fall wurde.
                                    Eine Geschichte, die Molly nicht nur selbst als Memoir niedergeschrieben hat und 2014 veröffentlichen ließ, sondern auch eine Geschichte, die Drehbuchautor Aaron Sorkin für sein Debüt als Regisseur adaptiert hat. Dabei beginnt Mollys Geschichte in Sorkins Film direkt mit einem tiefen Fall, bei dem sich die damalige Skifahrerin für die Olympischen Spiele 2002 qualifizieren wollte und durch einen Sturz eine schwere Rückenverletzung erleidet, die dazu führt, dass sie ihre Sportkarriere aufgibt. Als finsteren Antrieb im Hintergrund von Mollys Motivationen etabliert der Regisseur in diesen anfänglichen Szenen den Vater der Hauptfigur, ein Psychiater und Hochschulprofessor, der seine Kinder mit schonungslosem Druck zu Höchstleistungen drillt. Müde ist für das Familienoberhaupt ein Synonym für schwach, wie eine Szene des Films noch einmal verdeutlicht.
                                    Um dem verhassten Vater zu entkommen, verschlägt es Molly als junge Erwachsene daher nach Los Angeles, wo sie zunächst einen Job als Kellnerin annimmt und anschließend Dean kennenlernt. Der arrogante Immobilienentwickler stellt Molly als persönliche Assistentin ein, wobei sie neben regelmäßigen Beschimpfungen durch Dean vor allem in die Welt des privat organisierten Pokerspiels eingeführt wird, das sie sich recht bald zu eigen machen will. Dass diese ganzen Entwicklungen, die im Film über mehrere Zeitebenen im ständigen Wechsel ausgebreitet und von der Protagonistin oftmals aus dem Off kommentiert werden, den Zuschauer mindestens über das erste Drittel des Films hinweg regelrecht elektrisieren, liegt neben dem ungemein charismatischen Schauspiel von Hauptdarstellerin Jessica Chastain wieder einmal an Sorkins Dialogen.
                                    Einen bisweilen schwindelerregenden Rhythmus aus einer Flut an ständig neuen Informationen sowie temporeich vorgetragenen Wortgeschossen konstruiert der Drehbuchautor mit einer Virtuosität, die schon lange musikalische Qualitäten angenommen hat. Die eigentlichen Bilder hinken den Dialogen unter Sorkins Regie hingegen trotz vereinzelter Montagen im frenetischen Videoclip-Stil unentwegt hinterher und verleihen dem Film visuell bedauerlicherweise kaum Gewicht. „Molly's Game“ entfaltet seine größte Stärke nur dann, wenn der Betrachter durch die pfeilschnellen Wortgefechte und ausufernden Monologe förmlich durch die einzelnen Szenen gepeitscht wird und sich der rasanten Symphonie der gesprochenen Sätze freiwillig ergibt.
                                    So kaschiert der Regisseur über weite Strecken recht geschickt, dass sich hinter den verschiedenen sowie vermischten Zeitebenen und dem beständigen Wortschwall eine überaus konventionelle Biopic-Struktur verbirgt. Über unnötig ausgedehnte 140 Minuten hinweg verläuft sich der Handlungsfluss speziell in Bezug auf Mollys organisierte Pokerspiele in repetitiven Einlagen, die lediglich einen anderen Spieler betreffen und Mollys Organisationsgeschick auf die Probe stellen, während Sorkin zwischen einem anstehenden Gerichtsverfahren in der Gegenwart, für das sich die Protagonistin Hilfe von einem Anwalt erhofft, und den Pokerspielen kaum noch etwas anderes übrig bleibt, als der eigentlich so schlagfertigen, selbstbestimmten Hauptfigur beim langsamen Abstieg zuzusehen.
                                    Zunehmend wirkt es, als sei Sorkin seine Protagonistin abhandengekommen, weshalb die finalen Handlungsentwicklungen, die Molly betreffen, ärgerlicherweise auch noch in konstruierten Begründungen enden. Dafür greift Sorkin tief in die Trickkiste der psychologischen Klischees, um ein Vater-Tochter-Trauma als wesentlichen Faktor aufzuarbeiten, den er im Verlauf der Handlung immer wieder auf die Männer dieses Films projiziert, die allesamt Facetten von Mollys Vater verkörpern. Den Aufstieg in der Geschichte darf die Protagonistin daher noch aus eigener Kraft vollführen. Das Scheitern spricht ihr Sorkin nicht mehr aus eigener Kraft zu. Dafür müssen andere ebenfalls als Rechtfertigung herhalten.

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                                    • 7 .5
                                      über Spider

                                      Unverständlich gemurmelte Laute und unleserliche Kritzeleien sind alles, was Dennis Cleg noch von sich geben kann. Zu Beginn von David Cronenbergs „Spider“ kommt der geistig scheinbar schwer geschädigte, schizophrene Protagonist in einer Londoner Pension unter, wo psychisch gestörten Menschen dabei geholfen werden soll, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Als Resozialisierung wird dieser Prozess im Allgemeinen auch bezeichnet, von dem Dennis allerdings kaum weiter entfernt sein könnte. Cronenberg zeigt ihn stattdessen als einen Getriebenen, der seine Umgebung ununterbrochen nach bestimmten Mustern abzusuchen scheint.
                                      Dass diese Spurensuche offenbar nur für Dennis selbst Sinn ergibt und ansonsten alle anderen Menschen um ihn herum ratlos stimmt, ist dem inszenatorischen Konzept des Regisseurs geschuldet, der die gesamte Handlung des Films der streng subjektiven Perspektive der Hauptfigur unterordnet. Dennis‘ wirrer, unsortierter Geist, der den Zuschauer zunächst ganz bewusst auf Distanz hält und ihm zu diesem buchstäblich unverständlichen Charakter keinen Zugang gewährt, wird schließlich zur Landkarte einer Seele, die fortlaufend immer stärker zu zerfallen droht, obwohl die Bilder und Zusammenhänge immer konkreter werden.
                                      Zwischen Realität und Einbildung, Gegenwart und Vergangenheit zeichnet Cronenberg die Psyche seines Protagonisten nach, indem Dennis nach und nach durch die Fragmente seines eigenen Kopfs wandert und als unzuverlässiger Tourist durch die zurückliegenden Stationen und Erlebnisse seines eigenen Lebens wandert. Tief in Dennis‘ Kindheit scheint der Schlüssel zu dessen ebenso verzweifelten wie manischen Verhalten als Erwachsener zu liegen, wenn dieser immer wieder durch das Fenster eines Hauses blickt und sich selbst als kleinen Jungen beobachtet.
                                      Dem fast schon klischeehaften Kindheitstrauma von der liebevollen, fürsorglichen Mutter und dem kalten Vater, der die meiste Zeit über zu Hause abwesend ist und lieber in der Bar trinkt, das der Regisseur langsam etabliert und wenig überraschend später noch eskalieren lässt, ist hingegen nicht zwingend zu trauen. Überhaupt gilt es der Erzählung des Regisseurs, die zugleich der Erzählung von Dennis entspricht, aktiv zu misstrauen. Auf sein gängiges Markenzeichen, den Body-Horror, bei dem der Kanadier das alte Fleisch angesichts neuer monströser und doch wegweisender Möglichkeiten durch das neue Fleisch ersetzt, hat der Regisseur für dieses Werk vollständig verzichtet.
                                      „Spider“ ist vielmehr ein Film der mentalen Wucherungen und Verwachsungen, die sich über verschiedene Bewusstseinsebenen wie ein Krebsgeschwür ausbreiten. Ohne explizite Effekte visualisiert Cronenberg den anhaltenden Kontrollverlust über die eigene Psyche mithilfe der nicht unterscheidbaren Erzählebenen, die sich nicht nur ineinanderschieben, sondern irgendwann längst ineinander verkeilt haben. Unterstützt wird er zusätzlich von einem beeindruckenden Ralph Fiennes, der die Hauptfigur mit beängstigender Hingabe sowie Intensität verkörpert. Überfordert und aus letzter Hilflosigkeit webt sich Dennis ein Netz aus Fäden, mit dem er die ganzen Fäden seiner eigenen Existenz möglichst in ein greifbares, nachvollziehbares Konstrukt bringen will. Eine Technik, zu der ihn seine Mutter inspiriert hat, die ihm schon als Kind von Spinnen erzählt hat und wie diese Netze dazu benutzen, ihren Nachwuchs in Sicherheit zu wiegen.
                                      Um geordnete Nachvollziehbarkeit und behütete Sicherheit ging es Cronenberg aber ohnehin noch nie. Zu dem Zeitpunkt, an dem der Protagonist augenscheinlich ein vollständiges Netz gesponnen hat, sind sämtliche Ebenen aus Dennis‘ Gedächtnispalast der Schräglage bereits völlig aus den Fugen geraten. Besonders zynisch könnte man die Wendung gegen Ende des Films auffassen, die den Protagonisten böse auflaufen lässt. Selbst diese Wendung ist in „Spider“ aber nur eine weitere Anomalie in den Weiten einer zerrütteten Psyche, die der Regisseur untersucht, unentwegt zerlegt und neu anordnet, um mit den Einzelteilen dieser düsteren Gedankensplitter zu experimentieren, als seien sie ebenso aufregende Versuchsobjekte wie der menschliche Körper.

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                                      • 4 .5

                                        Als vor kurzem bekannt wurde, dass Alex Garland bei der neuen Comic-Adaption „Dredd“ aus dem Jahr 2012 nicht nur am Drehbuch beteiligt war, sondern laut Aussage von Hauptdarsteller Karl Urban auch komplett selbst Regie geführt haben soll, entwickelte sich der Filmemacher zusammen mit dem starken Eindruck seines ursprünglichen Regie-Erstlingswerks „Ex Machina“ endgültig zu einer der interessantesten Stimmen im gegenwärtigen Science-Fiction-Kino. Seine somit dritte Regie-Arbeit „Annihilation“ sorgte allerdings im Vorfeld erst einmal für Wirbel, da ein Produzent des Films aufgrund einer negativen Testvorführung zu dem fragwürdigen Entschluss gelangte, der Film sei zu komplex oder intelligent für das gewöhnliche Kinopublikum. Nachdem sich ein anderer Produzent sowie Garland selbst entschieden gegen Änderungen der finalen Schnittfassung aussprachen, wurde schließlich ein Deal mit Netflix ausgehandelt, die den Film zumindest in den USA in den Kinos veröffentlichten und ansonsten außerhalb von Amerika 17 Tage später direkt zum Streaming zur Verfügung stellten.
                                        Sieht man sich „Annihilation“ nun an, stellt sich unweigerlich die Frage, an welchen intelligenten oder gar komplizierten Aspekten das Kinopublikum sich angesichts dieses Films die Zähne ausbeißen sollte. Garland, der mit „Ex Machina“ unter Beweis stellte, dass er ein vergleichsweise niedriges Budget mit einer audiovisuell äußerst stimulierenden sowie erzählerisch anspruchsvollen Vision verbinden konnte, lässt in „Annihilation“ all das vermissen. Sicherlich ambitioniert, aber schlussendlich schlecht geschrieben und visuell oftmals mehr als dürftig präsentiert der Regisseur ein Werk, in dem sich Garland nach der Auseinandersetzung mit dem Konflikt zwischen dem Menschen und der von ihm geschaffenen künstlichen Intelligenz erneut mit den Grenzen des menschlichen Verständnisses sowie der Angst vor dem Unnatürlichen, Irrationalen beschäftigt.
                                        Zentrum der Handlung ist die mysteriöse Area X, ein streng geschütztes Gebiet der US-amerikanischen Regierung außerhalb der Zivilisation, in der sich eine geheimnisvolle Zone, die von einer durchsichtigen, in bunten Farben schimmernden Wand umhüllt wird, unaufhörlich weiter ausbreitet. Auch wenn schon mehrere Teams in diese Zone geschickt wurden, sei niemand jemals wieder lebendig von dort zurückgekehrt. Sprunghaft und unelegant eröffnet Garland seine Geschichte direkt mit mehreren Zeitsprüngen, bis sich die Biologie-Professorin Lena plötzlich in den Fängen der geheimen Regierungsorganisation befindet und das Innere dieser Zone, die nur „The Shimmer“ genannt wird, mit einem Team von vier weiteren weiblichen Wissenschaftlerinnen begehen und erkunden soll. Ein Jahr zuvor ist Lenas Mann Kane, der als Soldat tätig war, spurlos verschwunden, bis er auf einmal wieder im gemeinsamen Schlafzimmer vor seiner Frau steht und dabei wie ausgewechselt wirkt.
                                        Mit knisternden Fragen und geschickt aufgebauter Erwartungshaltung beginnt „Annihilation“ somit als ein Trip in das Ungewisse, bei dem auf das entsandte Forschungsteam auf der anderen Seite des Schimmers eine andersartige Flora und Fauna wartet, die nicht nur prachtvolle Natur, sondern auch feindselige Komponenten beinhaltet. Recht schnell entpuppt sich der Film jedoch als leeres Gefäß, das einen philosophischen Unterbau andeutet, wenn die gnadenlos unterentwickelten Figurenschablonen Stichwörter wie „Schöpfung“ oder „Menschlichkeit“ äußern, während die eigentliche Handlung mehr und mehr die typische Struktur eines schlichten B-Movies annimmt. Garland scheint seinem Publikum unaufgelöste Mysterien gar nicht erst zumuten zu wollen, da er seine Figuren jede Handlungsentwicklung mit ständigen Expositionsdialogen kommentieren lässt und alles haargenau bis ins Kleinste erklärt, während die Frauen, die wenigstens von vielversprechenden Darstellerinnen wie Jennifer Jason Leigh oder Tessa Thompson gespielt werden, wie in einem vorhersehbaren Horrorfilm eine nach der anderen dem plumpen Horror-Effekt geopfert werden. Mehr als "damaged goods" sind sie für das Drehbuch ohnehin nicht.
                                        Wenn Garland zwischenzeitlich kurze Momente des Body-Horrors einfügt, die gewiss nicht zufällig an David Cronenberg erinnern, erreicht „Annihilation“ zumindest vorübergehend eine beklemmende Atmosphäre, die der Regisseur wenig später aber wieder an fürchterliche CGI-Effekte verschenkt und den eigentlichen Handlungsfluss zudem mit störenden Rückblenden unterbricht, die dem Charakter der von Natalie Portman gespielten Lena zumindest ansatzweise Tiefe vermitteln sollen. Unentschlossen pendelt der Film dadurch zwischen einem plumpen B-Movie-Horror-Reißer, der sich überdeutlich an Werken wie „Alien“ oder „Predator“ bedient, und zumindest gewollt anspruchsvollen Science-Fiction-Konzepten hin und her, während Genre-Vorbilder wie Andrei Tarkowskis „Stalker“ oder Stanley Kubricks „2001: A Space Odyssey“ für Garlands aufgeblähtes, zerfahrenes Blendwerk unerreichbar aus der Ferne in die Höhe ragen. Da hilft auch der dezent LSD-getriebene Finalakt nicht mehr allzu viel, für den der Regisseur sich immerhin voll und ganz auf die Kraft von Bildern und Tönen verlässt, um seine bemühte Parabel über Verlust, Selbstzerstörung und Neuschöpfung gleichermaßen irritierend wie vergnüglich zu Ende zu bringen.

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                                        • 8 .5

                                          [...] Unter einer Plastiktüte scheint Joe, der Protagonist von Lynne Ramsays neuem Film A Beautiful Day, direkt zu Beginn seine letzten Atemzüge zu tätigen. Das schwere Schnaufen innerhalb kurzer Sekundentakte bedeutet für den bulligen, schweigsamen Mann allerdings nicht das Ende, denn plötzlich ist da wieder etwas, ein Geräusch oder ein kurzes Bild vor Joes geistigem Auge, das ihn ins Leben zurückpeitscht. Kurze Gedankenblitze und schockierende Erinnerungsfetzen aus Joes geschädigter Seele, die Kindheitstrauma, Kriegsschrecken und Tatort-Grausamkeiten umfassen, lässt die Regisseurin immer wieder wie kleine Splitter in die Handlung ihres Films einbrechen, der ohnehin wie die brüchige, fiebertraumähnliche Variante eines gewöhnlichen Action-Thrillers erscheint. Darin spielt Joaquin Phoenix den gebrochenen Kriegsveteranen und Ex-FBI-Agenten, der sich mittlerweile nur noch von Privatpersonen für seine Dienste anheuern lässt. Bei seinen Jobs spürt Joe entführte Mädchen wieder auf und bringt sie nach Hause zurück, wobei er den Entführern auf Wunsch seiner Auftraggeber auch durchaus große Schmerzen zufügt. Schmerzen, die Joe offenbar regelmäßig geradezu zwanghaft auf sein Umfeld projizieren muss, da er von seinen eigenen psychischen sowie physischen Schmerzen ansonsten vollständig zerfressen und ausgelöscht wird. [...] Brillant spielt Phoenix in seiner besten Schauspieldarbietung seit Paul Thomas Andersons The Master den todessehnsüchtigen Todesengel mit einer wuchtigen Präsenz, die konsequenterweise oftmals die gesamte Fläche der Leinwand für sich einnimmt. In kaum einer Szene lässt Ramsay ihren Hauptdarsteller mit der Kamera aus den Augen, wobei ihr der Protagonist hin und wieder zu entgleiten scheint, wie in einer Szene, in der Joe eben noch hinter einer vorbeifahrenden Bahn steht und im gleichen Augenblick einfach verschwunden ist. Dieses schummrige Gefühl, zu existieren und doch immer wieder verschwunden zu sein, überträgt die Regisseurin mit hypnotischen Bildkompositionen und dem fantastischen Score von Jonny Greenwood auf das Wesen des gesamten Films, der sich als geradliniger Genre-Reißer verkleidet hat, um dahinter stattdessen ein gleichermaßen tragisches wie abgründiges Psychogramm der Hauptfigur anzufertigen. [...] Sobald Joe, der mit seinem massiven Körper, dem ungepflegten Vollbart und den langen, zerzausten Haaren sowieso nicht in das Bild des typischen Actionhelden passen mag, mit seinem Hammer bewaffnet zur Tat schreitet, bleibt der Kamera von Thomas Townend nie viel mehr übrig, als lediglich die brutalen Überreste oder leblos auf dem Boden liegenden Körper einzufangen, die der Protagonist hinterlässt. So wird A Beautiful Day gewissermaßen zum kunstvoll vertrackten Anti-Thriller, in dem die Regisseurin konventionelle Spannungsmomente und actionlastige Einschübe subversiv aushebelt. Dabei hinterlässt sie nichts als Bruchstücke einer gequälten Seele, die wie ein lebender Toter über die Reste ihrer verblichenen Existenz wandelt und dem Leben trotzdem nicht entkommen kann. Immer wieder kommt es in dem Film zu Szenen, in denen die Hauptfigur und das entführte Mädchen namens Nina von 50 herunterzählen. Wie ein Countdown wirkt dieser Akt, als würde das Angelangen bei der Zahl 0 ein entscheidendes Ereignis einleiten. Dass dieses Ereignis allerdings ausbleibt, ist symptomanisch für Ramsays Film, der seinem Protagonisten eine Art finale Erlösung lediglich in Form eines bösen Scherzes spendiert, ehe die ungewisse Reise durch das Höllenreich namens Leben mit einem marginalen, aber ebenso schnell wieder verblassenden Hoffnungsschimmer fortgesetzt werden muss. [...]

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                                          • 8

                                            [...] Rauschhaft und fragmentarisch öffnet Toshio Matsumoto (Shura) in seinem Film Pfahl in meinem Fleisch die Pforten in eine Parallelwelt, die abseits gesellschaftlicher Normen als Himmel und Hölle zugleich erstrahlt. Im Tokio der 60er Jahre beleuchtet der japanische Regisseur die wilde Subkultur der Transvestiten-Szene, in der fleischliche Gelüste zwischen den Grenzen der eindeutig zuordenbaren Geschlechter verlaufen. Bereits die Eröffnungsszene des in kühlen Schwarz-Weiß-Bildern gedrehten Films ist eine laszive Täuschung der Sinne, bei der sich das augenscheinliche Liebesspiel zwischen einem Mann und einer Frau als Akt zwischen zwei Männern entpuppt, nachdem der Oberkörper der Person mit den weichen Gesichtszügen und den langen Frauenhaaren eine flache Männerbrust zum Vorschein bringt. Dieser Auftakt, der für sinnliche Verschleierung und trügerische Maskerade steht, enthält die Kernmotive von Matsumotos ungestümen Experimentalfilm, der in avantgardistischer Manier gegen die Sehgewohnheiten des Zuschauers rebelliert, ähnlich wie die schrägen Paradiesvögel, gescheiterten Draufgänger und in isolierter Einsamkeit lebenden Außenseiter, denen Pfahl in meinem Fleisch verschrieben ist. Inspiriert wurde der Regisseur dabei maßgeblich von den französischen Filmen der Nouvelle Vague, wobei vor allem der Stil von Jean-Luc Godard (Außer Atem) unübersehbare Spuren in Matsumotos Werk hinterlassen hat. Neben der ausgefallenen, an Godards Jump-Cuts geschulten Montagetechnik, die einer eigenwilligen Logik der blitzartigen Assoziationen folgt und eine schlüssige Chronologie der Geschehnisse nur noch erahnen lässt, setzt der Regisseur ausgiebig auf unkonventionelle Stilmittel wie Bildverfremdungen und Zeitraffer, um den Eindruck einer fremdartigen Welt, die ein Schattendasein inmitten der uns bekannten Realität fristet, nur noch zu intensivieren. In extravaganten, schrillen Etablissements wie die Schwulenbar, in der sich Matsumotos transsexuelle Figuren vorwiegend aufhalten und Kunden durch ihre ausgelassene Art bespaßen, spürt der Regisseur einer gesellschaftlichen Gegenbewegung nach, die sich über eindeutige Gender-Klassifizierungen hinweg erhebt und im taumelnden Tanz des Drogenrauschs nach unabhängiger Selbstverwirklichung und Anerkennung strebt, während immer wieder fratzenartige Gesichter von Außenstehenden als psychedelische Bedrohung auftauchen. [...] Als avantgardistisches Feuerwerk der Inszenierung ist die assoziativ montierte Geschichte mitunter schwer verständlich, doch Matsumotos Film erweist sich zwischen radikalen Stilbrüchen und spielerischen Meta-Ebenen als Liebeserklärung an eine unangepasste Subkultur, deren ganze Schönheit und zugleich Tragik der Regisseur trotz kalter Schwarz-Weiß-Bilder mit warmer Empathie erstrahlen lässt. [...]

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                                              Psychopathen scheinen es Mickey Keating angetan zu haben. In seinem letzten Film „Carnage Park“, der als uninspirierte, handwerklich katastrophale Grindhouse-Hommage an das ungezähmte Kino der 70er Jahre scheiterte, wird die Protagonistin in der Handlung erst von zwei Verbrechern als Geisel genommen, um schließlich in einem weitläufigen Wüstenareal als Beute eines durchgeknallten Scharfschützen zu enden. Ohne jegliche Anflüge von atmosphärisch dichtem Terror blieb von dem Streifen letztlich kaum mehr als die gnadenlos überzogene Performance von Pat Healy in Erinnerung. Dieser wollte seinen psychotischen Scharfschützen durch maßloses Overacting in Regionen eines Mick Taylor aus den „Wolf Creek“-Filmen befördern und geriet stattdessen zur unfreiwillig komischen Witzfigur.
                                              Für sein nachfolgendes Werk „Psychopaths“ greift Keating nun auf ein kleines Arsenal an psychopathischen, unberechenbaren, sadistischen Killern zurück, so als würde der Regisseur von den gewalttätigen Taten der immer verschrobeneren Persönlichkeiten einfach nicht genug bekommen. Die Hinrichtung des berühmten Serienmörders Charles Raymond Starkweather durch den elektrischen Stuhl nutzt der Regisseur als Aufhänger, um eine blutige Nacht bei Vollmond einzuläuten, in der der mörderische Geist von Starkweather offenbar von einer Handvoll Nachahmungstäter Besitz ergreift. Schon von den ersten Einstellungen an präsentiert sich „Psychopaths“ als zutiefst überstilisiertes Stückwerk, in dem ein roter Faden innerhalb der Geschichte, die kaum noch als solche bezeichnet werden kann, oder irgendeine Form von Spannungsbogen vom Regisseur endgültig fallengelassen wurde.
                                              Keating inszeniert seinen Film vielmehr wie eine Ansammlung gnadenloser Vignetten, in denen einzig und allein der Akt des Tötens im Vordergrund steht, während die einzelnen Handlungen der zentralen Psychopathen in einem möglichst audiovisuell betörenden Rahmen als geradezu unwirkliches Delirium aufflammen sollen. In der Theorie erweist sich „Psychopaths“ somit als durchaus reizvolles Konzept, in dem der garstige, schroffe Geist zahlreicher Slasher- und Exploitation-Filme vergangener Filmjahrzehnte auf den radikalen Ton eines experimentellen Kunstfilms trifft.
                                              Auch wenn der Regisseur im Vergleich zu seinem vorherigen Werk „Carnage Park“ handwerklich deutlich gereift ist und der Stil dieses Films aufgrund von berauschenden Farbexzessen und ausgefallenen Kameraperspektiven sowie Einstellungen an das Schaffen von Filmemachern wie Dario Argento und Nicolas Winding Refn erinnert, bleibt Keating jedoch weiterhin in erster Linie ein einfallsloser Imitator. Kein einziges Bild in „Psychopaths“ strahlt auch nur ansatzweise so etwas wie Originalität aus, wobei sich der Regisseur wahllos durch ikonische Motive des Horror-Genres wühlt und einen Film inszeniert, der wirkt, als habe man aus drei bis vier unterschiedlichen Horrorfilmen sämtliche Handlungsszenen zwischen den eigentlichen set-pieces entfernt und die jeweiligen Tötungsszenarien ohne Logik und Verstand aneinander montiert.
                                              Figuren, ob Täter oder Opfer, behandelt der Regisseur dabei als bloße Hüllen, die wenig bis gar keine Charakterisierung erhalten und nur als Mittel zum Zweck töten, leiden oder sterben müssen. Fast schon perfide ist es in diesem Zusammenhang, wie schön „Psychopaths“ mitunter anzusehen ist. Mit grellen Farbfiltern, hypnotisierenden Kamerafahrten, einem trügerischen Spiel mit Licht und Schatten oder dem Einsatz von Split Screens verwandelt Keating seinen Film in eine reine Stilübung. Hinter den bedrohlichen Masken, abstoßenden Foltereinlagen, mal mehr, mal weniger blutigen Morden und wirren Handlungssprüngen zwischen verschiedenen Zeit- und Realitätsebenen offenbart der Film hingegen nichts als banale Leere, stumpfen Voyeurismus und ein Zelebrieren von hohlen Genre-Mustern, die repetitiv aneinandergereiht den erstaunlichen Bodensatz an kreativem Unvermögen bloßstellen.

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                                                [...] Mit dem titelgebenden ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika könnte der Protagonist von David Gordon Greens (Ananas Express) Langfilmdebüt George Washington abgesehen vom gleichen Vornamen kaum weniger gemeinsam haben. Fernab der öffentlichen Wahrnehmung führt der 13-jährige afroamerikanische Junge George mit einer kleinen Gruppe von Freunden ein ärmliches Dasein inmitten einer postindustriellen Kleinstadt in North Carolina. Den Schauplatz zeichnet der Regisseur von den ersten Einstellungen an als gespenstische Geisterstadt, in der verfallene Bauruinen und verlorene Gestalten das Bild eines überaus trostlosen Milieus ergeben. Während sich zumindest die Erwachsenen, die Green zeigt, mit Arbeit gerade so über Wasser halten können, konzentriert er sich zunehmend auf die verschiedenen Kinder, welche ohne wirkliche Perspektive von einem Tag auf den anderen leben. Ihnen gehört dieser Film, in dem der ungeschönte Sozialrealismus der zurückhaltend reduzierten Geschichte von Anfang mit schwelgerischer Poesie durchbrochen wird. Dabei strahlt das Kino der 70er Jahre aus jeder Pore von George Washington, den Green mit gerade einmal 42.000 US-Dollar Budget und überwiegend Amateur-Schauspielern gedreht hat. Besonders inspiriert wurde der Regisseur durch das Frühwerk von Terrence Malick (Der Schmale Grat), dessen verträumte Sicht auf das Leben, Gespür für wunderschöne Natur-Impressionen sowie sensibler Voice-over-Stil unverkennbare Spuren in Greens Film hinterlassen hat. Sobald die Stimme der 12-jährigen Nasia, die ein Teil des zentralen Freundeskreises ist, zum ersten Mal aus dem Off ertönt, scheint dieser Ort, den Green zusätzlich in verschiedene markante Brauntöne hüllt, einer ganz speziellen Perspektive zu unterliegen, die der armen, trostlosen Realität der Figuren hin und wieder zärtliche Nachdenklichkeit und leisen Optimismus entgegensetzt. In Form eines zerbrechlichen Filmpoems kreist der Regisseur um seine adoleszenten Protagonisten, die er tiefschürfenden Konflikten aussetzt, um ihnen im Zuge der mitunter drastischen Entwicklungen beim Wachsen und Reifen zuzusehen. [...] Diesen Prozess der Veränderung, der gerade in Coming-of-Age-Filmen üblicherweise im Mittelpunkt steht, thematisiert Green fast schon zurückhaltend, wenn er innere Zweifel seiner Figuren nur über kurze Blicke oder Sätze zum Ausdruck bringt. Auf märchenhaft-poetische Überhöhung setzt der Regisseur erst wieder im Umgang mit George, den Nasia alleine schon aufgrund ihrer Beschreibungen aus dem Off förmlich mythologische Züge verleiht. Als würde er eine furchtbare Tat sühnen wollen, rettet George einem anderen Kind wenig später das Leben, nachdem dieser regungslos auf der Oberfläche eines Pools treibt. Wie stark dieser Akt den Jungen tatsächlich in eine positive Zukunft entlässt, kann der Zuschauer dieses Films nur mutmaßen. Wenigstens für den Regisseur ist er allerdings kurzzeitig Grund genug, George tatsächlich zu einem Superhelden werden zu lassen. Eine Lichtgestalt innerhalb eines Milieus, in dem das Licht zu oft mit Abwesenheit glänzt und doch ein Hauch von Hoffnung durch die jungen, heranwachsenden Figuren strömt. [...]

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                                                  "Every human is a puzzle of need. You must become the missing piece and they will tell you anything."
                                                  Nach ihrer wagemutigen Rolle in Darren Aronofskys „mother!“, der sich aufgrund seines offensiv-exzessiven Stilinfernos zwischen Arthouse-Provokation, Symbol-Parade und dezent schwarzem Humor zu einem massiven Spalter entwickelte, der vor allem Fans von „The Hunger Games“-Star Jennifer Lawrence gehörig vor den Kopf stieß, steuert die Schauspielerin weiterhin unerschrocken auf einen radikalen Imagewandel zu. Keine zehn Minuten dauert es in Francis Lawrences „Red Sparrow“, bis die von Lawrence gespielte Hauptfigur mit einem unangenehm anzusehenden Knochenbruch am Boden liegt, wodurch der beschwerliche Leidensweg von Dominika Egorova erst beginnt.
                                                  Als Ballerina am Bolschoi-Theater konnte die junge Russin bislang ihren Lebensunterhalt sichern und gleichzeitig die Kosten für ihre schwerkranke Mutter tragen, die auf ärztliche Unterstützung angewiesen ist. Nachdem ihr ein Tanzpartner bei einer Aufführung durch einen unglücklichen Sprung versehentlich brutal das Bein bricht, ist Dominikas Karriere allerdings schlagartig vorbei. Unterstützung findet sie nur noch durch ihren Onkel Vanya, der für den russischen Geheimdienst arbeitet und ihr ein fragwürdiges Angebot macht. Dominika soll einen russischen Politiker verführen, um dessen Handy mit einem von der Regierung präparierten Duplikat auszutauschen. Wieder eskalieren die Ereignisse schwerwiegend, als die junge Frau nicht nur kurzzeitig vergewaltigt, sondern auch noch Zeugin eines brutalen Mordes wird, bei dem sich das Blut des Politikers über ihren entblößten, missbrauchten Körper ergießt.
                                                  Mit erstaunlicher Härte inszeniert der Regisseur von Filmen wie „I Am Legend“ und den letzten drei „The Hunger Games“-Teilen einen Spionage-Thriller, in dem der eigentliche Aspekt der Spionage ausschließlich auf die Körper der Agenten verlagert wird. Um dem Tod als Zeugin des Verbrechens zu entgehen, wird Dominika schließlich auf eine Akademie geschickt, die die Protagonistin wenig später nicht ohne Grund als „whore school“ bezeichnet. Reduziert werden die jungen männlichen und weiblichen Rekruten in ihrer Ausbildung komplett auf ihr Äußeres, wobei sie von der Mentorin der Akademie darin geschult werden, jeden Menschen als ein Puzzle aus Bedürfnissen betrachten. Übliche Aspekte des Spionage-Daseins wie beispielsweise der geübte Umgang mit Schusswaffen werden in diesem Film dabei vollständig ausgelassen.
                                                  In „Red Sparrow“ geht es vielmehr um die fortschreitende Entmenschlichung sowie Abspaltung der eigenen Persönlichkeit. Um ihren Auftrag zu erfüllen, für den Dominika das Vertrauen eines amerikanischen CIA-Agenten gewinnen und die Identität eines amerikanischen Maulwurfs innerhalb des russischen Geheimdienstes aufdecken soll, verwandelt sie sich gezwungenermaßen in ein fetischisiertes Objekt. Mithilfe von eindeutigen Posen, aufreizenden Kleidungsstücken, verlockenden Blicken und mit Bedacht gewählten Worten muss sie zur ultimativen Verführerin werden.
                                                  Aufgrund der doppelbödigen Inszenierung, für die der Regisseur die Entgrenzung seiner Hauptfigur von sich selbst beschreibt und gleichzeitig eine streng männliche Perspektive einnimmt, bei der die Kamera von Jo Willems oftmals voyeuristisch am ansehnlichen Körper der Hauptdarstellerin verweilt, weist „Red Sparrow“ eine deutliche Nähe zum Schaffen von Regie-Provokateuren wie Paul Verhoeven auf. Ähnlich wie der unerschrockene Niederländer agiert auch Lawrence innerhalb der bekömmlichen Oberflächenreize einer Mainstream-Studio-Produktion, um mithilfe von expliziten Details oder überraschend harten Einlagen unter die glatte Fassade zu blicken.
                                                  Im Gegensatz zu populären Beispielen wie das „James Bond“-Franchise, dem sich speziell bis zur Beteiligung von Daniel Craig als 007 sicherlich eine Romantisierung des Spionage-Alltags vorwerfen lässt, bewegt sich Lawrences Werk wesentlich näher an Filmen wie Tomas Alfredsons meisterhaften „Tinker Tailor Soldier Spy“. Die Realität des Films, in der sich die USA auch in der Gegenwart noch im Kalten Krieg mit Russland befinden, beschreibt der Regisseur als kalte, düstere Welt, die für die am Spionage-Einsatz beteiligten Agenten nichts als körperliche Demütigung, Schmerzen oder direkt den Tod bereithält. Unterbrochen wird die recht simple und genretypische Geschichte von verdeckten Maulwürfen und zweifelhaften Doppelagenten über die deutlich zu lang geratenen 140 Minuten hinweg daher immer wieder von Sequenzen, in denen Lawrence die Grenzen des im Mainstream-Kino Zeigbaren schonungslos auslotet.
                                                  Souverän und mutig stellt sich dabei vor allem die Hauptdarstellerin einer Rolle, in der sie sich nicht nur gewissermaßen für die Kamera prostituieren, sondern auch abstoßende Foltermethoden und extreme Qualen über sich ergehen lassen muss. Mit einer Performance, bei der Lawrence das Schwinden der eigenen Menschlichkeit gekonnt hinter den ausdruckslosen Augen ihres künstlichen Erscheinungsbildes durchblitzen lässt, legt die Darstellerin nach „mother!“ eine weitere bemerkenswerte Leistung ab, die man von einer Schauspielerin von diesem Rang und Namen keineswegs regelmäßig beobachten kann.
                                                  Neben anderen prominenten Namen des Casts ist Lawrence der Schlüssel zu diesem Film, in dem lediglich das Grundgerüst der Handlung sowie der klassisch-spannungsträchtige Score von James Newton Howard Genre-Klischees andeuten, während der Regisseur unter der Oberfläche auf provokante Abgründe blickt, sexuelle Machtpositionen stetig neu verhandelt und einen Spionage-Thriller geschaffen hat, in dem der eigentliche Spionage-Aspekt einzig und allein auf dem Körper der Protagonistin ausgetragen wird, die sich unter beschwerlichen Hindernissen irgendwie einen Weg zu ihrer wahren Persönlichkeit zurück erkämpfen muss. Wie der Regisseur die Entmenschlichung des Individuums hierbei kritisch ausstellt und zugleich, neben der späteren Anhäufung einiger Twists, auf einer optimistischen Note enden lässt, dürfte sämtlichen Kritikern entgegenwirken, die diesen Film voreilig als misogynen Fetischkram abstrafen und verreißen.

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                                                    [...] Mit Lion hat sich Davis bisher als weitestgehend beliebiger Konsens-Regisseur etabliert, der ohne Ecken und Kanten möglichst gefälliges Kino kreiert, das offensichtlich auf bevorstehende Preisverleihungen schielt. Maria Magdalena ist nun erneut der Beweis dafür, dass sich der Regisseur bevorzugt an, teilweise durchaus imposant gestalteten, Oberflächen abarbeitet, ohne jemals zum Kern seiner Themen vorzudringen. [...] Geebnet wird diese Reise, die der Regisseur mit betonter Langsamkeit inszeniert, von pathetisch-theatralischen Dialogen, die das Rascheln der dazugehörigen Bibelseiten geradezu auf die Tonspur befördern. Davis zeigt Jesus als barmherzigen Wunderheiler, der Blinde wieder sehen lässt und Tote ins Leben zurückbringen kann, doch darüber hinaus bleiben die schwerwiegenden Konflikte rund um die immer wieder aufkeimende Glaubenskrise der Jünger um ihn herum blasse Randnotizen. Gerade Maria, die Hauptdarstellerin Rooney Mara bedauerlicherweise stark unterfordert verkörpern muss, verkommt im Verlauf der Geschichte zur überwiegend stummen Begleiterin, die das Wort Gottes zusammen mit Jesus hauptsächlich über ihre einfühlsamen Blicke verbreiten möchte. So wird sie in dem Film, der eigentlich ihr gewidmet ist, zur unauffälligen Nebenfigur, die den zunächst feministischen Ansatz der Erzählung mehr und mehr schwinden lässt. Auch die Apostel bleiben trotz der Starbesetzung mit Schauspielern wie Chiwetel Ejiofor überwiegend charakterlose Stichwortgeber, wobei gerade der von Tahar Ramin überzeugend gespielte Judas die interessanteste Figur des Films darstellt. Als gläubiger Anhänger, der sich aufgrund seiner starken Überzeugung zunehmend qualvollen Gewissensbissen stellt, wird Judas nicht nur zur Schlüsselfigur, sondern zu einem tragisch Gescheiterten, der weitaus vielschichtigere Facetten offenbart als nur die des feigen Verräters. Nachhaltig in Erinnerung bleiben von dieser gescheiterten Bibelverfilmung, die minimalistische Gesten und gewaltige Wortsalven der ohnehin knappen Vorlage auf leere Epik auswalzt und die eigentliche Kernfigur sträflich vernachlässigt, nur die Bilder. Immer wieder setzt Davis auf intime Nahaufnahmen der Figuren, wobei die Kamera fast wie in Zeitlupe in Gesichtern oder auf Körpern verweilt, die in hoffnungsvoller Gelassenheit zur Ruhe kommen oder in schweren Konflikten erstarren. Eine geradezu poetisch-impressionistische Art der Inszenierung, die mitunter an die Werke von Terrence Malick erinnert, ohne jemals dessen tief berührenden Stil zu erreichen. Dafür bleibt Maria Magdalena als oberflächliche Abhandlung bloßer Bibel-Anekdoten zu ausdruckslos und unterentwickelt. [...]

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