Patrick Reinbott - Kommentare

Alle Kommentare von Patrick Reinbott

  • 3
    über 68 Kill

    [...] Mit deutlich erkennbarer Vorliebe am grellen Exzess stürzt sich der Regisseur mitten in das Szenario, in dem der chaotisch verlaufende Überfall erst den Auftakt einer noch viel turbulenteren Odyssee markiert, bei der Haaga bizarre Handlungswendungen, skurrile Situationen, überzeichnete Figuren sowie blutige Eskalationen aneinanderreiht. In seinem ungezügelten Neo-Grindhouse-Noir verliert er zwischen den unterschiedlichen Genre-Bausteinen und einem teilweise holprigen Pacing aber bereits früh die Kontrolle über einen Film, der sich irgendwann nur noch in hanebüchene Entwicklungen flüchtet und Figuren präsentiert, die wie Abziehbilder aus einem schrägen Cartoon wirken und sich irgendwann in ebenso cartoonartiger Gewalt gegenseitig zerlegen. Mit dem zentralen Protagonisten-Duo versucht sich der Regisseur zudem an einer Umkehrung der altbekannten Geschlechterrollen aus typischen Horrorfilmen. Während Matthew Gray Gubler (Life After Beth) seine Figur des Chip als handzahmen, sensiblen Schönling verkörpert, der vor Gewalt zurückschreckt, wirft sich AnnaLynne McCord (Excision) mit verruchter Boshaftigkeit in die Rolle von Liza und spielt ihre Figur als schrilles White-Trash-Flittchen, das unentwegt zwischen verführerischer Erotik und psychotischem Wahnsinn hin und her schaltet. Nach gut 25 Minuten verschwindet McCords Figur jedoch für fast eine ganze Stunde aus der Handlung, während sich Chip, der plötzlich vor seiner zuvor geliebten Freundin flüchtet, auf eine Art Road-Trip durch die abgründigen Regionen Amerikas begibt. Auch wenn Haaga aufgrund der irrsinnigen Unberechenbarkeit des Drehbuchs gelegentlich einige spaßige Szenen gelingen, erschöpft sich 68 Kill zu schnell in seiner brachialen, plakativen Over-the-Top-Mentalität, die eher ermüdet als unterhält. Des Weiteren erweist sich der feministisch gedachte Ansatz, Chip mit einer Reihe von Frauen zu konfrontieren, die ihm weitaus überlegen sind, als Debakel, das auf katastrophale Weise in die exakt gegensätzliche Richtung umschlägt. Mit seiner Darstellung von gewaltgeilen Frauen, die Männer unterdrücken oder mit ihren weiblichen Reizen manipulieren wollen, gibt sich der Regisseur eher misogyn als feministisch, was auch die bizarre Schlusspointe des Films unterstreicht, in der es letztlich nur darum geht, wie sich die männliche Hauptfigur über den Einfluss des weiblichen Geschlechts hinwegsetzt. [...]

    8
    • 7

      [...] In einer frühen Szene von Ben Youngs Regiedebüt Hounds of Love fährt die Kamera an einer Gruppe junger Frauen entlang, die auf einem Sportplatz Volleyball spielen. Für diese Momentaufnahme kommt das Bild in extremer Zeitlupe fast komplett zum Stillstand und wird mit elegischer Langsamkeit schier endlos ausgedehnt. Obwohl der Regisseur dieses ästhetische Stilmittel nur noch einmal wenig später derart radikal verwendet, vermittelt der dadurch eingefangene Zustand einer Zeitspanne, die wie eingefroren zu sein scheint, bereits einen Vorgeschmack auf die Art des Horrors, den Young in seinem Film verfolgt. [...] Mit dem nun folgenden Martyrium der Teenagerin, das sich in langsam komponierten Einstellungen sowie mit bedächtig gesetzten Schnitten entfaltet, kehrt Young zu jenem Gefühlszustand der qualvollen Endlosigkeit zurück, den die elegische Zeitlupe am Anfang des Films zuvor vorwegnahm. Den körperlichen Missbrauch, den Vicki durchleiden muss, inszeniert der Regisseur dabei weniger mit expliziter Brutalität, wobei er die unangenehmsten Szenen ins Off verlagert oder hinter verschlossenen Türen stattfinden lässt, sondern als psychologische Komponente für ein wesentlich weitreichenderes Spannungsgeflecht. Neben dem eigentlichen Szenario der Gefangenschaft, des körperlichen sowie psychischen Missbrauchs und dem wahrscheinlich bevorstehenden Ableben des 17-jährigen Opfers ist Young zusätzlich vor allem an der Beziehung zwischen John und Evelyn interessiert. Die Ehe des Paares entpuppt sich vor Vickis Augen und somit auch für den Zuschauer nach und nach als instabiles, schwer geschädigtes Konstrukt, das nur noch mühsam aufrechterhalten werden kann, indem sich John an den jungen Opfern sexuell vergeht und ein Ventil für seinen ansonsten unsicheren Charakter findet. Gerade in Bezug auf Evelyn gelingt dem Regisseur zudem eine mehrdimensionale, geradezu komplexe Persönlichkeit, die sich auffällig vom üblichen Standard des Psychokiller-Klischees abhebt. Dass sie selbst Kinder aus einer vorherigen Beziehung hat, von denen sie zwangsweise getrennt wurde, und von John in gewisser Weiße ebenfalls manipuliert wird und in eine Art Opferrolle fällt, ist ein entscheidender Faktor, den Vicki nutzen will, um die Whites möglichst gegeneinander aufzubringen und ihr eigenes Leben zu retten. Hounds of Love hebt sich hierdurch zunehmend von der schlichten Täter-Opfer-Kategorisierung gängiger Genre-Vertreter ab und entwickelt eine mitreißende, intensive Eigendynamik zwischen häußlicher Gewalt, psychischer Unterdrückung, drastischem Missbrauch und einer Form von beklemmendem Horror, der sich jederzeit völlig unscheinbar hinter verschlossenen Türen inmitten idyllisch wirkender Nachbarschaften ereignen könnte. Auch wenn im Finale vielleicht ein paar Zufälle zu viel ineinandergreifen, kommen die letzten knapp 15 Minuten des Films schlussendlich einem Klammergriff gleich, der dem Betrachter erbarmungslos die Luft abschnürt. Durch die beeindruckend verdichtete Spannung, in der jede Sekunde bedrohlich über Leben und Tod entscheidet und bei der man als Zuschauer förmlich darum bettelt, irgendeine Form von Erlösung zu erhalten, empfiehlt sich Young endgültig als aufregendes neues Regie-Talent, das die Klaviatur des vielschichtigen Horrors, aber auch des fesselnden Thrillers virtuos beherrscht. [...]

      14
      • 9

        Der innerste Kern der Familie ist es, von dem sich Trey Edwards Shults als Filmemacher nicht zu lösen vermag. In seinem meisterhaften Langfilmdebüt „Krisha“ von 2015, dem bis heute noch die nötige Bekanntheit und Wertschätzung fehlt, die der Film verdient hätte, beschäftigte sich der Regisseur mit der Geschichte einer älteren Frau, die nach vielen Jahren Abstinenz zu Thanksgiving in den Schoß ihrer mittlerweile zur Großfamilie herangewachsenen Verwandtschaft zurückkehrt. Mit minimalem Budget gedreht und teilweise mit eigenen Familienmitgliedern besetzt schuf Shults eine von persönlichen Erfahrungen geprägte Auseinandersetzung mit dem Symbol der Familie an sich, das unter nie verheilten Narben der Vergangenheit, fehlgeleiteter Kommunikation und der Angst darüber, die innigsten Menschen zu verlieren, in paranoiden Horror kippt, der von innen heraus zur tragischen Eskalation führt.
        In seinem zweiten Werk „It Comes at Night“ denkt der Regisseur diese Probleme und Ängste weiter und verankert sie in einem beklemmenden, postapokalyptischen Setting. Hier spürt Shults erneut dem intimen Wesen des Familiensymbols nach, das durch sensibelste Erschütterungen zu fatalen Ausschlägen neigt. Fälschlicherweise als Horrorfilm vermarktet, ist der Film viel mehr ein psychologischer Thriller sowie ein apokalyptisches Drama, in dem eine mysteriöse Seuche nach dem Dahinraffen der bestehenden Zivilisationsordnung zuletzt auf das abzielt, was den wenigen Überlebenden noch bleibt: Das Vertrauen zueinander.
        In einem Haus inmitten der Wälder sehen sich Familienvater Paul, seine Frau Sarah und der gemeinsame Sohn Travis zu Beginn dazu gezwungen, Sarahs Vater zu erschießen und dessen Leichnam zu verbrennen, nachdem dieser eindeutige Symptome der Seuche aufweist. Die verzweifelte Resthoffnung auf einen kleinen Funken Optimismus, die „Krisha“ erst zum Finale hin endgültig verließ, ist in „It Comes at Night“ von Anfang an vollständig einer bitteren Resignation gewichen, bei der längst jedes fragwürdige Mittel dazu dienen soll, zu retten, was sich nur noch vage als rettenswert bezeichnen lässt. Der strikte Kodex von Paul, der seiner Frau und seinem Sohn beispielsweise vorschreibt, zu welchen festen Zeiten gemeinsame Mahlzeiten stattfinden und ab welcher Uhrzeit das Haus nicht mehr verlassen werden darf, lässt bereits Zweifel darüber aufkommen, welchen Wert diese unter dem Deckmantel „Familie“ zusammenlebende Gemeinschaft überhaupt noch besitzt.
        Eines Nachts stellen die drei Bewohner einen Eindringling, der das Haus laut eigener Aussage leerstehend glaubte und lediglich nach Vorräten für seine Frau und ihren kleinen Sohn suchen wollte. Dem Mann namens Will gelingt es erst nach einigen Strapazen, bei denen er von Paul unter anderem an einen Baum im Wald gefesselt und ausgefragt wird, langsam das Vertrauen des Familienvaters zu gewinnen, so dass Will, seine Frau Kim und Sohn Andrew in das Haus aufgenommen werden. Was zunächst vor allem den 17-jährigen Travis in sichtliche Neugierde und Aufregung versetzt, da die Neuankömmlinge nur durch ihre bloße Anwesenheit eine neue Dynamik in den bisher monotonen Familienalltag bringen, führt schon bald zu neuen Komplikationen, durch die „It Comes at Night“ fortwährend immer weiter in skeptische Unsicherheit, rätselhafte Vorfälle und schließlich blanke Paranoia verfällt.
        Mit weiterhin beeindruckender Stilsicherheit und souveräner Schauspielführung inszeniert Shults seinen Film als fiebriges Spannungsstück, in dem die Drastik der Situation gleichwertig mit beeindruckenden Bildkompositionen verschmilzt. Dabei stützt sich der Regisseur nicht nur auf konkrete Zuspitzungen, sondern lotet zusätzlich einen unklaren Schwebezustand zwischen Traum und Realität aus. Mit dem Wechsel zwischen verschiedenen Bildformaten, bei denen die schwarzen Balken mitunter ihre Breite verändern und den Bildausschnitt verkleinern, markiert Shults verstörende Traumsequenzen von Travis, der durch die Präsenz der neuen Familie gleichzeitig Bedrohung verspürt sowie sexuelle Anziehung gegenüber Kim bemerkt. Das Erwachen in einer albtraumhaften Welt sowie das Abgleiten in Träume, die sich kaum von dieser Realität unterscheiden, vermengt der Regisseur zu einem audiovisuellen Dämmerzustand, der einen ebenso wie die Figuren nicht mehr loslässt.
        Im Finale, in dem der Bildausschnitt schließlich kleiner wird als je zuvor, treibt Shults seine Geschichte eines unsichtbaren Horrors, der vom innersten Kern der Menschheit Besitz ergriffen hat und als formvollendeter Albtraum endgültig in die Realität eindringt, auf einen Höhepunkt der schmerzhaftesten Konsequenz, dem das Potential innewohnt, Zuschauer noch Tage nach der Sichtung heimzusuchen. Shults, der mit gerade einmal 28 Jahren schon sein zweites Meisterwerk in Folge gedreht hat, wurde von großen Teilen des Publikums nach der Sichtung dieses Films dafür gescholten, einen ereignisarmen Film ohne jeglichen Horror geschaffen zu haben. Dabei ist dem Regisseur in „It Comes at Night“ die ultimative Form des Horrors gelungen, bei der die Menschheit fernab von wahnsinnigen Serienmördern, Monstern, Geistern oder anderen Manifestierungen des Schreckens verdammt ist, weil sie auf nichts anderes als sich selbst zurückgeworfen wird und nur aufgrund der fehlgeschlagenen Interaktion miteinander in einer Hölle gelandet ist, die sie sich selbst geschaffen hat und in der selbst diejenigen, die man eigentlich liebt, den eigenen Tod herbeiführen können.

        27
        • 5 .5

          Auch wenn Altersfreigaben für die Gesamtqualität eines Films überwiegend eine eher untergeordnete Rolle spielen, erweist sich das R-Rating von Patrick Hughes‘ „The Hitman’s Bodyguard“ als einer der entscheidenden Faktoren, welche dem Film bedeutend zugutekommen. Die Actionkomödie vereint Ryan Reynolds und Samuel L. Jackson in den Hauptrollen als unfreiwillige Partner, wobei Reynolds den Personenschützer Michael Bryce spielt, der Jahre zuvor aufgrund eines unglücklich verlaufenen Auftrags einige Ränge abgestuft wurde, während Jackson den profilierten Auftragskiller Darius Kincaid spielt.
          Kincaid soll vor dem Internationalen Gerichtshof als wichtiger Zeuge gegen den russischen Diktator Vladislav Dukhovich (ein lachhaft verschenkter Gary Oldman) aussagen, der sich für zahlreiche, ihm vorgeworfene Verbrechen gegen die Menschheit verantworten soll. Im Gegenzug soll Kincaids Frau, die offenbar unschuldig verhaftet wurde, wieder in die Freiheit entlassen werden, wobei der Auftragskiller selbst keine Begnadigung erhalten soll. Kincaids Eskortierung zu dem Gerichtsgebäude durch Interpol verläuft jedoch nicht problemlos. Von Dukhovich entsandte Söldner, die offenbar durch einen Maulwurf innerhalb von Interpol Informationen erhalten, stellen sich dem Vorhaben hartnäckig in den Weg, weshalb dem Killer Bryce, der keine Verbindung zu Interpol hat, als Bodyguard zur Seite gestellt wird.
          Dass sich Bryce und Kincaid in der Vergangenheit bereits wiederholt in die Quere gekommen sind und ein gelinde ausgedrückt angespanntes Verhältnis zueinander pflegen, ist der Grundstein für die komödiantischen Momente von „The Hitman’s Bodyguard“. Trotz des weitestgehend vorhersehbaren, nicht gerade originell konzipierten Drehbuchs stimmt die Chemie zwischen den zwei Hauptdarstellern, die hier in vielen Szenen, mitunter im wahrsten Sinne des Wortes, ungebremst aneinandergeraten. Während Reynolds im Vergleich den eher sanftmütigeren Part einnimmt, erinnert sein Bryce in den hysterischsten Momenten an eine unmaskierte Version der von ihm zuvor gespielten Comicfigur „Deadpool“.
          Mit sichtlicher Ausgelassenheit gibt sich aber vor allem Jackson seinem Auftragskiller hin. Obwohl sich bei dem mittlerweile 68-jährigen Darsteller in den letzten Jahren immer wieder Rollen eingeschlichen haben, die dieser eher gelangweilt im Autopilot-Modus runtergespielt hat, scheint er hier mit Freude in seinem Element zu sein. An der Seite des fast 30 Jahre jüngeren Reynolds gibt Jackson körperlich eine bravouröse Leistung ab, bei der sich der Schauspieler teilweise mit voller Wucht in die Actionszenen stürzt, während er aufgrund des R-Ratings kein Blatt vor den Mund nehmen muss und Wortkaskaden ausstoßen darf, die nur manchmal an eine ungestüme Selbstparodie grenzen.
          Überhaupt erweist sich die Kombination aus dem durchwegs selbstironischen Tonfall, mit dem sich Hughes‘ Film in beinahe keiner Szene ernst zu nehmen scheint, und dem höher angesetzten Rating, das der mehr als ordentlich gefilmten Action eine überraschende Härte verleiht, neben der Chemie zwischen den Hauptdarstellern als größer Trumpf von „The Hitman’s Bodyguard“. Gerade das Finale, in dem Bryce und Kincaid zu Fuß, im Auto oder auf Booten durch die Kanäle, Straßen und Läden Amsterdams wüten, gipfelt in einigen unterhaltsam getimten Gags sowie druckvoll choreographierten sowie inszenierten Action-Höhepunkten.
          Dass Drehbuchautor Tom O’Connor inmitten des generischen Handlungsverlaufs hingegen noch darum bemüht ist, sowohl Bryce als auch Kincaid mithilfe sentimentaler oder pathetischer Rückblenden emotional abzufedern, stellt sich als Schwachpunkt in einem Film heraus, der aufgrund anarchischer Züge durchaus Potential gehabt hätte, mehr zu sein als eine kurzweilige, aber schnell vergessene 08/15-Actionkomödie, die der Film am Ende geworden ist.

          9
          • 6 .5

            Eine der größten Stärken des oftmals unterschätzten, übergangenen Regisseurs Lucio Fulci war vermutlich seine widerspenstige Unberechenbarkeit. Am berüchtigsten oder auch gefürchtetsten war der Italiener sicherlich für seine von Gore und Splatter durchzogenen Zombiefilme, die in vielen Ländern bestürzte Zensoren auf den Plan riefen. Daneben drehte Fulci aber auch Italo-Western, Gangsterfilme, Komödien, Gialli und Filme wie „Non si sevizia un paperino“, die sich wiederum zwischen verschiedenen Genres bewegen und zugleich eindeutigen Zuordnungen entziehen.
            Auch wenn dieses Werk oftmals ebenfalls als Giallo aufgeführt wird, fehlt ihm ein Großteil der für das Subgenre typischen Kennzeichen. Wo in den zwischen Krimi und Thriller angesiedelten Hybriden in der Regel schöne Frauen zu Opfern werden, indem sie von unbekannten, maskierten Tätern mit schwarzen Lederhandschuhen und phallischen Gegenständen wie Rasiermessern getötet werden, sind es in „Non si sevizia un paperino“ kleine Jungs, deren Leichen erdrosselt in einem italienischen Dorf aufgefunden werden.
            Die ausführlich dargestellte Ermittlungsarbeit der Polizei, die nach und nach mehrere Verdächtige ins Visier nimmt, sowie eine ungemütliche Mordsequenz, in der sich die in schwarzen Lederhandschuhen verhüllten Hände des Täters aus dessen Perspektive um den Hals eines Jungen legen und diesen langsam erwürgen, sind dabei die eindeutigsten Parallelen, die Fulcis Film zum Giallo aufweist. Auf ikonische Tötungstableaus, die in bewusst überstilisierter, formvollendeter Ausführung zumeist die Höhepunkte der jeweiligen Subgenre-Vertreter darstellen, verzichtet der Regisseur aber ansonsten vollständig.
            In „Non si sevizia un paperino“ entwirft der italienische Regisseur stattdessen das abgründige Porträt einer Dorfgesellschaft, die sich in blinder Wut und unreflektierter Pervertiertheit auf die schwächsten Glieder innerhalb ihrer eigenen Kette stürzt. Dabei übt Fulci nicht nur Kritik an dem überwiegend provinziellen, primitiven Anteil der Gemeinschaft, welcher eine regelrechte Hexenjagd auf schwache Außenseiter beginnt und als Lynchmob gnadenlos Selbstjustiz betreibt, sondern wirft auch einen Blick auf vermeintlich gehobenere Instanzen wie die Kirche, die erst spät im Verlauf des Films ihr finsterstes Gesicht enthüllt.
            Zusammengehalten wird das stellenweise krude Drehbuch, in dem sich schleppende Szenen der Kriminalarbeit, inhaltliche Fragwürdigkeiten wie die Verführung eines Minderjährigen durch eine wesentlich ältere Frau oder hölzerne Schauspielleistungen und Dialoge, die gelegentlich am Rand des unfreiwillig Komischen kratzen, von der Inszenierung des Regisseurs. Auch wenn „Non si sevizia un paperino“ für Fulcis sonstige Verhältnisse geradezu zahm ausgefallen ist, besticht die Kameraarbeit von Sergio D’Offizi mit einigen wundervollen Bildkompositionen.
            In Verbindung mit einem gewohnt stimmungsvollen Score von Riz Ortolani führen diese wiederholt zu atmosphärischen Glanzlichtern, die innerhalb des manchmal zu konventionellen, bisweilen öden Handlungsverlaufs keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass Fulci neben Dario Argento und Mario Bava einer der bemerkenswerten Stilisten des italienischen Kinos der 60er, 70er und 80er war. Noch besser aufgehoben ist dieser Stil aber in seinen surrealen, von jeglicher Logik losgelösten Horror-Delirien wie „Zombi 2“ oder „...E tu vivrai nel terrore! L'aldilà“. Wer den Maestro in Höchstform erleben möchte, ist mit diesen Werken noch besser aufgehoben als bei „Non si sevizia un paperino“, dessen Konventionalität und Schnitzer bezüglich Dialog-und Schauspielführung trotz einer spitz ausformulierten Gesellschaftskritik der mitunter brillanten Form immer wieder in die Quere kommen.

            14
            • 3

              Adam Wingards Karriere scheint unaufhörlich auf ein besorgniserregendes Tief zuzusteuern. Behauptete sich der Regisseur nach seinen ersten Gehversuchen als Regisseur mit „You’re Next“ und „The Guest“ zunächst als überaus talentierte, neue Stimme im Indie-Horror-Genre, sorgte „Blair Witch“ erstmals für Ernüchterung. Wingards Versuch, ein Sequel zu dem ikonischen Found-Footage-Meilenstein von 1999 zu inszenieren, endete in einem uninspirierten Neuaufguss, der sich überwiegend sklavisch, stellenweise stimmig den Horror-Mechanismen des Erstlings unterwarf und zum Ende hin auch noch in gefährliche Regionen der Entmythologisierung abdriftete, indem die unheimliche Kraft des ungewissen und suggestiven Schreckens gegen explizite, eindeutige Bilder eingetauscht wurde.
              Mit seinem nächsten Projekt, einem amerikanischen Realfilm zur japanischen Manga-Vorlage „Death Note“, erntete der Regisseur bereits vor der eigentlichen Veröffentlichung des Films heftige Kritik. Durch die wütenden Aufschreie der Fangemeinde, die dem Film vorab Whitewashing vorwarfen und sich darüber belustigten, dass 12 Bände eines Mangas oder 37 Anime-Episoden in einen 100-minütigen Film gepresst werden sollen, galt die Verfilmung eigentlich schon im Vorfeld als gescheitert.
              Mit dem nun auf Netflix zum Abruf bereitstehenden Resultat wird Wingard weder Fans der Vorlage noch Neueinsteigern gerecht, denn „Death Note“ entpuppt sich selbst als unabhängig betrachtete, eigenständige Interpretation der umfangreichen Vorlage als Totalausfall sowie bisheriger Tiefpunkt im Schaffen des Regisseurs. Geschuldet ist diese Tatsache dem Erzählrhythmus des Films, der sämtliche Ansätze einer faszinierenden Mythologie, interessanter Figuren und moralisch ambivalenter Diskurse unter sich begräbt.
              Mit Leichtigkeit lässt sich behaupten, das im Filmjahr 2017 bisher kein Werk veröffentlicht wurde, das ein derartig katastrophales Pacing sowie eine tonale Unentschlossenheit aufweist wie Wingards „Death Note“. Mit dem Auftakt, in dem der introvertierte, als Außenseiter geltende Light ein Notizbuch findet, das ihn plötzlich zum Herrscher über Leben und Tod macht, beginnt der Film noch als vielversprechende Mixtur aus High-School-Drama, brutaler Groteske und Abhandlung über zwiespältige, komplexe Gewissensfragen.
              In rasend schnellem Tempo überschlagen sich jedoch die weiteren Ereignisse. Mit einer übereilt eingeschobenen Romanze zwischen Light und der süßen Cheerleaderin Mia, schwarzhumorigen Kettenreaktions-Splattereinlagen im Stil von „Final Destination“, fragwürdigen Selbstjustiz-Motiven und einem schlampig konstruierten Katz-und-Mausspiel zwischen Light und L, einem jugendlichen, ominösen Superdetektiv, hetzt der Regisseur irgendwann nur noch überfordert durch das chaotische Drehbuch und schichtet eine abstruse Handlungswendung auf die andere.
              „Death Note“ wirft hierbei durchaus Parallelen mit dem ebenfalls erst kürzlich erschienenen „The Dark Tower“ von Nikolaj Arcel auf. Genauso wie die Stephen-King-Verfilmung scheitert Wingards Manga-Adaption nicht nur an seinem eigentlichen Inhalt, sondern vor allem daran, dass in einzelnen Momenten immer wieder Spuren von etwas Größerem auftauchen, einem umfassenden Mythos voller gelungener Einzelelemente, der jedoch nur angerissen wird und aufgrund von oberflächlicher Komprimierung nie gänzlich zum Vorschein kommen darf.
              Der mit CGI kreierte und von Willem Dafoe großartig gesprochene Todesgott Ryuk, der dem Besitzer des todbringenden Notizbuchs gelegentlich erscheint, ist in seinen rar gesäten Szenen ebenso eine kleine Hauptattraktion wie Lakeith Stanfield in der Rolle des L, der sich mit herrlichem Eifer in seine Figur des hyperaktiven, nervösen Detektivs stürzt und neben Dafoe als einziger gewillt zu sein scheint, mit dem hanebüchenen Gesamtton dieses Films verschmelzen zu wollen.
              Wingard, der hier mit einigen unkonventionellen Einstellungen, Neonlicht-Impulsen und Synthie-Einlagen auf der Tonspur wieder eher an den Stil von „The Guest“ anknüpfen will, scheint inmitten seines überstilisierten Inszenierungswahns hingegen ab einem bestimmten Punkt jegliches Interesse an glaubwürdigen, mehrdimensionalen Charakteren, also Menschen, sowie ansatzweise nachvollziehbaren Entwicklungen verloren zu haben. Spätestens im dramatischen Höhepunkt gegen Ende des Films hoch oben auf einem Riesenrad, wenn der Regisseur plötzlich eine kitschige 80s-Rock-Ballade erklingen lässt, ist man sich als Zuschauer nicht einmal mehr sicher, ob man Wingard nicht vielleicht die ganze Zeit auf den Leim gegangen ist, da dieser nichts anderes als eine alberne Parodie im Sinn hatte.
              Dass der Regisseur als nächstes ein US-Remake von Kim Jee-woons Meisterwerk „Akmareul boatda“ sowie „Godzilla vs. Kong“ inszenieren soll, sind allerdings Neuigkeiten, die bedauerlicherweise definitiv keine alberne Parodie sind.

              24
              • 4 .5

                [...] In ihrem Film setzt das Regie-Duo Jonathan Milott und Cary Murnion (Cooties) von Anfang an auf schwindelerregende Desorientierung und chaotische Hektik. Um diesen atmosphärischen Zustand auch auf den Zuschauer zu übertragen, bedienen sich die beiden einem inszenatorischen Kniff, der an Alejandro González Iñárritus Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit) erinnert. Ähnlich wie das oscarprämierte Drama erweckt der Film den Eindruck, als sei er fast vollständig in nur einer einzigen, konstanten Einstellung gedreht worden. So lassen sich über den Verlauf des Films, abgesehen vom Vorspann und einer kurzen Sequenz im Mittelteil, lediglich zwei bis drei deutlich platzierte Schnitte ausmachen, die der Illusion einer ansonsten auf Spielfilmlänge ausgedehnten Plansequenz entgegenwirken. Bushwick ist somit in erster Linie ein Konzeptfilm, der aufgrund des technisch ausgefeilten, äußerst komplex zu bewältigenden Stils maximale Immersion erzeugen will. Die von rhythmisierender Montage befreiten Passagen wirken allerdings frühzeitig wie Szenen aus einem Videospiel, deren choreographierte Geradlinigkeit auch aufgrund der gelegentlich eingefügten, misslungenen CGI-Effekte einen artifiziellen Eindruck hinterlassen. Obwohl Milott und Murnion sicherlich ein möglichst authentisches, unverfälschtes Abbild der Realität erzeugen wollten, tritt aufgrund der oftmals sichtbaren Mühe, mit der Bewegungsabläufe im Voraus exakt durchgeplant wurden, viel mehr ein gegenteiliger Effekt auf. Der aufwändigen Form, die zumindest in manchen Szenen ein beklemmendes Mittendrin-Gefühl suggeriert, steht ein Drehbuch gegenüber, das sich an schlichten B-Movie-Impulsen orientiert. Auch wenn der Film durch die außergewöhnliche Drehtechnik nicht direkt so aussieht, handelt es sich bei Bushwick letztendlich nur um einen generischen Action-Reißer, der sich hinter einer konstruierten Sozialkritik versteckt. [...] Eher unfreiwillig gewinnt Milotts und Murnions Werk viel mehr durch das aktuelle Weltgeschehen an eindringlicher Brisanz. Mit den Impressionen von aufgewühlten Menschen, die sich in brennenden Straßen mit Waffengewalt gegen einen ebenfalls gewalttätigen Mob zur Wehr setzen müssen, fügt sich Bushwick auf unbequeme Weise in die Stimmung eines unter der Regierung von Donald Trump zutiefst gespaltenen Amerikas ein. Die regelmäßig eskalierenden Konflikte, die momentan immer wieder ihren Weg in die Medien finden, treibt der Streifen in apokalyptische Dimensionen und löst auch durch den konsequent grimmigen Umgang mit seinen Figuren treffendes Unbehagen aus. Dieser Stimmungspegel alleine reicht jedoch nicht aus, um den Gesamteindruck des Films entscheidend anzuheben. Zu oft irritieren einige unlogische, kaum nachvollziehbare Entscheidungen mancher Figuren, zu oberflächlich bleiben die beiden Protagonisten, von denen zumindest Dave Bautista (Guardians of the Galaxy) in einem tragischen Monolog gegen Ende Züge eines überzeugenden Charakterdarstellers durchblitzen lässt, und zu unambitioniert zeigt sich der Film gegenüber seiner eigenen zeitgemäßen Sprengkraft, wenn sich die Regisseure lieber in stumpfe Genre-Mechanismen flüchten. [...]

                8
                • 7

                  Chad Stahelski und David Leitch sind zwei Namen, die aus dem aktuellen amerikanischen Action-Kino nicht mehr wegzudenken sind. Mit „John Wick“ haben die beiden Regisseure, die sich zuvor Karrieren als Stunt-Doubles und Stunt-Choreographen in Hollywood aufbauten, im Jahr 2014 einen kompromisslos-geradlinigen Streifen auf die Öffentlichkeit losgelassen, der nicht nur durch wahnwitzige, verspielte Action-Setpieces für Euphorie unter Genre-Fans sorgte, sondern vor allem für Hauptdarsteller Keanu Reeves genau zur richtigen Zeit kam, der in der Rolle des stoischen Racheengels und mystischen Auftragskillers eine potentielle Kultfigur geschaffen haben könnte.
                  Nach dem Erfolg dieses Films sollten sich die Wege des Regie-Duos als nächstes erst einmal trennen. Während Stahelski alleine die Regie für „John Wick: Chapter 2“ übernahm, mit dem er scheinbar mühelos an die Qualitäten des Vorgängers anknüpfte und diesen in einzelnen Szenen sogar noch übertrumpfte, verfilmte Leitch mit „Atomic Blonde“ den Graphic Novel „The Coldest City“ von Antony Johnston und Sam Hart. Was den Regisseur an der Geschichte rund um die MI6-Spionin Lorraine Broughton, die im Jahr 1989 kurz vor dem Fall der Mauer nach Berlin geschickt wird, gereizt haben könnte, bleibt dem Zuschauer nicht allzu lange verborgen.
                  Lorraines Mission besteht darin, in der deutschen Hauptstadt eine Uhr aus feindlichen Händen sicherzustellen, in der sich ein Mikrofilm befindet, der die Namen aller verdeckten Spione in der Sowjetunion enthält und den Kalten Krieg um mindestens 40 Jahre verlängern könnte. Es ist ein Auftragsziel, das sich schnell als typischer MacGuffin herausstellt, da sich die Liste selbst zur unbedeutenden Randnotiz entwickelt, die nur dazu dient, das eigentliche Verwirrspiel zwischen undurchsichtigen Doppel-Agenten voranzutreiben, die sich in Berlin eingefunden haben und aus unterschiedlichsten Beweggründen agieren zu scheinen. Erzählerisch bringt Leitch das Drehbuch, in dem bald nicht mehr klar ist, wer hier wen warum hintergeht, kaum in eine stimmige Form, weshalb er sich deshalb voll und ganz auf sein brillantes Inszenierungstalent sowie eine souveräne Charlize Theron in der Hauptrolle verlässt.
                  Die Handlung, die von Lorraine im Rahmen eines vom MI6 und der CIA geführten Verhörs in Rückblenden rekapituliert wird, führt in ein Berlin, das der Regisseur ganz im Sinne der noch existierenden Mauer auch stilistisch zweiteilt. Bewegt sich die Spionin tagsüber durch verschmutzte Hinterhöfe und trostlose Gassen, vorbei an mit Graffitis vollgesprühten Wänden, so wirkt das von Leitch mit warmen Neonlichtern und pulsierendem Farbenreichtum zum Leben erweckte Nachtleben sowie Innere von Lorraines luxuriös-futuristisch anmutendem Hotelzimmer wie aus einer anderen Dimension, die regelmäßig fast schon surreal in die kalte Ost-West-Tristesse eindringt.
                  Zu eigentümlicher Faszination findet „Atomic Blonde“ immer dann, wenn der Regisseur sowohl die Wurzeln des Ausgangsmaterials als überzeichnetes Pop-Art-Pulp-Spektakel in filmischer Form auferstehen lässt, das mit fast jedem erdenklichen NDW-Pop-Hit der 80er aufwartet, als auch ausufernd in Action-Momente verfällt, die im Kinojahr 2017 weitestgehend konkurrenzlos dastehen dürften. In die ebenso sinnliche wie exzessive Inszenierung fügt sich Theron als Hauptattraktion ein, die einem ebenfalls glänzend aufgelegten, völlig entfesselten James McAvoy, der gelegentlich an seine Figur aus „Filth“ erinnert, glatt die Show stiehlt. Die Hauptdarstellerin spielt die Protagonistin als verschlossene, konzentrierte Spionin, die ebenso als laszive Verführerin auftritt wie sie in Momenten physischer Konfrontation zur entfesselten Kampfmaschine mutiert, die sich unter schreienden, stöhnenden Strapazen bis hin zur endgültigen Auslaugung durch anrückende Gegenspieler tötet.
                  Je weiter die Handlung voranschreitet und selbst gegen Ende noch Twist an Twist reiht, desto stärker steht Leitchs Film auf der Kippe zum hanebüchenen Fiasko, das sich durch die unnötig komplex wirkende Erzählstruktur nur noch weiter ins Abseits befördert. Wenn sich Lorraine hingegen in einer gut 10-minütigen Plansequenz durch Treppenhäuser und Wohnungen eines Gebäudes kämpft und selbst dann noch kein sichtbarer Schnitt erfolgt, nachdem die Spionin und ihre Schutzperson in ein Auto flüchten, um die Verfolgungsjagd durch den Straßenverkehr fortzusetzen, ist „Atomic Blonde“ ebenso beeindruckend überstilisierte, gnadenlos formschöne Action-Kunst wie in einer Passage, in der Lorraine und ihr Widersacher als Silhouetten vor einer Leinwand aufeinanderprallen, auf die im gleichen Moment Andrei Tarkowskis „Stalker“ projiziert wird. Näher an einen Bond-Film der Craig-Ära, in dem Charlize Theron 007 spielt und bei dem Nicolas Winding Refn seine Finger bei der Produktion im Spiel hatte, wird man wohl nicht kommen.

                  16
                  • 6

                    Mit über 8 Millionen Einwohnern ist New York die bevölkerungsreichste Stadt der USA. Tagtäglich kreuzen sich hier die Wege unzähliger, unterschiedlichster Menschen, die sich womöglich kurzzeitig begegnen, um anschließend wieder in der hektischen, anonymen Masse abzutauchen und zu verschwinden. Wie in vielen Großstädten ist die Wahrscheinlichkeit eher gering, dass sich die gleichen Menschen zufällig noch ein zweites Mal begegnen, was die Tatsache umso frustrierender macht, dass eventuell füreinander bestimmte Persönlichkeiten, aufregende Lebensgeschichten oder faszinierende Charaktere niemals zusammenfinden, obwohl sie innerhalb eines Moments nur wenige Meter voneinander getrennt sind.
                    Dieses Phänomen greift Dustin Guy Defa in seinem Film „Person to Person“ auf, wobei er eine überraschend zurückgenommene Richtung einschlägt. Der Regisseur komprimiert das hektische Treiben und die ruhelosen Menschenmassen des Big Apple auf eine Handvoll Handlungsstränge und zentrale Figuren, um das oftmals überdimensional erscheinende Großstadtleben plötzlich ungewohnt klein wirken zu lassen. Da ist Bene, ein leidenschaftlicher Vinyl-Sammler, der mit seinem Fahrrad durch Brooklyn fährt, um eine äußerst rare Pressung von Charlie Parkers „The Bird Blows the Blues“ zu ergattern. Sein depressiver Mitbewohner Ray, der die meiste Zeit des Tages nur auf der Couch sitzt, hat derweil ganz andere Sorgen. Nachdem er aus Frustration Nacktbilder seiner Ex-Freundin ins Internet gestellt hat, droht ihr Bruder nun, ihm beide Beine zu brechen und ist schon auf dem Weg zu Rays Wohnung.
                    Mit ihrer besten Freundin Melanie verbringt die Schülerin Wendy lieber Zeit außerhalb des Schulgebäudes. Mit Melanies Freund, den Wendy nicht ausstehen kann, rutscht sie an diesem Nachmittag in ein spontanes Doppel-Date, bei dem sie schließlich ihre sexuelle Orientierung in Frage stellt. Noch aufregender gestaltet sich derselbe Tag für Claire, die als Auszubildende ihre Stelle bei einer New Yorker Zeitung antritt, um mit ihrem Vorgesetzten, der sich am liebsten als investigativer Journalist mitten ins Geschehen begibt, einem eventuellen Mordfall auf die Spur zu kommen. Der in die Jahre gekommene Jimmy, Besitzer eines Uhrenladens, will währenddessen mit der ganzen Sache lieber nichts zu tun haben, obwohl er in dem Vorfall eine ungewollte Schlüsselrolle einnimmt.
                    Obwohl man den einzelnen Geschichten des Films anhand ihrer Geschehnisse verschiedene Gewichtungen und Prioritäten zurechnen könnte, zeichnet sich Defas Inszenierungsstil dadurch aus, dass er jede einzelne Figur und jeden Handlungsstrang völlig gleichwertig behandelt. Egal, ob der Regisseur Benes Suche nach der wertvollen Schallplatte irgendwann in eine rasante Verfolgungsjagd verwandelt, bei der dieser einem Betrüger erst durch die verwinkelten Gänge eines Plattenladens nachrennt und die Verfolgung schließlich auf dem Fahrrad fortsetzt, Wendys jugendliche Befindlichkeiten sowie sexuelle Verunsicherung in sensibler Coming-of-Age-Manier beobachtet oder einen Vorfall, der für die Journalisten die Titelseite der Zeitung bedeuten könnte, in einen Krimi umschlagen lässt, unterliegen sämtliche Ereignisse in „Person to Person“ dem gleichen, geradezu entspannten Rhythmus.
                    Dabei wirkt der zweifelsfrei in der Moderne angesiedelte Streifen selbst wie ein Relikt vergangener Tage, das durch die grobkörnigen 16-mm-Aufnahmen, in denen der Film gedreht wurde, und einem stimmigen Soundtrack aus R 'n' B, Funk und Soul in stilvoller Retro-Atmosphäre erstrahlt. Mit nur 84 Minuten Länge bleibt dabei trotz der durchweg gelungenen Schauspielleistungen von vornherein zu wenig Zeit, um aus den so grundsätzlich verschiedenen Figuren vielschichtige Facetten zu schöpfen oder tiefgründigere Zwischentöne zu beleuchten.
                    Defas Film wirkt in seinem angenehm unprätentiösen, bewusst sprunghaftem Tonfall stattdessen selbst, als würde man einer kurzweiligen, vergnüglichen Schallplatte lauschen, die ständig neue Töne anschlägt und wiederholt zur gleichen Melodie zurückkehrt, bis am Ende außer dem Knistern der durchgelaufenen Platte eher flüchtige Eindrücke einzelner wirklich gelungener Passagen und ein charmanter Grundton im Gedächtnis bleiben.

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                    • 4

                      Nach vielen Jahren, in denen Jerry Stahl nur als mäßig bezahlter TV-Autor über die Runden kam und außer Hotelzimmern kaum einen festen Wohnsitz hatte, gelang es ihm mit der Zeit, seine Karriere aufgrund seines offensichtlichen Talents so stark voranzutreiben, dass er ab einem bestimmten Punkt 5000 Dollar pro Woche verdiente. Das Problem bei dieser fast schon märchenhaften Hollywood-Aufstiegsgeschichte, die sich ironischerweise auch noch genau dort ereignet, besteht darin, dass Stahl im Gegenzug jede Woche 6000 Dollar für Heroin ausgegeben hat, das er sich zu jeder passenden oder ungünstigen Gelegenheit in die Vene spritzte.
                      1995 veröffentlichte Stahl seine Autobiographie „Permanent Midnight“, die David Veloz unter dem gleichnamigen Titel verfilmte. In einem bruchstückhaften Erzählstil greift der Regisseur im Film verschiedene Episoden und Erlebnisse aus Stahls Leben auf, um ein Bild des scheinbar genialen Autors zu entwerfen, der sich irgendwann als bemitleidenswerter Junkie im Auto neben seiner neugeborenen Tochter eine Spritze in den Hals jagt. Velozs Annäherung an die Persönlichkeit des eigenwilligen Künstlers stellt sich allerdings als gescheiterter Versuch heraus, da Stahls Leben lediglich auf einzelne Ausschnitte sowie oberflächlich angerissene Charaktermerkmale reduziert wird, die dem Zuschauer nie vermitteln, wer dieser Jerry Stahl eigentlich wirklich ist.
                      Schon der Auftakt, in dem Stahl in einem Fast-Food-Laden arbeitet und bereits kurz vor dem Abschluss eines Drogenentzugsprogramms steht, erweist sich als unglücklich gewählter dramaturgischer Aufhänger. Nachdem er am Drive-in-Schalter zufällig die reizende Kitty kennenlernt, mit der er kurze Zeit später im Bett landet, beginnt Stahl, ihr von seiner turbulenten, exzessiven und schlussendlich fatalen Vergangenheit zu erzählen. Was folgt, sind ungelenk aneinander montierte Passagen, in denen Veloz den Aufstieg und Fall des Autors als stereotypisches Junkie-Narrativ auswalzt. Der Regisseur inszeniert Stahls fieberhafte Suche nach dem nächsten Schuss sowie den sich daran anschließenden Drogenkonsum in redundanten Szenen, die oftmals mit angesagter Musik untermalt sind, zeigt ihn bei wichtigen Geschäftsterminen als zitterndes, überdrehtes Wrack, das mit weit aufgerissenen Augen kaum noch einen sinnvollen Satz zustande bringt und schildert dessen Liebesleben mit der Frau, die später seine erste Tochter zur Welt bringen wird, als konsequente Abwärtsspirale in Einsamkeit und Isolation.
                      Dabei rückt der eigentliche Schaffensprozess des Autors unentwegt in den Hintergrund, wodurch nie so richtig klar wird, inwiefern Stahl überhaupt das Genie sein soll, als das ihn sein Umfeld ständig bezeichnet. Hauptdarsteller Ben Stiller, der das reale Vorbild mit ebenso exzentrischen Macken spielt wie er das tragische Wrack im Inneren von Stahl zum Vorschein bringt, liefert eine famose Leistung ab, doch seine Figur verkommt im Verlauf des Films mehr und mehr zum unsympathischen, narzisstischen Junkie, der scheinbar nur aufgrund seines Glücks finanziell nie in Nöte gerät. Veloz scheint währenddessen sichtlich Gefallen an dem abgründigen Verhalten des Protagonisten gefunden zu haben, denn „Permanent Midnight“ wirkt des Öfteren wie ein langer, überstilisierter Videoclip.
                      Nachdem Stahl in einer Szene gemeinsam mit einem Dealer Crack raucht, toben beide durch die Wohnung und springen immer wieder gegen die Fensterscheiben des Wolkenkratzers, während dazu The Prodigys Hit „Smack My Bitch Up“ auf der Tonspur ertönt. Führt man sich das dazugehörige Musikvideo des Songs vor Augen, in dem ein exzessiver Trip durch die Nacht aus der POV-Perspektive gezeigt wird, erhält man eine passende Analogie zu „Permanent Midnight“. Auch Veloz scheint sich lediglich an grellen Oberflächenreizen abzuarbeiten, wobei er aufschlussreiche Charakterisierungen und erzählerische Kohärenz bewusst mit Füßen tritt, um sich ganz dem überstilisierten Lebensstil des Protagonisten hinzugeben. Der darf ganz zum Schluss noch so etwas wie eine humorvolle Pointe zum Besten geben, wenn er in einer Talk-Show davon erzählt, dass er Schulden abbezahlen muss, bis er 90 ist, die er bei seinem bisherigen Glück sicherlich auch noch erreichen wird.
                      Natürlich haben Menschen in bestimmten Fällen eine zweite Chance verdient und man ist als Zuschauer, auch ohne das Hintergrundwissen über Stahls gesamte Biographie oder Vorkenntnis seines Buchs, durchaus gewillt, dem tragisch abgestürzten Autor nichts als Besserung zu wünschen. Bei Velozs Film sieht das Ganze aber etwas anders aus.

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                      • 6 .5

                        [...] Wer sich von Adventureland allerdings ein ähnliches Feuerwerk an Gags und Sprüchen wie in Superbad erwartet, dürfte schnell überrascht werden. James‘ Start an seinem neuen Arbeitsplatz führt zwar aufgrund von schrägen Nebenfiguren und peinlichen Situationen zu so manchem Fremdschammoment, doch Mottola ist nie darauf aus, dem Zuschauer gezielte Lacher zu entlocken. Sein Film ist eher eine sympathische Liebesgeschichte im typischen Indie-Format, die von einigen Verstrickungen begleitet wird. [...] Was in der Theorie nach einem Plot klingt, den man schon in unzähligen Filmen gesehen hat, erweist sich tatsächlich als größter Schwachpunkt von Mottolas Werk. Der Regisseur scheut kein erzählerisches Klischee, sofern es der charismatischen Atmosphäre dient, und inszeniert einen äußerst liebenswürdigen, aber eben auch handzahm geglätteten Film, an dem man sich kaum stoßen kann. Dass sich Adventureland trotz des jederzeit vorhersehbaren Handlungsverlaufs als angenehmes Seherlebnis gestaltet, liegt an dem deutlich sichtbaren Herzblut, das Mottola in sein autobiographisch gefärbtes Drehbuch einfließen lässt. Der in den 80er Jahren angesiedelte Film fängt neben der eigentlichen Geschichte das einzigartige Gefühl dieses einen Sommers ein, der sich womöglich für immer ins Gedächtnis einbrennen wird. Zwischen knisternden Liebesgefühlen, innigen Freundschaften, enttäuschenden Rückschlägen und frustrierenden Verhältnissen ist der Film immer dann am stärksten, wenn der Regisseur den titelgebenden Freizeitpark als eigene, kleine Welt begreift, in der die zentralen Figuren unter sich sind und wo sich nichts anderes als das pure Leben selbst abspielt. Auf seinem altbewährten Erzählpfad aus seichter Romantik, dezentem Humor, sympathischen Figuren und einfühlsamen Coming-of-Age-Elementen setzt Mottola daher vor allem auf die Effektivität einzelner Momente, die der Regisseur entweder zu passend eingesetzten 80er-Songs, berührenden Augenblicken zwischen den Figuren oder aufrichtigen Beobachtungen förmlich schimmern lässt. [...]

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                          über Flowers

                          Die titelgebenden Blumen aus Phil Stevens‘ Ultra-Low-Budget-Horrorfilm „Flowers“ sind keineswegs blühender, prachtvoller Natur, sondern repräsentieren eher das Verwelken und den Verfall. Der gerade einmal knapp 20 000 Dollar teure Streifen zwängt die sechs verschiedenen Frauenfiguren, die im Abspann namenlos bleiben und ebenfalls nur als Blumen durchnummeriert werden, in eine abstrakte Zwischenwelt, die der Regisseur mithilfe von abstoßenden Sets kreiert, die sich allesamt in ein und demselben Haus zu befinden scheinen.
                          In experimentell-avantgardistischer Manier entsteht der Horror in Stevens‘ Werk hauptsächlich aus der unangenehm verdichteten Atmosphäre, die sich vollständig ohne Dialoge und nur über die albtraumhaften Impressionen sowie das effektiv ausgefeilte Sound-Design ausbreitet. „Flowers“ gleicht einem Episodenfilm, in dem jeder Raum des Schauplatzes einer surrealen Welt in sich gleicht, die vom Regisseur als eine Art beklemmende Vorhölle inszeniert wurde. Entsteht zunächst der Eindruck, die Frauen seien eventuell Gefangene im Haus eines psychopathischen Serienmörders, den eine der Frauen gleich zu Beginn beobachtet, entpuppen sie sich viel mehr als längst zu Tode gekommene Mordopfer.
                          Stevens‘ makabre Mischung aus symbolträchtiger Arthouse-Bilderflut und amateurhaften Gore-Einlagen schiebt sich als ebenso gewöhnungsbedürftiger wie unzugänglicher Hybrid zwischen die Sehnerven seiner Zuschauer. Die einzelnen Sets, die vom Badezimmer über Lüftungsschächte bis hin zu Dachbodenkorridore reichen, sind reich an abstoßenden, ekelerregenden Details wie verfaulten Leichen, modrigen Fleischbrocken, ranzigem Interieur oder kreuchenden Maden und fühlen sich aufgrund der realen Requisiten unglaublich plastisch an. Wenn sich die verstörten, verzweifelten oder verwirrten Figuren ihren Weg durch Dreck, Blut, Innereien und allerhand anderem Gekröse bahnen, meint man als Betrachter, der strenge Geruch aus Verwesung und Fäulnis würde einem selbst beißend in die Nase steigen.
                          Einige Tötungssequenzen, durch die den Frauen ihr eigener Tod in Rückblenden noch einmal vor Augen geführt wird, stellen sich hingegen als plumpes Mittel zum Zweck heraus, um neben der eigentlichen Atmosphäre des irrationalen Szenarios auf plakative Weise noch weitere Schocks zu platzieren. Diese Szenen, die in ihrer recht billigen Machart beispielsweise an die Filme eines Olaf Ittenbach erinnern, erweisen sich als Fremdkörper, die der generell künstlerischen Ausrichtung des Films störend im Weg stehen. Als vielversprechende, neue Stimme im Horror-Genre erweist sich Stevens stattdessen immer dann, wenn er die sadistischen Gewaltfantasien auf ein Minimum reduziert und den Schrecken seines Films als logisch nicht greifbare Höllenspirale formuliert, die ihre Wirkung dann am stärksten entfaltet, wenn der Zuschauer realisiert, dass den Frauen in „Flowers“ nicht einmal mehr der Tod Erlösung aus ihrer zum Sterben verurteilten Existenz beschert.
                          So geistern sie als gequälte, tragische Phantome durch einen potentiell faszinierenden, stellenweise unausgegoren realisierten Arthouse-Gore-Albtraum, der sich ebenso plastisch erfahren lässt wie er mit irritierender Explizität und fragwürdigen Perversionen vor den Kopf stößt.

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                          • 9

                            Als sich der 14-jährige Florya im Weißrussland des Jahres 1943 freiwillig den Partisanen anschließt, hängen die Ärmel seiner zu groß geratenen Uniform weit über seine Hände herunter. Der Anblick erweckt unweigerlich den Eindruck, der Jugendliche hätte sich lediglich zum Spaß verkleidet, um auch mal bei dem Krieg mitzuspielen, der momentan wie ein aufregendes Abenteuer um ihn herum tobt. Diese noch recht junge, naive Perspektive ist elementar für Elem Klimows „Idi i smotri“, der sich den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs über die Sichtweise des unerfahrenen, ahnungslosen Protagonisten nähert, um das Unbegreifliche in eine weiterführend kaum erträgliche Relation zu setzen.
                            Nachdem Florya im Partisanenlager mitten im Wald angekommen ist, wird er von der Truppe kurze Zeit später bereits zurückgelassen, um ein Reservelager zu errichten. Enttäuscht und wütend zieht er durch das Waldstück, bis er auf die ungefähr gleichaltrige Glasha trifft, die ihm im Lager zuvor schon aufgefallen ist und mit der er sich schnell anfreundet. Nach diesem Auftakt, bei dem sich Klimows Film fast schon zurückhaltend aufbaut, bricht völlig unvermittelt die blanke Hölle los. Deutsche Fallschirmspringer sind nur die Vorboten für den darauffolgenden Bombenhagel, der das gesamte Waldareal mitsamt errichtetem Lager in Schutt und Asche legt, während sich Florya und Glasha gerade so in Sicherheit flüchten können.
                            Das Chaos aus unaufhörlichen Explosionen und ohrenbetäubenden Einschlägen macht der Regisseur persönlich spürbar sowie erfahrbar, indem sich Floryas Gemüt nach dem Angriff in ein Wirrwarr aus dumpfen Stimmen und lauten Pfeiftönen verwandelt. Dieser minutenlange Prozess aus hilfloser Desorientierung und hektischer Überforderung verdichtet sich unmittelbar zum schwer aushaltbaren Dauerzustand, mit dem Klimow schließlich eine Tour de Force durch das grauenvolle Antlitz des Krieges in Gang setzt, die sich mit kaum einem anderen Werk der Kinogeschichte vergleichen lässt.
                            Während die beeindruckendsten Filme in der Regel dazu imstande sind, ein Gefühl der totalen Immersion zu erzeugen, bei dem der Zuschauer alles um sich herum vergisst und vorübergehend komplett in einer anderen Welt verschwindet, gewährt „Idi i smotri“ einen puren Einblick in die furchtbarsten Abgründe der Menschheit, aus dem man sich verzweifelt einen Ausweg bahnen möchte. Die Seherfahrung von Klimows Werk entspricht kaum einer herkömmlichen Sichtung, sondern viel mehr einem ständigen Zweikampf zwischen Zuschauer und Film, wobei letzterer nicht nur stetig die Oberhand behält, sondern den unvorbereiteten Betrachter ebenso wie den unvorbereiteten Florya ohne Gnade niederringt.
                            Aus dem subjektiven Blickwinkel des Jugendlichen, dessen oftmals fassungsloses, schockerstarrtes Gesicht mehrfach in den Mittelpunkt der klaustrophobisch verengten 4:3-Einstellungen gerückt wird, kreiert der Regisseur einen lähmenden Albtraum aus verstörenden Hilfeschreien, verstümmelten oder zerfetzten Körpern sowie schmutzigen, verletzten Körpern, die sich als leere Hüllen durch ein schier endloses Schlachtfeld schleppen, während das Leben aus ihren Seelen weicht. „Idi i smotri“ erweist sich als auslaugender, radikaler Anti-Kriegs-Film, indem sich Klimow nicht auf das eigentliche Kriegsgeschehen, also die Auseinandersetzungen zwischen Soldaten aus unterschiedlichen Ländern, fokussiert, sondern auf den allgemeinen Akt des Tötens und Sterbens, von dem in diesem Film vom unschuldigen Kleinkind auf jeder betroffen ist.
                            Der Regisseur ergreift für keine Seite Partei, außer für die Menschheit selbst, und vermeidet eindeutige Schuldzuweisungen, indem er den Krieg selbst als alles vernichtendes Grauen porträtiert, das Körper und Seelen zerstört. Impressionen wie eine Scheune, in der eine ganze Dorfgemeinschaft eingesperrt und niedergebrannt wird, der Anblick eines Mädchens, dessen geschundener Körper nach mehrfacher Vergewaltigung mit Blut zwischen den Beinen umherirrt oder eine Szene, in der Florya mit geladener Waffe an der Schläfe auf den Knien vor deutschen Soldaten für ein Foto posieren muss, sind dabei von ähnlich unvergesslicher Intensität wie die simple Einstellung eines Babyfotos von Adolf Hitler, mit dem Klimow abschließend auf zutiefst tragische Weise verdeutlicht, dass selbst das unvorstellbarste Grauen genauso aufwächst wie wir alle.

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                              Als „Reminiscence Bump“ wird die Tendenz von älteren Menschen bezeichnet, sich verstärkt an Dinge und Momente erinnern zu können, die aus der Zeit stammen, als man im jugendlichen und frühen Erwachsenenalter war. Der polnische Regisseur Michal Marczak stellt die Definition dieses Begriffs unmittelbar an den Anfang von „All These Sleepless Nights“ und legt das inhaltliche Konzept des Films somit direkt offen. Mit seiner assoziativ montierten, teilweise traumwandlerischen Odyssee durch das Leben von zwei Freunden, die in ihren 20ern im modernen Warschau leben, schiebt der Regisseur Charakterzeichnung und zusammenhängende Handlungsfäden zur Seite, um sich voll und ganz dem gelebten Moment zu widmen.
                              „All These Sleepless Nights“ spürt in jeder einzelnen Szene dem Gefühl nach, was es bedeutet, jung zu sein und in einer Welt, in der einem vordergründig alle Türen offen stehen, möglichst alle vorhandenen Möglichkeiten und Eindrücke in sich aufsaugen zu wollen, bis es zum überforderten, unsicheren Wanken kommt, das sich durch eine nahende Zukunft ankündigt. Dabei ist Marczaks Film auch ein imposantes Beispiel dafür, wie die Grenzen zwischen Realität und Fiktion so unklar miteinander verschwimmen, dass schließlich eine neue Art des inszeniert wirkenden Erlebens entsteht, in das der Regisseur den Zuschauer über die subjektive Perspektive der Figuren versetzt.
                              Mehr als einmal äußert Krzys, der eine der beiden Hauptfiguren spielt und auch in Wirklichkeit so heißt, gegenüber Bekanntschaften, dass ihm sein Leben momentan wie eine nicht enden wollende Abfolge non-realer Geschehnisse vorkommen würde, in denen er selbst in eine Rolle schlüpft, um sich gegenüber seinem Umfeld immer neu zu inszenieren. Mit seinem über einen Zeitraum von gut 1,5 Jahren gedrehten Werk, in dessen Abspann schließlich sämtliche Figuren exakt den gleichen Namen tragen wie die Schauspieler selbst, wirft der Regisseur gekonnt die Frage auf, wie viel von den geschilderten Erlebnissen authentisch sowie spontan im dokumentarischen Stil mitgefilmt oder bewusst vorbereitet, geskriptet und inszeniert wurden.
                              Den typischen Stil, wie man ihn sonst aus Dokumentation kennt, wird man als Zuschauer in „All These Sleepless Nights“ zu keiner Sekunde ausmachen können. Marczak, der sich für die Dreharbeiten ein extra aufwendiges Kamera-Rig anfertigen ließ, ausschließlich mit natürlichem Licht drehte und avantgardistische Schnittfolgen verfolgte, erreicht mit seinem Stil eine audiovisuelle Brillanz, die eher an das entfesselt schwebende Spätwerk von Terrence Malick und an die subjektiven Erinnerungsfragmente aus Filmen wie „Enter the Void“ oder „Love“ von Gaspar Noé erinnern.
                              Neben scheinbar willkürlichen Szenen, in denen die Figuren in Gedanken versunken über ihr momentanes Leben sowie Zukunftsperspektiven philosophieren, so wie betrunkene junge Menschen nun mal gerne in einen eher amüsanten Redefluss verfallen, konzentriert sich der Regisseur zwischen befreiten Gängen über die menschenleeren Straßen sowie Häuserdächer Warschaus sowie ruhigen Momenten in den Wohnungen der Protagonisten auf einen Zustand der unaufhörlich aneinandergereihten Feier-Impressionen. Marczak lässt pulsierende Hauspartys, weitläufige Open-Air-Festivals sowie spontane Tanzeinlagen auf offenem Gelände oder mitten auf der Straße zusammen mit einem umfangreichen Soundtrack aus elektronischer Musik in einem von jeglichem Zeitgefühl losgelösten Strom der intensiven Sinnlichkeit zerfließen.
                              Mit neugieriger Hingabe an eine Generation, die zwischen unbekümmertem Hedonismus, ängstlichen Selbstzweifeln und elektrisiertem Tatendrang nicht allzu weit von seinem eigenen Alter entfernt ist, transportiert der Regisseur das beinahe surreale Gefühl, die Kontrolle über Tages- und Nachtzeiten vollkommen aufzugeben. Ob die Partys in „All These Sleepless Nights“ gerade in das Tageslicht des angehenden Morgens übergehen oder eben erst mitten am hellichten Tag anlaufen sowie die unentwegte Verunsicherung darüber, wie spät es wirklich in den jeweiligen Szenen ist, ist ein wesentlicher Teil des Konzepts. Mit diesem löst Marczak oftmals eine regelrechte Nostalgieflut aus und lässt die eigenen Gedanken des Betrachters orientierungslos durch Erinnerungen kreisen, wo sich neblige Eindrücke von im Rausch durchlebten oder durchzechten Partynächten, flüchtige Bekanntschaften, mehr oder weniger sinnlose Gespräche, unvermittelte Streitsituationen oder ruhige Momente von Zärtlichkeit zusammenhangslos aneinander drängen.
                              Ohne Hinweise über das Leben der beiden Freunde außerhalb des jeweiligen Augenblicks, ob sie beispielsweise Studenten sind oder Berufen nachgehen, wie sie sich ihren Lebensstil finanzieren und woher sie stammen, erhebt Marczak die Figuren viel mehr zu Symbolen für einen universell nachvollziehbaren Mikrokosmos gelebter Impressionen aus dem Leben junger Menschen, die er urteilsfrei abbildet, um am Ende, nach all diesen schlaflosen Nächten, trotzdem die Frage zu stellen: „Und was kommt jetzt?“

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                                [...] Als Menschen sind wir machtlos darüber, welche Momente unseres Lebens nur flüchtiger Natur sind und welche mit nachhaltiger Intensität ihre unauslöschlichen Spuren in den Tiefen der Seele hinterlassen. Zusätzlich problematisch gestaltet sich hierbei die Tatsache, dass der subjektive Wert einzelner Erlebnisse, ob positiv oder negativ, in der Regel erst rückblickend über unsere Erinnerungen entsteht. Auch wenn einem von verschiedenen Seiten leichtfertig eingeredet wird, man solle immer im jeweiligen Moment leben und nie an das denken, was in der Vergangenheit liegt, wirken die schwerwiegendsten Schlüsselmomente des eigenen Lebens erst nach, wenn sie längst geschehen sind. Erst durch ganz entscheidende Erfahrungen, die sich nachträglich unwiderruflich in unserem Unterbewusstsein verankern, verändert sich die eigene Persönlichkeit in einem fortlaufenden Prozess und formt uns zu den Menschen, die wir sind. Dass dieser Prozess nicht nur aus einzigartigen Momenten besteht, die ein ganz besonderes Lebensgefühl widerspiegeln, in das man sich innerhalb von Sekunden aufgrund bestimmter Erinnerungen sofort wieder hineinversetzen kann, sondern auch aus schmerzlichen Reflexionen, die sich wie ein grauer Schleier über das momentane Dasein legen, muss auch die gerade einmal 17-jährige Cecile feststellen. In seiner Romanverfilmung Bonjour Tristesse zeigt Otto Preminger (Laura) Situationen aus dem Leben der jungen Frau in Paris zu Beginn in tristen Schwarz-Weiß-Impressionen, als würden sie aus der Vergangenheit der Protagonistin stammen und schon im nächsten Moment eher unbedeutend verblassen. Die plötzlich einsetzende Erzählstimme von Cecile teilt dem Zuschauer jedoch mit, dass dieser Zustand ihr gegenwärtiges Leben darstellt. [...] Von der traurigen Melancholie aus Ceciles Alltag wechselt Preminger zu farbenprächtigen CinemaScope-Bildern, die die Côte d’Azur als kraftvoll strahlendes Urlaubsparadies erblühen lassen. [...] Preminger zelebriert den Hedonismus von Vater und Tochter in formschönen Einstellungen, in denen er bisweilen gar so weit geht, ein dezent inzestuös gefärbtes Verhältnis anzudeuten, bis sich irgendwann eine Frau ins Leben der beiden drängt, die vor allem Ceciles Lebenswelt überraschenderweise auf den Kopf stellt. [...] Preminger verhandelt die moralisch komplexen Konflikte und ambivalenten Gefühle zwischen den drei Schlüsselfiguren als leise im Takt der Meereswellen vor sich hin treibendes Melodram in der Tradition großer Hollywood-Studiofilme der 50er, für das er sich allem voran auf die unglaublich vereinnahmende Ausstrahlung von Hauptdarstellerin Jean Seberg (Saint Joan) in der Rolle von Cecile verlässt. Noch bevor die Schauspielerin anschließend von Jean-Luc Godard (Die Verachtung) mit Außer Atem zum Weltstar erhoben wurde, soll François Truffaut (Jules und Jim) bereits über sie gesagt haben, dass sie eine Schauspielerin von unerreichter Präsenz sei, von der man die Augen nicht mehr ablassen könne, sobald sie auf der Bildfläche erscheint. Als Zuschauer kann man sich Truffaut nur anschließen, denn Sebergs Schauspiel ist in jeder einzelnen Szene von geradezu hypnotischer Kraft. In ihrem Auftreten vereinen sich jugendlicher Leichtsinn und divenhafte Grazie zu einer unwiderstehlichen Ausstrahlung, die in der gesamten Filmgeschichte nur von wenigen Schauspielerinnen erreicht werden konnte und durch Sebergs tragischen Suizid im Alter von 40 Jahren zusätzlich an mystischer Faszination gewinnt. Besonders durch ihre Darstellung von Cecile gestaltet sich Bonjour Tristesse als eindringlicher Film über genau diese kostbaren Momente der radikalen Flüchtigkeit, die sich entweder als wunderschöne Erinnerungen eines einzigartigen Lebensgefühls regelmäßig vor dem inneren Auge manifestieren oder in Form von deprimierenden Narben einen alles umhüllenden Schatten über das eigene Dasein legen. [...]

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                                  In „Die Hölle - Inferno“ lässt Regisseur Stefan Ruzowitzky den Titel des Films bereits in den ersten Szenen zur erfahrbaren Wirklichkeit werden. Die in Wien verortete Mischung aus Thriller und Krimi macht aus der österreichischen Hauptstadt einen düsteren Moloch aus finsteren Gestalten und dreckigen Gassen, durch den sich die türkischstämmige Taxifahrerin Özge Nacht für Nacht einen Weg durch die Dunkelheit bahnt. Im Auftakt von Ruzowitzkys Film beweist die Protagonistin bei einer Auseinandersetzung mit zwei überheblichen Machos frühzeitig, dass sie sich aufgrund ihrer Trainingsstunden beim Thaiboxen durchaus zur Wehr setzen kann. In einer parallelen Montage zeigt der Regisseur zugleich eine andere Frau, der dieses Schicksal nicht zuteil wird.
                                  Das von rotem Licht durchflutete Hotelzimmer wird für eine namenlose Prostituierte zur brodelnden Vorhölle, nachdem sich der Leibhaftige höchstpersönlich in Anzug und Krawatte an ihr vergeht. Özge wird durch das Badezimmerfenster zufällig Zeugin des Mordes und blickt dem Täter für einige Sekunden ins Gesicht, was sie umgehend selbst zur Gejagten macht, die in ihrer eigenen Wohnung nicht mehr sicher ist. Gerade in diesen anfänglichen Szenen, in denen der Streifen vom Regisseur mit gnadenloser Geradlinigkeit und markanter Wucht vorangetrieben wird, offenbart sich „Die Hölle - Inferno“ als stimmungsvolles Thriller-Erlebnis, das seinen Sog vor allem aus der bedingungslosen Körperlichkeit der Figuren gewinnt.
                                  Sobald Ruzowitzky hingegen beginnt, die Protagonistin in einen milieubedingten sowie ethnischen Kontext zu rücken und der eigentlichen Geschichte nachzugeben, stellt sich beim Zuschauer rasche Ernüchterung ein. Durch das Bestreben, Özge nicht nur als betont schlagkräftige Frau darzustellen, die vorlauten Kontrahenten im Boxring schnell die Nase bricht, sondern zusätzlich in ein Umfeld einzubetten, das aus sturen Stereotypen besteht, erweisen sich die soziokulturell eingeschobenen Zwischentöne als viel zu dick aufgetragenes Debakel. In aufgesetzter, überkonstruierter Manier bestehen die Figuren um die Hauptfigur herum unter anderem aus rassistischen Kommissaren, abgebrühten Ex-Liebhabern und abgründigen Familienmitgliedern wie einem Vater, der sie offenbar als Kind sexuell missbraucht hat.
                                  Den Verantwortlichen genügte es scheinbar nicht, sich alleinig auf die durchaus starke Leistung von Hauptdarstellerin Violetta Schurawlow zu verlassen, die Özge als verschlossene Einzelkämpferin verkörpert und dabei oftmals nur durch vereinzelte Blicke verletzliche, gebrochene Facetten hinter der stoischen Fassade durchblitzen lässt. Stattdessen weist Drehbuchautor Martin Ambrosch in gefühlt jeder dritten Szene durch stark überzeichnete Kontraste, die man fälschlicherweise mit Neo-Noir-Archetypen verwechseln könnte, auf die starke Unabhängigkeit hin, mit der sich die Protagonistin in einer Welt aus Ausländer- sowie Frauenfeindlichkeit behauptet.
                                  Im Mittelteil, in dem die dichten Thriller-Elemente von Ruzowitzkys Inszenierung zunehmend in den Hintergrund treten, droht „Die Hölle - Inferno“ zwischen der konventionellen Tätersuche und der unbeholfenen Charakterentwicklung gar vollständig als behäbiger Vorabend-TV-Krimi zu verenden. Erst im finalen Akt, wenn Motivation und Identität des psychopathischen Serienkillers vollständig enthüllt sind, löst der Regisseur die Figuren endlich wieder aus unnötigen Zusammenhängen und Hintergründen, um sie erneut an die mitreißenden Mechanismen des puren Thrills zu ketten.
                                  Wenn unruhige Körper der atemlosen Verfolgung untergeordnet werden, das Böse in das Private eindringt und alles in einem garstigen Höhepunkt endet, bei dem das Gaspedal ohne Rücksicht auf Verluste im betäubten Rausch durchgetreten wird, findet Ruzowitzky zu jenem pulsierenden Rhythmus zurück, der ihm zuvor wieder und wieder entglitten ist und sich glücklicherweise noch ein letztes Mal einen Weg ans Steuer zurückkämpft.

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                                  • 7 .5
                                    über Crumb

                                    [...] Wer ist Robert Crumb? Dieser Frage geht Regisseur Terry Zwigoff (Ghost World) in seiner Dokumentation Crumb aus dem Jahr 1994 auf den Grund, indem er sich über mehrere Jahre hinweg Zugang zum Privatleben des kontroversen, exzentrischen Künstlers verschaffen durfte. Berühmt wurde der in Philadelphia aufgewachsene Crumb durch seine schrägen Comics und Illustrationen, mit denen er sich rasch eine wachsende Fangemeinde innerhalb des in der Flower-Power-Mentalität verankerten Anti-Establishments des San Franciscos der 60er aufbaute. Mit Figuren wie Fritz the Cat etablierte sich der Künstler zunächst vor allem als schräge Underground-Ikone, bevor seine Arbeiten nach und nach an Popularität gewannen, wodurch sich Crumb allerdings nie verbiegen oder dem Mainstream angleichen ließ. [...] Wie die meisten gelungenen Dokumentationen gibt Crumb keine simplen Antworten auf aufgeworfene Fragen, sondern lediglich neutrale Denkanstöße, mit denen sich der Zuschauer selbst einen Eindruck bilden darf. Zwigoff, der insgesamt neun Jahre an dem Werk arbeitete und währenddessen jahrelang unter so starken Rückenschmerzen litt, dass er aufgrund von suizidalen Tendenzen eine geladene Waffe unter seinem Kopfkissen aufbewahrte, dürfte irgendwann eine persönliche Obsession für den Protagonisten seiner Dokumentation entwickelt haben. Der Regisseur porträtiert Crumb als typischen Außenseiter, der in jungen Jahren als Schüler alleine in der Ecke stand und nicht verstehen konnte, wieso alle anderen Jungs außer er von Mädchen angehimmelt wurden, während seine heutige Ehefrau Aline betont, was für ein sensibler, liebevoller Familienvater hinter dem Künstler steht. Daneben beschäftigt sich Zwigoff jedoch auch umfassend mit Crumbs kontroverser Seite. Im Mittelpunkt stehen dabei die freizügigen Perversionen, expliziter Inzest und ein oftmals grobschlächtiges Frauenbild in dessen Arbeiten, das von Fans und Kritikern völlig unterschiedlich gedeutet und diskutiert wird, sowie Schilderungen von Ex-Partnerinnen, die von Crumbs kranken Fantasien und einem zwanghaften Masturbationsverhalten sprechen, nach dem sich der Künstler angeblich vier bis fünf Mal am Tag selbstbefriedigen würde. Am Ende ist es dem Regisseur hoch anzurechnen, dass er sämtliche Facetten des Künstlers gleichwertig zum Ausdruck bringt und den Zuschauer somit selbst darüber entscheiden lässt, wer Robert Crumb ist. Ein perverser Misogynist, der einen kommerziell erfolgreichen Weg gefunden hat, seinen verwerflichen Fantasien freien Lauf zu lassen, oder einer der intelligentesten, scharfsinnigsten Karikaturisten und Satiriker der vergangenen Jahrzehnte, der Amerika den Spiegel vorhält, in den es selbst nie zu blicken wagt? [...]

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                                    • 6

                                      Selten kommt es noch vor, dass ein Regisseur in der Produktion eines namhaften Studios wie 20th Century Fox seinem irrwitzigen Gestaltungswillen derart freien Lauf lässt wie Gore Verbinski in „A Cure for Wellness“. Mit der Geschichte des noch recht jungen, ehrgeizigen Wall-Street-Brokers Lockhart, der von seinen Vorgesetzten in ein Wellness-Center in den Schweizer Alpen geschickt wird, um einen verschollenen CEO des Finanzunternehmens zurück nach New York zu bringen, entfesselt Verbinski ein albtraumhaft verschlungenes Gruselmärchen, in dem die Hauptfigur langsam an den Rand des Wahnsinns gerät.
                                      Eigentlich sollte die Geschäftsreise von Lockhart nur von kurzer Dauer sein. Sein ursprünglicher Plan, dem CEO direkt nach seiner Ankunft ins Gewissen zu reden und mit ihm gemeinsam wenige Stunden später bereits die Rückreise anzutreten, fällt allerdings durch eine Verkettung ungünstiger Zufälle ins Wasser. Lockhart verpasst nicht nur knapp die Besuchszeit des Tages, sondern gerät auch noch in einen Autounfall, nach dem er mit einem gebrochenen Bein in einem Zimmer des Ressorts erwacht. Der Institutsleiter Dr. Volmer versichert dem unfreiwilligen Patienten, dass er in besten Händen sei und so lange bleiben soll, bis er wieder vollständig genesen ist.
                                      Lockhart, der von Beginn des Films an als eher misstrauischer, genervter Charakter porträtiert wird, wird fortan mit merkwürdigen Erlebnissen konfrontiert, die ihn nicht nur an seinem Verstand zweifeln lassen, sondern in höchste Skepsis über den vordergründig sauberen Ruf des Wellness-Centers versetzen. Mit wundervollen Bildkompositionen, unter denen selbst eine so banale Einstellung wie die eines Zugs, der in einen Tunnel fährt, als beachtliches Kunstwerk erstrahlt, inszeniert Verbinski den schaurigen Trip des Protagonisten mit altmodisch entschleunigtem Tempo, in das sich immer wieder exzellent verdichtete Einzelszenen einschleichen.
                                      Wenn der von Dane DeHaan mit überwiegend kühler Apathie gespielte Lockhart durch die nebelverhangenen Räume eines Dampfbads schreitet und die Kamera betont langsam durch die verwinkelten Gänge schwebt, bis die Hauptfigur plötzlich für kurze Zeit in einem verschlossenen Raum inmitten des labyrinthisch anmutenden Komplexes gefangen zu sein scheint, erweist sich „A Cure for Wellness“ in solchen Passagen als atmosphärisch fesselndes Spiel mit den Erfolgsbausteinen klassischen Horrors.
                                      Über die erste Stunde hinweg gestaltet der Regisseur das Drehbuch von Justin Haythe als Spurensuche durch sonderbare Mysterien, falsche Fährten, unheilvolle Traumsequenzen, grausige Illusionen und beklemmende Urängste. Verbinski rückt das eigentliche Handlungsgerüst, welches sich schon frühzeitig kaum noch von der Stelle bewegen will, zugunsten einzelner Impressionen in den Hintergrund und setzt auf eine möglichst audiovisuell betörende Odyssee eindringlicher Schreckensmomente.
                                      Besonders faszinierend ist dabei, wie aus den klinisch reinen Settings sowie der überwiegend malerischen Idylle des Schauplatzes regelmäßig der gestalterische Wahnsinn Verbinskis hervorbricht, wenn Körper von schleimigen Aalen umschlängelt oder Zähne durchbohrt werden. Mit einer Gesamtlänge von 146 Minuten stößt Verbinskis zunächst herrlich verschrobenes Gruselkabinett allerdings zu schnell an seine Grenzen.
                                      Der magere Plot erscheint zunehmend wie aus erzählerischen Déjà-vus zusammengekittet, bei denen man sich dem Eindruck nur noch schwer erwehren kann, alles schon einmal gesehen zu haben. Verbinskis markante Inszenierungswut wird dabei von dem verstärkt lückenhaften, aus redundanten Gruselsituationen sowie hanebüchenen Wendungen bestehenden Drehbuch immer stärker erdrückt. Der zähe Mittelteil, in dem die wenigstens nach wie vor schön anzusehende Geschichte nur so vor sich hin mäandert, wird immerhin noch von einem Abstecher in eine lokale Bar aufgewertet, in der Mia Goths gedankenverlorene Figur völlig in sich versunken zu tanzen beginnt.
                                      Im maximal absurden Finale, in dem der mythologische Unterbau sowie die rätselhafte Historie des Settings schließlich in einem morbiden Hochzeitsbankett kulminieren, das inzestuöse Absichten, prunkvollen Irrsinn und lodernde Flammen in sich vereint, zerfällt „A Cure for Wellness“ allerdings endgültig in alberne Einzelteile, die lediglich ganz am Ende noch ein gelungen ambivalentes Schlussbild offenbaren.

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                                      • 8 .5

                                        [...] In der ersten Hälfte wirkt Fellinis Film dadurch wie ein glorifizierendes Porträt der damaligen Schickeria Roms, in dem die Hauptfigur das Publikum wie ein bestens vernetzter Reiseführer dazu einlädt, ihn an die spektakulärsten Schauplätze zu begleiten. Mit fortschreitender Laufzeit beginnt der Regisseur allerdings, Marcellos Maske immer stärker bröckeln zu lassen. Was dahinter zum Vorschein kommt, entpuppt sich als bittere, deprimierende Abrechnung mit einem dekadenten Lebensstil, der den Protagonisten längst ausgehöhlt und mit einer großen inneren Leere gestraft hat, der dieser kaum noch zu entkommen vermag. Das süße Leben erzählt daher vorrangig davon, wie es ist, alles zu haben, wenn doch nichts davon von Bedeutung ist. [...] Auch wenn Fellinis Film in seiner losen, episodenhaften Struktur selbst ab einem gewissen Punkt droht, ebenfalls in oberflächlicher Redundanz zu verglühen, gelingt es dem Regisseur, das Gefühl von Überdruss und Exzess fortwährend umzukehren. So fängt Das süße Leben zwischen all dem lauten Getöse der Musik und den sinnlosen Konversationen, die irgendwann nur noch wie dumpfes Hintergrundrauschen am Zuschauer vorbeischwirren, auf bedrückende Weise das Gefühl ein, auf einer Party zu sein, während um einen herum plötzlich die Musik verstummt, die Lichter angehen und kein anderer Mensch mehr zu sehen ist. Wenn das letzte Champagnerglas geleert ist, die Reste auf den Tellern verkommen und in zuvor gut gelaunten, aufgekratzten Gesichtern nur noch zerknitterte Resignation zu erkennen ist. Fellini findet für diese gegensätzlichen Zustände, das Hochgefühl der schönsten Seiten des Lebens und den niederschmetternden Morgen danach, einige brillante Einzelszenen, in denen er beide Stimmungen miteinander verschmelzen lässt. In einer ikonischen Szene, die Filmgeschichte schrieb, folgt Hauptdarsteller Marcello Mastroianni (Die Nacht) der bildschönen Anita Ekberg (Krieg und Frieden) in einen Brunnen. Hier verstummt das Rauschen des Wasserfalls und scheint die ganze Welt für einen kurzen Moment stillzustehen, nachdem die Schauspielerin den Journalisten darauf hinweist, einfach nur zuzuhören. Zuhören wollen auch die Gäste auf einer Party von Marcellos Freund Steiner. Fasziniert lauschen sie seinen Aufnahmen von Gewitter und Vogelgezwitscher. Phänomene der Natur, denen sie im wirklichen Leben außerhalb ihrer gesellschaftlichen Rituale längst kein Gehör mehr schenken. Ebenso ernüchternd ist auch das Treffen zwischen Marcello und seinem Vater. Während die beiden über Stunden Zeit miteinander verbringen und ein gutes, inniges Verhältnis andeuten, offenbart Marcello einem Freund später, dass sein Vater früher oftmals auf Reisen war und er eigentlich gar nicht wisse, was dieser für ein Mensch sei. Wie in einem goldenen Käfig, aus dessen Gitterstäben sich der Protagonist nicht einmal nach tragischen Schicksalsschlägen befreien kann, beschließt der Regisseur sein Werk am Ende mit einem gleichermaßen ambivalenten wie ernüchternden Schlussmoment, an dem das Rauschen, das Marcellos Sicht der Dinge zuvor schon mehrfach trübte, noch ein letztes Mal alles übertönt, was diesmal vielleicht wirklich von Bedeutung sein könnte. [...]

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                                        • 4 .5

                                          Eindrücke eines Nicht-Buchkenners
                                          Von vielen seiner Fans wird Stephen Kings acht Bände umfassender Romanzyklus „The Dark Tower“ gerne als dessen Opus magnum angepriesen. Nach Jahren der Ankündigung einer Verfilmung, verschiedensten Berichten über Streitigkeiten bei der Post-Produktion zwischen Regisseur und Studio, katastrophalen Testscreenings, Nachdrehs und letztendlicher Verwirrung darüber, wie viel der Film überhaupt noch mit den Büchern gemeinsam hat, macht Nikolaj Arcels Werk alles andere als den Eindruck eines Opus magnum.
                                          Im Gegensatz zu den meisten modernen Blockbustern wie beispielsweise die Filme aus der Marvel-Schmiede, in denen durch ständige Querverweise, handlungsübergreifende Verknüpfungen und zahlreiche offene Hintertüren unbedingt Wert auf Franchisetauglichkeit gelegt wird, geht „The Dark Tower“ nahezu den umgekehrten Weg. Mit 95 Minuten Laufzeit ist der Streifen, gerade mit Blick auf das gewaltige Ausgangsmaterial, ungewöhnlich kurz, doch gerade dieses vollkommen rastlose Konzept ist es, das aus Arcels Film ein Epos macht, welches jeglicher Epik durch oberflächliche Komprimierung aus dem Weg geht.
                                          Mithilfe einer knappen Texteinblendung wird der Zuschauer in einen fantasievollen Kosmos geworfen, dessen Hintergründe auffällig vage und unentwickelt bleiben. Hauptfigur ist der 11-jährige Jake, der seit dem Tod seines Vaters unentwegt von Träumen heimgesucht wird, in denen er einen dunklen Turm, einen Revolverhelden und einen Mann in Schwarz sieht, der den dunklen Turm zerstören will. Während seine Mutter und sein Stiefvater dafür sorgen wollen, dass Jake umfassende psychiatrische Betreuung erhält, stößt der Junge nach der Flucht vor als Menschen getarnten Handlangern des Manns in Schwarz mitten in New York tatsächlich auf ein Portal, das ihn zu Roland, dem Revolverhelden aus seinen Träumen, führt.
                                          Was genau der dunkle Turm überhaupt ist, warum der Mann in Schwarz, der in Wirklichkeit Walter heißt, ihn zerstören und Dunkelheit über die verschiedenen Welten bringen will und wieso sich Roland von Anfang an bedingungslos für den Schutz des Turms einsetzt, wird im Film selbst entweder durch simpelste Erklärungen nebenbei abgehandelt oder offengelassen. „The Dark Tower“ entpuppt sich als furchtbar abgehaktes Werk, in dem Ansätze einer faszinierenden Mythologie in vielen Szenen durchscheinen, aber nie ein stimmiges Gesamtbild formen dürfen. Arcel und seine drei zusätzlichen Drehbuchautoren vermischen Young-Adult-Elemente, Fantasy-Motive, actionreiche Schusswechsel und äußerst knapp beleuchtete, schlicht gezeichnete Figuren zu einem glatten Blockbuster-Spektakel, das ergreifende Düsternis mit seichtem Humor abfedert und mitreißende Mythen unter dem gehetzten Abhandeln vorhersehbarer Plotentwicklungen begräbt.
                                          „The Dark Tower“ ist somit viel mehr ein Film der interessanten, teilweise geglückten Einzelmomente, die auf etwas Größeres hinweisen, das nie in Erscheinung tritt. Matthew McConaughey, der sich als Mann in Schwarz mit einem extrem eindimensionalen Bösewicht zufriedengeben muss, füllt die Rolle mit seiner mittlerweile unverwechselbaren Präsenz aus und gibt den Magier als finsteren Todesbringer, der ganze Leben mit nur zwei eiskalt gehauchten Worten auslöschen kann. Idris Elba darf dagegen erst im Finale mit physischer Intensität glänzen, wenn er seinem Titel als Revolverheld alle Ehre macht und ein Kugelinferno entfacht, das ebenso wuchtig wie präzise in Szene gesetzt ist. Am reizvollsten sind jedoch die kleinen Details am Wegesrand der lieblos erzählten Reise, die sich gelegentlich in den Vordergrund drängen, denen man länger Beachtung schenken möchte, bis sie viel zu schnell wieder verdrängt werden.

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                                          • 7

                                            Auf den ersten Blick erscheint Michael Lehmanns „Heathers“ wie ein gewöhnlicher High-School-Film, der sich mit seinen warmen Farben und der harmonischen Musikuntermalung formal nahtlos in den Kanon von 80er Jahre Genrevertretern wie „The Breakfast Club“ oder „Ferris Bueller’s Day Off“ einreiht. Zwischen hochnäsigen Mädels-Cliquen, ausgestoßenen Übergewichtigen, abgedrehten Nerds und geheimnisvollen Außenseitern verbirgt sich in diesem Film allerdings ein boshafter Kern, der die seichte Oberfläche wie einen saftigen Apfel wirken lässt, durch dessen verrottetes Inneres sich bereits ein Wurm frisst.
                                            Veronica ist Teil einer dieser Mädels-Cliquen, die aus drei weiteren ihrer Freundinnen besteht, welche allesamt den gleichen Vornamen Heather tragen. Der Name dient nicht nur als griffiges Erkennungsmerkmal, indem die Clique von Außenstehenden nur als Heathers bezeichnet wird, sondern ist ebenfalls eine bissige Charakterisierung von Drehbuchautor Daniel Waters. So besitzen die Mädchen nicht nur den gleichen Vornamen, sondern wirken von ihrem Auftreten her ebenfalls absolut identisch, wodurch Waters die scheinbar gleichförmigen, austauschbaren Persönlichkeiten dieser Figuren bereits eingangs markant unterstreicht.
                                            Neben den überaus bösen Scherzen der Heathers, die jeden herablassend zum Spielball degradieren, der nicht in ihr vorgefertigtes Muster passt, entpuppt sich Veronica jedoch recht bald selbst als eine Art Außenseiterin innerhalb der Clique, die lediglich vorgibt, so zu sein wie die anderen, obwohl sie vom Verhalten der Gruppe oftmals sichtlich abweichen möchte. Erst als sie den rebellischen J.D. kennenlernt, der beispielsweise mitten in der Schulcafeteria eine mit Platzpatronen bestückte Pistole abfeuert, um freche Mitschüler einzuschüchtern, schlägt Veronicas Leben nach und nach eine neue Richtung ein, die ungeahnte Konsequenzen sowie einige Tote mit sich bringt.
                                            Lehmann gelingt es mit seinem Film nicht nur vortrefflich, die Mentalität sowie den zwanghaften Zugehörigkeitsdrang jugendlicher Menschen satirisch überspitzt einzufangen und in wunderbar nachvollziehbare Einzelporträts einzugießen, sondern darüber hinaus das konventionelle Bild typisch amerikanischer Schulen in ein dunkles Schlachtfeld zu verwandeln, auf dem Mord, Depressionen und Zukunftsängste herrschen. Als Glanzstück erweist sich hierbei Waters‘ Drehbuch, das neben einigen großartigen Dialogen, die geradezu zitierwürdig sind („Well, fuck me gently with a chainsaw. Do I look like Mother Teresa?“), stets die Balance zwischen überzeichneten Momenten und ernsthafter Tragik aufrechterhält.
                                            Als Suizid getarnte Morde, die aufgrund der Berichterstattung eine regelrechte Popularitätswelle entfachen und Nachahmer inspirieren, oder Anrufe bei einer Radio-Hotline, die in verzweifelter Selbstoffenbarung enden, werden durch die konsequente Bewahrung einer jugendlichen Perspektive somit stets zu einer Manifestierung adoleszenter Sorgen und Nöte, die Lehmann und Waters wahlweise mit einfühlsamen Zwischentönen oder aber mithilfe von zähnefletschenden Dämonen in der Gestalt eines schelmisch grinsenden Christian Slater heraufbeschwören.

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                                            • 2

                                              „This film should be played loud… as hell“ wird zu Beginn von Matt Stuertzs Film „Tonight She Comes“ eingeblendet. Es ist ein Hinweis, den der Regisseur sicherlich zu dem Zweck erdacht hat, die atmosphärische Wirkung des Streifens noch zu intensivieren. Tatsächlich sollte man die Einblendung nicht nur als Hinweis, sondern als unbedingte Pflicht wahrnehmen, denn der Score von Wojciech Golczweski, der wieder einmal auf penetrante Weise vertraute Synthie-Klangmuster aus Horrorfilmen der 80er nachstellt, stellt neben kompletter Stummschaltung die einzige Möglichkeit dar, den kläglichen Rest dieses Films übertönen zu können.
                                              Für seine unabhängig finanzierte, sichtbar niedrig budgetierte Produktion zitiert sich Stuertz ausgiebig durch verschiedenste Genre-Vorbilder der vergangenen Jahrzehnte, ohne auch nur ansatzweise ein Gespür für eigenständigen Horror oder wirkungsvolle Schockmomente vorzuweisen. In der Geschichte des Films werden zwei Freundinnen, die wiederum eine andere Freundin suchen, und zwei Kumpels, die sich eher zufällig in die Nähe der beiden Frauen verirren, um eine Hütte im Wald versammelt, wobei sich die Wege der Figuren schon bald kreuzen. Als sich die verschollene Freundin wenig später nackt und blutüberströmt auf die Hütte zubewegt, dauert es nicht lange, bis die Figuren allesamt um ihr Leben kämpfen müssen.
                                              Mit Schauspielern, die auftreten, als würden sie bei einer albernen Parodie mitwirken, Dialogen, die einen aufgrund ihrer plumpen Komik immer wieder aus dem ernstgemeinten Szenario reißen und einer Inszenierung, die sich oftmals auf dem Niveau eines dürftigen Amateurfilms bewegt, ist „Tonight She Comes“ kaum mehr als der feuchte Traum eines übermotivierten Horrorfilm-Fans, der sich ohne wirkliches Talent am Abkupfern altbewährter Genre-Motive versucht. Auch wenn Stuertz vermutlich gerne der neue Eli Roth des Indie-Horrors wäre, war er sich im Arbeitsprozess wohl selbst nie sicher, inwieweit sein Film schon von vornherein parodistische Züge aufweisen sollte und was sich erst im Nachhinein zu einem unfreiwillig komischen Chaos entwickelte.
                                              Am stärksten tritt dieser Zwiespalt im ausgedehnten Schlussakt zum Vorschein. Nachdem der Regisseur die verbliebenen Figuren nach zwei katastrophalen Dritteln des Films in der Hütte verschanzt, wo die überforderten, wenig intelligenten Zivilisten auf ungepflegte, impulsive Hinterwäldler prallen, setzt Stuertz zum von Pseudoprovokationen gespickten Finale an. Wenn für ein exorzistisches Ritual plötzlich literweise Blut vergossen wird, indem Arme aufgeschnitten und mit Panzertape wieder zugeklebt werden, ein benutzter Tampon herausgezogen und ausgewrungen wird und eine der Frauen im Eiltempo noch ihre Jungfräulichkeit verlieren muss, verkommt „Tonight She Comes“ endgültig zur absurden Groteske. Das mutet immerhin in kurzen Momenten der überzogenen Zeremonie kurzzeitig wie amüsanter Quatsch an, bis die grimmigen, bemühten Schlussminuten den Streifen doch wieder in kompletter Belanglosigkeit versinken lassen.

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                                              • 7

                                                [...] Manche Filme beherbergen Geschichten, die weit über den eigentlichen Inhalt des Werks hinausragen. The Evil Within von Andrew Getty ist so ein Film, bei dem es erstaunlich ist, dass er überhaupt noch in einer fertigen Fassung veröffentlicht wurde. [...] Die im Jahr 2002 gestartete Produktion geriet zum Desaster, das sich über viele Jahre in die Länge zog. Getty finanzierte den Film komplett selbst und steuerte das ungefähr vier bis sechs Millionen Dollar hohe Budget aus eigenem Vermögen bei, wobei die Dreharbeiten überwiegend in der Villa stattfanden, die den Wohnsitz des Regisseurs darstellte. Getty, der über die Jahre hinweg zusätzlich von Crystal Meth abhängig wurde, entwickelte sich irgendwann zu einem Besessenen, der Schauspieler während der Dreharbeiten wiederholt austauschte, aufwendige Animatronics und spezielle Kamera-Rigs bauen ließ und sich trotzdem nie von seiner ganz persönlichen Vision lösen konnte, die er bis zuletzt mit perfektionistischem Eifer realisieren wollte. Nachdem Getty insgesamt 13 Jahre an dem Film gearbeitet hatte, starb er 2015 plötzlich an den Folgen seines jahrelangen Drogenkonsums, während der Schnitt des Films immer noch nicht fertig war. Michael Luceri (The Astronaut's Wife), der an Produktion und Schnitt beteiligt war, gelang es dann aber doch, das nötige Budget für die Fertigstellung aufzutreiben. So konnte Gettys Vision, die ursprünglich den Titel The Storyteller trug, als The Evil Within nach insgesamt 15 Jahren doch noch veröffentlicht werden, wenn auch in einer von Luceri angefertigten Version, die vermutlich niemals den finalen Vorstellungen des Regisseurs entsprechen konnte. Das nun vorliegende Resultat ist ein Horrorfilm, wie man ihn heutzutage nur noch selten zu sehen bekommt. Ein zutiefst zwiegespaltenes Werk, das den Größenwahn und das unbestreitbare Talent von Getty ebenso enthält wie grobe Züge des Scheiterns. So schwingt sich The Evil Within zu einer ungemein faszinierenden Seherfahrung auf, die oftmals pure Genialität durchblitzen lässt, um sich nichtsdestotrotz gelegentlich in dilettantischen Ausreißern zu verlaufen. [...] Diesen quälenden Zustand, in einer Art Zwischenwelt gefangen zu sein, fasst der Regisseur auf verstörende Weise in kraftvolle Impressionen, die in ihren stärksten Momenten an die beklemmendsten Leinwandalbträume von David Lynch (Lost Highway) erinnern. Ähnlich wie der Meister des dunklen Surrealismus konzentriert sich Getty ebenfalls nicht nur auf einzelne wirkungsvolle Momente, sondern auf eine übergreifende Atmosphäre des permanenten Unwohlseins, die das Gefühl, nicht zu wissen, ob man gerade träumt oder wach ist, beängstigend vermittelt. [...] Eingeschrieben ist den jeweiligen Szenen dabei stets die geradezu manische Psyche von Getty, deren Verfall sich mit dem Verstreichen jeder einzelnen Minute dieses Films nachempfinden lässt. Die beängstigende Schizophrenie, von der der Protagonist scheinbar befallen wird, ist sicherlich auch Ausdruck von Gettys tief verwurzelten Kindheitstraumata sowie den verheerenden Auswirkungen seiner Drogensucht, die durch sämtliche Räume und Winkel des Schauplatzes zu hallen scheinen. [...]

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                                                • 6 .5
                                                  über Domino

                                                  Genauso wie der furios rebellische Auftakt, mit dem Tony Scott den Zuschauer in ein gnadenloses, farbübersättigtes, hyperaktives Schnittinferno katapultiert, in dem Gegenwart und Vergangenheit, konkrete Wahrheit und unzuverlässige Erinnerung fiebrig ineinanderfließen, lässt sich „Domino“ schlichtweg keinen standfesten Genre-Bezeichnungen zuordnen. Dass der Regisseur hier auf Grundlage eines Drehbuchs von Richard Kelly die wahre Lebensgeschichte der titelgebenden Kopfgeldjägerin Domino Harvey nacherzählen will, ist mehr Behauptung als Tatsache, wenn hinter dem altbekannten „Based on a true Story“ am Anfang des Films direkt ein „Sort of“ nachgeschoben wird.
                                                  Scott inszeniert mit diesem Film kein faktentreues Biopic, sondern eine mit wahren Ankerpunkten gespickte Überhöhung der Realität, eine Mythologisierung von Domino Harveys Leben im puren Rausch des Moments. Die Zeilen aus Kellys Drehbuch formt er zu Bildern, die sich in einer unentwegten Vorwärtsbewegung gegenseitig zu jagen scheinen, während sie vom Regisseur im ständigen Wechsel beschleunigt, verfremdet, eingefroren, zurückgespult oder mit pulsierenden Rhythmen und grellen Beats unterfüttert werden. „Domino“ wird hierdurch zu einem Werk, in dem die Form nicht nur über den Inhalt herrscht, sondern an die Mentalität der Hauptfigur angeglichen wird.
                                                  Scotts sperrig-flirrende Impressionen, die im Rahmen eines namhaft besetzten, kommerziell ausgerichteten Mainstream-Actionfilms von der ersten Sekunde ihres Erscheinens an wie ein radikaler Fremdkörper wirken, werden zum Sinnbild für Domino Harvey. Eine frühe Außenseiterin der Gesellschaft, die trotz ihrer Modelmaße und einem wohlhabenden, aber zerrütteten Elternhaus nach einem Weg sucht, Anerkennung zu bekommen und als Symbolgestalt im kollektiven Gedächtnis zu enden. Hintergründe über Dominos Vergangenheit und Herkunft präsentiert der Regisseur in frenetisch zerstückelten Fragmenten, die nie ein befriedigendes Porträt ergeben, sondern viel mehr Spuren einer brüchigen Psyche formen, der sich Scott handwerklich verschreibt und die Hauptdarstellerin Keira Knightley ungeahnte Freiheiten zuspricht, die die Schauspielerin in einer ihrer besten Performances auch zu nutzen weiß.
                                                  Im Mittelteil verirrt sich Kellys Drehbuch bedauerlicherweise durch unnötige Verstrickungen in den Konventionen eines herkömmlichen Action-Thriller-Plots verirrt, wodurch „Domino“ kurzfristig in einen argen Konflikt mit der eigenen Form gerät, die sich ständig von dem eigentlichen narrativen Gerüst losreißt. Dieser frustrierenden Entgleisung wirkt der Regisseur entgegen, indem er mit experimentellem Eifer weiterhin dafür kämpft, dass Domino nicht in Vergessenheit gerät. Den wiederholten Gang auf einem schmalen Grat zwischen Leben und Tod, den die Kopfgeldjägerin mehrfach durch einen Münzwurf zum Ausdruck bringt, manifestiert Scott in einem wüsten, fast schon surrealen Schlussakt, der Todessehnsucht und Überlebenswille in einem gegenseitigen Kampf verschmelzt.
                                                  So erhält „Domino“ ausgerechnet in der Retrospektive, bei der sich der Suizid des Regisseurs nur schwer ausblenden lässt, zunehmend eine morbide Dimension, bei der sich das tragische Schicksal von Tony Scott nun mehr kaum noch von den Bildern dieses Films abzulösen vermag.

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                                                    [...] Mit rabenschwarzem Humor und wirklich gelungenen Schauspielleistungen der beiden Kinderdarsteller treibt Rodriguez das fiese Szenario immer weiter auf die Spitze, bis das Hotelzimmer schlussendlich in lodernden Flammen aufgeht und Four Rooms bezeichnenderweise jenes Feuer verleiht, das die beiden Episoden davor so sehr vermissen ließen. Von Tarantino wird der Film zuletzt zu einem krönenden Abschluss geführt. Seine Episode Der Mann aus Hollywood glänzt als Hommage an das Kino von Alfred Hitchcock (Cocktail für eine Leiche), indem der Regisseur einen Großteil in einer einzigen, mit großartigen Kamerafahrten versehenen, Plansequenz inszeniert, während die eigentliche Geschichte um einen hitzigen Hollywood-Schauspieler und dessen Gefolgschaft als brillantes Kammerspiel von Tarantino-typischen Dialogen mit der Dichte eines Maschinengewehrfeuers vorangepeitscht wird. Durch seinen markanten Stil entwickelt sich Der Mann aus Hollywood zu einer fantastischen Mischung aus böser Groteske und dialoglastig-hyperaktivem Thriller, wobei Tarantino selbst nicht nur äußerst passend als Hauptdarsteller auftritt, sondern zusätzlich mit einem Ende verblüfft, das einen ebenso bösen wie abrupten Schlussstrich unter einen durchwachsenen, nur zur Hälfte sehenswerten Episodenfilm zieht. [...] Abgesehen von den ersten beiden Episoden, die man eigentlich direkt überspringen könnte, und dem höchst gewöhnungsbedürftigen Overacting von Hauptdarsteller Tim Roth ist „Four Rooms“ aufgrund der letzten beiden Episoden von Robert Rodriguez und Quentin Tarantino gerade noch empfehlenswert. [...]

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