Patrick Reinbott - Kommentare
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Alle Kommentare von Patrick Reinbott
[...] In seinem Film Der die Zeichen liest, der auf dem Theaterstück Märtyrer des deutschen Autors und Dramaturgen Marius von Mayenburg basiert, widmet sich der russische Regisseur Kirill Serebrennikov (Betrayal) explizit dem Aspekt der Religion, um eine flammende Anklage gegen blinden Fundamentalismus sowie dessen Auswirkungen in Zusammenhang mit liberalen Vertretern der Gesellschaft zu inszenieren. [...] Die angespannten Vorfälle häufen sich im weiteren Verlauf von Serebrennikovs Film, wenn Benjamin den Biologieunterricht aufwirbelt, indem er sich nackt auszieht und das Überstreifen von Kondomen lieber an sich selbst anstatt an Möhren demonstrieren will. Auch während der Unterrichtung der Evolutionstheorie der gleichen Lehrerin, die Atheistin und Jüdin ist und somit eine deutliche Zielscheibe für Benjamins Angriffe bildet, rebelliert er im Affenkostüm, um sich gegen eine Weltanschauung zu stemmen, die der Schöpfungsgeschichte aus der Bibel widerspricht, nach der Gott die Erde angeblich in sechs Tagen erschaffen hat. Die ansteigende Orientierungs- sowie Machtlosigkeit, die Benjamin durch sein Verhalten erzeugt, wird zum Zentrum von Der die Zeichen liest. Das Bühnenhafte der Vorlage betont Serebrennikov außerdem durch zahlreiche Plansequenzen, mit denen er die Konfrontationen zwischen seinem Protagonisten und den ratlosen bis überforderten Figuren um ihn herum ohne erleichternde Schnitte in auslaugenden Sequenzen förmlich auskostet. Dass der Regisseur mit seiner gleichermaßen offensiven wie ungestümen Abrechnung mit der Ohnmacht von Benjamins Umfeld nichts als verbrannte Erde hinterlassen will, ist zugleich das große Manko dieses Films, der repetitiv um die eigenen Motive kreist, ohne einen tieferen Zugang zu ermöglichen. Die Sequenzen, in denen Benjamin wie ein besessener Prediger Bibelzitate äußert, Lehrer erst gegen sich aufbringt und diese schließlich aufgrund der religiösen Herkunft auf seine Seite zieht und für seine Ansichten gewinnt, wiederholen sich, während der Regisseur den Jugendlichen kontinuierlich zu einem unaufhaltsamen Übel stilisiert, das Zitate wahllos aus ihrem Kontext reißt, um sich eine eigene, unwiderlegbare Ideologie zu erschaffen, die unreflektierte Anhänger christlicher Werte konsequenterweise vor den Kopf stößt. [...]
Christians Leben wird von Kunst durchdrungen. Als Kurator eines Museums für zeitgenössische Kunst in Schweden ist es seine Aufgabe, den Puls der Zeit im Auge zu behalten. Ständig muss er dafür sorgen, einem speziellen Publikum etwas zu präsentieren, das die elitären Kunstliebhaber und extravaganten Museumsbesucher zufriedenstellt. Wie blind Christian allerdings wirklich für das ist, was seinen Alltag bestimmt, zeigt Regisseur Ruben Östlund in seinem Film „The Square“ in einer frühen Szene. Als Christian mitten in der Öffentlichkeit eine junge Frau zusammen mit einem fremden Mann vor einem wütenden Angreifer beschützt, merkt er erst anschließend, dass ihm sein Handy, sein Geldbeutel und die Manschettenknöpfe seines stilvoll geschneiderten Maßanzugs gestohlen wurden. Ein raffinierter Trickbetrug, der gewissermaßen als geschickte Kunstperformance an Christian vollzogen wurde, während dieser von nun an damit beschäftigt ist, Konsequenzen aus diesem Ereignis zu ziehen.
Mit dieser Passage, die sich schematisch in die Geschichte einfügt, verdeutlicht der Regisseur das zentrale Dilemma, von dem der Kurator im weiteren Verlauf der Handlung wieder und wieder befallen wird. Mithilfe seines Protagonisten entwirft Östlund in „The Square“ sowohl eine Satire auf den prätentiösen, selbstverliebten Kunstbetrieb als auch ein zwischen genüsslichem Irrwitz und unbequemen Wahrheiten pendelndes Gesellschaftsporträt, in dem die Kluft zwischen verschiedenen sozialen Schichten sowie Geschlechtern immer wieder Abgründe aufreißt.
Als neueste Attraktion für das Museum konnte Christian die Kunstinstallation „The Square“ gewinnen, die lediglich aus einem vier mal vier Meter langen Quadrat besteht, das von LED-Lichtern umzäunt wird. Die beigefügte Beschreibung der Künstlerin erklärt dieses Quadrat als einen öffentlichen Zufluchtsort, an dem Vertrauen und Fürsorge herrschen und an dem alle die gleichen Rechte und Pflichten haben. „The Square“, die Kunstinstallation, soll somit den Wert menschlicher Interaktion verdeutlichen und einen Appell an das gegenseitige Vertrauen zueinander darstellen. „The Square“, Östlunds Film, verdreht diese Moralvorstellung von einer empathischen, aufmerksamen sowie selbstlosen Gesellschaft hingegen ins Gegenteil.
Die bösen Überraschungen, unangenehmen Verstrickungen oder verheerenden Auswirkungen muss besonders Protagonist Christian deswegen regelmäßig durchleiden, weil es ihm an nötigem Feingefühl sowie grundsätzlichem Verständnis für menschliche Befindlichkeiten außerhalb seiner kleinen Welt fehlt. In dieser scheint er sich souverän zu bewegen, ohne über den eigenen Zaun zu blicken, den er gegen Ende des Films in einer bestimmten Szene daher buchstäblich und umso schmerzhafter überkommen muss. Trotz der bissigen Spitzen, die der Regisseur dabei ebenso gegen das hochnäsige, doppelmoralische Kunstgewerbe verteilt wie er durch die Figur des Kurators in manchen Momenten auf narzisstische Maskulinität und feige Egozentrik blickt, verkommt „The Square“ kaum zur rein herablassenden Nabelschau eines Milieus, in dem der Regisseur selbst am stärksten gefeiert und mit Preisen ausgezeichnet wird.
Ähnlich wie in seinem vorherigen großartigen Film „Force Majeure“, in dem Östlund moderne Geschlechterrollenbilder vorführte und dekonstruierte, um vor allem die Selbstwahrnehmung des Mannes als dominantes Alphatier der urkomischen Lächerlichkeit preiszugeben, inszeniert der Regisseur auch in „The Square“ vielmehr lose Einzelszenen, die wie eigenständige Episoden Dilemmata, Konflikte und Zwiespälte formulieren, um den Betrachter selbst über die jeweiligen Reaktionen und Verhaltensweisen der Figuren urteilen zu lassen.
Auch wenn der Fokus des Regisseurs durch diesen Ansatz gelegentlich zerstreut erscheint, wenn Östlund ein Thema anreißt und in der nächsten Szene direkt zu einem weiteren Thema springt, gelingen ihm nicht nur glänzend inszenierte Momente und Passagen, sondern darüber hinaus ein hinreißender Spagat zwischen giftiger Abneigung, präziser Schärfe, irritierter Beklommenheit und unterhaltsamer Ratlosigkeit.
So ist der nach einem One-Night-Stand zwischen Christian und der amerikanischen Journalistin Anne entbrennende Streit um das Entsorgen des benutzten Kondoms nur der Auftakt für ein toxisches Machtspiel, an dessen Ende wieder einmal peinliche Funkstille die Kommunikation überschattet. Auch Christians Plan, durch wahllos gestreute Drohbriefe Druck auf die Trickbetrüger auszuüben, geht ebenso nach hinten los wie der Versuch der extern beauftragten Werbeagentur, „The Square“ mit einem provokanten Videoclip zu promoten, was in einem der besten Gags des Films mündet. Den Höhepunkt stellt aber sicherlich eine Passage dar, in der ein Fundraising-Dinner in Kombination mit einer Kunstperformance völlig aus dem Ruder läuft.
Wenn sich ein Performance-Artist als menschlicher Gorilla unter die Gäste mischt, der unter keinen Umständen mit seiner Rolle bricht und neben körperlichem Terror plötzlich sogar die Vergewaltigung einer Frau in Betracht zieht, eskaliert „The Square“ speziell in dieser Szene auf eine Weise, welche die übergreifende Stimmung des Werks zwischen amüsanter Belustigung, treffsicherer Bloßstellung und schließlich ungemütlicher Betroffenheit mit intensiver Perfektion widerspiegelt.
“Let the past die. Kill it, if you have to. That’s the only way to become what you are meant to be.”
Dieses Zitat, das Rian Johnson dem ein weiteres Mal mit faszinierender Zerrissenheit von Adam Driver verkörperten Kylo Ren in den Mund legt, dient nicht nur als begleitendes Element einer der emotional mitreißendsten Szenen von „Star Wars: The Last Jedi“. Ebenso beschreibt es auf treffende Weise den Charakter sowie die zentralen Ambitionen dieses Mittelteils einer neuen „Star Wars“-Trilogie, die vor zwei Jahren von J. J. Abrams mit „Star Wars: The Force Awakens“ begonnen wurde. Mit überdeutlichem Fan-Service, durch den sich die siebte Episode des von George Lucas im Jahr 1977 erstmals zum Leben erweckten und bis heute weltweit verehrten Universums zeitweise wie ein Remake von „Star Wars - Episode IV: A New Hope“ anfühlte, gelang es Abrams nichtsdestotrotz, liebgewonnene Markenzeichen, wohlige Nostalgie, frische Figuren, Vertreter der alten Garde und epische Schauwerte mit wuchtiger Action und gefühlvollen Zwischentönen in ein rundes Seherlebnis zu verwandeln.
Mit Johnson wurde für Episode 8 schließlich ein Regisseur verpflichtet, den man aufgrund von Filmen wie „Brick“ oder „Looper“ durchaus als eigenwilligen Autorenfilmer bezeichnen kann. Dass Disney, die Lucasfilm im Jahr 2012 für vier Milliarden Dollar kauften und „Star Wars“ wenig überraschend zu einem umfangreichen Franchise mit mehreren Spin-offs und ähnlichen Ablegern ausbauen wollen, einem kreativen Filmemacher wie Johnson die komplette Kontrolle über den Inhalt von „Star Wars: The Last Jedi“ einräumen würden, dürfte vermutlich niemand vermutet haben. Tatsächlich ist der Regisseur aber zugleich als alleiniger Drehbuchautor des Films aufgeführt und soll Berichten zufolge erstaunlich viel Freiraum erhalten haben, um die Figuren und Randnotizen aus Abrams‘ Vorgänger weiterzuführen.
Nach der letzten Einstellung aus Episode 7, die Rey zeigte, wie sie den sichtlich gealterten Luke Skywalker auf einer einsamen Insel auftreiben konnte, knüpft Johnson in einem zentralen Handlungsstrang unmittelbar an Abrams‘ eindringliches Schlussbild an. Reys Anliegen, von dem wohl berüchtigsten noch lebenden und seit Jahrzehnten untergetauchten Jedi im Umgang mit der Macht geschult zu werden, während sich Kylo Ren gleichzeitig weiterhin auf einem Rachefeldzug gegen Luke befindet, kulminiert über den Verlauf von Johnsons Vision zum pulsierenden Herzstück von Episode 8.
Für die Beziehung zwischen Rey, Luke und Kylo Ren wagt sich der Regisseur über simpel gezeichnete Gut/Böse-Schemata gewöhnlicher Blockbuster hinaus und widmet sich im Kontext des bisherigen „Star Wars“-Franchises auf vielschichtige Weise mit dem mythologischen Ursprung der Macht. Speziell im Umgang mit ikonischen Figuren wie Luke Skywalker scheint Johnson genau zu wissen, was die Fans sehen wollen. Mark Hamill, der im Gegensatz zu seinem nur wenige Sekunden langen Auftritt aus dem Vorgänger zur Schlüsselfigur in Episode 8 mutiert, verkommt unter Johnsons Regie trotzdem keinesfalls zur reinen Projektionsfläche für nostalgische Gefühlsanflüge. Mithilfe von Hamill, der souverän zwischen kauziger Einsiedler-Abgeschiedenheit, zweifelnder Mentoren-Funktion und düsterem Pessimismus agiert und nur für einige unpassende Gags herhalten muss, kreiert der Regisseur vielmehr eine ebenso sinnstiftende wie fesselnde Auseinandersetzung über die Bedeutung von (v)erklärten Mythen, wie schwer Vorherbestimmung und Schicksal wirklich wiegen und wie Hoffnung aus dem Neuen entstehen kann, sobald es sich über das Alte erhebt.
„Star Wars: The Last Jedi“ entwickelt sich hierdurch vor allem im Vergleich mit „Star Wars: The Force Awakens“ zu einem Film über das Loslassen. Zu einem Versuch, sich über die festgesetzten Traditionen zu erheben und auf inhaltlicher Ebene innerhalb des Films sowie auf der Meta-Ebene aus den Grundfesten des Altbekannten mithilfe dringend benötigter Schritte hartnäckige Hindernisse zu überkommen und sich wie ein Phönix aus der Asche zu erheben.
Ähnlich wie Rey, die im zunehmend hin- und hergerissenen Verhältnis zwischen Luke und Kylo Ren feststellen muss, wie schmal der Grat zwischen einer eindeutigen Seite der Macht, zwischen Licht und Schatten, verläuft, stößt auch Johnson selbst in diesem Film an seine Grenzen.
Neben dem zentralen Handlungsstrang rund um Luke, Rey und Kylo Ren, der zum Besten zählt, was das „Star Wars“-Universum bislang an Geschichten aufzubieten hatte, fühlt sich Episode 8 frühzeitig an, als würde man sich zwei verschiedene Filme ansehen, die ineinander geschnitten wurden. Wenn Johnson den Kampf zwischen dem von Leia angeführten Widerstand gegen den Ersten Orden von Anfang seines Films an fortsetzt, entwickelt sich dieser parallele Handlungsstrang, in dem der ehemalige Sturmtruppler Finn zusätzlich gemeinsam mit der Technikerin Rose zu einer Mission aufbricht, um einen Codeknacker aufzuspüren, zu traditionellem „Star Wars“-Eskapismus ohne inhaltlichen Gegenwert für das Gesamtbild.
Als würde er die wichtigsten Punkte von einer risikoarmen Checkliste abhaken, auf der sich klassische Impulse der alten „Star Wars“-Teile befinden, die vom rasanten Abenteuer-Spektakel über skurrile, eigenartige Science-Fiction-Wesen bis hin zu lockerem Humor reichen, verliert „Star Wars: The Last Jedi“ in vielen Szenen, in denen der Konflikt zwischen Rey, Luke und Kylo Ren in den Hintergrund gerät, stark an dramaturgischem Gewicht und emotionaler Wirkung. Auch der auffällige Humor, der sich vor allem durch die erste Hälfte des Films wie ein roter Faden zieht, erweist sich des Öfteren als Störfaktor, der ernste Momente in überraschend alberner Komik auflöst und ohnehin misslungene Figuren wie den von Domhnall Gleeson gespielten General Hucks des Ersten Ordens endgültig zur irritierenden Witzfigur degradiert.
Erst im Finale, wenn die einzelnen Handlungsstränge endlich stimmig zusammenlaufen, findet diese achte Episode noch zu einem Ausmaß an Emotionen und wuchtiger Epik, die der holprige und gleichermaßen von einigen hervorragenden Überraschungen gespickte Handlungsverlauf nicht unbedingt erahnen ließ. Johnson, der seinen Film ohnehin regelmäßig mit visuellen Höhepunkten veredelt, die Abrams‘ Arbeit am Vorgänger deutlich übertreffen, kreiert auf der Zielgeraden Bilder, die jeden Anhänger der „Star Wars“-Saga, ob alt oder neu, innehalten lassen dürften. Wenn sich die Blicke von Leia und Luke nach all den Jahren wiedertreffen und eine Salzwüste als finaler Schauplatz unter dem Gewicht der kämpfenden Parteien blutrote Kristallgesteine aufwirbelt, erstrahlt dieser problembehaftete, von Unebenheiten durchzogene Blockbuster in einem Licht, das man in vielen hochbudgetierten, Franchise-Bedingungen verschriebenen Mainstream-Produktionen der gegenwärtigen Kinolandschaft selten so hell erleuchtet sieht.
Introvertiert und verschüchtert bewegt sich die junge Studentin Thelma über den Campus der Universität in Oslo, wo sie ihr Studium begonnen hat. Die zurückhaltende Körpersprache und die vorsichtigen Blicke, die sie mit besonderer Sorgfalt durch ihre Umgebung schweifen lässt, lassen Thelma umgehend in einem speziellen Licht erscheinen, unter das Joachim Trier seine Protagonistin rückt. Dabei wird „Thelma“ zuvor von wesentlich beunruhigenderen Bildern eröffnet, in denen ein Vater seine kleine Tochter mit auf die Jagd in die verschneiten Wälder nimmt. Das Reh, das der Vater aus der Ferne ins Visier nimmt, weicht allerdings schnell einem neuen Ziel, als dieser das Gewehr auf seine nichtsahnende Tochter richtet und für einen kurzen Moment überlegt, ob er den Abzug drücken soll.
Viele Jahre später ist Thelma offenbar selbst zu jenem unscheinbaren Reh geworden, auf das sie in den anfänglichen Szenen noch ihre Augen gerichtet hatte. Der norwegische Regisseur, dem es in seinen Filmen bisher stets um die Erkundung der Gefühlswelten seiner Figuren ging, widmet sich auch in seinem vierten Werk ausgiebig der inneren Verfassung seiner weiblichen Hauptfigur. Hierbei scheint Thelmas verschlossenes Wesen, das vorsichtige Neugier und zärtliche Avancen ebenso wie unüberlegte, forsche Äußerungen in sich vereint, stark mit dem Elternhaus verknüpft zu sein, das Trier wie einen ständigen Begleiter inszeniert.
Auch wenn die Studentin extra von zu Hause ausgezogen ist, erhält sie von ihren Eltern regelmäßige Anrufe, die wie Kontrollen wirken. Während die Mutter genauestens über den Vorlesungsplan ihrer Tochter informiert ist und misstrauisch wirkt, sobald die von Thelma genannte Uhrzeit einer von ihr besuchten Vorlesung vom Plan abweicht, ist ihr Vater streng darauf bedacht, dass sie auf gar keinen Fall Alkohol konsumiert und ein möglichst enthaltsames Leben führt.
Die erste Hälfte des Films reichert Trier mit Motiven des Coming-of-Age-Genres an, um „Thelma“ als einen langsamen Ausbruchsversuch seiner Protagonistin zu schildern. Sobald sich Thelma ihrer sympathischen, gutaussehenden Kommilitonin Anja nähert, öffnet der Regisseur für sie eine ganz andere Welt, die der jungen Frau bisher verschlossen geblieben ist und jetzt in neuen Farben entstrahlt. Thelma, die bislang als strikte Christin erzogen wurde und jeglichen Versuchungen der Sünde entsagen sollte, war ein Objekt von Indoktrination, das zugleich ein noch tiefer verborgenes, dunkles Geheimnis hütet.
Es beginnt mit kurzen Episoden, bei denen Thelma scheinbar von epileptischen Anfällen befallen wird, unter denen ihr Körper zu zittern beginnt und von starken Krämpfen durchgeschüttelt wird, während diese Vorfälle mit Begleiterscheinungen verknüpft sind, bei denen beispielsweise Lampen explodieren oder Gegenstände bewegt werden. Mit erzählerischen Mitteln, die sich dem Fantastischen, Übernatürlichen sowie Motiven der Origin-Story des Superheldenfilms zuschreiben lassen, ist „Thelma“ zugleich eine feministische Erweckungsgeschichte, in der die Hauptfigur den repressiven Fesseln ihrer Herkunft entkommen will, ein abgründiges Familiendrama, in dem lange zurückliegende Geheimnisse, die sich nie vollständig verdrängen lassen, zurück an die Oberfläche gelangen und eine behutsam aufbereitete Liebesgeschichte, die vom mysteriösen Identitätskonflikt der Hauptfigur sowie von unheilvoller, religiöser Symbolik nach und nach erdrückt wird.
Dabei gelingt es Trier, dessen Film starke Ähnlichkeit mit Julia Ducournaus ebenfalls in diesem Jahr erschienenen „Raw“ aufweist, nicht immer, die verschiedenen Motive seiner Geschichte stimmig zu vereinen und in Einklang zu bringen. Wenn sich Thelma in einer Szene ihren erotischen Fantasien mit Anja hingibt und sich deren Hand immer tiefer in ihren Slip bewegt, gleitet im gleichen Moment eine Schlange über den Körper der Hauptfigur, um schließlich in ihren Mund einzudringen. Thelma wird zur Eva, die sich ohne Adam im Garten Eden der Sünde hingibt, wofür sie unverzüglich von der Schlange, die zugleich als Symbol für den Teufel betrachtet wird, heimgesucht und bestraft wird.
Überdeutlich platzierte Symbolik wie in dieser Szene lassen den Film stellenweise etwas zu erzwungen bedeutungsschwanger wirken, während Trier in der zweiten Hälfte zu stark um Themen und Botschaften kreist, die er zuvor bereits offengelegt hat. Wenn Thelma aufgrund eines einschneidenden Vorfalls irgendwann nach Hause zurückkehren muss, steuert der Regisseur die Geschichte auf eine unvermeidliche Konfrontation zu, die durch den religiösen sowie mythologischen Unterbau nahezu biblische Proportionen erhält. Bestürzende Enthüllungen, tragische Zuspitzungen und verheerende Konflikte entfaltet Trier schlussendlich aber in einem vergleichsweise unaufgeregten Rahmen, in dem „Thelma“ ganz am Ende zu jener gefühlsbetonten und doch von unterschwelligen Spannungen durchzogenen Betrachtung von Blicken und Gesten zurückfindet, die Triers Werk über weite Strecken wie einen Vogel begleitet, der ruhig über seine gewohnte Route fliegt, bis er plötzlich an einer Fensterscheibe zerschellt.
[...] Nachdem The Orchard die Vertriebsrechte für 5 Millionen Dollar erworben hatte und die Kinoveröffentlichung nach der Berichterstattung über C.K.s Taten umgehend auf Eis legte, dürfte I Love You, Daddy vermutlich für lange Zeit ein Artefakt darstellen, das sich im Zusammenhang mit den realen Geschehnissen fast schon als bizarres Komplementärstück entpuppt. Der in Schwarz-Weiß sowie auf 35-mm-Film gedrehte Streifen weist zunächst eine frappierende Ähnlichkeit zu den früheren Werken von Woody Allen (Match Point) auf, wobei sich C.K. deutlich an Manhattan aus dem Schaffen der New Yorker Regie-Legende orientiert haben dürfte. [...] Nachdem C.K. in der Vergangenheit vor allem als bösartiger und grandios witziger Stand-up-Komiker glänzte und neben der mehrere Staffeln umfassenden Sitcom Louie zuletzt durch seinen meisterhaften Hybrid aus TV-Serie und Theaterstück Horace and Pete begeistern konnte, fehlt I Love You, Daddy die markante Handschrift des Comedy-Auteurs über weite Strecken. Während dessen gewohnt scharfzüngiger, bitterböser Tonfall nur noch in manchen Dialogen zum Vorschein kommt, verlässt sich C.K. überwiegend auf Nebendarsteller wie Charlie Day (Pacific Rim), die in eindimensionaler Manier für die immer gleiche Art von Gag herhalten müssen. Gerade der präzise, schmerzhafte Blick auf vielschichtige Facetten des Menschseins, der beispielsweise Horace and Pete zu solch einer niederschmetternden wie bereichernden Seherfahrung formte, weicht in I Love You, Daddy klischeehaft gezeichneten, flach umrissenen Figuren. Stellenweise ist nicht klar zu erkennen, ob der Regisseur eine amüsante Showbusiness-Satire oder ein ernstzunehmendes Drama im Sinn hatte, wenn sich haarsträubend stereotyp angelegte Frauenfiguren mit C.K. als Hauptfigur abwechseln, der offenbar eine schonungslose, ehrliche Auseinandersetzung mit sich selbst und seiner Rolle als prominente Vaterfigur sowie anstößiger Künstler beabsichtigte. Spätestens die Enthüllungen über C.K.s Verhalten gegenüber mehreren Frauen fügen dem Film zusätzlich eine weitere Ebene hinzu, die den Regisseur als ebenso reumütigen wie risikofreudigen, überheblichen Menschen enttarnt. I Love You, Daddy lässt sich in gewisser Weise als Schutzreflex auffassen, bei dem ein von offensivem Selbsthass geprägter Künstler mehrere Andeutungen über private Fehltritte einstreut. In der Rolle der Hauptfigur gibt sich C.K. als überforderter, sorgender und zugleich ignoranter Vater, gehetzter, von möglichem Erfolg angetriebener Autor und zugleich belehrender Narzisst, der die Meinungen anderer Menschen um sich herum stets durch eigene Ansichten zurechtrücken und in ein eigenes Wertesystem einpassen muss. Ebenso wie bei dem Handlungsstrang mit Glens Tochter und dem Filmregisseur, hinter dem sich eventuell ein pädophiles Monster verbirgt, findet C.K. für sein eigenes fragwürdiges Verhalten auf filmischer Ebene nichts als simpel gestrickten Optimismus sowie zwiespältige Moralvorstellungen, mit denen der Regisseur, der nun womöglich auf ewig in der Versenkung verschwindet, einen Hilfeschrei inszeniert hat, den er sich am Ende auf feige Art einfach selbst beantwortet. [...]
Obwohl Mima noch recht jung ist, scheint sie ihren großen Traum bereits zu leben. Als Sängerin in einer dreiköpfigen Girlgroup gehört sie zu den angesagten Pop-Sternchen, die von zahlreichen Fans verehrt und in der Öffentlichkeit oftmals von Blitzlicht verfolgt werden. In seinem Animationsfilm „Pafekuto Buru“ verdeutlicht Regisseur Satoshi Kon hingegen von Anfang an, dass Mima womöglich nicht einfach nur ihren Traum lebt, sondern in einem Traum lebt. Ein Traum, der die Protagonistin an den Scheideweg ihrer Karriere befördert und schließlich auch ihrer eigenen Existenz.
Zu Beginn der Geschichte steht für Mima der Entschluss fest, die Girlgroup zu verlassen, da der große Durchbruch für die Mädchen seit langer Zeit weiterhin auf sich warten lässt. Nach ihrem Ausstieg aus dem Musikgeschäft sieht sie sich in Zukunft eher als Schauspielerin. Als Einstieg in diese Branche lässt sie sich von ihrem Agenten eine kleine Gastrolle in einer Serie verschaffen, die ihr anschließend die Türen zu noch Größerem öffnen soll. Nebenbei wird Mimas Privatleben, das sie überwiegend alleine in ihrer Wohnung mit einem Aquarium voller Goldfische verbringt, von merkwürdigen Ereignissen aufgerüttelt.
Von einem unbekannten Stalker erhält sie wiederholt pink gefärbte Liebesbriefe, deren bisweilen explosiver Inhalt eher als psychotische Warnung aufzufassen ist, während auf einer Internetseite Tagebucheinträge veröffentlicht werden, in denen sich die innersten Gedanken sowie privaten Verhaltensweisen von Mima erschreckend präzise widerspiegeln. Entwickelt sich „Pafekuto Buru“ zunächst noch wie ein halbwegs überschaubarer Psycho-Thriller, in dem der Regisseur die Bedrohungen im Leben der Protagonistin in mysteriöse Anonymität kleidet, legt Kon mit nahezu jeder fortschreitenden Minute der Laufzeit neue Schichten frei.
Als im Umfeld der Protagonistin auch noch erste Morde begangen werden, bei denen Personen zu Opfern werden, die zuvor noch in direktem Kontakt mit ihr standen, verliert Mima zunehmend den Halt zur Wirklichkeit, wobei sie sich selbst bald nicht mehr sicher ist, wer sie eigentlich gerade ist. Als trügerisches Spiel mit verschiedenen Wahrnehmungs- sowie Bewusstseinsebenen verwischt der Regisseur die Grenzen zwischen Realität und Einbildung, um sein Werk immer radikaler in eine Seherfahrung zu verfremden, die man als Betrachter wie einen wirren, sprunghaften Traum wahrnimmt.
Kon nutzt die erweiterten Möglichkeiten des Animationsfilms, welcher als Medium im Vergleich zum Realfilm noch weniger an konkrete Erzählformen gebunden sein muss, um „Pafekuto Buru“ weniger durch surreale Effekte und vielmehr mithilfe ausgefeilter Montagen in einen desorientierenden Rausch zu steigern. Begegnungen und Gespräche erscheinen Mima und dem Zuschauer auf einmal in gedoppelter Form, um das bekannte Phänomen des Déjà-vu-Erlebnisses als bedrückende Verunsicherung zu entfesseln. Innerhalb von einer Sekunde wechselt die Protagonistin ganze Schauplätze, trifft auf ein virtuelles Abbild von sich selbst, das offenbar Jagd auf sie macht, und gerät als überforderte Gestalt, die irgendwann jegliche Form einer klaren Identität abgestreift hat, in eine Persönlichkeitskrise.
Mit dem Konflikt zwischen verschiedenen Facetten einer einzigen Person, die sich im Wunsch nach öffentlicher Anerkennung und weitläufiger Bewunderung vollständig aufzuspalten scheint, gelingt Kon ein eindringlicher Kommentar zu den Abgründen des Celebrity-Systems. Wenn sich Mima in ihrer ersten größeren Rolle in einer Fernsehserie vor der Kamera vergewaltigen lassen muss, während sie direkt bei ihrem ersten Fotoshooting nackt abgelichtet wird, inszeniert der Regisseur auf provokative Weise ein mediales System, das seine Nachwuchsstars vor allem wegen ihrer körperlichen Reize ausbeutet, vorführt und fallen lässt, sobald sich neue Hoffnung für den nächsten Hit ergibt.
Während „Pafekuto Buru“ vor allem durch die Verschmelzung medialer Ebenen, bei denen sich Mima in manchen Szenen nicht mehr als Privatperson und Schauspielerin in einer Rolle am Set unterscheiden lässt, an David Cronenbergs zuvor erschienenes prophetisches Meisterwerk „Videodrome“ erinnert, hat Kon mit seinem Film selbst wiederum andere Regisseure geprägt. In Filme wie Darren Aronofskys „Black Swan“ und David Lynchs „Inland Empire“ scheint sich die DNA von „Pafekuto Buru“ regelrecht eingebrannt zu haben, wenn sich die weiblichen Hauptfiguren dieser Werke ähnlich wie Mima in ihrem Streben nach professioneller Perfektion sowie öffentlicher Zustimmung in einem zersplitterten Traumgebilde wiederfinden, das dem Begriff „Realität“ am Ende längst jeglichen Wert entzogen hat.
[...] Katell Quillévérés Die Lebenden reparieren beginnt wie ein Film, der so auch von Xavier Dolan (Mommy) stammen könnte. Ähnlich wie der Frankokanadier, der trotz seines vergleichsweise jungen Alters seit einer ganzen Weile in cineastischen Kreisen als Ausnahmetalent gefeiert wird, vermittelt die französische Regisseurin eindringliche Gefühle vorwiegend über audiovisuelle Montagen, in denen Bilder und Songs möglichst aufregend zu einer Einheit verschmelzen. Wie der 17-jährige Simon in den ersten Szenen des Films vor Sonnenaufgang durch die Stadt rennt und skatet, auf dem Fahrrad durch Straßen rast oder über Dächer klettert, hat ebenfalls etwas von der lebensfreudigen Körperlichkeit, in die manche Figuren aus Dolans Werken teilweise verfallen. [...] Wirkte der Auftakt noch, als würde sich Quillévéré ausschließlich dem 17-Jährigen widmen und einzelne Momente bewusst ausdehnen, um deren Wirkung möglichst intensiv auszukosten, entfalten sich die nachfolgenden Szenen nach Simons fatalem Unfall mit auffälliger Sprunghaftigkeit. Basierend auf dem gleichnamigen Roman von Maylis de Kerangal entwirft die Regisseurin im Verlauf von Die Lebenden reparieren ein ganzes Ensemble an Figuren, das von den weiteren Ereignissen betroffen ist. [...] Die einzelnen Figuren in Die Lebenden reparieren, die neben Simons Eltern vom Arzt und der Krankenschwester über Mitarbeiter der Transplantationszentren bis hin zu einer Frau reichen, die sich als Bedürftige eines Spenderherzens entpuppt, erfüllen zunehmend einen funktionalen Zweck und sind kaum mehr als Glieder in einer Kette von Ablaufprozessen, die den vollständigen Kreislauf einer Organtransplantation veranschaulichen sollen. Unter den sentimentalen Klaviertönen von Alexandre Desplats Score, der zunächst eher dezent im Hintergrund platziert ist und schließlich immer penetranter eingesetzt wird, verkommt der Streifen zu einer gefühlsseligen Mischung aus einem Drama, in dem die entscheidenden Figuren kaum mehr als flüchtig angerissene Abziehbilder bleiben, und einem überdeutlichen Plädoyer zur Organspende, für das Quillévéré erzählerische Komplexität der unkomplizierten Verständlichkeit unterordnet. Der Handlungsverlauf, welcher zunehmend mechanischer wirkt und Emotionen zwischen einzelnen Figuren nur in kurzen Szenen andeutet, steuert bereits im darauffolgenden Moment die nächste Station im Kreislauf des Organspende-Prozesses an. Als Drama, für das noch dazu talentierte Namen wie Emmanuelle Seigner (Das Lächeln) oder Anne Dorval (I Killed My Mother) verpflichtet werden konnten, wirkt Die Lebenden reparieren daher wie ein aufgeblähtes, manipulatives Werbevideo, dem immerhin gute Absichten zu entnehmen sind, während dramaturgische Feinheiten, differenzierte Zwischentöne und ehrliche Emotionen, die nicht durch die aufdringliche Inszenierung erzwungen werden, völlig auf der Strecke bleiben. [...]
[...] Architektur ist ein dominierendes Element in Kogonadas Spielfilmdebüt Columbus. Von der ersten Szene an scheint sich die Kamera von Elisha Christian mehr für die ästhetisch ansprechende Innenausstattung von Räumen und die optische Beschaffenheit von Gebäuden zu interessieren als für die Figuren, die sich in ihnen oder um sie herum aufhalten. [...] Kogonada geht es offenbar nicht nur darum, die Figuren in den Szenen zu beobachten, sondern als kleinen Teil eines größeren Bildes zu zeigen, auf das sich der Blick des Zuschauers richten sollte. Oftmals werden sie gar von ihrer Umgebung verdeckt oder wirken wie unbedeutende Nebensächlichkeiten, die im Angesicht eindrucksvoller Panoramen verblassen. [...] Am beeindruckendsten entfaltet sich der Film aber, wenn Kogonada die ästhetische Form durchbricht und die mächtige Kraft der Architektur nutzt, um gleichzeitig die Gefühle seiner Figuren freizulegen. In einer Szene, die ganz besonders in Erinnerung bleibt, erklärt Casey Jin die geschichtlichen Hintergründe eines Gebäudes, das ihr viel bedeutet. Jin ist aber nicht an historischen Fakten interessiert, sondern fragt gezielt danach, warum ihr das Gebäude so viel bedeutet. Plötzlich wechselt die Kamera ihre Position hinter die Scheibe ins Innere des Gebäudes, während beide Figuren vor der Scheibe stehen. Was Casey Jin nun mit Worten erklärt, kann der Zuschauer nicht hören. Stattdessen nutzt der Regisseur die Körpersprache von Hauptdarstellerin Haley Lu Richardson (The Edge of Seventeen - Das Jahr der Entscheidung), um auf ihrem Gesicht ein Funkeln einzufangen, das mehr ausdrückt als all die Worte, die Casey in dieser Szene äußert. Manchmal merkt man dem ansonsten sehr dialoglastigen Werk an, dass Kogonada gelegentlich etwas zu vernarrt in Sätze ist, die konstruiert klingen und typischen Film-Konversationen fernab der Realität entsprechen. Die Worte, so behutsam sie der Regisseur für seine Figuren auch wählt, werden der einfühlsamen, zurückgenommenen Atmosphäre nicht immer gerecht. Nichtsdestotrotz umschifft Kogonada gefährliche Klischees des Indie-Films gekonnt und vermeidet romantische Klischees sowie moralische Läuterung. Ihm geht es vielmehr um die einzelnen Momente an sich, die Begegnungen seiner Figuren, die sich zwischen einem Sohn, dem der sterbende Vater längst fremd geworden ist, und einer Tochter, die sich von ihrer ehemals abhängigen Mutter abhängig gemacht hat, ereignen. In denen die Gebäude um sie herum nicht nur wiederum eigene Geschichten beinhalten, sondern als Spiegel zur Seele dienen, die sich in Columbus ein ums andere Mal dort öffnet, wo sie zuvor verschlossen blieb. [...]
[...] Als Meerjungfrauen-Horror-Musical, dem zugleich tieftragische Untertöne innewohnen und das trotz eines markanten Fantasy-Einschlags mehr über das Menschsein aussagt als so manchen womöglich lieb ist, stellt The Lure sicherlich ein Novum in der Filmlandschaft dar. Smoczynskas Film gestaltet sich dabei selbst wie ein filmgewordener Sirenengesang, der den Betrachter unentwegt mit seinen Reizen betört und in einen euphorisierten Rauschzustand verführt. [...] Im Polen der 80er Jahre, das die Meerjungfrauen scheinbar nur als Zwischenstation auf einer schier ewig während Reise durch die Meere der Welt angepeilt hatten, werden die beiden schließlich zu Opfern ihrer unbändigenden Neugier. Im Inneren des Nachtclubs, der sich irgendwo im Herzen des trostlosen, kaum einladenden Warschaus befindet, zeigt die Regisseurin die zunehmende Objektifizierung der beiden Frauen, die von ihrem Umfeld vollständig auf ihre attraktiven Körper sowie bezirzenden Stimmen reduziert werden. Würde man die fantasievolle Komponente der Meerjungfrauen aus The Lure entfernen, könnte der Film problemlos als Parabel auf ein Land verstanden werden, das seine eigenen Kinder in Form heranwachsender oder junger Frauen schonungslos ausbeutet und einem trostlosen Schicksal ausliefert, bei dem die Persönlichkeiten der jeweiligen Menschen zugunsten von kalkulierten Profiten ausgelöscht werden. [...] Spätestens mit diesem mythologischen Unterbau verweist die Regisseurin explizit auf Hans Christian Andersens bekannte Märchengeschichte Die kleine Meerjungfrau, die Smoczynska weitestgehend vorlagengetreu mit dem Handlungsgerüst ihres Films verflechtet. [...] Gleichzeitig erzählt Smoczynska auf niederschlagende, berührende Weise viel über das Menschsein und davon, wie all das, was uns fremdartig oder ungewöhnlich erscheint, auf Dauer keinen Platz zwischen uns zu finden scheint und irgendwann zur Verdammung bestimmt ist. [...]
[...] Eine Zeitspanne von nur zwei Stunden vergeht in Cléo - Mittwoch zwischen 5 und 7. Für Cléo, die eigentlich Florence heißt, fühlen sich diese zwei Stunden aber ungemein länger an. Im Paris der 60er Jahre wartet die junge Sängerin auf die Testergebnisse einer Untersuchung, von denen sie das Schlimmste befürchtet. [...] Diesen Schwebezustand der Ungewissheit, mit dem die Protagonistin ihre Zeit von 17 bis 19 Uhr überbrücken muss, bis sie von ihrem Arzt über eine mögliche Diagnose informiert wird, nutzt die Regisseurin als übergreifende Stimmung für den rund 90-minütigen Film, bei dem der Zuschauer Cléo in diesen zwei Stunden möglichst in Echtzeit begleitet. [...] Lediglich in einer Passage des Films kehrt Cléo in die edle Wohnung zurück, die sie sich mit ihrem Freund teilt, der scheinbar als Geschäftsmann gut verdient, die meiste Zeit über aber abwesend ist. In diesen Räumlichkeiten, in denen die Hauptfigur schließlich noch von befreundeten Musikern besucht wird, um gemeinsam zu proben, durchbricht Varda den realistischen, in Echtzeit getakteten Rhythmus ihres Films zum ersten Mal. Mit dem Gesang von Cléo wird Cléo - Mittwoch zwischen 5 und 7 für einen kurzen Moment zum Musical, das die im Hintergrund tickende Uhr, die zugleich Ausdruck für die verstreichende Lebenszeit der Protagonistin ist, endgültig in Vergessenheit geraten lässt und ausschließlich für den aktuellen Moment zu existieren scheint. Vardas Film scheint sich zu einer Ansammlung dieser Momente zu verdichten, wobei die existenzielle Schwere, welche Cléo fest im Griff hat und immer wieder in sichtliche Verzweiflung versetzt, überwiegend in den Hintergrund rückt. [...] Aus kurzen Einschüben, schicksalshaften Begegnungen, die zwischen banaler Trivialität und bedeutender Selbsterkenntnis pendeln, sowie einem ausschweifenden Gespür für das belebte Paris sowie die Menschen, welche die französische Hauptstadt bevölkern, formt Agnès Varda mit „Cléo - Mittwoch zwischen 5 und 7“ ein Werk, in dem die Angst vor dem Tod und die Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben höheren Erkenntnissen weichen, die zumindest vorübergehend den Blick auf das Wesentliche ermöglichen. [...]
Ist Jim Carrey ein Genie oder ein Wahnsinniger? Chris Smiths Dokumentation „Jim & Andy: The Great Beyond“ nimmt sich dieser Frage an, wirft anstelle klarer Antworten aber nur noch mehr Fragen auf, die den Personenkult um einen der ehemals größten Comedy-Stars der Welt mit neuen Rätseln anreichern. Aufhänger des Films sind Archivaufnahmen, die seit fast 20 Jahren existieren und Behind-the-Scenes-Material der Dreharbeiten von Miloš Formans „Man on the Moon“ darstellen. In diesem außergewöhnlichen Biopic von 1999 spielte Carrey den berüchtigten Anarcho-Komiker Andy Kaufman, der Amerika mit bizarren Performance-Art-Auftritten ebenso in großes Gelächter versetzte wie er zahlreiche Menschen radikal vor den Kopf stieß.
Alleine die Sichtung von „Man on the Moon“ genügt, um Carrey als Herzstück von Formans Film zu erkennen, der vollständig hinter seiner Figur verschwindet und den exzentrischen, eigenwilligen Künstler mit einer offensiven Hingabe verkörpert, die einen umgehend in den Bann zieht. „Jim & Andy: The Great Beyond“ zeigt nun fast 20 Jahre später auf, dass diese Hingabe mit einem Entstehungsprozess verbunden war, bei dem der Hauptdarsteller sämtliche Beteiligte um sich herum mehrfach zur Verzweiflung brachte.
Es wird deutlich, dass Carrey Kaufman nicht einfach nur spielte, sondern sich dessen Persönlichkeit(en) mithilfe von Method Acting aneignete, um den 1984 mit 34 Jahren an Lungenkrebs verstorbenen Künstler auch außerhalb der Kamera rund um die Uhr wieder zum Leben erwecken. Smith belässt es in seiner Dokumentation aber nicht dabei, älteres Archivmaterial zu einer aufschlussreichen Hintergrundgeschichte zu formen. Carrey selbst kommt parallel in einem Interview zu Wort, um aus der Vergangenheit zu berichten und somit als eine Art Erzähler zu fungieren, der die präsentierten Ausschnitte mit Kontext füllt.
Hinter diesem Schachzug verbirgt sich in Wirklichkeit der wahre Clou dieses Werks, das fortwährend Schicht um Schicht weitere Denkanstöße liefert und voller Mysterien steckt. Vor der Kamera zeigt sich der mittlerweile über 50-jährige Carrey von Anfang an nachdenklich und ringt oftmals sichtlich in sich gekehrt um Worte. Der einstige Mann mit den 1000 Gesichtern, der in der Öffentlichkeit meist mit einem ansteckenden Strahlen auftrat, zeigt sich mit leichten Falten im Gesicht und einem markanten Vollbart, der überwiegend aus grauen Haaren besteht, als zweifelnder Mensch, in dem ständig Fragen über sein eigenes Dasein aufkommen.
„Jim & Andy: The Great Beyond“ offenbart so nicht nur eine Reise in die Vergangenheit, die von nostalgischen Anekdoten geprägt ist, welche sowohl Karriereanfänge von Kaufman und Carrey selbst beleuchten. Smiths Dokumentation entwickelt sich außerdem zunehmend zu einer Meditation über das Künstlertum sowie die Trennung zwischen öffentlicher Wahrnehmung und privatem Dasein, welche auf gleich mehreren Ebenen aufgehoben wird.
Schon Formans gerne übergangenes Meisterwerk zeigte auf, wie Künstler im Zeitalter gesteigerter öffentlicher Wahrnehmung sowie medialer Überpräsenz in eine Identitätskrise geraten und sich schließlich womöglich vollständig von so etwas wie einer ursprünglichen Persönlichkeit lösen. Smith hat mit seinem Film sowie dem direkten Einbezug des damaligen Hauptdarstellers ein ideales Gegenstück zu „Man on the Moon“ geschaffen, das dessen zentrale Themen geschickt weiterspinnt und einen zeitweise irritierenden, aber stets anregenden Diskurs über existenzielle Probleme, Identitätskrisen und Persönlichkeitsstörungen stiftet.
So fällt der Streifen am Ende vor allem auf Carrey selbst zurück. Befindet sich der Schauspieler gerade in der Vorbereitung zu einem fulminanten Comeback und hat eine langwierige Promo-Phase initiiert, in der er sich selbst zum depressiven Melancholiker stilisiert? Ist der Carrey, den man in Smiths Film im Interview sieht, tatsächlich der echte Carrey und nicht nur eine Version, die dieser von sich selbst spielt? Oder gelingt es dem Regisseur tatsächlich, anhand von nostalgischer Rückbesinnung sowie introspektiver Verschränkung den Menschen zum Vorschein zu bringen, der Carrey seit vielen Jahren ist oder gar schon immer war? „Jim & Andy: The Great Beyond“ gibt auf diese Fragen keine klaren Antworten und lässt auf gekonnte Weise offen, ob der Zuschauer unwissentlich einem riesengroßen Scherz auferlegen ist oder einer intensiven Selbsttherapie-Sitzung beiwohnt, die ungeahnte Abgründe zum Vorschein bringt.
Dem Regiedebüt von Paddy Considine ist eine destruktive, abgründige Ausstrahlung eingeschrieben, die nicht von ungefähr stammt. In vielen Rollen, die der britische Schauspieler zuvor verkörperte, spielte Considine moralisch ambivalente Figuren. Kantige Typen, mit Schwierigkeiten oder Geheimnissen behaftet, die auch immer eine sichtbare Dunkelheit in sich trugen und als Zuschauer von Filmen wie „Dead Man's Shoes“ eher ertragen und geduldet als einfach nur gesehen werden mussten.
Diesen Hang zum Anstößigen, Provokanten oder Verwerflichen übertragt der Regisseur Considine auch auf „Tyrannosaur“, in dem Hauptdarsteller Peter Mullan eine Figur spielt, die man ebenfalls leicht mit Considine, dem Schauspieler, in Verbindung bringen könnte. Keine fünf Minuten vergehen, bis Joseph, der sich selten unter Kontrolle hat, direkt zu Beginn voller Wut seinen Hund zu Tode tritt. Es ist die schockierende Charakterisierung eines Menschen, der das Leben nur noch an sich vorüberziehen lässt und lediglich in Momenten blinder Raserei zu sich selbst zu finden scheint. Wenn Joseph nicht in seiner verlassenen Wohnung inmitten eines von Unruhen durchzogenen Arbeiterklasseviertels oder für mehrere Biere in der Bar sitzt, dann befindet er sich zumeist in Schwierigkeiten.
Ein schiefer Blick oder ein falsches Wort genügen, um diesen in die Jahre gekommenen, stoischen Mann gegen sich aufzubringen und ihn dazu zu provozieren, die Fäuste zu erheben oder zur Schlagwaffe zu greifen. „Tyrannosaur“, den Considine auf Grundlage eines zuvor gedrehten Kurzfilms zum Langfilm weiterentwickelte, ist aber nicht nur die Geschichte von Joseph. Der Regisseur erzählt außerdem von Hannah, in deren Second-Hand-Laden Joseph eines Tages Zuflucht sucht. Bevor die religiöse, gläubige Frau viele Worte mit ihm wechselt, betet sie stattdessen für Joseph, der sich aufgebracht hinter einem Kleiderständer verschanzt hat.
Verständnis und Sympathie scheint er für Hannah aber nicht aufzubringen, denn nur kurze Zeit später konfrontiert er die in einem beschaulicheren Viertel Englands wohnende Frau mit bösartigen Vorwürfen, welche die zerbrechliche Frau in Tränen zurücklassen. Von hier an scheint sich die Abwärtsspirale in „Tyrannosaur“ nur noch unaufhörlich weiterzudrehen, wenn der Regisseur Hannahs Eheleben als Hölle schildert, in der diese von einem launischen Mann gedemütigt, verfolgt, verprügelt oder schließlich sogar vergewaltigt wird.
Mit deprimierendem Realismus und bitterer Härte, die typisch für die rauen Sozialdramen des britischen Kinos sind, wie sie Filmemacher wie Ken Loach seit Jahrzehnten produzieren, entwirft Considine ein zweiseitiges Charakterporträt, in dem an jeder Ecke ein neuer Abgrund zu lauern scheint. Hinter dem scheinbaren Nihilismus, in den zahlreiche der Szenen verhüllt sind, interessiert sich der Regisseur aber auch für ein gewisses Licht, das in kurzen Momenten zwischen den Menschen in „Tyrannosaur“ aufblitzt.
Mit Joseph und Hannah blickt Considine auf zwei Menschen, die persönlich zunächst radikal voneinander entfernt sind und sich lediglich durch die Blessuren ähneln, welche beide im Verlauf der Handlung an ihren Körpern tragen. Die Platzwunde an Josephs Kopf und das blaue Auge von Hannah, das irgendwann tiefschwarz angeschwollen ist, sind dabei Ausdruck für das Innenleben dieser beiden Figuren, die in schwierigen Zeiten auf eine Art zusammenfinden, die zugleich keinen hoffnungsvollen Ausgang erahnen lässt.
Fernab von rührseligem Kitsch, den der Regisseur ohnehin so extrem umgeht wie nur möglich, ist „Tyrannosaur“, wie der deutsche Zusatztitel bereits vorwegnimmt, im Kern eine Liebesgeschichte. Eine Liebesgeschichte ohne konkreten Ausgang, der es zumindest vorübergehend gelingt, sich gegen all die vertanen Chancen, unwiderruflichen Fehler und niederschmetternden Qualen zu stemmen, um aufzuzeigen, dass auch ein gemeinsamer Schmerz noch eine Gemeinsamkeit sein kann, die zum Überleben animiert.
Den Einstieg in die Welt des Verbrechens hat der 17-jährige J nicht aus freien Schritten vollzogen. Nachdem seine drogenabhängige Mutter an einer Überdosis Heroin stirbt, kommt er notdürftig bei seiner Großmutter unter, die zugleich das matriarchalische Familienoberhaupt von Js drei Onkel Pope, Craig und Darren darstellt. Zusammen mit Baz, einem engen Freund der Familie, verüben die drei Männer bewaffnete Raubüberfälle und sind in den Drogenhandel verstrickt, während Großmutter Smurf unscheinbar, aber kontrolliert im Hintergrund die Fäden zu ziehen scheint.
In seinem Spielfilmdebüt „Animal Kingdom“ errichtet David Michôd eine düstere Hierarchie der Kriminalität. Im Gegensatz zu üblichen Vertretern des Gangsterfilms, die Strukturen des organisierten Verbrechens oftmals als einen externen Prozess außerhalb des Privaten beschreiben, blickt der australische Regisseur gezielt auf das Innenleben einer Familie, die wie ein mafiöses System funktioniert. In dieses System kommt J nun als ehemals Außenstehender sowie gleichzeitig internes Familienmitglied und muss sich einer festen Rangordnung fügen, über die er offenbar kaum eigene Macht hat.
In einer Szene, in der der Jugendliche mit dem gutmütigen Polizisten Leckie ein Gespräch führt, verweist dieser in Bezug auf Js Situation auf das Tierreich. Auch hier gäbe es eine natürliche Rangordnung, in der sich starke und schwache Tiere voneinander abgrenzen und eine Art Hierarchie entwickeln, in der sich die schwächeren Tiere unentwegt den stärkeren unterordnen müssen. Den schüchternen, nervösen Jugendlichen stuft der Polizist als schwächstes Glied innerhalb einer Kette ein, die ständig zu zerreißen droht, nachdem sich die Familienmitglieder ein Duell mit dem Gesetz liefern, das auf beiden Seiten wiederholt Opfer fordert.
Vor diesem Teufelskreis, in dem illegale Aktivitäten und unvermeidbare Gewalt zwangsläufig zu einem voreiligen Ableben führen, versucht Lecki J bewahren, indem er ihm durch vorsichtige Annäherung eine fürsorgliche, familiäre Perspektive aufzeigen will, die für den Jugendlichen womöglich einen Ausweg aus seinem zukünftigen Schicksal bedeuten könnte. Diesen komplexen Zwiespalt zwischen internem Determinismus und externen Einflüssen beleuchtet Michôd fortwährend, indem er die Handlungen innerhalb der Gangster-Familie als zermürbendes Konstrukt inszeniert, von dem J zunehmend beeinflusst und vereinnahmt wird.
Mit einem langsamen Erzählrhythmus, der immer wieder in auslaugend-elegischen Stimmungsbildern verweilt, beschreibt der Regisseur den Mikrokosmos der Familie als verkommenes, erbarmungsloses Spiel um Macht und Manipulation. Das Gesetz des Stärkeren, dem Michôd inmitten der Kulisse eines tristen Melbournes mit bitteren Intrigen, fataler Waffengewalt und im Stillen vollzogenen Tötungen immer wieder erschütternde Bildhaftigkeit verleiht, wird zum Kodex, der sich unfreiwillig immer tiefer in J verankert und irgendwann Risse hinterlässt, die sich kaum mehr zusammenfügen lassen.
Der unheilvoll anschwellende sowie regelmäßig treibend voranpreschende Score von Antony Partos, den man sonst eher in temporeichen, mitreißenden Thrillern vermuten würde, wird mehr und mehr zur Zustandsbeschreibung fragiler, brodelnder Persönlichkeiten, die der Regisseur in kurzen, aber umso prägnanteren Momenten schließlich gewalttätig ausbrechen lässt. Es ist die einzige Form eines Ausbruchs, die J ab einem gewissen Punkt noch übrig bleibt. In der vermutlich besten Szene des Films gelingt es dem Jugendlichen im Badezimmer einer anderen Familie nach einer schweren Tragödie kurz, seinen angestauten Emotionen durch verzweifeltes Weinen freien Lauf zu lassen. Nur Sekunden später bekommt er jedoch einen Anruf über sein Handy, bei dem ihn ein Mitglied seiner Familie wiederum vor einer anrückenden Gefahr warnt.
Es ist eine Szene, die den Einfluss von Js Familie mit drastischer Eindringlichkeit verdeutlicht, welche selbst in Momenten größtmöglicher, isolierter Intimität längst allgegenwärtig geworden ist und umgehend in den privaten Bereich des Jugendlichen eindringt. Folglich ist auch das Ende, das Michôd für „Animal Kingdom“ findet, ein unvollständiges, zerrissenes, bei dem weiterhin offen bleibt, ob der Protagonist schlussendlich einen Ausweg gefunden hat oder endgültig in die Fußstapfen getreten ist, die ihm niemand, am wenigsten er sich selbst, zugetraut hat.
Heutzutage bleiben von Detroit, der einstigen blühenden Industriestadt, kaum mehr als Impressionen von leerstehenden Häusern und Gebäuden, die verfallenden Ruinen gleichen. Diese geisterhafte Ausstrahlung, die von der insolventen Großstadt ausgeht und von Menschen berichtet, die massenhaft ihre Häuser verloren haben, wurde im Kino zuletzt beispielsweise von Ryan Gosling beschworen. In seinem Regie-Debüt „Lost River“ vermischte der Schauspieler ungeschönten Sozialrealismus mit märchenhaft-albtraumartigem Surrealismus, um die beklemmende, lethargische Stimmung von Orientierungslosigkeit, Einsamkeit und Verzweiflung dieser Stadt einzufangen.
Das Detroit der 60er Jahre, welches Kathryn Bigelow in ihrem gleichnamigen Film vor den Augen des Zuschauers aufleben lässt, hat hingegen noch einen aggressiven, wütenden Puls, der von ständiger Bewegung angetrieben wird. Anlässlich des 50. Jahrestags der Rassenunruhen, von denen Detroit 1967 gut fünf Tage lang schwer erschüttert wurde, führt die Regisseurin noch einmal dorthin zurück, wo Gebäude in Flammen standen, tausende Verhaftungen durchgeführt wurden und neben über tausend Verletzten 43 Menschen ums Leben kamen.
Mit den Mitteln des Kinos formt Bigelow ein Stück Zeitgeschichte, das auch heute noch dringlicher denn je das gesellschaftliche Klima Amerikas mitzuprägen scheint. Die brutalen Auseinandersetzungen zwischen dem afroamerikanischen Teil der Bevölkerung, der für seine Bürgerrechte kämpfen will, sowie vorwiegend weißen Polizisten, die auf unkontrollierten Aufruhr mit äußersten Gewaltmaßnahmen reagierten, inszeniert die Regisseurin zu Beginn ihres Films in drastischen Momentaufnahmen, die wie kurze Ausschnitte einer Dokumentation über den Betrachter einbrechen. Bigelows stärkste Waffe ist hierbei die ruhelose, nervöse Handkamera, die sie bereits in ihren letzten Filmen wie „The Hurt Locker“ und „Zero Dark Thirty“ für sich entdeckte.
Ebenso dokumentarisch muten die frühen Aufnahmen von „Detroit“ an. In diesen stürzt sich die Handkamera von Barry Ackroyd mitten ins Getümmel, klebt an wütenden oder panischen Gesichtern und legt Zeugnis von einem Ausnahmezustand ab, in dem Polizisten mit Panzern durch Stadtviertel streifen und unter anderem das Feuer auf ein weiter entferntes, kleines Mädchen eröffnen, das sie hinter den Vorhängen eines Fensters als einen potentiellen Scharfschützen identifizieren.
Mit fragmentarischer Sprunghaftigkeit führen Bigelow und Drehbuchautor Mark Boal, der wie auch schon in den beiden vorherigen Filmen der Regisseurin journalistisch recherchierte Fakten und Augenzeugenberichte mit filmisch überhöhter Konstruktion sowie dramaturgischen Zuspitzungen kombiniert, durch ein Szenario, aus dessen wüster Unübersichtlichkeit sich nach und nach eine kleine Gruppe zentraler Figuren herauskristallisiert. Zu gnadenloser Verdichtung findet der Film schließlich durch die Konzentration auf einen konkreten Zwischenfall, der sich im Algiers Motel ereignete.
Mit kammerspielartiger Reduktion, bei der sich Unterdrückung, Demütigung, Misshandlung, Folter und Mord entladen, inszeniert die Regisseurin die Situation, in der drei weiße Polizisten ein Motel stürmen, weil sie hier ebenfalls einen Scharfschützen mitsamt Tatwaffe vermuten, wie den Teil eines Horrorfilms. So wirkungsmächtig sich „Detroit“ in diesen Szenen von schier unerträglicher Anspannung und Intensität auch entfaltet und in der Darstellung von willkürlichem Machtmissbrauch sowie der Ausübung von abscheulichem Rassismus einen offenen Nerv trifft, der im aktuellen politischen Klima der USA nicht oft genug im Kino verhandelt werden kann, so diskussionswürdig ist die Wahl von Bigelows erzählerischen Mitteln.
An vorderster Front spielt Will Poulter den rassistischen Polizisten Philip Krauss, der inmitten des von realen Begebenheiten inspirierten Szenarios eine rein fiktive Figur darstellt, mit einer dämonischen Fratze, die einen das Gesicht des Schauspielers nur schwer wieder vergessen lässt. Speziell in dieser Figur sowie einer Gerichtsverhandlung, die sich an die Ereignisse des Motel-Vorfalls anschließt, will Bigelow ein ganzes System spiegeln, in dem institutioneller Rassismus von der Polizei genauso wie vom Justizsystem ausgeht. Ähnlich funktional gestaltet sich die von John Boyega gespielte Figur des afroamerikanischen Security-Wachmanns, dessen überforderte Machtlosigkeit sowie auffällige Hilfsbereitschaft genauso universell aufgefasst werden soll. Umso plakativer und manipulativer wirkt hierdurch die etwas zu einseitige Figurenzeichnung, die zwischen klar erkennbarem Gut und Böse kaum Zwischentöne zulässt und die Absicht des politischen Aktivismus mit offensiv geführten Mitteln vor behutsame Differenzierung stellt.
Als wütender Aufschrei ist „Detroit“ nichtsdestotrotz ein Werk, das den Finger mit nachhallender Wut in eine offene Wunde drückt, um durch offensive Zurschaustellung, bitteres Anklagen und explizites Aufzeigen erschütternder Missstände an etwas zu erinnern, das gerade in Anbetracht aktueller gesellschaftlicher Zustände nicht in Vergessenheit geraten darf. Ähnlich wie der passenderweise zeitgleich in den deutschen Kinos gestartete „Aus dem Nichts“ zeigt „Detroit“ eine klare politische sowie emotionale Haltung mit stellenweise provokativen, wahlweise auch verwerflichen Mitteln, was ihn neben Fatih Akins Film ebenso zu diskussionswürdigem, eindringlichem Stoff macht, der regelmäßig seinen Weg in die Kinos finden sollte.
„Sweet Virginia“ ist die Art von dunklem Neo-Noir-Thriller, in dem die Figuren den Tod ihrer Angehörigen damit kommentieren, dass sich diese nun an einem besseren Ort befinden müssen. Das Leben als Bürde und der Tod als erlösender Übergang sind somit zwei zentrale Motive, von denen die Atmosphäre in der provinziellen Kleinstadt Alaskas, in der die die Handlung angesiedelt ist, maßgeblich geprägt wird. Am Anfang von Jamie M. Daggs Film steht, wie könnte es auch anders sein, ein Verbrechen, das schief geht. Eigentlich sollte der mysteriöse Einzelgänger Elwood nur einen Mann ausschalten, der sich zu einer vorgegebenen Zeit in einer Bar aufhält. Am Ende hat der Auftragskiller aber nicht nur die Zielperson, sondern zusätzlich zwei weitere Männer getötet, die zum gleichen Zeitpunkt ebenfalls in der Bar waren.
Die Schüsse, die zu Beginn abgefeuert werden, sind gewissermaßen auch der Startschuss für die eigentliche Geschichte, die sich durch die fatale Entwicklung des Verbrechens anhand von vier zentralen Figuren und ihren Verbindungen zueinander ausbreitet. Unmittelbar betroffen sind die beiden befreundeten Frauen Lila und Bernadette, die aufgrund des Todes von zwei der Männer zu Witwen gemacht wurden. Schon bald stellt sich heraus, dass Lila indirekt für die Tat verantwortlich ist, da sie es war, die Elwood damit beauftragt hat, ihren Ehemann umzubringen. Kurz darauf erfährt die Witwe, dass ihr offenbar betrügerischer Partner einen Haufen Schulden hinterlassen hat, der es ihr unmöglich macht, Elwood die vereinbarte Summe für den Auftragsmord zu bezahlen. Von hier an ist „Sweet Virginia“ längst auf vertrautem Terrain gängiger (Neo)-Noir-Strukturen angelangt, bei dem die Figuren von einem düsteren Ausgangspunkt immer tiefer auf ihren persönlichen Untergang zusteuern.
In die Geschehnisse verwickelt wird auch Sam, der Besitzer eines Motels, mit dem Bernadette schon eine Weile eine Affäre hat. Wie es der Zufall so will, ist einer seiner neuen zahlenden Gäste ausgerechnet Elwood, der vorübergehend in einem der Motel-Zimmer unterkommen will, bis er das Geld für seinen Auftrag kassiert hat. Auch wenn das grundlegende Szenario bis hierhin wenige Überraschungen offenbart und auch der Rest der Geschichte kaum mit unvorhersehbaren Wendungen aufwartet, ist es der Umgang mit den Figuren sowie Fokus auf die brodelnde wie schleichende Stimmung des Moments, der „Sweet Virginia“ bisweilen zu einem faszinierenden Seherlebnis werden lässt.
Gelegentlich rückt Dagg auch andere Menschen kurz ins Bild, die ebenso unvermittelt wieder verschwinden. So entsteht der Eindruck, als sei die hier dargestellte Welt ausschließlich das alleinige Zentrum der vier Hauptfiguren, die neben vage angerissenen Geheimnissen und Problemen aus der Vergangenheit vor allem mit sich selbst in der Gegenwart konfrontiert werden. Dabei scheint sie die außergewöhnliche Lichtstimmung Alaskas, bei der selbst die Tageszeit ununterbrochen von einem grauen, tristen Himmel bedeckt ist, immer wieder förmlich in sich aufzusaugen, wenn manche Figuren in einigen Szenen bei Nacht als unkenntliche Schemen von der Schwärze der Dunkelheit verschluckt werden.
Dem Drehbuch von Benjamin und Paul China ist es außerdem zu verdanken, dass „Sweet Virginia“ fernab der eigentlichen Neo-Noir-Thriller-Impulse, die über die elegisch getakteten 95 Minuten der Laufzeit hinweg eher sporadisch in eindringlicher Intensität explodieren, viel lieber in den Gefühlen der Figuren verweilt, die sich mit der Zeit über den Status von Genre-Schablonen erheben. Jon Bernthal und Christopher Abbott scheinen hierbei geradezu in vertauschten Rollen zu agieren. Während Bernthal bravourös den sanften, zurückhaltenden Motel-Besitzer spielt, der früher einmal ein bekannter Rodeo-Star war, welcher sich nach wiederholten Stürzen vom Stier permanente Nervenschäden zuzog und das Zittern seiner Hand sowie einen ungelenken Gang kaum noch verbergen kann, spielt Abbott ebenso großartig den sensibel wirkenden Auftragskiller, der von seinem brodelnden, instabilen Temperament regelmäßig in unkontrollierte Gewaltausbrüche getrieben wird.
Großartig ist die Szene, in der sich beide Männer erstmals gemeinsam in einem Diner einfinden und sich näher kennenlernen, wobei zwischen Sam und Elwood eine zurückgenommene, aber spürbare Chemie aufkommt, die von einem misstrauischen Wissensvorsprung des Zuschauers überschattet wird. Es ist dieses unentwegte Gefühl von unsichtbarer Gewalt und drohenden Konflikten sowie Zuspitzungen, mit dem der Regisseur jede Szene des Films auflädt, um im gleichen Moment schwelgerisch in Nahaufnahmen der Gesichter seiner Figuren abzuschweifen. Gesichter, die parallel zur eigentlichen Handlung ganze Geschichten von Menschen erzählen, die sich sichtlich gegen jenes Schicksal sträuben, das am Ende der knochentrocken-fatalistischen Erzählstruktur unvermeidlich einen Großteil von ihnen ereilen wird.
Matthew Vaughn scheint vom Fluch der Fortsetzungen befallen zu sein. Wurde der Regisseur für Comicverfilmungen wie den zynisch-humorvollen „Kick-Ass“ oder die pubertär-ausgelassene Agentenfilm-Parodie/Hommage „Kingsman - The Secret Service“ noch zurecht gefeiert, sieht es bei den Fortsetzungen zu diesen Werken schon anders aus. Auch wenn er an „Kick-Ass 2 nur noch als Produzent beteiligt war und dieser von Jeff Wadlow geschrieben sowie inszeniert wurde, entpuppte sich das Sequel zu Vaughns Überraschungserfolg als herbe Enttäuschung. Anstelle von subversiv-anarchischem Humor und gut ausbalancierten Figuren war Wadlows Film von unlustigem Fäkalhumor, uninspirierten Gewalteinlagen und massiv unterentwickelten Figuren durchzogen, unter denen vor allem Nebendarsteller wie Jim Carrey völlig unter Wert verpulvert wurden.
Dieser Trend lässt sich nun auch wieder in „Kingsman - The Golden Circle“ erkennen, für den Vaughn erneut selbst die Regie übernahm und mit Jane Goldman das Drehbuch entwickelte. Den rasanten Auftakt in Form einer actionreichen Verfolgungsjagd durch die Straßen Londons, bei der sich Hauptfigur und Kingsman-Geheimagent Eggsy gegen einen rachsüchtigen, ehemaligen Anwärter behaupten muss, inszeniert der Regisseur wie von ihm gewohnt mit wild umher wirbelnder Kamera sowie klar erkennbarem CGI. Durch schwungvolle Lust am puren Spektakel erzeugt die Fortsetzung umgehend eine ähnliche Atmosphäre wie der Vorgänger und wirkt ein weiteres Mal wie ein wilder Ritt durch ein Comicheft, in dem Elemente und Markenzeichen von Agentenfilmen à la „James Bond“ genüsslich aufgegriffen und überspitzt sowie mit jugendlicher Unangepasstheit angereichert werden.
Auch ein Dinner zwischen Eggsy, seiner Freundin, die gleichzeitig Kronprinzessin von Schweden ist und im ersten Teil noch für den wahlweise geschmacklosesten oder unterhaltsamsten Gag herhalten durfte, sowie deren Eltern besticht mit gelungener Situationskomik, während Julianne Moores erster Auftritt als Gegenspielerin Diabolisches vermuten lässt, nachdem die Chefin eines Drogenhändlerrings einen Handlanger durch den Fleischwolf jagt und aus den Überresten einen geschmackvoll aussehenden Burger macht. Nachdem fast alle Kingsman-Agenten aus Großbritannien bei Anschlägen getötet werden und Eggsy mit Merlin in die USA reist, um die Statesman, das amerikanische Pendant der Organisation, für ihre Unterstützung aufzusuchen, versinkt „Kingsman - The Golden Circle“ mit dem Beginn der eigentlichen Mission in unnötig ausgedehnten Belanglosigkeiten sowie schlampig entwickelten Erzählsträngen.
Auf frustrierende Weise werden vielversprechende Nebendarsteller wie Channing Tatum, Jeff Bridges und Halle Berry, die Teil der Statesman sind, in teilweise nur wenige Minuten andauernden Auftritten verschwendet. Die Mission, bei der die Bösewichtin die ganze Welt durch vergiftete Drogen als Geisel hält, hakt dabei längst so generisch Handlungspfeiler für Handlungspfeiler ab wie die Vorbilder, welche Vaughn im Vorgänger noch so genüsslich aufs Korn nahm. Auch Moore bekommt in ihrer Rolle nicht viel mehr zu tun als jene klischeehaften Bösewichte der Agentenfilme, die lediglich über Bildschirme hinter ihren Schreibtischen agieren und hauptsächlich passiv Befehle geben oder bestimmte Knöpfe drücken.
Auch wenn sich Taron Egerton wieder mit starkem Charisma in seine Rolle als Eggsy einfügt und Vaughn scheinbar nicht auf die Chemie zwischen dem Hauptdarsteller und Colin Firth verzichten konnte, den der Regisseur prompt von den Toten auferstehen lässt, bewegt sich die Handlung von „Kingsman - The Golden Circle“ äußerst behäbig durch die einzelnen Schauplätze der Weltrettungsmission. Gelegentliche Anflüge von derbem Humor, den Vaughn speziell in einer gewissen Peilsender-Sequenz offenbar noch toppen wollte, und zwei bis drei Action-Set-Pieces, die durch druckvoll-dynamische Choreographien für kurzweilige Unterhaltung sorgen, reichen hingegen nicht aus, um den Gesamteindruck einer Fortsetzung, die halbgar, unnötig überlang sowie uninspiriert wirkt, merklich anzuheben.
Während „Kingsman - The Secret Service“ neben Bewunderern und Fans auch aufgebrachte Ablehnung erzeugte, indem die offen ausgestellte Freude am gewalttätigen Exzess sowie vulgären Treiben teilweise durchaus berechtigt aneckte, enttäuscht „Kingsman - The Golden Circle“ vor allem durch seine unspektakuläre Belanglosigkeit. Aufgrund des Fehlens von jeglichem provokativen Biss wirkt es, als habe sich Vaughn sicherheitshalber selbst die Zähne gezogen.
„Dies ist das Phantasie-Erlebnis des jungen Allan Gray, der sich in die Studien des Teufelskultus und Vampyr-Aberglaubens versenkte. Die Beschäftigung mit den Wahnideen vergangener Jahrhunderte machte ihn zu einem Träumer und Phantasten, dem die Grenze zwischen Wirklichkeit und Übernatürlichem verlorenging …“
Jenem Wahrnehmungszustand, den Carl Theodor Dreyer mit der einleitenden Texttafel von „Vampyr - Der Traum des Allan Gray“ beschreibt, spürt der dänische Regisseur in jeder Einstellung seines Werks nach. In seinem ersten Tonfilm nutzt Dreyer weniger die neuen, ihm gegebenen Möglichkeiten des Dialogs, um sich stattdessen auf die Stilistik des Stummfilms zu verlassen, mit der er zuvor schon ausgiebig arbeitete. Geschult am Deutschen Expressionismus der 20er Jahre erzeugt der Regisseur von Anfang an eine seltsame Zwischenwelt, in der sich die Hauptfigur Allan Gray fortbewegt.
Den jungen Studenten verschlägt es direkt zu Beginn in ein Gasthaus in der Nähe einer französischen Ortschaft, die Dreyer als unkonkreten, nur schwer greifbaren Schauplatz inszeniert. Umgeben wird der Protagonist hier von dunklen Gestalten, die Sicheln mit sich tragen und an den Tod höchstselbst erinnern, Schatten, die ein Eigenleben zu führen scheinen und sich selbstständig auf der Oberfläche eines Sees bewegen, sowie den Räumlichkeiten des Gasthauses, durch die unentwegt Geräusche hallen, die Schreien von Kindern oder dem Bellen von Hunden ähneln.
Gray wird um den Schlaf gebracht (oder träumt er ohnehin die ganze Zeit?), als sich ein älterer Mann in der Nacht Zutritt in sein Zimmer verschafft. Die phantomartige Gestalt hinterlässt dem Studenten nach wirren Gesprächsfetzen ein Geschenk, das sich als Buch herausstellt. Textstellen aus diesem Buch nutzt Dreyer wiederum fortwährend als Zwischentitel, um in die Umgebung, die von einer Nacht überstrahlt wird, die selten so hell schien, unheilvolle Hinweise auf einen Vampir-Mythos einzuflechten, der die französische Ortschaft in Form einer seuchenähnlichen Krankheit heimsucht.
Derweil lotet Gray weiterhin die Grenze zwischen Wirklichkeit und Übernatürlichem aus und folgt den Spuren, die ihn in Gestalt mysteriöser Schatten zu einem Schloss führen, in dem ein älterer Schlossherr mit seinen beiden Töchtern lebt. Als eine der jungen Frauen Bissspuren an ihrem Hals aufweist und Krankheitserscheinungen verfällt, bei der sie ihre Augen in einer ungemein furchteinflößenden Einstellung langsam wie im Fieberwahn verdreht, verdichtet sich die Handlung zu einem surrealen Geflecht aus Realität, Albtraum und übernatürlicher Mythologie.
„Vampyr - Der Traum des Allan Gray“ wird dem Betrachter im Nachhinein daher nur bedingt als kohärentes Filmerlebnis in Erinnerung bleiben. Es ist die Atmosphäre, die wie ein lange zurückliegender Traum erscheint, in dem einzelne Eindrücke deutlich stärker vor dem geistigen Auge wiederherstellbar sind als die Gesamtheit eines nebligen, blassen Szenarios, in dem wenig schlüssig erscheint. Die spärlich gesäten Dialoge, welche der Film enthält, lässt Dreyer nur ganz schwach erklingen, zu sehr werden sie von Wolfgang Zellers Musik erdrückt, die das Geschehen ebenso eindringlich wie beklemmend überlagert.
Das Schwarz-Weiß, in dem die Bilder des Films gehalten sind, wirkt zudem weniger wie eine damalige Notwendigkeit sowie technische Einschränkung als vielmehr wie ein filmischer Ausdruck der von Dreyer geschaffenen Welt. In dieser Welt, in der Geister kurzzeitig dem Körper entweichen, um anschließend der eigenen Beerdigung beizuwohnen, während ruhelose Tote aus ihren Gräbern zurückkehren, um die Lebenden mit ihrem Fluch zu infizieren, lässt sich Farbe schlichtweg nicht vorstellen. Zu düster ist dieses von Geheimnissen durchzogene Schattenreich, als das man sich dessen Mysterien durch einhellige Klarheit erschließen möchte.
[...] Die Regisseurinnen inszenieren diesen Auftakt hingegen mit einer sedierenden Qualität, bei der die elegischen, weichgezeichneten Bilder den Anschein erwecken, als befänden sich die einzelnen Szenen des Films in einem schummrigen Dämmerzustand zwischen Traum und Realität. Die Protagonistin scheint im weiteren Verlauf der Handlung, die sich folglich kaum als solche bezeichnen lässt, immer stärker mit ihrer Umgebung zu verschmelzen, bis sie selbst kaum noch als konkrete Person wahrnehmbar ist und im surrealen Fluss der Inszenierung zum kryptischen Objekt transformiert wird. Bezeichnend hierfür ist eine Szene, in der sich Theresa im Badezimmer in einen durchsichtigen Duschvorhang einrollt. Als würde sie ihre eigene menschliche Form hinter sich lassen wollen, wirkt Theresa für diesen kurzen Moment wie ein Insekt, das sich in einen Kokon verpuppt hat, um eine neue Gestalt erreichen zu können. In dieser handwerklichen Vorgehensweise offenbart sich zugleich die große Schwäche des Werks. Trotz hypnotischer Einstellungen strahlt Woodshock nichts als inhaltliche Leere aus und ist aufgrund der fehlenden Charakterzeichnung sowie langsam vor sich hin fließenden Erzählweise kaum mehr als ein ästhetisch hochwertig gefertigtes Vakuum. [...] Dem Debüt der Mulleavys fehlt es aber trotzdem an der nötigen Radikalität. Sobald sich die Schwestern voll und ganz auf die einhüllende Ausstrahlung ihrer fremdartigen Impressionen verlassen, erscheinen manche Einstellungen so, als würde der Zuschauer durch ein Prisma blicken, das die Bilder in funkelnde Fragmente aufbricht. Neben verspielten Stilmitteln, bei denen Theresa mitunter in Doppelbildern der Realität entgleitet, sind die Regisseurinnen aber auch an konventionelleren Erzählmustern interessiert, die nie mit der angestrebten Surrealität zusammenfinden. [...] Spätestens in der zweiten Hälfe, in der sich Theresa nach einem weiteren tragischen Zwischenfall dazu entschließt, die tödliche Kombination aus Droge und giftigem Wirkstoff in kleineren Dosen selbst zu konsumieren, verkommt Woodshock endgültig zu einer prätentiösen Aneinanderreihung schön anzusehender Bilder wie aus einem Modekatalog oder Parfüm-Werbespot. Dunst, die im ständigen Wechsel in verschiedene Kleidungsstücke der Mulleavys schlüpfen darf, ist das ausdruckslose, apathische Model, das zu flachen Vorführzwecken in ein gleichermaßen betörendes wie irritierendes Delirium entschwindet, dem die wenigsten Zuschauer noch aufmerksam folgen dürften. [...]
In drei Kapitel hat Fatih Akin seinen neuen Film „Aus dem Nichts“ eingeteilt. Schlicht betitelt heißen sie nur „Die Familie“, „Gerechtigkeit“ und „Das Meer“. Was in diesen Kapiteln geschieht, könnte hingegen kaum konträrer zu den simplen Titeln sein. In „Die Familie“ zeigt Akin eine Familie, die schon nach kurzer Zeit auf ewig auseinandergerissen wird, in „Gerechtigkeit“ bleibt ausgerechnet die Gerechtigkeit aus und unter dem Begriff „Das Meer“ denken die Menschen oftmals an den beruhigenden Rhythmus des Wellenschlags, dem der Regisseur kurz vor dem Abspann seines Films eine lange nachhallende Erschütterung voranstellt.
Inspiriert wurde Akin für die Geschichte durch den realen NSU-Prozess, ein Gerichtsverfahren gegen fünf Mitglieder der rechtsextremen Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“, die an Anschlägen und Morden gegen Migranten und Polizisten beteiligt gewesen sein sollen. Das Urteil in diesem Prozess, dessen Ermittlungen sich über Jahre hinzogen und der vor allem für Aufruhr sorgte, da zuerst umfassend im persönlichen Umfeld der Opfer nach kriminellen Verbindungen gefahndet wurde, steht bis heute aus. Die Erzürnung des Regisseurs darüber, dass die Opfer dieser Taten und zugleich deren Hinterbliebene zunehmend in den Hintergrund rücken, ist diesem Film hingegen in jeder Einstellung anzumerken.
Im Gegensatz zu Akins Roman-Adaption „Tschick“ aus dem vergangenen Jahr, in der es im Rahmen einer weitestgehend leichtfüßigen Coming-of-Age-Geschichte vor allem um das Heraufbeschwören eines Gefühls von Jugend sowie kindlichen Sehnsüchten ging, ist „Aus dem Nichts“ wieder ein Film, der bewährte Motive aus dem Schaffen des Regisseurs aufgreift. Hauptfigur des Films ist Katja, eine deutsche Frau, die mit dem Kurden Nuri verheiratet ist. Dieser betreibt mittlerweile ein Reise- und Übersetzungsbüro, nachdem er zuvor wegen Drogenhandels im Gefängnis saß. Zusammen hat das Paar einen sechsjährigen Sohn namens Rocco, der die dreiköpfige Familie komplettiert.
Nachdem eine Nagelbombe vor dem Büro ihres Mannes explodiert und Nuri sowie Rocco tötet, verliert Katja von einem Moment auf den anderen alles, was ihrem Leben Sinn verliehen hat. Im ersten Kapitel, das fortan Katjas Leben kurz nach dem Anschlag behandelt, inszeniert Akin die lähmende Trauerarbeit der Hauptfigur mit einer dichten Körperlichkeit, wie man sie aus Filmen des Regisseurs wie „Gegen die Wand“ kennt. Diane Kruger, die hier ihre erste deutschsprachige Rolle verkörpert, spielt die stille Verzweiflung sowie durch Drogen betäubte Lethargie dieser jungen Frau ebenso eindringlich wie die lauten Ausbrüche, in denen die Welt rund um Katja vollständig unterzugehen droht.
Zusammen mit der unruhigen Handkamera von Rainer Klausmann, die im ersten Drittel des Films häufig ganz nah an Krugers Gesicht haftet und jede kleinste Nuance darin ergründet, legt der Regisseur das emotionale Gewicht seines Films alleine auf die Schultern der Hauptdarstellerin, die zugleich eine Karrierebestleistung abliefert. Wenn sich die Ermittlungsarbeit der Polizei zunächst ausschließlich auf das Umfeld von Katjas verstorbenem Mann beschränkt und nach möglichen Tätern sucht, die eventuell mit Nuris krimineller Vergangenheit in Verbindung stehen, während Katjas Mutter beispielsweise offen durchscheinen lässt, dass sie von Anfang an gegen die Ehe zwischen der deutschen Frau und dem türkischstämmigen Mann gewesen ist, präsentiert Akin wütende, anklagende Motive in filmisch konzentrierter Form, um Katjas Situation mit scharfem Nachdruck zu verdeutlichen.
Auch im zweiten Kapitel, das den Gerichtsprozess gegen die beiden mutmaßlichen Täter behandelt und sich zu einem Großteil im Inneren des Gerichtssaals abspielt, wird deutlich, dass Akin ein Filmemacher ist, der das Politische im Privaten verhandelt und am liebsten so eng wie möglich bei seinen Hauptfiguren verweilt. Die ausführlichen Szenen der Verhandlung sind mit formaler Strenge komponiert und doch verweist der Regisseur unentwegt auf die Reaktion von Katja, in der sich der unfassbare Terror der Situation und gleichzeitig die erdrückende Ohnmacht gegenüber dem Justizsystem widerspiegelt. Besonders eine Einstellung, in der Katjas Gesicht im Hintergrund zu sehen ist, während im Vordergrund eine Gerichtsmedizinerin in sämtlichen Details beschreibt, wie die Körper der Opfer von den Auswirkungen der Explosionen erfasst und zerfetzt wurden, wird von einer Trauer und Fassungslosigkeit durchzogen, die man nicht mehr so schnell vergessen wird und in der ein so spröder Prozess wie die zähe Gerichtsverhandlung aufrichtiger Empathie weicht.
Das dritte Kapitel, in dem Akins Vorliebe für Genrefilme schließlich vollends zum Vorschein kommt, positioniert „Aus dem Nichts“ auf herausfordernde Weise zwischen der Sensibilität eines einfühlsamen Dramas und den geradlinigen Mechanismen eines aufwühlenden Thrillers. Mit stiller Poesie verlagert der Regisseur die Fragen über zweifelhafte Moral sowie verwerfliche Selbstjustiz weiterhin auf die Schultern seiner Protagonistin. Was als irritierender, brutaler Schlussakt missverstanden werden könnte, ist dabei nichts anderes als ein finales Statement des Regisseurs, der seiner eigenen Ratlosigkeit im Angesicht unverständlicher Entwicklungen Ausdruck verleiht, indem er gemeinsam mit Katja bis zum bitteren und nichtsdestotrotz zutiefst menschlichen Ende geht. Nicht die Handlung, die den Schluss dieses Films markiert, stimmt wütend, sondern die Umstände, die es nach zögernder Verzweiflung so weit haben kommen lassen.
[...] Unvollständige Eindrücke eines beunruhigenden Ereignisses eröffnen Giuseppe Tornatores Eine reine Formalität. Der Betrachter blickt in den Lauf einer Pistole, aus der ein Schuss abgefeuert wird, und verfolgt aus der Perspektive einer unbekannten Person, wie diese anschließend in einer stürmischen, regnerischen Nacht durch ein Waldstück rennt. Die schrillen Geigen auf der Tonspur, die von Meisterkomponist Ennio Morricone stammen, verdichten die Stimmung zu einem ruhelosen, überfordernden Auftakt, der die geheimnisvolle Drastik der Situation bereits in den ersten Minuten des Films zu einem unerwarteten Höhepunkt formt. [...] Die Handlung von Tornatores Film, bei der knisternde Unklarheit, dunkle Abgründe und elektrisierende Wortgefechte das Geschehen dominieren, könnte ebenso als Theaterstück aufgeführt werden. Der Regisseur, der zuvor vor allem für sein berührendes Drama Cinema Paradiso gefeiert wurde, inszeniert Eine reine Formalität als minimalistisches Kammerspiel, das sich beinahe ausschließlich in den Räumlichkeiten des Polizeireviers ereignet. Im Mittelpunkt steht das Gespräch zwischen Onoff und dem namenlosen Inspektor, welches von einer handwerklichen sowie atmosphärischen Virtuosität umrahmt wird, wie man es bei reduzierten, filmischen Kammerspielen selten miterleben darf. Mit Einstellungen, in denen der Bildausschnitt stets zum Schauplatz präziser Intensität und unaufhörlicher Spannung wird, und einer Tonkulisse, bei der sich das Geräusch des schier endlosen Regens mit den gewohnt erhabenen Kompositionen von Morricone abwechselt, erscheint das Polizeirevier als beklemmendes, dezent der Realität entrücktes Setting. Der Regen, der von außen in das Gebäude eindringt, scheint dabei nach und nach verdrängte Geheimnisse zurück an die Oberfläche zu spülen, die längst vergessen schienen. [...] Wenn Onoff zu dem Inspektor sagt, dass es nie eine gute Idee sei, seinem großen Idol persönlich zu begegnen, erweist sich der Film über seine eigenen Mysterien hinaus zudem als Reflexion über das Verhältnis zwischen dem Künstler und der von ihm geschaffenen Kunst sowie den Unterschied zwischen der öffentlichen Wahrnehmung und der Privatperson hinter dem Image. Auf stimulierende Weise stimmt der Regisseur über die Absicht des Schriftstellers nachdenklich, der entweder als ratloses Opfer in etwas hineingeraten ist, das er nicht versteht, oder bewusst jeden um sich herum manipuliert und, ähnlich wie in seinen eigenen Büchern, als perfider Manipulator agiert. Gérard Depardieu (Die Letzte Metro) und Roman Polanski (Der Mieter) laufen in diesem brillanten Schauspielerduell zur Höchstform auf und liefern sich wortgewaltige Auseinandersetzungen, die nie eindeutig erahnen lassen, wer von beiden gerade die Oberhand behält und wer dem anderen unterlegen ist. Zu beeindruckender Vollendung findet Eine reine Formalität aber erst durch ein Ende, für das die mittlerweile abgedroschene Phrase, man würde den Film anschließend mit völlig anderen Augen betrachten, kaum passender zutreffen könnte. Es ist der krönende Höhe- sowie gleichzeitig Schlusspunkt eines Werks, das nach pausenloser Spannung und nagender Ungewissheit zu rührender Tragik findet und nichts anderes als die ganz großen Fragen über den Sinn des eigenes Lebens stellt, in dem die Möglichkeiten einer moralischen Läuterung letztendlich sämtliche Grenzen des rationalen Verständnisses überwinden können. [...]
[...] Als Billy nach einem Apfel greift und beherzt in diesen hineinbeißt, blickt er anschließend auf einen ekelerregenden Haufen von Würmern, die sich im Inneren des Obstes räkeln. Unweigerlich wird man als Zuschauer in dieser Szene an David Lynchs (Lost Highway) großes Meisterwerk Blue Velvet erinnert, das nur drei Jahre vor Society veröffentlicht wurde. Auch im Film des brillanten Surrealisten offenbart die Kamera unter der Oberfläche saftig grüner Wiesen eine Anhäufung von pechschwarzen Insekten, die der strahlenden Symbolkraft von weißen Gartenzäunen und blühenden Rosen in den Gärten der amerikanischen Vorstadt als tief verborgene Schattenseite entgegenwirken. [...] Yuzna hält sich mit expliziten Effekten und konkretem Horror lange zurück und inszeniert sein Werk zusammen mit der großartigen Musikuntermalung von Mark Ryder und Phil Davies als surreal angehauchtes Wechselspiel zwischen Realität und Einbildung. Indem der Zuschauer durchwegs in die subjektive Perspektive der Hauptfigur versetzt wird, lässt sich nie eindeutig unterscheiden, welche Szenen gerade wirklich stattfinden, was sich womöglich nur in der verwirrten Psyche von Billy ereignet und was tatsächlich in Form von grauenhaften Abgründen in die Lebenswelt des Protagonisten hereinbricht. Auch wenn Society über die ersten zwei Drittel der Laufzeit hinweg somit einem eher langsameren, behutsamen Spannungsaufbau folgt, entfaltet sich zwischen den Figuren und Dialogen, die bewusst überzeichnet wirken und gängigen Stereotypen des 80er-Kinos entsprechen, eine mitreißende Stimmung aus Teenager-Paranoia und dem Kontrast zwischen verführerischen Impulsen sowie abstoßenden Einstellungen voller unwirklicher Fragwürdigkeiten. Seinen Höhepunkt, der selbst im von unzähligen Möglichkeiten durchzogenen Genre des Horrorfilms noch hervorsticht, erreicht Yuznas Film aber schließlich in den letzten 15-20 Minuten. In den grotesken Einstellungen, die von orange-rötlichem Licht hypnotisch ausgeleuchtet sind und mit Effekten aufwarten, die der Special-Effects-Künstler Screaming Mad George kreierte, wandelt sich Society vollends zur ebenso stürmischen wie unvergesslichen Gesellschaftskritik. Dabei gibt sich die wohlhabende Oberschicht in Gestalt von skurrilen Wesen nicht nur einer hemmungslosen Orgie hin, bei der die schleimigen Körper miteinander verschmelzen, sondern saugt die ärmlichere Gesellschaftsschicht im wahrsten Sinne des Wortes aus. In diesem Finale, bei dem selbst eine Body-Horror-Ikone wie David Cronenberg (Videodrome) vor Neid erblassen dürfte, gerät Society endgültig zu einer außergewöhnlichen Perle des Genres, die man nicht nur, aber vor allem aufgrund des Schlussaktes, der wie ein albtraumhaftes Gemälde im Stil von Salvador Dalí wirkt, unbedingt gesehen haben sollte. [...]
Im bisherigen DCEU entspricht „Justice League“ in etwa dem von Viktor Frankenstein erschaffenen Monster aus dem berühmten Roman von Mary Shelley. Während bei umstrittenen Filmen wie David Ayers „Suicide Squad“ oder Zack Snyders „Batman v Superman: Dawn of Justice“ bereits deutliche Bruchstellen zu erkennen waren, die aus einem Interessenkonflikt zwischen der persönlichen Vision des Regisseurs und den Vorgaben des Studios resultierten, kommt die erstmalige Superhelden-Zusammenführung des DCEU in „Justice League“ einem chaotischen Flickenteppich gleich. Schon die Produktionsgeschichte stimmte im Vorfeld skeptisch, nachdem sich zuerst das Gerücht von einer 170-minütigen Fassung verbreitete, welches wenig später vom Studio dementiert wurde. Den größten und tragischsten Einschnitt erfuhr das Projekt jedoch durch den plötzlichen Ausstieg von Snyder, der seine Tochter durch Suizid verlor und sich kurz nach den Dreharbeiten inmitten der Post-Produktion verständlicherweise zurückzog, um seiner restlichen Familie die nötige Zeit zu widmen.
Nachdem Joss Whedon für die Fertigstellung des Films engagiert wurde und dieser zusätzlich einige Nachdrehs durchführte, bei denen beispielsweise der Schnurrbart von Henry Cavill, der nachträglich digital entfernt werden musste, für Schlagzeilen sorgte, wurde „Justice League“ letztendlich mit einer wieder einmal ungemein turbulenten Hintergrundgeschichte in den Kinos veröffentlicht. Die Frage, zu wie viel Prozent das fertige Resultat jeweils Snyder oder Whedon zugeschrieben werden kann, lässt sich auch nach der Sichtung des Films nicht eindeutig beantworten, doch der Eindruck eines schizophrenen, zutiefst bruchstückhaften sowie unausgegorenen Gesamtwerks durchzieht den Streifen von Anfang bis Ende.
Dabei lassen die ersten gut zehn Minuten von „Justice League“ zweifelsohne den unverkennbaren Stil des ursprünglichen Regisseurs erkennen. In hochgradig stilisierten Montagen, die oftmals erneut eher einem Musikvideo gleichen, führt Snyder die düstere, beinahe apokalyptische Stimmung aus „Batman v Superman: Dawn of Justice“ fort. Den Tod von Superman nutzt der Regisseur für die kurze Bestandsaufnahme einer Welt, die in tiefer Trauer und voller Ungewissheit in einem fast schon depressiven Zustand verweilt, während die Abwesenheit des gottgleichen Superhelden Fragen darüber aufwirft, wie die Menschheit im Fall einer drohenden Katastrophe gerettet werden soll.
Eine solche Gefahr, die sich in Form des übermächtigen Steppenwolf ankündigt, der nichts anderes als die Auslöschung der Erde beabsichtigt, soll daher abgewendet werden, indem sich die übrigen Superhelden zu einem Team vereinen. Nachdem sich Bruce Wayne dazu entschließt, dieses Team zusammenzustellen und die übrigen Mitglieder aufzuspüren, wird die Problematik des Films schnell deutlich. Mit einer losen Abfolge von Einzelszenen, die ungelenk aneinander montiert werden, soll „Justice League“ schließlich ein ähnliches Gipfeltreffen wie „The Avengers“ aus dem MCU heraufbeschwören.
Da mit Flash, Aquaman und Cyborg aber gleich drei Heldenfiguren in das Team integriert werden sollen, die hier erstmals als vollwertige Charaktere auftreten, gerät der Film auf verheerende Weise in einen unlösbaren Konflikt zwischen Figurenetablierung, konkreter Bedrohung durch einen kaum bezwingbaren Bösewicht, den fatalen Nachwehen aufgrund des Todes von Superman und dem Erzeugen einer stimmigen Dynamik zwischen all den zentralen Superhelden.
Durch die fast schon kompakte Laufzeit von gut zwei Stunden wirkt „Justice League“ somit wie ein überlanger Trailer, der Ideen, Ansätze und Entwicklungen anreißt, ohne die mitunter voneinander losgelösten Szenen jemals schlüssig zu verbinden. Dass Whedon schlussendlich nur als zusätzlicher Drehbuchautor aufgelistet wird, greift entschieden zu kurz, da sich die Nachdrehs stellenweise stark sichtbar in dem ohnehin holprigen Handlungsverlauf bemerkbar machen und aufgrund der starken Fokussierung auf seichte Gags sowie der unübersehbaren Verwendung von kostensparendem Greenscreen wie Fremdkörper wirken.
Neben der generischen, dünnen Geschichte, in der ein komplett mit CGI geformter Steppenwolf wieder einmal einen Totalausfall markiert, was die Kreation einprägsamer Antagonisten betrifft, leidet „Justice League“ aber vor allem unter der fehlenden Chemie zwischen den Superhelden. Obwohl Figuren wie Cyborg, Flash und Aquaman kurze Hintergrundgeschichten angedichtet werden, bleiben sie kaum mehr als funktionale Glieder einer Kette, die zumeist auf eine einzige Charaktereigenschaft reduziert werden und sich ihrer limitierten Rolle innerhalb des Teams fügen müssen. Das natürliche Charisma von Jason Momoa und die humorvolle Seite von Ezra Miller genügen kaum, um aus den Superhelden mehr zu machen als reine Abbildungen wie aus einem Comicheft, durch das man sich flüchtig blättert.
Selbst Bruce Wayne/Batman, den Snyder zusammen mit Ben Affleck in „Batman v Superman: Dawn of Justice“ von einer aufregenden, ungeahnt finsteren Seite porträtierte, tritt in diesem Film wie ausgewechselt auf. Unter dem lustlosen, apathischen Schauspiel von Affleck mutiert Bruce Wayne zum trägen Playboy, der hin und wieder auf müde Art und Weise witzige Bemerkungen einstreuen muss, die hierdurch umso aufgesetzter wirken. Eine Szene, in der Aquaman versehentlich auf dem Wahrheitslasso von Wonder Woman sitzt und den übrigen Mitgliedern des Teams ungefiltert vorwirft, was er von ihnen hält, ist daher weniger ein guter Witz als vielmehr ein treffender Kommentar zu den erschreckend einseitigen Charakterfacetten dieser Figuren, auf denen der Film konsequent beharrt.
So ist die beste Szene von „Justice League“ bezeichnenderweise ein Gespräch zwischen zwei Nebenfiguren, die im gesamten Film vielleicht zehn Minuten Screentime erhalten. Wenn Louis Lane und Martha Kent gemeinsam an einem Tisch sitzen und sich darüber unterhalten, auf welche Weise Superman jeweils als verlorener Liebhaber und verlorener Sohn im Unterbewusstsein der beiden Frauen verhaftet geblieben ist, entwickelt sich der Streifen für die kurze Dauer dieses Gesprächs zu einem sensiblen, einfühlsamen Charakterstück, das aufgrund des Schauspiels von Amy Adams und Diane Lane sowie des persönlichen Einbezugs von einschneidenden Konsequenzen und tragischen Folgen so viel mehr ist als die bedeutungslose, unmotivierte Zusammenkunft eines Heldenteams, das am Ende selbstverständlich wieder den Tag retten wird.
Bilder und Worte alleine sind nicht dazu imstande, das Grauen, dem der Name „Holocaust“ verliehen wurde, zu erfassen. Dem Akt der Massenvernichtung von geschätzt 6 Millionen Juden, die nur deshalb getötet wurden, weil sie am Leben waren, kann kein Text, keine Nacherzählung, keine Schilderung von Augenzeugen oder Überlebenden und keine Anhäufung von explizitem Bildmaterial gerecht werden. Über Jahrzehnte hinweg werden die Menschen, vor allem in Deutschland selbst, dazu aufgefordert, sich mit der Geschichte ihres Landes auseinanderzusetzen. Als Vergangenheitsbewältigung wird dieser Prozess bezeichnet, durch den der Nationalsozialismus wieder und wieder einer Auseinandersetzung bedarf. In den Geschichtsbüchern der Schulen findet sich die Epoche des Zweiten Weltkriegs in Verbindung mit der Diktatur von Adolf Hitler und dem Beschluss der Verfolgung sowie Auslöschung der Juden ebenso wieder wie in errichteten Holocaust-Gedenkstätten, die vor allem dazu dienen sollen, dass dieses unbeschreibliche Kapitel der Menschheitsgeschichte niemals in Vergessenheit gerät.
Einen bedeutenden Dienst, die Realität zu reflektieren und ein Abbild der Gesellschaft zu erschaffen, leistet überdies auch die Kunst. Speziell das Kino kann neben seinen offensichtlichen Qualitäten als Erinnerungsmaschine angesehen werden, der es durch die gezielte oder oft auch geschickt manipulative Art der Verbindung von Bild und Ton gelingt, Abdrücke des Weltgeschehens zu erzeugen, die ihren Nachhall auch noch Jahrzehnte und vielleicht sogar Jahrhunderte nach ihrer Entstehung entfalten. Alain Resnais essayistische Dokumentation „Nuit et Brouillard“ ist ein solches Werk, das auch in über 60 Jahren nach seiner Entstehung nichts an dringlicher Relevanz, historischer Bedeutung und schier unerträglicher Ausdruckskraft verloren hat.
Gut 10 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs spürt der Regisseur im Jahr 1955 den Gräueln des Nationalsozialismus nach, indem er auf der ersten Ebene des Films an einen der berüchtigsten Schauplätze dieses Verbrechens an der Menschheit reist. Den in Farbe gefilmten Bildern, die das Konzentrationslager Auschwitz als mittlerweile friedlichen, unscheinbaren Ort zeigen, stellt Resnais auf der zweiten filmischen Ebene Schwarz-Weiß-Bilder sowie Archivaufnahmen entgegen, die unmittelbar aus der Vergangenheit mit schrecklicher Gewissheit in die Gegenwart eindringen.
Neben der Musik von Hans Eisler wird der von Kontrasten bestimmte Bilderstrom des Films durch den im Original aus dem Off vorgetragenen Text von Jean Cayrol angereichert. Der Schriftsteller und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus war selbst Häftling eines Konzentrationslagers und entkam dem Tod nur knapp. Dieses Gefühl von Verzweiflung und Angst, das Cayrol über einen längeren Zeitraum unentwegt begleitete, weicht in der vorgetragenen Lyrik des Künstlers einer schlichten Poesie, die ebenso ratlos wie anklagend Beobachtungen anstellt, Fragen aufwirft und Überlegungen vornimmt, die sich nur schwer beantworten, aber dafür nie wieder verdrängen lassen.
Mit dem Fokus auf die reine Todesmaschinerie des Nationalsozialismus, die der totalen Auslöschung der Juden folgte, wird die Wirkung einzelner Bilder von Konzentrationslagern, die unzählige Menschen nackt und zusammengepfercht abbilden, nur ansatzweise als etwas beschrieben, das von einem anderen Planeten stammt. In „Nuit et Brouillard“ kommt dem abstrakten Prozess des Holocaust eine Wirkung zu, die folgerichtig nur als weltfremd beschrieben werden kann. Weltfremd insofern, als dass die Taten unwiderlegbar auf unserem Planeten stattgefunden haben und sich doch nur als etwas erschließen lassen, das wir mit fremdartiger Distanz von uns weisen müssen, um sich dem gesamten Ausmaß dieser Ereignisse mit unverständlicher Vorsicht annähern zu können.
Resnais und Cayrol scheinen mit ihrem 32-minütigen Werk fortwährend gegen diese Distanz anzukämpfen. Der französische Regisseur und der französische Schriftsteller zeigen, ohne zu werten, die Gegenwart als einen Zustand, der sich nicht losgelöst von der Vergangenheit betrachten lässt. Die kaum erträglichen Bilder der menschlichen Haarbüschel, die zu Stoff verarbeitet werden, der Knochen, die als Dünger über Felder verstreut werden, der Leichen, aus denen Seife entstehen soll und der Toten, die von Baggern massenhaft in Gräber geschaufelt werden, sind daher nicht einfach als schockierende Erinnerungen zu verstehen. Resnais schuf mit „Nuit et Brouillard“ eine der wichtigsten Dokumentationen der bisherigen Filmgeschichte, bei der rationales Verständnis und eindeutige Schuldzuweisungen einem Gefühl weichen sollen, das Bewusstsein schafft. Bewusstsein, welches hoffentlich verhindert, vergessen zu können und gleichzeitig daran erinnert, dass der Blick nach vorne nicht erfolgen kann, ohne die Schreie von hinten zu ignorieren, die nicht verstummen werden.
Nach den ersten Szenen von Alan Parkers „Angel Heart“ wirkt es bereits so, als sei Mickey Rourke für die Hauptrolle dieses Films förmlich geboren worden. Auch wenn der Regisseur zuvor Schauspieler wie Robert De Niro und Jack Nicholson als Harry Angel besetzen wollte, kann man sich während und nach der Sichtung von Parkers Werk keinen anderen Darsteller als Rourke in der Rolle des abgehalfterten Privatermittlers vorstellen. Von melancholischen Saxophon-Klängen begleitet führt der Regisseur bei seiner Romanadaption ins New York der 50er Jahre, wo die Straßen Brooklyns nicht nur von Schmutz und Regen bedeckt sind, sondern auch regelmäßig mit Leichen gepflastert werden. Inmitten dieses düsteren Molochs versucht sich der Protagonist mit gelegentlichen, unterbezahlten Aufträgen über Wasser zu halten. Ansonsten, so wirkt dieser Harry Angel durch sein angespanntes, verschwitztes Auftreten zumindest schon frühzeitig, würde er sicherlich ebenfalls vom unbarmherzigen Abgrund der Metropole geschluckt werden und in niedersten Regionen aufschlagen.
Als der Anwalt eines gewissen Louis Cyphre Kontakt zu dem Privatermittler aufnimmt, gelangt der allerdings zur Abwechslung an einen lukrativen Auftrag, bei dem ihm 5 000 Dollar Honorar in Aussicht gestellt werden. Dafür soll Angel einen verschollenen Schlagersänger namens Johnny Liebling, besser bekannt unter dem Künstlernamen „Johnny Favorite“, ausfindig machen. Der Sänger, der vor Jahren große Erfolge feierte, ist irgendwann von einem Moment auf den anderen vollständig von der Bildfläche verschwunden. Der ominöse Auftraggeber, den De Niro in seinen kurzen Auftritten mit gewohnt unvergleichlicher Präsenz darstellt, hat mit dem Schlagersänger angeblich noch eine Rechnung zu begleichen, weshalb er den Privatermittler mit der Suche nach Johnny Favorite beauftragt.
Angels Ermittlungen inszeniert Parker dabei als nebulös verschlungene Neo-Noir-Irrfahrt, bei der sich die verschiedenen Spuren nicht etwa nach und nach zu einem schlüssigen Gesamtbild verdichten, sondern nur noch mehr Fragen aufwerfen und in mehrere Richtungen führen. Wie auch schon in den älteren Vertretern des Film Noir üblich, nimmt die eigentliche Handlung des Films irgendwann eine regelrechte Nebenrolle ein. Mithilfe von falschen Fährten, rätselhaften Sackgassen und unklaren Verstrickungen führt der Regisseur den Protagonisten weniger durch eine klar strukturierte Geschichte als vielmehr durch ein wirres Labyrinth, das Parker in der intensiven Atmosphäre der Schauplätze verankert.
Das New Orleans, in dem Angel mehrere Angehörige des Schlagersängers zur Befragung aufspürt, gerät in „Angel Heart“ zum schwülen Hexenkessel, in dem der Blick durch die stechende Hitze der Sonne unentwegt verschwimmt. Der Privatermittler kann seinen eigenen Augen immer weniger trauen, nachdem jede Person, die er zuletzt besucht hat, kurze Zeit später brutal ermordet aufgefunden und er selbst zum Verdächtigen wird. Schon zu Beginn des Films verfremdet Parker die beinahe gemächliche Linearität seiner Erzählung durch unvermittelte Einschübe in Form von aufblitzenden Bildfragmenten, die von einer Vergangenheit zeugen, die es im Laufe des Films zu ergründen und aufzuschlüsseln gilt.
Mit der Anhäufung okkulter Symbole und religiöser Verweise, die Angel immer tiefer in die Voodoo-Rituale der Südstaaten-Bevölkerung führen, kombiniert Parker die Neo-Noir-Ästhetik des Films zunehmend mit bizarren Elementen des Horrorfilms, bis beide Stilrichtungen nach langsam voranschreitendem Spannungsaufbau zu einer flirrenden Symbiose des puren Grauens zusammenfinden. Nachdem der Regisseur schon zuvor Einstellungen kreiert, die sich nur schwer wieder abschütteln lassen, erreicht „Angel Heart“ einen vorläufigen Höhepunkt in der Sexszene zwischen Rourkes Protagonist und der von Lisa Bonet gespielten 17-jährigen Epiphany.
Im getriebenen Akt zwischen Angel und der Tochter, die aus einer Affäre von Johnny Favorite hervorging, steigert Parker den Grat zwischen Realität und Wahnsinn ins Unermessliche, bis sich der Regen, der von außen in das Zimmer prasselt, zu rotem Blut verfärbt. Im markerschütternden Finale verwandelt der Regisseur Angels Pfad mit einer radikalen Wendung endgültig in einen Albtraum, in dem die Suche nach einer anderen Person schlussendlich mit dem Fahrstuhl hinab in die Hölle der eigenen Selbsterkenntnis führt.
Bislang hatte das DC Extended Universe (DCEU) als ernstzunehmendes Konkurrenz-Franchise zum Marvel Cinematic Universe (MCU) in den Augen von Fans und Kritikern einen eher schweren Stand. Comicverfilmungen wie „Batman v Superman: Dawn of Justice“ und „Suicide Squad“ wurden überwiegend desaströs aufgenommen und bescherten dem Franchise nach nur drei Filmen einen äußerst schleppenden Auftakt, der im Jahr 2017 mit dem ersten Teil von „Justice League“ zumindest noch in einer Art „The Avengers“-Pendant gipfeln soll. Eine strahlende Ausnahme des DCEU stellt jedoch „Wonder Woman“ dar, dem finanziell der Rekord als erfolgreichster Realfilm einer Regisseurin gelang und der sowohl Kritiker als auch Kinobesucher und Comic-Fans weitestgehend einhellig in Begeisterung versetzte.
Patty Jenkins, die seit ihrem eindrucksvollen Debüt „Monster“ von 2003 keinen einzigen Kinofilm mehr inszeniert hat, wird für ihre Arbeit an dem Streifen als neue Vorreiterin einer feministischen Form von Superheldenfilmen gefeiert. In diesen sollen die üblichen Sehgewohnheiten bezüglich kraftvoller Maskulinität, die meist im Mittelpunkt steht, sowie weiblichen Sidekicks, die oftmals auf die Hilfe männlicher Mitstreiter angewiesen sind, endgültig aufgebrochen werden. Sieht man sich „Wonder Woman“ an, lassen sich all die Lobpreisungen für eine Comicverfilmung, in der dem weiblichen Geschlecht angeblich zu ungeahnter Stärke verholfen werden soll, aber nur schwer nachvollziehen.
Im Gegensatz zu den sonstigen DCEU-Filmen, denen trotz ihrer zweifelhaften Eigenschaften und Qualitäten in der Regel stets eine eigene Handschrift anzumerken war, wirkt Jenkins‘ Werk deutlich wie ein künstlerisches Zugeständnis in Richtung der Marvel-Konkurrenz. Einer der Hauptkritikpunkte, die dem MCU vorwerfen, die einzelnen Filme würden längst wie strikt durchorganisierte Bestandteile einer einheitlich genormten „Corporate Identity“ aussehen, trifft nun auch auf „Wonder Woman“ zu. Die Geschichte der Superheldin folgt der typischen Origin-Story, was zu Beginn des Films hauptsächlich zu ausgewälzter Exposition führt.
Der Auftakt, bei dem die Regisseurin den Zuschauer auf die Paradiesinsel Themyscira führt, wo Diana ihre Kindheit und Jugend als Amazone zwischen weiblichen Gleichgesinnten verbringt und zur Kriegerin ausgebildet wird, offenbart nicht nur eine mehr als austauschbare sowie beliebige Ästhetik, der jegliche Eigenständigkeit abgeht, sondern auch ein formelhaftes Handlungsgerüst, bei dem abzusehen ist, welchem dramaturgischen Prinzip der Rest des Films folgen wird.
Nur in einer frühen Action-Passage, in der die Insel zum Zeitpunkt des Ersten Weltkriegs von deutschen Soldaten angegriffen wird, wird kurzzeitig ein Gespür für bildstarke und zugleich comichaft überhöhte Impressionen sichtbar. Die scheinen in ihrem ausgeprägten Hang zur extremen Zeitlupe wiederum an die Handschrift von Zack Snyder angelehnt zu sein, der hier ebenfalls als Produzent beteiligt war. Nachdem Diana dem britischen Spion Steve Trevor das Leben rettet und diesem langsam ihr Vertrauen schenkt, begleitet sie ihn nach London. Von hier aus will sich die Superheldin direkt an der Front aussetzen lassen, um den Kriegsgott Ares aufzuspüren und zu töten, damit der Krieg zwischen den Menschen ein für alle Mal ein Ende findet.
Das Weltkriegs-Setting, welches beispielsweise auch schon in „Captain America: The First Avenger“ Verwendung fand, verkommt in „Wonder Woman“ hingegen oftmals zur Hintergrundkulisse für ein Comic-Abenteuer, das in der ersten Hälfte vor allem dem Humor verschrieben ist. Auch wenn die titelgebende Superheldin von Hauptdarstellerin Gal Gadot mit sichtlicher Leidenschaft für ihre Rolle verkörpert wird und die israelische Schauspielerin mit genügend Charisma und Charme eigene Akzente zu setzen vermag, muss sie des Öfteren für flache Gags herhalten, die ihre Pointen ausschließlich aus den Differenzen zwischen der gewöhnlichen Welt und Dianas Herkunftsinsel beziehen.
Im Zusammenspiel mit Chris Pines Figur des britischen Spions, der wenig überraschend schnell Gefühle für die starke Amazone entwickelt, kommt „Wonder Woman“ anstelle einer subversiven Comicverfilmung, die zum feministischen Rundumschlag ausholt, eher einer konventionellen Geschlechterumverteilung gleich, bei der die üblichen Rollen aus Superheldenfilmen lediglich vertauscht wurden. Im Zuge des sonst so schwermütigen, düsteren Tonfalls des DCEU, der zugleich als Spiegelbild für eine pessimistische, zynische Gesellschaft diente, überzeugt Jenkins‘ Superheldin zur Abwechslung hingegen mit einer sensiblen, einfühlsamen Mentalität. Durch ihren unbedingten Willen, die Welt zum Positiven zu verändern und möglichst viele Menschen zu retten, ist Wonder Woman in Ansätzen tatsächlich ein angenehmes Gegengewicht zu den lebensmüden, abtrünnigen oder selbstzweifelnden Heldenfiguren, die das DCEU ansonsten bevölkern.
Spätestens im letzten Drittel, in dem sich die Regisseurin nicht nur romantischen Klischees hingibt, sondern auch noch einen generischen Showdown auffährt, in dem das gesamte Übel der Welt mit übermenschlicher Überlegenheit ausgemerzt werden kann und auch Pines Figur neben dem eigenmächtigen Willen der Hauptfigur noch zu tragischem, hilfsbereiten Heroismus finden darf, ist von der vielfach angepriesenen feministischen Ausrichtung sowie dem angeblich frischen Wind, den „Wonder Woman“ bringen soll, aber rein gar nichts mehr zu spüren.