Patrick Reinbott - Kommentare

Alle Kommentare von Patrick Reinbott

  • 7 .5

    Durch das farbenfrohe deutsche Poster, auf dem eine nackte Frau genüsslich die Zunge nach drei überdimensionalen Eiskugeln ausstreckt, wirkt Dusan Makavejevs Film mit dem dazu passenden Titel "Sweet Movie" wie eine süßliche Versuchung, der man kaum widerstehen kann. So manchem dürfte der Genuss allerdings schneller im Hals stecken bleiben, als ihm lieb ist, denn hinter Makavejevs Werk verbirgt sich eine bösartige Groteske, die eindeutig ein Kind ihrer Zeit ist.
    Eröffnet wird der Film mit Bildern einer schrillen Game-Show, irgendwo zwischen "Tutti Frutti" und "Der Bachelor", in der verschiedene Frauen, die allesamt den "Miss World"-Titel tragen, von einem Gynäkologen auf ihre Jungfräulichkeit untersucht werden, wobei diejenige mit dem ansprechendsten Intimbereich, welcher in diesem Fall ein gold glänzendes Licht ausstrahlt, mit einem Billionär verheiratet wird.
    Mit diesem Auftakt, der gleichermaßen für Erheiterung und Verwirrung sorgen dürfte, tastet sich der Regisseur allerdings erst langsam in Sphären vor, die der Streifen im weiteren Verlauf noch durchdringen wird, wobei sich "Sweet Movie" von einer anfangs skurril-albernen Komödie zu einem immer abstoßenderen Reigen vulgärer sowie ekelerregender Impressionen entwickelt. Sein ursprüngliches Drehbuch musste Makavejev an einem bestimmten Punkt schließlich sogar komplett umschreiben, da die Hauptdarstellerin ungefähr nach der Hälfte der Dreharbeiten angewidert das Set verließ, schockiert von dem, was sich regelmäßig am Set vor laufender Kamera ereignete.
    Vorstellen kann man sich "Sweet Movie" in etwa so, als hätte Alejandro Jodorowsky seine Version eines Besuchs im Schlaraffenland inszeniert. Während sich einer der beiden Handlungsstränge darum dreht, dass "Miss Canada", die zuvor aus der Zwangsehe mit dem texanischen Billionär geflohen ist, in eine Art Künstler-Kommune gerät, geht es im anderen Teil des Films darum, dass eine Frau auf einem Schiff, das den Kopf von Karl Marx als Mast trägt, einen Segler an Bord lockt.
    Im letzten Drittel wirft Makavejev plötzlich sämtliche Erzählfäden über den Haufen und lässt beide Handlungen in den puren Exzess kippen. Was der tschechische Regisseur an eindringlichen Bildern aufbietet, hätte anderen Filmemachern mit Leichtigkeit für drei Filme gereicht, doch "Sweet Movie" kulminiert auf seinem Höhepunkt zu einem beispiellosen Fest der audiovisuellen Eindrücke, das selbst im kontrovers-transgressiven Kino der 70er noch hervorsticht.
    Wie in Trance wird fröhlich durch die Gegend uriniert, an Brüsten gesaugt und bei einer Fressorgie im Strahl gekotzt, während man sich gemütlich an Geschlechtsteile kuschelt. Makavejev durchbricht sämtliche Tabus mit radikaler Frivolität, wobei er in einer Passage des Films, die zwei kleine Jungs miteinschließt, durchaus über das Ziel hinausschießt und sich verständlicherweise große Schwierigkeiten mit sämtlichen Zensurbehörden verschiedenster Länder einhandelte.
    Vergessen wird man viele der Bilder trotzdem nicht so schnell. Wenn sich ein Messer in eine Figur bohrt, die vollkommen mit Zucker bedeckt ist, woraufhin das Blut aus den Öffnungen sprudelt, inszeniert der Regisseur den menschlichen Körper wie eine Art Gebäck, aus dem die Füllung fließt. Auch das Finale, in dem sich die nackte "Miss Canada" für einen Werbespot in einem Schokoladenbecken wälzt und von Kopf bis Fuß glasiert wird, lässt schlussendlich kaum mehr Zweifel daran, dass der Regisseur sein Werk, neben einigen garstigen politischen Seitenhieben, als große Satire auf die unstillbare Konsumgier der Menschheit angelegt hat, der er mit diesem Film ein für alle Mal die aufgerissenen Mäuler stopft, bis sie an den schweren Brocken förmlich erstickt.

    14
    • 4

      [...] Regisseur Jon Knautz (The Shrine) porträtiert seine Hauptfigur in Goddess of Love schon von Beginn an als sensible Frau, mit der irgendetwas nicht zu stimmen scheint. Auch wenn sich durch ihre Beziehung zu Brian langsam so etwas wie Normalität für sie einzustellen scheint, wird Venus von seltsamen Erscheinungen und Geräuschen geplagt. Als sie einer Stripper-Kollegin anfangs von Spinnenbissen auf ihrer Haut erzählt, erkennt diese nichts, wodurch bereits erste Zweifel über die psychische Verfassung der Protagonistin aufkommen. Nachdem sich Brian, der selbst einen persönlichen Verlust in Form des Selbstmords seiner Ex-Frau verarbeiten muss, zunehmend von Venus distanziert, vermischen sich Befürchtungen über eine mögliche Untreue mit der ohnehin vorbelasteten Seele der Frau, was nach und nach zu einem Abgleiten in den völligen Wahnsinn führt. Narrativ entpuppt sich Goddess of Love dabei als mühsam entworfener Flickenteppich aus Psycho-Thriller-, Horror-, sowie Drama-Elementen, aus denen Knautz einen Film formt, der sich äußerst unentschlossen zwischen dem persönlichen Schicksal der Hauptfigur und den surrealen Visionen, die nie eindeutig der Wirklichkeit oder Einbildung zugeordnet werden können, bewegt. Der Regisseur inszeniert das subjektive, angeknackste Wahrnehmungsvermögen von Venus mit Einstellungen, die mal farblich übersteuert wirken, mal unruhig verwackelt für verunsicherte Nervosität sorgen und einige Visionen unangenehm explizit bebildern, zumal der Score durch einige jazzlastige Einlagen, die unkontrolliert und wild klingen, die zunehmend überforderte Psyche der Protagonistin spürbar werden lässt. Mitgefühl für das Schicksal von Venus, das sich nicht nur durchwegs vorhersehbar gestaltet, sondern durch eine misslungene Wendung zum Schluss völlig in sich zusammenbricht, will sich beim Betrachter trotz der gelungenen handwerklichen Umsetzung zu keinem Zeitpunkt einstellen. Knautz, der das Drehbuch ebenfalls selbst schrieb, reiht lediglich Konventionen der verschiedenen Genres, aus denen er sich bedient, ohne jegliche Raffinesse aneinander. Was zunächst wie eine surreal überhöhte Auseinandersetzung mit gekränkten Gefühlen, frustrierter Isolation und krankhafter Eifersucht beginnt, versickert schließlich in ödem Einheitsbrei, der durch den miserablen Schluss endgültig jene Vorzüge verspielt, welche durch die immerhin ansehnliche Inszenierung zuvor entstanden sind. [...]

      9
      • 7

        Mit einem Titel wie "Zielfahnder - Flucht in die Karpaten" einer ist, fügt sich Dominik Grafs neuer Fernsehfilm lückenlos in das altbekannte Programm der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten ein, wo Woche für Woche belanglose, nach dem üblichen Schema gestrickte TV-Krimis mit ähnlichen Titeln ausgestrahlt werden.
        Selbstverständlich ist aber auch dieser Film ein klarer Dominik-Graf-Film, was bereits der atemlose Einstieg unmissverständlich aufzeigt.
        Die Flucht eines rumänischen Häftlings aus der Justizvollzugsanstalt in Düsseldorf sowie die sich daran anschließende Verfolgung durch LKA-Beamte entwickelt sich unter der fiebrigen, aus der Zeit gefallenen Inszenierung von Graf zu einer einzigen, so gut wie nie stillstehenden Vorwärtsbewegung, bei der der Regisseur abermals durch schnelle Kameraschwenks, abrupte Zooms und messerscharfe Schnitte zu einem nahezu atemlosen Rhythmus findet. Beinahe die gesamte erste halbe Stunde des Films rauscht epileptisch am Betrachter vorbei und wer sich auch nur kurz ablenken lässt, wird förmlich aus dem entfesselten Bilder-Stakkato geschleudert.
        Nachdem Graf in den letzten Jahren unter anderem mit seinem Film über die Dreiecksbeziehung zwischen Friedrich Schiller und zwei Frauen in "Die geliebten Schwestern" im Kino vertreten war und mit "Was heißt hier Ende? Der Filmkritiker Michael Althen" eine Dokumentation über einen verstorbenen Filmkritiker und gleichzeitig persönlichen Freund drehte, vereint "Zielfahnder - Flucht in die Karpaten" eine vertraute Stammkonstellation. Wie auch schon in Grafs Serienmeisterwerk "Im Angesicht des Verbrechens" war Rolf Basedow für das Drehbuch verantwortlich, während mit Ronald Zehrfeld ebenfalls ein Darsteller aus der Serie in einer der Hauptrollen zu sehen ist.
        Nachdem das Ermittler-Duo, bestehend aus Hanna Landauer und Sven Schröder, nach Rumänien reist, um den Flüchtigen zu fassen, entfaltet Drehbuchautor Basedow erneut seine Vorliebe für genauestens recherchierte, authentisch konstruierte Milieustudien, indem er wie auch schon in Grafs Serie Mechanismen der Polizeiarbeit mit den Bräuchen und Gewohnheiten ausländischer Sitten verbindet.
        Die Handlung von "Zielfahnder - Flucht in die Karpaten" gestaltet sich mit Ankunft der Beamten in der rumänischen Provinz wesentlich übersichtlicher und schlichter als der stürmische Auftakt, verzichtet jedoch auf einseitige Stereotypen und vorhersehbare Klischees. Wie sich Landauer und Schröder auf ihre neues Ermittlungsumfeld einlassen müssen, löst Grafs Film immer wieder in amüsanter Situationskomik auf, bei der vor allem Alkohol in rauen Mengen fließt, doch Basedows Drehbuch verliert nie den Blick auf die Figuren.
        Während Zehrfelds Figur eher zweckmäßig ein Hintergrund als besorgter Vater angedichtet wird, dessen Ex zudem mit einem seiner Kollegen vom Revier ein neues Verhältnis eingeht, was im weiteren Verlauf der Handlung keinerlei Rolle mehr spielt, ist Ulrike C. Tscharres Figur wesentlich interessanter. Die Beamtin jagt den entflohenen Kriminellen aus einer persönlichen Motivation heraus, denn sie hat noch eine Rechnung mit ihm zu begleichen.
        Im Finale, in dem der Regisseur wiederum an den furiosen Anfang anknüpft und ein Duell mitten in den Bergen aufzieht, bei dem auch die auf Pferden reitende Bergpolizei nicht fehlen darf, erhält dieser intime Antrieb schließlich eine völlig neue Gewichtung, während die zuvor gestreuten Ambivalenzen auf Seiten des vermeintlichen Gegenspielers zu einem schlüssigen Gesamtbild führen.
        Als unangepasster Rebell in der deutschen Fernsehlandschaft hat sich Dominik Graf mit diesem Werk, das unter Umständen als Reihe fortgeführt werden soll, weiterhin klar positioniert, auch wenn "Zielfahnder - Flucht in die Karpaten" das gesamte Talent des Regisseur nur am Anfang und im Finale erkennen lässt, während der Mittelteil nicht an die Großleistungen von Graf heranreicht, obwohl Rolf Basedows Drehbuch hier weiterhin durch klischeebefreite, authentische Beobachtungen fremd erscheinender Milieus sowie humorvoll aufgelöste Situationen besticht.

        15
        • 3
          • 6

            [...] In einer Szene von Flesh and Bone erzählt Claire, die Hauptfigur der von Moira Walley-Beckett (The Gunfighters) kreierten Serie, von der immensen Bedeutung, die The Velveteen Rabbit auf sie ausübt. In dem Kinderbuch geht es um einen Stoffhasen, der von anderen Spielzeugen erzählt bekommt, er könne zu einem realen Wesen werden, sobald ihm ein Kind nur genügend Liebe entgegenbringen würde. Es ist derselbe Traum, den auch die junge Frau aus Pittsburg verfolgt, als sie zu Beginn der ersten Episode ihre Sachen packt und fluchtartig das beengende Kinderzimmer verlässt, um in New York an einer gefragten, renommierten Ballettakademie eine Karriere als Tänzerin zu verfolgen und ihr altes Leben, das von dunklen Geheimnissen überschattet wird, hinter sich zu lassen. In eben diesem Moment, in dem ein Kinderbuch dem innersten Wunsch der unsicheren, zerbrechlichen Protagonistin Ausdruck verleiht, offenbart sich auf präzise Weise der Kern von Flesh and Bone, in dem gefühlvoll mitreißende Schicksale ganz dicht an der Schwelle zum kitschigen Klischee verweilen. [...] Walley-Beckett, die sich vor allem als Autorin von Ozymandias, der womöglich beliebtesten und zugleich intensivsten Breaking Bad-Episode überhaupt, auszeichnet, schöpft reichlich aus dem Fundus vertrauter Elemente, die sich im Zusammenhang mit Abgründen und Schattenseiten der Welt des Balletts und vor allem der Arbeit sowie den Menschen dahinter ergeben, und konstruiert beinahe all ihre Figuren um diese Versatzstücke herum. Eine Tänzerin, die nachts zusätzlich in einem Stripclub arbeitet, dessen Besitzer gleichzeitig kriminelle Verbindungen pflegt, fehlt ebenso wenig wie eine Tänzerin, die unter Magersucht leidet oder der alternde Star, der es noch einmal allen beweisen will, notfalls durch die Zufuhr von Drogen, mit denen schwerwiegende Verletzungen vorübergehend betäubt werden. Über diese Ansammlung offensichtlicher Klischees und Stereotypen hinweg erzeugt Flesh and Bone nichtsdestotrotz über gewisse Strecken eine Art Sogwirkung, die in erster Linie durch die konzentrierte, vitale Inszenierung entsteht. Für die Pilotfolge konnte der australische Regisseur David Michôd (The Rover) verpflichtet werden, der der Serie unweigerlich einen starken visuellen Stempel aufdrückt. [...] Generell ist Flesh and Bone immer dann am fesselndsten, wenn sich die Serie von den persönlichen Problemen und Abgründen der Figuren wegbewegt und in einigen Szenen auf die pure Ergründung der Körper fokussiert. Körper, die sich unter strengsten Anweisungen und Vorgaben zu klassischen Klängen im Einklang bewegen, Körper, die unter wummernden Beats und im Neonlicht des Clubs zu pulsieren beginnen oder Körper, deren Besitzern es nicht gelingt, einfache Nahrung wie das Frühstücksrührei zuzuführen. Leider gehen diese Momente im Vergleich mit der manchmal angestrengten, bemühten Handlung, die typisch für das serielle Erzählen zahlreiche Geheimnisse so lange wie möglich verborgen hält oder entscheidende Entwicklungen unnötig streckt, etwas unter. [...]

            5
            • 8

              Es sind Fälle wie der von Sylvia Likens, die einen an dieser Welt und speziell an den Menschen, die sie bevölkern, schlichtweg verzweifeln lassen. Was das zum damaligen Zeitpunkt gerade einmal 16-jährige Mädchen im Jahr 1965 an Qualen durchleiden musste, lässt sich kaum in Worte fassen und noch viel schwieriger in filmischer Form aufarbeiten.
              Tommy O'Haver und Irene Turner haben es versucht und auf Grundlage der Gerichtsakten ein Drehbuch entworfen, das die realen Hintergründe zu einer Geschichte anordnet, in der sich die grauenvollen Ereignisse in einer kaum erträglichen Intensität entfalten, die den Film zu einem wahren Schlag in die Magengrube werden lässt. Maßgeblicher Schauplatz in "An American Crime" ist der Haushalt von Gertrude Baniszweski, die in Indianapolis als alleinerziehende Mutter mit sechs Kindern lebt. Gertrude, die sich liebevoll "Gerty" nennen lässt, ist mit ihrem Leben jedoch überfordert, denn regelmäßig flattern neue Rechnung ins Haus, während das Geld vorne und hinten nicht reicht und selbst ihre Kinder, die eigentlich noch zur Schule gehen, so viele Schichten wie möglich in Nebenjobs schieben müssen. Als Gertrude schließlich auf zwei Mädchen aufpassen soll, wofür sie 20 Dollar pro Woche von den Eltern erhalten soll, ist da plötzlich Sylvia in ihrem Haus. Das junge Mädchen wirkt schüchtern, liebevoll und zerbrechlich, doch als es zum Streit mit einer von Gertrudes Töchtern kommt, eskaliert die Lage.
              Was sich in Form eines Hiebs mit einem Gürtel noch als Bestrafung äußert, die in Haushalten zur damaligen Zeit sicherlich nicht unüblich war, erreicht spätestens mit dem Ausdrücken einer Zigarette auf der Hand von Sylvia ein schockierendes Ausmaß, das lediglich den Startschuss einer Odyssee des Leidens bildet. Der Titel des Films nimmt das Schicksal des Mädchens bereits vorweg, doch O'Haver findet inszenatorisch die richtige Kombination aus unerträglichen Andeutungen und markerschütternden Details, so dass "An American Crime" noch vor dem Anrollen der berüchtigten "Torture Porn"-Welle drastische Impressionen für die physische wie psychische Zerstörung eines Menschen findet, in denen die Grenzen dessen ausgelotet werden, was einem als Zuschauer zugemutet werden kann.
              Glücklicherweise psychologisieren O'Haver und Turner die Taten von Gertrude nie, sondern belassen es bei Randnotizen und Andeutungen. Während dem Film wiederholt vorgeworfen wurde, er liefere keine konkreten Motive für die gezeigten Geschehnisse, treffen die Verantwortlichen gerade durch dieses Konzept den scheußlichen Kern eines Verbrechens, das sich schlichtweg nicht erklären lässt und in dem Gertrude, ein Monstrum in menschlicher Gestalt, nur der ausschlaggebende Faktor ist, während Sylvia erst durch viele andere Personen gebrochen wird, die entweder mitmachen oder wegsehen.
              Die Passage, in dem es dem Mädchen offenbar doch noch gelingt, aus ihrer Gefangenschaft zu fliehen, kurzzeitig unter Tränen mit den Eltern wiedervereinigt zu werden, nur um in das Haus zurückzukehren, um nach dem Wohl der kleineren Schwester zu sehen, ist am Ende der Punkt, an dem der Regisseur zum emotionalen Rundumschlag ausholt, der jegliche Form von Hoffnung endgültig im Keim erstickt.
              Als beinahe unerträglicher Blick in menschliche sowie gesellschaftliche Abgründe ist "An American Crime" ein schwer bekömmliches Werk, in dem man als Zuschauer immer wieder um Fassung ringt, um letztendlich völlig aus der Bahn geworfen zu werden, wenn man sich vor Augen hält, dass sich die dargestellten Ereignisse überwiegend tatsächlich so ereignet haben. Kein einfacher Film, aber ein ungemein intensiver und aufgrund der eindringlichen und gleichzeitig respektvollen Inszenierung auch ein wichtiger.

              18
              • 7

                [...] Bereits in den ersten Szenen von Hell or High Water beschwört David Mackenzie (Mauern der Gewalt) eine klassische Atmosphäre aus einem der ältesten Genres der Filmgeschichte herauf. Auf dem Weg der Bankangestellten zu einem neuen Arbeitstag in ihrer Filiale ertönen schwermütige Geigen und leise Frauengesänge auf der Tonspur, bevor die Frau vor dem Eingang des Gebäudes von zwei maskierten Männern überfallen und zur Herausgabe des Geldes gezwungen wird. Der britische Regisseur inszeniert seinen Film von Anfang an wie einen klassischen Western, wovon nicht nur die geradezu schwermütigen Klänge der musikalischen Untermalung zeugen, für die Nick Cave (20.000 Days on Earth) und Warren Ellis (Nick Cave & The Bad Seeds: The Videos) zuständig waren, sondern auch die staubig-schwülen Aufnahmen von West Texas, einer Region, die ohnehin wie aus der Zeit gefallen wirkt. In diesem ländlichen Setting irgendwo in den Südstaaten scheinen sich die Leute gerne noch etwas langsamer zu bewegen und nach einem eher entschleunigten Rhythmus zu leben, was gleichzeitig zu dem Stil von Mackenzies Regie passt, der Hell or High Water als gemächlich brodelnde Mischung aus Heist-Thriller, Neo-Western und Texas-Noir anlegt. [...] Das Drehbuch von Taylor Sheridan (Sicario) folgt hierbei einer äußerst geradlinigen, entschlackten Linie, auf der sich die Überfälle der Brüder mit der Ermittlungsarbeit der Texas Rangers abwechseln. Neben der einfach gehaltenen Geschichte, die sich an altmodischen Strukturen des Genres orientiert, offenbaren sich genauere Feinheiten viel mehr in der Zeichnung der unterschiedlichen Figuren. Ben Fosters (Contraband) Tanner kommt hierbei der typische Part des unberechenbaren, launischen Draufgängers zu, der sich ohne große Überlegungen ins Geschehen stürzt, während sein von Chris Pine (Star Trek) gespielter Bruder der wesentlich interessantere Charakter ist. [...] Pine, der bislang eher als charmanter Schönling besetzt wurde, hat auch in dieser Rolle nichts von seiner glatten, attraktiven Ausstrahlung verloren, doch als Toby ist er verschlossener und nachdenklicher als sonst, während es in einer Szene zu einem körperlichen Ausbruch von ihm kommt, der so schockierend wie überraschend geschieht. Überhaupt ist die Gewalt ein unglaublich nachhallender Faktor in Mackenzies Werk, denn der Regisseur platziert die brutalen Momente mit einer punktuellen Präzision, so dass ausnahmslos jeder davon mit maximaler Effizienz und oftmals wie aus dem Nichts einschlägt. Auch die Tatsache, dass in diesem Film offenbar jeder Bürger eine Waffe bei sich zu tragen scheint, schafft einerseits einen unangenehm aktuellen Bezug, während Hell or High Water durch diesen Umstand noch stärker wie ein Western wirkt, der sich im Hier und Jetzt niedergelassen hat. Auf der Seite des Gesetzes steht Jeff Bridges (The Big Lebowski) als gealterter Texas Ranger, der kurz vor dem Ruhestand steht. Der Schauspieler spielt seine Figur mit der gewohnten Kantigkeit, hinter der immer wieder trockener Humor durchscheint, doch wie auch schon Tommy Lee Jones' (Im Tal von Elah) Charakter aus No Country for Old Men, dem Neo-Western-Meisterwerk der Coens (Blood Simple), wirkt er zunehmend wie ein Relikt, das in den vielfältig begründeten Unruhen der Gegenwart zunehmend der Überforderung unterliegt. [...]

                19
                • 7

                  Nagisa Ôshimas Drama "Ai no corrida" ist eines dieser skandalumwobenen Werke, die bei ihrer Veröffentlichung für erhitzte Gemüter und weitläufige Furore sorgten. Um den Film überhaupt beenden zu können, schickte der Regisseur das Filmmaterial nach Paris, wo es schließlich fertig gestellt werden konnte, was durch den in französischem Text gehaltenen Vorspann sofort erkennbar wird.
                  Zu Beginn der Geschichte verfällt die in einem Geisha-Haus arbeitende Dienerin Sada, die neben einfachen Dienstleistungen auch sexuelle Gefälligkeiten erfüllen muss, Kichizô, dem Ehemann der Besitzerin des Geisha-Hauses. Die schüchterne Frau muss dieser Tätigkeit aufgrund ihres eigenen Mannes nachgehen, dessen Unternehmen pleite ging und beide deshalb in finanzielle Not brachte. In dem dominanten, maskulinen Kichizô findet Sada einen Mann, dem sie sich umgehend unterwirft, nachdem er sich ihr das erste Mal sexuell annähert.
                  Was folgt, sind zahlreiche Momente, in denen beide geradezu in ihrer Ekstase zu verschmelzen scheinen und nahezu untrennbar werden, während sie bei jeder Gelegenheit übereinander herfallen.
                  Ôshima inszeniert die Sexszenen seines Films mit einer expliziten Freizügigkeit, die im japanischen Mainstreamkino bis dahin ein Novum darstellten und fast schon pornographisches Niveau erreichen. Die schonungslose Kompromisslosigkeit, mit der der Regisseur seine beiden Hauptdarsteller bis an ihre Grenzen treibt, wirkt allerdings nur wie ein Vorspiel, in dem sich Sada ihrer Rolle als devote Sklavin beugt, während Kichizô wie ein wildes Tier über sie oder gelegentlich auch andere Frauen herfällt, wann immer ihm danach ist.
                  Die beiden Hauptfiguren bewegen sich allerdings langsam aus diesen Position heraus und "Ai no corrida" wandelt sich in eine eindringliche Studie über destruktive Obsessionen und abgründige Lüste. Die sexuellen Erlebnisse zwischen den beiden verkommen zu triebgesteuerten Verzweiflungstaten, bei denen Sada den Körper von Kichizô wie ein Objekt benutzt, während er zunehmend regungsloser da liegt und alles über sich ergehen lässt, was sie von ihm verlangt. Mit drastischer Zuspitzung entzieht Ôshima seinen überaus stilvoll komponierten Bildkompositionen, die er im Minutentakt mit nackten, schwitzenden, ekstatisch zuckenden und ineinander verschlungenen Körpern füllt, jegliche Erotik.
                  In "Ai no corrida" regieren gegen Ende nur noch psychologische Machtspiele, die sich schließlich in sadomasochistischen Akten manifestieren und zu einem tragischen Höhepunkt in doppelter Hinsicht führen. Dem Regisseur ist somit in letzter Konsequenz ein lange nachhallendes, schockierendes Werk gelungen, das auch Jahrzehnte nach seiner Veröffentlichung zeitlos erscheint und auch heute noch viele Filme, die sich an der Verbindung sexueller Lust sowie perverser Schmerzen versuchen, hinter sich lässt.

                  16
                  • 8

                    Es gibt eine Szene in Jean-Luc Godards "Vivre sa vie", die exemplarisch für das Gesamtwerk des radikalen Franzosen und Mitbegründers der "Nouvelle Vague" stehen könnte. Nana, die Protagonistin des Films, sitzt im Kino und sieht sich Dreyers "La Passion de Jeanne d'Arc" an. Vom Schicksal der Frau, die für ihren religiösen Glauben unerschütterlich und notfalls mit dem eigenen Tod einsteht, ist Nana so gebannt, dass sie ihre Augen weit aufreißt und kaum noch von der Leinwand abwenden kann, bis sie schließlich so ergriffen ist, dass sie Tränen vergießen muss.
                    Auch wenn Godard immer wieder als unausstehlicher, hochnäsiger Intellektueller unter den Filmregisseuren diffamiert wird, der sein Publikum mit endlosen, selbstverliebten Referenzen durch sämtliche Bereiche der Kunst auf die Probe stellte, während sein handwerklicher Stil Einordnungen zwischen revolutionär und fragwürdig über sich ergehen lassen musste, ist dieser Moment aus seinem 1962 erschienenen Film von unbeschreiblicher Wahrhaftigkeit und Schönheit. Der Regisseur erhebt seine Hauptfigur auf diese Weise und mit tragischem Vorausblick auf ihr kommendes Schicksal selbst zu einer Art Märtyrerin, während er sie und damit auch den Zuschauer mit der einzigartigen Kraft des Kinos in Berührung bringt, die in diesem Fall ein ganzes Leben von Grund auf nachhaltig verändern kann.
                    Nana ist eine etwas naive junge Frau, die ihren schweren Alltag mit vordergründig leichtfüßigem Charme überbrückt. Von der Liebe wird sie enttäuscht, als aufstrebende Schauspielerin bleibt ihr der Durchbruch verwährt und von ihrem Job als Verkäuferin in einem Plattenladen kann sie nicht einmal die Miete für die Wohnung bezahlen. Im zweiten von insgesamt zwölf Kapiteln, in die Godard seinen Film aufgeteilt hat, sieht man Nana im Plattenladen stehen, in dem sich kaum Kunden befinden. Die Kamera kreist um die Inneneinrichtung, als befände sie sich in einem Käfig, während draußen auf den Straßen blühendes Leben und reges Treiben herrschen. Irgendwann erträgt Nana ihr frustrierendes Leben nicht mehr und beginnt sich zu prostituieren, wobei der Verkauf ihres Körpers nur die finanziellen Probleme reparieren kann, nicht aber ihre Seele.
                    Godard machte seine damalige Ehefrau Anna Karina zur Hauptdarstellerin des Films und Raoul Coutards Kamera ist geradezu besessen vom schönen Gesicht der Schauspielerin. Fernab von der experimentellen Inszenierung des Regisseurs, der "Vivre sa vie" weniger als Spielfilm und viel mehr als fragmentarisches Essay konzipierte, ist Karina die hypnotisierende Konstante dieses Werks. Ihre Blicke transportieren Hoffnung und Verzweiflung, optimistische Lebensfreude und aussichtslose Deprimierung genauso wie ihr Körper, den Godard unbeweglich am Straßenrand positioniert, wo Nana auf neue Kunden wartet, während er sie in einem Segment minutenlang durch den Raum eines Bistros tanzen lässt, zu einem Song, den sie zuvor selbst ausgesucht hat.
                    Trotz des tragischen Leidenswegs, den die Frau bis zum bitteren Ende geht, nimmt Godard ihr nichts von ihrer Würde und porträtiert Nana als selbstbewusste, ausdrucksstarke Persönlichkeit, die mit einer Freundin oder einem Philosophen über die Bedeutung des Lebens oder die Bedeutung von Sprache und Liebe spricht. Sie ist die Frau, die zur falschen Zeit am falschen Ort lebt, denn ansonsten wäre sie vielleicht ebenso wie Jeanne d'Arc eine bedeutende Ikone geworden und doch bewahrt sich Nana bei allen Entscheidungen, die sie in der Geschichte trifft, ihre Würde.
                    Godard, der sich hier stärker als sonst mit seinen gewohnten Manierismen zurück hält, führt mit bruchstückhafter Zerstreuung durch den Film, doch das zerbrechliche Juwel im Inneren von "Vivre sa vie" bleibt davon unangetastet und strahlt noch immer.

                    17
                    • 7 .5

                      Es ist ein Wink des Schicksals, dass sie sich wieder begegnen. Jim ist in seine kalifornische Heimatstadt zurückgekehrt, um das Haus seiner verstorbenen Mutter zu renovieren und zu verkaufen, während Amanda ihrer schwangeren Schwester mit viel Eiscreme im Gepäck einen Besuch abstatten will. Als sich beide im Supermarkt begegnen, fällt das Wiedersehen dieser beiden Menschen, die offenbar eine tiefere Vergangenheit verbindet, verhalten, vorsichtig und eingeschüchtert aus, doch Jim und Amanda verabreden sich trotzdem auf einen Kaffee.
                      Mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen von stilvoller Bescheidenheit begleitet Alex Lehmann die beiden in "Blue Jay", wobei die Handlung lediglich knapp 24 Stunden umfasst. Jim und Amanda scherzen und lachen über die Vergangenheit, erzählen sich von ihren momentanen Leben und werden vom lokalen Supermarktverkäufer auch nach all den Jahrzehnten, in denen sie bis dahin auseinander gelebt haben, als Pärchen wiedererkannt. Schnell entzündet sich eine sympathische Wärme zwischen ihnen, spätestens ab dem Moment, in dem Jim Amanda in der Tüte Jelly Beans, die er ihr gekauft hat, nur die pinken und lilanen übrig lässt, die sie früher am liebsten gegessen hat.
                      Nachdem sie sich in das Haus von Jims Mutter begeben, entfaltet "Blue Jay" ein wunderbar intimes Porträt zweier Seelen, die in Erinnerungen schwelgen und sich alte Tonaufnahmen anhören, wobei selbst die kindischsten, albernsten Dokumente ihrer gemeinsamen Vergangenheit eine wohlige Nostalgie versprühen, was Jim und Amanda wieder näher und näher zueinander bringt. Der Film, in dem Sarah Paulson und Mark Duplass die Hauptrollen spielen, und der auf einem Drehbuch von Duplass basiert, das lediglich zwei Seiten umfasste, hat etwas ebenso zärtliches wie rohes an sich und ist die mittlerweile eher seltener gewordene Art von gefühlsbetontem Indie-Film, die den Betrachter auf ehrliche Weise schnell für sich gewinnt.
                      Da sämtliche Dialoge spontan improvisiert und meist kurz vor dem jeweiligen Drehbeginn der einzelnen Szenen entworfen wurden, wirkt "Blue Jay" kaum wie ein Spielfilm, sondern wie eine tatsächlich reale Begegnung zwischen diesen beiden Personen, die durch das Schauspiel von Paulson und Duplass eine fast schon perfekte Chemie entwickeln. Dabei gelingt Lehmanns Film, den man aufgrund der überdeutlich künstlerischen Beteiligung von Duplass eigentlich lieber als dessen Schöpfung bezeichnen will, ein einfühlsamer Kontrast zwischen universellen Empfindungen, die vor allem das melancholische Sinnieren über Vergangenheit und Gegenwart betreffen, sowie einem intimen Rahmen, in dem die gemeinsame Beziehung zwischen Jim und Amanda eingebettet wird.
                      Im herzzerreißend intensiven Finalakt stößt Duplass bedauerlicherweise erstmals an die Grenzen seiner schauspielerischen Fähigkeiten, was nicht verhindert, dass "Blue Jay" an einem bittersüßen Ende angelangt, das zwei Menschen in eine ungewisse Zukunft entlässt, die von Tränen eingeleitet wird, welche sowohl trauriger als auch freudiger Natur sind.

                      11
                      • 3

                        [...] Mit Dog Eat Dog hat Schrader nun einen Film gedreht, den der Regisseur als ultimativen Mittelfinger gegen strenge Studio-Vorschriften und generell filmische Konventionen intendiert hat. Schon der in grellem Pink gehaltene Prolog macht keine Kompromisse und lässt einen entfesselt aufspielenden Willem Dafoe (Der blutige Pfad Gottes) von der Leine, der in der Rolle eines kürzlich entlassenen Häftlings zu Surfrock-Klängen erst die Ex-Freundin brutal absticht, um anschließend noch deren jugendliche Tochter zu erschießen, da sie ihm keinen Unterschlupf bieten wollten. Es ist ein zynischer, geradezu menschenverachtender Einstieg in einen Film, der von nun an kein Erbarmen mehr kennt und in dem Schrader in jeder Szene unter Beweis stellt, dass er sich diesmal zuallererst die Rechte am finalen Schnitt sicherte. [...] Wie Schrader seine drei Protagonisten, die sich wahlweise als debil-impulsive Hitzköpfe oder chronische Pechvögel entpuppen, einerseits durch den moralischen Fleischwolf dreht, während er ihnen andererseits in einigen Szenen tiefere Charakterzüge verleihen will, ergibt eine völlig unausgegorene Mischung, die nie funktionieren will. Dog Eat Dog ist zu gleichen Teilen eine pubertäre, an Quentin Tarantinos (The Hateful 8) Frühwerke geschulte Gangster-Groteske, die mit einem Potpourri aus unnötig derben Gewaltspitzen, verquasseltem Dialogschlamassel und verachtenswerten Figuren aufwartet, sowie ein grundsätzlicher Versuch, im Stil eines Jean-Luc Godard (Außer Atem) gegen sämtliche Sehgewohnheiten zu rebellieren. Der Streifen wirkt ästhetisch kaum wie das Werk eines Regie-Veteranen, sondern durch die ständigen visuellen Stilmittel, Kameraspielereien, Farbwechsel und Neon-Ausleuchtungen wie von einem Neuling, der sich stilistisch austoben wollte. Dass sich in Schraders Film dadurch einige formschöne wie aufregende Einstellungen erblicken lassen, ist der einzig wirkliche Vorzug eines Films, der sich zunächst am exploitativen Spektakel und der Misere seiner Figuren labt, um spätestens ab der Hälfte völlig in seine Einzelteile zu zerfallen. Obwohl Schrader erneut mit Nicolas Cage zusammengearbeitet hat, der im Vergleich zu Dafoes psychotischer Figur fast schon gemäßigt wirkt und zu gebremst auftritt, zeigt sich der Regisseur an dem Ensemble konsequent uninteressiert und scheint nur darauf aus zu sein, das primitive B-Movie-Gerüst der Geschichte im letzten Drittel auf geradezu surreale Weise aufzubrechen und wortwörtlich in einem undurchschaubaren Nebel aus Delirium, ins Leere verlaufenden Erzählfaden sowie bewusst offenen Enden zu versinken. In einigen Szenen könnte man Schraders Ambition beinahe als anarchisches, mutiges Konzept bewundern, doch am Ende ist Dog Eat Dog kaum mehr als ein misslungenes Thriller-Vehikel, dessen ungezügelte Gewaltbereitschaft sowie Bestreben nach unbedingter Andersartigkeit schnell ermüdet und aufgrund der eher bemitleidenswerten bis miserabel konstruierten Figuren nicht mal als Parodie funktioniert. [...]

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                        • 6 .5
                          über Snowden

                          Auch wenn seine Geschichte Millionen von Menschen die Augen öffnete, sitzt der Whistleblower Edward Snowden immer noch seit mittlerweile drei Jahren im russischen Exil fest. Seine Anträge auf Asyl werden von zahlreichen Ländern abgelehnt, in seinem Heimatland drohen dem Amerikaner bei einer Festnahme bis zu 30 Jahre Gefängnis wegen Spionage und trotzdem gilt der erst 33-Jährige für viele als Held, der seine eigene Freiheit geopfert hat, um der ganzen Welt bewusst zu machen, dass das Land, das er früher liebte und verteidigte, Bewohner verschiedenster Länder abhört, überwacht und deren Daten speichert.
                          Wer sich für den "Fall Snowden" näher interessiert und folglich Laura Poitras hervorragende Dokumentation "Citizenfour" gesehen hat, wird zu Beginn von Oliver Stones "Snowden" einen Déjà-vu-Moment erleben. Der Film eröffnet mit dem Treffen von Snowden, der Dokumentarfilmerin und dem Journalisten Glenn Greenwald, die sich in einem Hotel in Hong Kong einfinden, um die brisanten Informationen des Whistleblowers aufzubereiten und an die britische Presse zu übermitteln, womit die große Enthüllung der brisanten, weitreichenden Fakten kurz bevor steht.
                          Nachdem Stone zuletzt mit der fiebrigen Thriller-Groteske "Savages" an eigene Erfolge dieses Genres aus den 90ern wie "Natural Born Killers" anknüpfen wollte, kehrt der Regisseur mit diesem Werk zu den politischen Wurzeln seines Schaffens zurück und beleuchtet die Geschichte von Snowden mit seiner persönlichen Einstellung, wobei er sich ganz klar positioniert und auf dessen Seite stellt. Vom Ausgangspunkt des geheimen Hotelzimmertreffens kehrt Stone immer wieder in die Vergangenheit seines Protagonisten zurück und entwirft ein mit fiktionalen Stilmitteln durchsetztes Porträt, das sich neben der chronischen Nacherzählung der bedeutendsten Ereignisse vor allem für die privaten Seiten von Snowden interessiert.
                          Wer ihn in Interviews oder Poitras Dokumentation gesehen hat, dürfte Snowden als ruhigen, sympathischen Menschen erlebt haben, der nichtsdestotrotz auch immer kühle, dezent autistische Züge an sich hat. Indem sich Stone in vielen Szenen auf die Beziehung zwischen Snowden und dessen Freundin Lindsay konzentriert, verbindet er Privates mit Politischem und zeigt den introvertierten, manchmal etwas unbeholfen wirkenden Nerd als einfühlsamen Liebhaber, der zwischen persönlicher Überzeugung gegenüber seinem Heimatland und persönlichen Gefühlen gegenüber seiner Partnerin in einen zunehmenden Zwiespalt gerät. Für Joseph Gordon-Levitt bedeutet "Snowden" vermutlich eine Karrierebestleistung, denn auch wenn er optisch eher wenig Ähnlichkeiten zu seinem realen Vorbild aufweist, fängt er Snowdens Auftreten vor allem stimmlich beängstigend gut ein und spielt seine schüchterne, konzentrierte sowie mitunter paranoid verunsicherte Art auf großartige Weise.
                          Stilistisch und dramaturgisch bewegt sich Stone, abgesehen von dem gelegentlichen Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit, jedoch kaum über Biopic-Konventionen hinaus und enttäuscht mit einem generischen Score, der vor allem in den gefühlsbetonten Passagen durch aufdringliche Bläser unangenehm auffällt. Der Umgang mit Snowdens Person gestaltet sich zuletzt als interessant, denn während der Regisseur die epileptischen Anfälle seiner Hauptfigur auffällig dramatisiert, stilisiert er ihn in manchen Momenten durchaus zur heroischen Heldenfigur. Wenn Snowden nach einer großartig inszenierten Sequenz schlussendlich entscheidende Daten aus dem NSA-Quartier in einem Rubik's Cube schmuggelt, lässt Stone ihn mit einem erlösenden Grinsen durch den Tunnel in die Freiheit schreiten, während Snowdens Silhouette nach und nach vom gleißenden Sonnenlicht zersetzt wird.
                          Auch wenn der Regisseur der Thematik rund um den bekanntesten Whistleblower aller Zeiten keine wirklich neuen Facetten hinzufügt, die aus dem ohnehin teilweise wie ein Thriller inszenierten "Citizenfour" bereits bekannt waren, und sich inszenatorisch sowie dramaturgisch in konventionellen Bahnen bewegt, ist Oliver Stones "Snowden" inhaltlich so relevant wie eh und je, besitzt eine klare, starke Stimme und bietet mit Joseph Gordon-Levitt einen fantastischen Hauptdarsteller, der dem Werdegang und Wesen des realen Vorbilds Gewicht verleiht.

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                          • 7

                            Die überraschendste Tatsache an "War Dogs" ist der Regisseur, der diesen Film zu verantworten hat. Nachdem Todd Phillips mit "The Hangover" eine brachiale Komödie gedreht hatte, die für viele schnell als Kult gehandelt wurde, waren die beiden Fortsetzungen selbst für Fans nur noch lauwarme Aufgüsse und wirkten wie die Kopie einer Kopie, die sich erstaunlich schnell abnutzte.
                            Von einer bloßen Aneinanderreihung müder Gags ist "War Dogs" allerdings weit entfernt, denn Phillips inszeniert die auf wahren Tatsachen beruhende Geschichte von zwei jungen Unternehmern, die sich als Waffenhändler schnell ein goldenes Näschen verdienten und schließlich auch Geschäfte mit dem Pentagon betrieben haben, als ernstzunehmende Satire, in der sich flacher Humor und platte Situationskomik beinahe vollständig abwesend zeigen.
                            Für David, der seinen Alltag gefrustet als Masseur in Miami verbringt und das Gefühl hat, seiner Freundin nichts bieten zu können und sein Leben lang im bedeutungslosen Mittelmaß zu versanden, entpuppt sich das Wiedersehen mit seinem ehemaligen besten Freund Efraim als lukrative Chance, denn der versteht viel davon, Aufträge für Waffenlieferungen an Land zu ziehen, die im System von den großen Haien eher übergangen werden. Wie die beiden schließlich gemeinsam ein millionenschweres Unternehmen großziehen und auf immer größere Deals aus sind, wobei sie auch schon mal persönlich in vom Krieg befallenen Krisengebieten aktiv werden müssen, falls eine Lieferung ungeplant beschlagnahmt wird, inszeniert Phillips als rasante Larger-than-Life-Story, die dabei wenig bis kaum aus dem Rahmen fällt.
                            Auch wenn das geradezu groteske Erscheinungsbild von Jonah Hill, der hier mit protziger Sonnenbrille, extra nass zurückgegelter Frisur und so vielen Kilos auf den Rippen wie nie zuvor auftritt, in Kombination mit der eher bodenständigen Figur von Miles Teller die typisch klamaukige Buddy-Comedy-Situation förmlich provoziert, erinnert der Stil von "War Dogs" eher an Filme wie "The Big Short", "The Wolf of Wall Street" oder "Pain & Gain". An die Klasse eines Martin Scorsese reicht Phillips mit diesem Werk aber nicht heran, denn dafür verläuft die Dramaturgie der Geschichte in zu vertrauten Bahnen und wirkt stilistisch zu sehr an größere Vorbilder angelehnt.
                            Der Regisseur setzt allerdings auf eine funktionierende Vermischung aus Subversion und Seduktion, so dass es ihm gelingt, sämtliche Szenen, die im eigentlichen Sinne als Komödie aufgefasst werden könnten, an die real existierende Absurdität der Motivationen seiner Figuren zu koppeln. Vor allem Jonah Hill darf in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben. Der Schauspieler, der generell als amüsanter, pummeliger Gag-Lieferant belächelt oder begröhlt wird, erweist sich hier endgültig als reifer Charakterdarsteller, dessen Darbietung zwischen absurdem Clown und fast schon beängstigend kaltem, skrupellos berechnendem Geschäftsmann reicht.
                            Indem "War Dogs" den Irakkrieg explizit und ungeschönt als ökonomisches Geschäft benennt, in dem es vor allem darum geht, wer die größten Profite aus dem sicheren Sterben der Beteiligten schlagen kann und den amerikanischen Traum ein weiteres Mal als egoistischen, konsumbesessenen, kapitalistischen Albtraum ausstellt, gelingt Phillips hier weitaus mehr als eine spaßige Komödie, welche die meisten vermutlich im Voraus erwartet hatten. Eine schöne Überraschung.

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                            • 8

                              Fasziniert von den antarktischen Unterwasseraufnahmen, die ihm ein Freund zeigte, fasst Werner Herzog den festen Entschluss, eine Dokumentation über die Forscher zu drehen, die am anderen Ende der Welt tagtäglich mitunter ihr Leben aufs Spiel setzen, um innovative Erkenntnisse über bislang unerforschte Bereiche zu erlangen.
                              Nach nicht einmal fünf Minuten steht jedenfalls fest, dass man es bei "Encounters at the End of World" mit einem gewohnt unvergleichlichen Herzog-Werk zu tun hat. Wenn der Regisseur zu Beginn erzählt, dass er der "National Science Foundation", die ihm seine Reise ermöglichte, erklärte, er würde keine typische Dokumentation mit Bildern von kuscheligen Pinguinen drehen, sondern einen Film über persönliche Fragen, die ihn beschäftigen, legt Herzog auf seine ganz eigene und von Natur aus eigenwillige Art den Erzählton fest.
                              Durch die sympathisch-naive Art, mit der er sich seinen Gesprächspartnern, die er gerne als professionelle Träumer bezeichnet, annähert, hat Herzog nicht einfach nur eine Dokumentation über einen extrem faszinierenden Kontinent geschaffen, sondern über die Menschen auf diesem Kontinent, die ihren Tätigkeiten mit einer fast schon ansteckenden Motivation nachgehen.
                              Neben den unterschiedlichen Arbeitern, unter denen Herzog im abwechselnden Rhythmus eine interessante, verschrobene, leidenschaftliche oder inspirierende Persönlichkeit nach der anderen aufsucht, unterliegt "Encounters at the End of World" einer fast schon sakralen Ausstrahlungskraft, durch die der Regisseur die mystische Aura der gewaltigen Naturkulisse, in der er sich bewegt, in beeindruckenden Bildern einfängt.
                              Gelegentlich scheint es so, als würden sich Herzog und sein Kameramann Peter Zeitlinger längst nicht mehr auf unserer Erde befinden, sondern über einen fremden Planeten wandern, auf dem die stillen, eisigen Weiten der endlos wirkenden Oberfläche ein Bündnis mit den geheimnisvollen, kaum vertrauten Unterwassergeschöpfen eingehen. Durch die unbändige Neugier Herzogs, der manche Aufnahmen minutenlang wirken und für sich stehen lässt, während er in vielen Momenten stets eigene Gedanken und Überlegungen anstellt, wird "Encounters at the End of World" zu einem meditativen Erlebnis, in dem skurrile Randnotizen und trockenhumorige Kleinigkeiten einen homogenen Platz neben tief philosophischen Denkansätzen finden.
                              Gegen Ende haben es dann doch noch Bilder von kuscheligen Pinguinen in Herzogs Werk geschafft, die der Regisseur allerdings zu einem ungemein nachdenklichen Punkt führt, wobei er es sich zuvor nicht nehmen lässt, den interviewten Pinguin-Forscher zu fragen, ob es denn nicht auch homosexuelle oder psychisch gestörte Pinguine gäbe. Es ist ein Segment innerhalb dieser Dokumentation, das den gesamten Charakter des Regisseurs kaum treffender zum Ausdruck bringen könnte.

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                              • 7 .5

                                Die Bücher des öffentlichkeitsscheuen, amerikanischen Autors JT LeRoy verbreiteten sich weltweit wie ein Lauffeuer. Die Masse war fasziniert von der mysteriösen Persönlichkeit, aus der sich aufgrund einiger telefonisch geführter Interviews ein einigermaßen klares Bild abzeichnete. Laut eigenen Angaben war LeRoy ein gebrandmarktes Kind, das von einer drogenabhängigen Prostituierten bereits im Alter von 14 Jahren auf die Welt gebracht wurde, ständig für kurze Zeit an einem anderen Ort wohnen musste und später in noch jungen Jahren selbst begann, sich zu prostituieren. Von LeRoys Büchern ging eine stark autobiographisch gefärbte Prägung aus, so dass die schonungslosen, intensiven Geschichten neben der breiten Masse auch die Aufmerksamkeit prominenter Künstler wie Asia Argento, Gus Van Sant oder Bono von U2 auf sich zogen. Was allerdings bis zur großen Enthüllungsstory im Jahr 2005 keiner wusste: JT LeRoy hat nie existiert.
                                In "Author: The JT LeRoy Story" verfolgt Jeff Feuerzeig die Entstehungsgeschichte dieses medialen, künstlerischen wie auch zwischenmenschlichen Täuschungsmanövers bis zu den Anfängen zurück und beleuchtet die Geschichte von Laura Albert, der Frau, die sich hinter JT LeRoy verbirgt. Die Dokumentation gestaltet sich als verblüffendes Erlebnis, bei dem man Zeuge einer erstaunlichen Geschichte wird, die von den Medien schnell als "Hoax" betitelt wurde. Ein Begriff, den Albert bis heute verabscheut und ausdrücklich ablehnt. Ein wesentlicher Anteil von Interview-Material kam dabei durch Albert selbst zustande, die sich vor der Kamera umfassend zu den Ereignissen äußert, eine detaillierte Chronik der wichtigsten Stationen nachzeichnet und dabei intimste Erlebnisse aus ihrer Kindheit und Jugend offenbart.
                                Feuerzeigs Film funktioniert daher auf ungemein kluge Weise über mehrere Ebenen hinweg. Vordergründig ist "Author: The JT LeRoy Story" das Beweisdokument eines von raffinierten Finten gepflasterten Lebenswegs, doch als noch faszinierender stellt sich die Beschäftigung mit Alberts Wesen heraus. JT LeRoy war eine künstlich geschaffene Figur, doch erzeugt wurde sie aus der eigenen Not heraus. Albert berichtet davon, dass sie ein frühes Scheidungskind war, das sexuellen Missbrauch im eigenen Familienumfeld ertragen musste, während sie als Schülerin aufgrund ihres Übergewichts zum Opfer regelmäßiger Mobbing-Attacken wurde. JT LeRoy war für Albert mehr als nur ein Pseudonym, viel mehr war die Kunstfigur und die damit verbundene Kreation anderer, fiktiver Personen in LeRoys Umfeld eine Art Therapie und ein wichtiger Katalysator, um mit dem eigenen Schicksal umgehen zu können.
                                Spätestens ab dem Punkt, an dem Alberts Geschichte enthüllt und an die Öffentlichkeit getragen wird, nachdem im Voraus bereits unglaubliche Verstrickungen unter anderem mit prominenten Stars erfolgten, entspinnt sich in Feuerzeigs ansprechend inszeniertem Werk ein zutiefst nachdenklich stimmender Diskurs über das Verhältnis zwischen Künstler und wahrer Identität sowie der Wechselwirkung zwischen öffentlicher Wahrnehmung und persönlichen Hintergründen.
                                Zuletzt stellt "Author: The JT LeRoy Story" sämtliche Denkansätze allerdings nochmals grundlegend in Frage, denn wenn Albert schon zuvor ein denkwürdiger Feldzug gegen sämtliche Regeln der Authentizität gelang, wieso sollte diese Dokumentation und die darin enthaltenen, traumatischen Einzelheiten eine Ausnahme darstellen?

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                                • 6 .5

                                  Wenn Rachel Tag für Tag zweimal mit dem Zug nach Manhattan und wieder zurückfährt, schweift ihr Blick aus dem Fenster über die strahlend weißen Fassaden der Vorstadthäuser. Die Menschen, die sie dabei erblickt, ordnet sie in ihren Gedanken Geschichten zu und bloße Beobachtungen füllt sie mit selbst erdachten Hintergrundinformationen. Ihr gequält wirkendes Gesicht erhält eine Bedeutung, nachdem eine Frau, die sich im Zug neben Rachel setzt, die kleinen Schnapsflaschen in ihrer Jackentasche bemerkt.
                                  Die Bestseller-Verfilmung "The Girl on the Train" entpuppt sich bereits nach den anfänglichen Szenen, die aus Rachels subjektiver Perspektive inszeniert sind, als ein Film, der ganz und gar Emily Blunt gehört. In der Rolle der alkoholkranken, lebensmüden Frau verkörpert die Schauspielerin jede Regung in Rachels Gesicht, jedes Zittern des mitgenommenen Körpers und jeden verzweifelten Gefühlsausbruch mit einer beeindruckenden Glaubwürdigkeit, durch die Blunt trotz ihres grundlegend attraktiven Aussehens ebenso ein schwer einschätzbares Wrack wie eine Frau darstellt, der man all ihr Leid abnehmen will.
                                  Nachdem Rachel bei einer ihrer täglichen Spazierfahrten aus dem Zug aussteigt und durch ein Waldstück auf einen Tunnel zuläuft, scheint sie für einen kurzen Augenblick die gleiche Frau zu sehen, die sie zuvor regelmäßig beim wilden Liebesspiel mit dem Ehemann und danach intim mit einem anderen beobachtete. Rachel torkelt, stolpert, alles wird auf einmal schwarz und im nächsten Moment erwacht sie blutverschmiert und ohne konkrete Erinnerungen auf dem Fußboden ihrer Wohnung, während die junge Frau namens Megan kurz darauf als vermisst gemeldet wird.
                                  Bis Tate Taylors Film diese Schlüsselszene erreicht, stellt sich "The Girl on the Train" für Zuschauer, die mit der Romanvorlage nicht vertraut sind, als ansprechend konstruiertes Verwirrspiel heraus, in dem mit verschiedenen Perspektivwechseln und Zeitebenen jongliert wird. Bis sich die grundsätzlichen Hintergründe über die entscheidenden Figuren sowie wichtige Verbindungen zwischen ihnen vollständig erschlossen haben, ist knapp ein Drittel der Laufzeit bereits vorüber. Auch im weiteren Verlauf erweist sich die nicht-lineare Struktur des Drehbuchs als Trumpf, welcher den eher unbedeutenden Krimi-Plot innerhalb der Handlung geschickt überdeckt, während die überaus ansprechende Cinematographie von Charlotte Bruus Christensen aus dem Film mehr macht als nur eine auf Spielfilmlänge gestreckte Episode eines der unzähligen TV-Crime-Formate.
                                  Abgesehen von Rachel, deren ständig vernebelte Wahrnehmung dazu führt, dass sie als unzuverlässige Erzählerin fungiert, die womöglich selbst eine Mitschuld an der zentralen Tat trägt, erweist sich der Umgang mit den anderen Sichtweisen der Figuren nur als bedingt gelungen. Während sich in der Vergangenheit von Megan nach und nach ein tragisches Geheimnis offenbart, das aus ihrem Charakter etwas zu gewollt mehr machen soll als das vom banalen Alltag gefrustete Vorstadt-Flittchen, ist Anna, die neue Ehefrau von Rachels Ex-Mann Tom, kaum mehr als eine weitere potentielle Verdächtige, die zusätzlichen Zwiespalt zwischen den anderen undurchsichtigen Figuren streuen soll.
                                  Durch die starke Leistung von Emily Blunt, die der Geschichte durchwegs einen emotionalen Halt verleiht sowie der geschickt getricksten Struktur ist "The Girl on the Train" als Gesamtwerk aber ein durchwegs solider Thriller, dessen Auflösung weit weniger spektakulär ausfällt als erhofft, während man den Weg dahin als stimmungsvoll in Szene gesetztes Verwirrspiel in Erinnerung behalten darf.

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                                  • 8 .5

                                    [...] Als "Twin Peaks mit Rappern" hat Glover das Projekt vorab bezeichnet und auch wenn dieses Prädikat den Kern der Serie nicht ganz trifft, sind Ähnlichkeiten mit David Lynchs (Mulholland Drive) und Mark Frosts (Storyville) Meilenstein trotzdem nicht von der Hand zu weisen. [...] Atlanta vermittelt einen authentischen Eindruck davon, was es bedeutet, Teil der afroamerikanischen Kultur im Amerika des 21. Jahrhunderts zu sein. Auch wenn die Serie gemäß ihres Titels in der Hauptstadt Georgias angesiedelt ist, entwirft Glover einen ebenso scharfsinnigen wie verträumten Mikrokosmos, den er mit ungewöhnlichen, schrägen, sympathischen oder exzentrischen Figuren bevölkert. Obwohl Earn zu Beginn der Serie als Hauptcharakter eingeführt wird, verschiebt sich der Fokus im weiteren Verlauf der ersten Staffel immer wieder hin zu anderen Personen, ohne das alles überstrahlende Beziehungsgeflecht innerhalb dieser Figurenkonstellation zu vernachlässigen. Ob sich die einzelnen Episoden, die mit ihrer kompakten Länge von 20 bis 25 Minuten jeweils als fast schon eigenständige Einheiten funktionieren, nun Earn widmen, der versucht, aus der Armut auszubrechen und etwas mit seinem Leben anzufangen, Al, dessen erste Gehversuche als Rapper im Musikgeschäft komplizierter verlaufen als zunächst erwartet oder Vanessa, die hin- und hergerissen wird zwischen ihrer Funktion als umsorgende, liebevolle Mutter und eigenständige, für sich selbst sorgende Frau, sie alle werden von den gleichen Motiven verknüpft. In Atlanta geht es für die jeweiligen Figuren vor allem darum, den Stellenwert ihrer eigenen Identität sowie den Status innerhalb einer Gesellschaft und deren etablierten Normen zu ergründen. Der Tonfall schwankt dabei zwischen Komödie und Drama, lässt sich aber nie auf eines der beiden Genres festlegen. So kommt es dazu, dass der Humor mitunter die bissige Qualität eines Dave Chappelle (Block Party) erreicht, wobei anfangs komische Ereignisse urplötzlich in tragische Momente kippen können. Glover und sein Team an Drehbuchautoren verleihen den Handlungssträngen eine unwiderstehliche Qualität, durch die sich in alltäglichen, geradezu banalen Situationen poetische Beobachtungen oder melancholische Gefühle wiederfinden. Darüber hinaus ist Atlanta aber auch von surrealen Details gespickt, durch die der vorab angestellte Vergleich zu Twin Peaks durchaus Gewicht erhält. [...] Darüber hinaus beweist Glover den Mut, hin und wieder aus dem üblichen Schema konventioneller Serien-Strukturen auszubrechen. Neben dem grundsätzlich minimalistischen Ansatz, nur ein oder zwei Ereignisse über die gesamte Laufzeit einer Episode zu schildern, ist B.A.N. beispielsweise als Ausstrahlung einer fiktiven Talk-Show inszeniert, die zusätzlich öfters durch extra gedrehte Fake-Werbespots unterbrochen wird, während sich die darauffolgende Episode fast ausschließlich im Inneren eines von Neonlichtern und Trap- oder R&B-Songs dominierten Nachtclubs ereignet, den Hiro Murai, der bei einem Großteil der Staffel Regie führte und ihr eine unverschämt schöne Ästhetik verleiht, als unwirklich hypnotische Zwischenwelt in Szene setzt. [...]

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                                    • 5

                                      Gerade unter Fans der Reihe war die Vorfreude groß, als angekündigt wurde, dass Matt Damon und Paul Greengrass wieder für den fünften Bourne-Teil verpflichtet werden konnten. "The Bourne Legacy" versuchte sich an einer Neuausrichtung, indem Jeremy Renner als Ersatz für Damons mittlerweile fast schon ikonische Figur eingesetzt wurde, doch auf Gegenliebe stieß Tony Gilroys vierter Teil der Reihe nur bedingt.
                                      Neun Jahre nach "The Bourne Ultimatum" wird Jason Bourne im gleichnamigen Film jetzt nicht nur als Figur rehabilitiert, sondern durch den Wandel der Zeit in eine veränderte Welt geworfen. "Jason Bourne" greift den technischen Fortschritt und die damit einher gegangene digitale Revolution allerdings nur als bemühten Vorwand auf, um eine Geschichte zu erzählen, die man innerhalb der Reihe mittlerweile zu oft gesehen hat. Referenzen an gesellschaftliche Zustände wie beispielsweise gewalttätige Proteste in Griechenland oder willkürlich eingestreute Begriffe wie "Snowden" und "Social Media" kaschieren nur bedingt die altbackene Handlung, in der Bourne wieder einmal neuen Enthüllungen seiner Vergangenheit auf der Spur ist, die diesmal eng mit seiner eigenen Familiengeschichte in Verbindung stehen.
                                      Inhaltlich bewegt sich "Jason Bourne" von Anfang bis Ende auf abgetrampelten Erzählpfaden, was hingegen auch in den anderen Teilen noch kein Grund war, die kinetisch mitreißende Inszenierung zu ignorieren, die Greengrass mit der Zeit beeindruckend weiterentwickelte. Stilistisch stagniert der Regisseur im fünften Teil aber ebenfalls auf hohem Niveau. Sicherlich sind die Action-Sequenzen in diesem Film immer noch von einer druckvollen, aufregenden Dichte, die andere Vertreter aus diesem Genre alt aussehen lassen, doch hier werden sie eher spärlich verstreut und erreichen trotz vereinzelter Höhepunkte (die Las-Vegas-Verfolgungsjagd im Finale ist ein absoluter Hochgenuss) nie die fast schon auslaugende Intensität der vorherigen Teile.
                                      Nachdem sich die Bourne-Reihe zuvor als fast schon fortschrittliches Franchise behaupten konnte, das der Konkurrenz stets einen Schritt voraus war, wirkt "Jason Bourne" bedauerlicherweise nur wie ein müder Aufguss mit einem wie ein Relikt wirkenden Protagonisten, während alle Schauspieler, darunter auch Tommy Lee Jones, Vincent Cassel und selbst Matt Damon, ihre Figuren routiniert bis lustlos spielen und die nach wie vor dynamische Inszenierung von Greengrass den Zuschauer zumindest hin und wieder aus der erzählerischen Lethargie reißt. Unnötig bleibt dieser stellenweise immer noch fesselnde Action-Thriller aber trotzdem.

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                                        Körper, Bewegungen, Handlungen, Schauplätze, sie alle zerfließen in "The Bourne Ultimatum" zu einem gleichförmigen Strom, der Fragestellung und Information, Aktion und Reaktion, Innehalten und Entschlossenheit in einem elektrisierenden Stakkato-Inferno bündelt.
                                        "The Bourne Supremacy" war die vorangegangene Fingerübung von Paul Greengrass, in diesem dritten Teil sind die Weichen längst gestellt, alle elementaren Informationsstücke ausgebreitet, so dass Jason Bournes Verlangen nach Vergeltung gegen diejenigen, die sein Leben für immer zum Negativen umkrempelten, einem parcoursartigen Spießrutenlauf gleichkommt.
                                        Schon früh inszeniert der Regisseur eine Verfolgungsjagd in der Londoner Waterloo Station, wo Bourne einen Journalisten sicher durch die Massen lotsen und vor diversen Widersachern schützen muss. Durch eine hierfür geradezu perfektionierte Montage-Technik verwandelt Greengrass das unübersichtliche Getümmel in ein schweißtreibendes Labyrinth, in dem jede Einstellung den gewohnten Blick auf ein hyperrealistisches Szenario durch verwischte Perspektiven verfremdet, wie durch eine Überwachungskamera heranzoomt und in konzentrierten Momenten der Auseinandersetzung Faustschläge zu bebenden Erschütterungen erhebt.
                                        Matt Damons getriebener Charakter wird noch stärker als zuvor auf seine pure Physis heruntergebrochen. Worte sind für Bourne in diesem dritten Teil nur noch vereinzelt notwendiges Beiwerk, stattdessen wuchtet er seinen Körper über Gebäudefassaden und Häuserdächer, durch Fensterscheiben in Wohnungen und in rasender Geschwindigkeit mit Fahrzeugen oder zu Fuß zum nächsten Zielpunkt, an dem meistens der blanke Kampf um Leben und Tod auf ihn wartet.
                                        Selbst die Gegenseite darf diesmal nie zur Ruhe kommen. Die Bemühungen der CIA, Bourne zu fassen, resultieren in einem wirren Büro-Krieg, in dem Augen der Mitarbeiter verzweifelt zwischen geöffneten Fenstern auf den Computerbildschirmen hin und her wandern, während die technische Verfolgung über Audio-Überwachung regelmäßig in Sackgassen verläuft.
                                        Als Action-Thriller lässt "The Bourne Ultimatum" die Genre-Konkurrenz nahezu in lähmender Paralyse erstarren, denn Greengrass ist mit dieser konstanten Bewegung von einem Film ein Referenz-Werk geglückt, das nur den geradlinig nach vorne preschenden Weg kennt und dabei kaum zu bändigen ist.

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                                          Nachdem Doug Liman erhellende Einsichten in seine Identität brachte, führte Paul Greengrass die Reihe mit "The Bourne Supremacy" fort. Im zweiten Teil ist die anfängliche Idylle Indiens, in der Jason Bourne gemeinsam mit seiner Freundin Marie einen Neustart wagen wollte, jedoch nur ein vorübergehend schöner Schein, denn der Ex-CIA-Agent wird immer noch regelmäßig von intensiven Albträumen heimgesucht und beklagt sich über Schmerzen in seinem Kopf. Ursache der Schmerzen sind vermutlich die belastenden Leerstellen und flüchtigen Gedankenblitze, denn konkrete Erinnerungen kehren nach wie vor nicht zu ihm zurück.
                                          Diese Ungewissheit über bestimmte Ereignisse aus der Vergangenheit sind der Aufhänger für die Handlung von "The Bourne Supremacy", in der wie auch schon im Vorgänger lose Bruchstücke und ein permanentes Gefühl innerer Konflikte im Vordergrund stehen. Obwohl Bourne am Ende des ersten Teils sämtliche Verbindungen zu seinem alten Leben deutlich trennte, ist er nun wieder unentwegt auf der Flucht, da er von einer Mitarbeiterin der CIA aufgrund eindeutiger Beweise als Mörder eingestuft und zur Jagd freigegeben wurde.
                                          Die Handlung, in der Bourne gleichzeitig seine Unschuld beweisen und die Maulwürfe in den eigenen Reihen des Geheimdienstes ausfindig machen muss, während die Rolle zwischen Jäger und Gejagtem ständig gewechselt wird, ist allerdings ähnlich schlicht konstruiert wie im ersten Teil. Was die beiden Filme allerdings voneinander unterscheidet, ist der Regiewechsel. Greengrass entfernt sich stärker als noch Liman von den herkömmlichen Stilmitteln des Actionkinos und inszeniert "The Bourne Supremacy" mit einer ganz eigenen Form von radikaler Kinetik, die man bis dato in solch einer massentauglichen Blockbuster-Produktion noch nicht gesehen hat. In kaum einer Szene kommt die Kamera zur Ruhe, wie aufgeputscht springt der Blick von einer Ecke in die nächste und wieder zurück, während Greengrass einzelne Bilder im hektischen Sekundentakt zu einem schwindelerregenden Chaos montiert, in dem er trotzdem souverän den nötigen Überblick bewahrt.
                                          Inmitten dieser entfesselten Inszenierung, die den zweckmäßigen Plot konsequent in Adrenalin und Atemlosigkeit übersetzt, ist Matt Damon endgültig zum markanten Fixpunkt gewachsen. Wo er sich im Vorgänger stellenweise noch bemüht vom Image des netten Sympathieträgers freispielen musste, gelingt ihm hier der Spagat zwischen stoischer Killermaschine und emotional verkrüppelter Zielscheibe spielerisch leicht. Eine in allen Belangen bemerkenswerte Fortsetzung.

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                                          • 6 .5

                                            Wer ist dieser Jason Bourne? Erst wird er mit zwei Kugeln im Rücken aus dem Mittelmeer gefischt, dann entpuppt er sich plötzlich als Sprachtalent, das sich von einer Sekunde auf die nächste flüssig auf Französisch, Schweizerdeutsch oder Niederländisch unterhalten kann und dann ist er auch noch eine wahre Ein-Mann-Armee, die schwerbewaffnete Widersacher mit wenigen Handgriffen außer Gefecht setzt.
                                            In Doug Limans "The Bourne Identity" ist man über diesen Mann ebenso verwundert wie er selbst, denn Jason Bourne ist ein wandelndes Rätsel ohne Erinnerungen, das immer genau zum richtigen Zeitpunkt von den offenbar antrainierten körperlichen Reflexen und geistigen Kapazitäten Unterstützung erhält, um sich auf eine ruhelose Suche nach der eigenen Identität zu begeben. Inszeniert ist dieser Auftakt einer auf mehrere Teile angelegten, mit Elementen des Agenten-Thrillers versehenen Reihe gewissermaßen als Gegenentwurf des Bond-Franchise, das Vorzeigebeispiel des Genres schlechthin.
                                            Matt Damon spielt Bourne vor allem zu Beginn als fast schon eingeschüchterte Person, die introvertiert, verwirrt und überfordert von Schauplatz zu Schauplatz, von einem Land ins nächste hetzt. Im Gegensatz zum durch James Bond geprägten Bild des abgeklärten, lässigen Charmeurs bringt "The Bourne Identity" wieder die nötige, geerdete Bodenständigkeit in das Genre und stellt einen Protagonisten in den Mittelpunkt des Geschehens, der sich nicht in die Karten schauen lässt, da er die Karten selbst gar nicht in der Hand hält und noch dazu von einer Frauenfigur begleitet wird, die äußerlich keineswegs dem Rollentypus entspricht, der in Filmen dieser Art gerne verwendet wird. Liman unterbricht die geradlinige Schnitzeljagd, bei der sich aus einzelnen Puzzleteilen langsam ein Bild zusammensetzt, dabei mit konzentrierten Action-Szenen, in denen er überwiegend auf präzise, physische Auseinandersetzungen setzt, die sich in beachtlich choreographierten Nahkämpfen entladen.
                                            Als Gesamtwerk ist dieser erste Teil inhaltlich allerdings ein wenig zu sehr an seiner repetitiven Struktur verhaftet. Bourne erreicht ein neues Ziel, sucht nach einem weiteren Indiz, die CIA, die im Fall der Bourne-Identität eine maßgebliche Rolle spielt, verfolgt seine Spur, es kommt zum Kampf und das Schema beginnt von vorne. Zu Beginn erzeugt Liman hierdurch noch ein reibungsloses Pacing, doch spätestens in der zweiten Hälfte gerät der ansonsten temporeiche Erzählfluss ein wenig ins Wanken.
                                            Am Ende steht dann die Auflösung des Filmtitels. Wer dieser Jason Bourne ist, dürfte nun klar sein. Wo die weitere Reise mit ihm hingeht, bleibt hingegen offen.

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                                            • 7 .5

                                              [...] Schon in den ersten Minuten nähert sich Frantisek Vlácils (The White Dove) Marketa Lazarová dem Betrachter als außergewöhnliches, avantgardistisches Ungetüm im Gewand eines imposant gekleideten Historienfilms. Zwei Männer, Mikolás und Adam, überfallen eine Gruppe Reisender, töten einen Großteil der Männer und nehmen zwei von ihnen als Gefangene, während einem die Flucht gelingt. Inszeniert ist dieser Auftakt als betörende Abfolge elliptischer Momente, in denen sich die Kamera einen Weg durch Gräser und Gestrüpp bahnt, das Geschehen dicht aus der Nähe verfolgt und dabei förmlich an den Figuren haftet. Dazu ertönen sakrale Chöre, die den Szenen ein episches Gewicht verleihen. [...] Was als grober Handlungsumriss bereits komplex anmutet und verschiedene Verstrickungen zwischen den einzelnen Figuren zur Folge hat, erweist sich im Verlauf des Films als schwierig zu durchdringendes Geflecht aus religiösen Untertönen, vage beleuchteten Motivationen, verheerenden Impulsen sowie tragischen Eskalationen. Die dem Film zugrundeliegende Romanvorlage eignet sich der Regisseur insofern an, als dass Marketa Lazarová aus der konventionellen Struktur eines Historienfilms, welcher Rache, Liebe, Glaube, Eifersucht und Frevel in epischer Bandbreite verhandelt, ausbricht und zu einem meditativen, hypnotischen Rausch verformt wird. Auch wenn sich der eigentlichen Geschichte nicht immer einfach folgen lässt, ist Vlácils Film ein audiovisuelles Erlebnis, dessen eigenwillige Sogkraft von den wundervoll komponierten Bildern ausgeht, die der Regisseur durch Klänge erweitert, die in den faszinierendsten Momenten eine fast schon transzendentale Kraft erreichen. Beinahe jede Szene in Marketa Lazarová strebt nach gewaltigem Pathos und kraftvoller Epik, während sich immer wieder psychedelische Einschübe von surrealer Natur in die Erzählung einschleichen, die dazu beitragen, dass der Film gelegentlich in mystischen Sphären schwelgt, die dem geerdeten, oftmals schmutzigen Mittelalter-Setting ebenso rätselhafte wie magische Facetten abringen. Über die stolze Laufzeit von fast 165 Minuten hinweg fordert Marketa Lazarová vollste Aufmerksamkeit, was sich bisweilen als durchaus anstrengend gestaltet. Vlácil leitet zwar alle Passagen seines Films durch einleitende Textstücke ein, in dem nachfolgende Ereignisse knapp erläutert werden, doch die Kombination eines künstlerisch extravaganten Inszenierungsstils mit der sperrig vertrackten Geschichte dürfte viele, die sich auf derart spezielle Filmkunst, zu der sich dieser tschechische Brocken zweifelsohne zählen darf, nicht einlassen können, unangenehm auf die Probe stellen. [...]

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                                              • 7
                                                über Wild

                                                Es ist der erste Moment, in dem sich in Anias Gesicht etwas anderes abzeichnet als die übliche, niedergeschlagene Lethargie, mit der sich die junge Frau von Tag zu Tag schleppt. Als sie den Wolf von der Bushaltestelle aus in den Wäldern sieht und sich beide Blicke für einen Moment kreuzen, wächst in ihr der Drang, sich dem wilden Tier anzunähern.
                                                Zuvor zeigt Nicolette Krebitz in ihrem Film "Wild" den Alltag von Ania, die jeden Morgen ohne Elan aus dem Bett steigt, die exakt gleiche Wegstrecke hinter sich bringt, in einem bedeutungslosen Bürojob vor sich hin vegetiert und ab und zu vom Stuhl aufsteht, um ihrem Chef Kaffee zu kochen, und dann am Abend wieder in ihre verlassene Wohnung zurückkehrt, in der sie einsam bis zum nächsten Morgen mit sich selbst ausharrt. Es ist eine trostlose Spirale inmitten der Tristesse, in der sie gefangen ist und aus der sich Ania in genau dem Moment ein möglicher Ausweg eröffnet, in dem sie den Wolf erblickt und mit verschiedenen Mitteln zu ködern versucht .
                                                Nachdem es ihr tatsächlich gelingt, den Wolf durch selbstgebastelte Betäubungsgeschosse außer Gefecht zu setzen und mit zu sich in die Wohnung zu nehmen, entfernt sich Krebitzs Film ebenso wie die Protagonistin mehr und mehr von den Fesseln der lähmenden Konventionen sowie der zermürbenden Redundanzen und lässt sich in einen animalisch befreiten Strudel treiben. In einer Sequenz läuft Ania auf die Toilette, während sie durch tropfendes Blut eine Spur hinterlässt. Gierig folgt ihr der Wolf, nähert sich der auf dem Klo sitzenden Frau und dringt immer tiefer zwischen ihren Schritt vor, bis sie in befreiender Ekstase aufstöhnt. Eine sexuelle Phantasie, in der Ania der Faszination des wilden, nahezu unzähmbaren Tieres endgültig erliegt.
                                                Fortan ist ihr Körper von Blutergüssen und Schürfwunden gezeichnet, wobei Ania gerade durch dieses äußerlich schmerzhafte Erscheinungsbild in einem neuen Licht erscheint, das sie als angetriebenen, energiegeladenen Menschen zeigt. Die Blässe der vorangegangen Bilder weicht immer wieder wärmenden Sonnenstrahlen, die in die Wohnung einfallen, während die zuvor sparsame Musikuntermalung von James Blakes Stimme in "Retrograde" durchbrochen wird. Und nie verschwindet die besondere Präsenz des Wolfs, der Ania seit ewiger Zeit wieder etwas Neues, Aufregendes spüren lässt, während sie nie sicher ist, ob sich das Tier nicht von einem Moment auf den nächsten gegen sie richtet.
                                                Wie die Regisseurin das Verhältnis zwischen Mensch und Natur, gesitteten Normen und animalischen Trieben in Szene setzt, lässt durch die Auswahl und Anwendung relativ simpler Motive sicherlich gewisse Innovationen vermissen, doch Krebitz und die großartige Hauptdarstellerin Lilith Stangenberg ergeben sich dem lustvollen Treiben im letzten Drittel völlig, wenn Sperma verspritzt, Exkremente in Brand gesteckt und in der freien Laufbahn aus dreckigen Tümpeln getrunken wird.
                                                "Wild" ist wie auch schon "Der Nachtmahr" ein Film aus einem Kinojahr, in dem das deutsche Kino längst nicht mehr an plumpen Fernsehfilm-Standards gemessen werden muss, sondern für sich selbst einsteht.

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                                                • 3

                                                  Mit Worten lassen sich die Werke von Andrzej Zulawski nur sehr schwer beschreiben. Unter denjenigen, die ihre Filme bevorzugt als radikale Kunst erleben, welche Grenzen überschreitet, sich ganz dem Extremen verschreibt und in den pursten Momenten in geradezu transgressive Sphären vordringt, gilt das Schaffen des polnischen Regisseurs fast schon als Heiligtum. Dabei ist es gerade bei den Filmen von Zulawski kaum noch möglich, gewöhnliche Bewertungskriterien und rationale Maßstäbe anlegen zu können, denn der Regisseur hat seine Filme stets mit einer derartig sperrigen Ausstrahlung und zusätzlich unvergleichlich hysterischen Schauspielleistungen versehen, dass die Linie in ihnen zwischen faszinierend einzigartiger Kunst und anstrengender bis hin zu unerträglicher Prätention äußerst schmal verläuft.
                                                  In "L'amour braque" entwirft Zulawski eine Welt, völlig entrückt von gesellschaftlichen Konventionen und filmischen Normen, in der alles und jeder offenbar endgültig dem Wahnsinn verfallen ist. Die Figuren in diesem Film rennen stets durch die verschiedenen Szenen, springen auf Tische, schreien, jaulen, jammern und lachen zu unkontrollierten Körperzuckungen und geben unverständliche Sprachfetzen von sich, die keinen Sinn ergeben.
                                                  Schon mit der Eröffungssequenz, in der eine Verbrecherbande, die Masken von Donald Duck, Mickey Mouse oder Goofy trägt, eine Bank überfällt, inszeniert der Regisseur seine Schauspieler wie reale Comic-Figuren, die sich durch ein entfesseltes Performance-Theater spielen. Die Kamera kommt dabei ebenso wenig zur Ruhe wie sie und sorgt dafür, dass dieser Film bereits in den ersten Minuten wie ein Schnellzug an einem vorbei rauscht und für körperliche Schwindelgefühle sorgt.
                                                  Nachdem die Bande mit der Beute in Paris angelangt, wo sich einer der Gangster in die Freundin eines anderen Bandenmitglieds verliebt, entwickelt sich "L'amour braque" zunehmend in ein kaum erträgliches Wirrwarr, bei dem Schauplätze im Minutentakt gewechselt werden, ohne dass sich eine Form von Handlung abzeichnet, Dialoge und Konversationen weiterhin einem unverständlichen Chaos gleichen und Zulawski gelegentlich brutale Gewaltszenen in Form von Schießereien oder nackte Haut einstreut.
                                                  Dieser hysterisch-dadaistische Hybrid aus einem künstlerisch verschwurbeltem Anti-Film und einer Kombination von Gangster-Plot und Love-Story wirkt wie die anstrengendsten Filme von Godard auf Koks. Wer die berüchtigte Szene aus Zulawskis fantastischem Horror-Meisterstück "Possession" gesehen hat, in der die Hauptdarstellerin Isabelle Adjani in einem U-Bahntunnel einen unvergesslichen Anfall erleidet, weiß ungefähr, was er von diesem Film erwarten kann. In "L'amour braque" geraten diese dauerhaften Aussetzer allerdings zum sinnentleerten Zweckmittel und strapazieren die Nerven des unvoreingenommenen Betrachters derart dreist und aufdringlich, dass er irgendwann erschöpft nachgeben und dem Streifen eine Absage erteilen muss.

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                                                  • 7 .5

                                                    "Under the Shadow" reiht sich in die aktuelle Liste von Horrorfilmen wie "The Babadook", "The Witch" oder "It Follows" ein, die den moderneren Mechanismen des Genres entgegenwirken. Der Horror, dem die Figuren in diesen Filmen ausgeliefert sind, entfaltet sich über eine psychologische Ebene, auf der sich Traumata, Ängste und Sorgen in realen Schrecken manifestieren, aber eher als unterbewusstes, metaphernartiges Stilmittel in die Handlung eingeflochten werden.
                                                    Der im Iran geborene und aufgewachsene Regisseur Babak Anvari erzählt in seinem Debütfilm von einer Mutter, die mit ihrer kleinen Tochter und ihrem Mann zur Zeit des ersten Golfkriegs in Teheran lebt. Zu Beginn bekommt Shideh mitgeteilt, dass sie ihr Medizinstudium nicht mehr fortführen und nie wieder an die Universität zurückkehren darf, da sie zuvor an politisch engagierten Aktivitäten beteiligt war. Ein Rückschlag für die ambitionierte Frau, denn Shideh hat ohnehin unter den gesellschaftlichen Konventionen zu leiden, durch die sie sich in der Öffentlichkeit verhüllen muss und zudem von ihrem Mann, der als praktizierender Arzt tätig ist, vorgehalten bekommt, dass es vielleicht besser wäre, wenn sie sich als Hausfrau um die gemeinsame Tochter kümmert.
                                                    Als Shidehs Mann erneut von der Armee eingezogen und diesmal mitten an der Front stationiert wird, muss sie mit der kleinen Dorsa alleine in der Wohnung bleiben. Eine Wohnung, die bald schon zum Ort des Horrors mutiert, den Anvari auf vielfältige Weise inszeniert. Der Regisseur, der den Irak-Iran-Krieg als ganz kleines Kind ebenfalls hautnah miterleben musste, bringt einen spürbar intimen Einfluss in "Under the Shadow", indem er die Ausmaße des Kriegs als beklemmendes, kammerspielartiges Szenario porträtiert, das er mit persönlichen Schwierigkeiten von Shideh, deren Mutter sechs Monate zuvor verstarb, sowie einem gruseligen Mythos aus einer iranischen Sage verwebt.
                                                    Nachdem Dorsa von einem Jungen aus dem Wohnkomplex gesagt bekommt, dass sich böse Geister, genannt "Djinns", über den Wind in das Gebäude einschleichen würden und schließlich eine Rakete in das Dach einschlägt, die nicht detoniert, aber einem älteren Bewohner des Hauses durch einen Herzinfarkt das Leben nimmt, häufen sich die sonderbaren Ereignisse, bei denen Dorsa einer Krankheit verfällt und sich zunehmend merkwürdiger benimmt, während Shideh erschreckende Gestalten sieht.
                                                    Die übernatürlichen Elemente und klassischen Schockmomente haben in "Under the Shadow" aber nur einen geringen Anteil an der gesamten Geschichte. Furchteinflößend ist Anvaris Werk dennoch, denn viel schlimmer als Geister und Dämonen ist die Vorstellung, dass jeden Moment Bomben oder Raketen auf einen niederregnen könnten oder das eigene Kind in einer unerklärlichen Gefahr schwebt. Jedes Mal, wenn die Alarmsirenen in diesem Film wieder in schriller Lautstärke aufheulen und die Figuren dazu gezwungen sind, sich schnell in einen Schutzbunker im Keller zu flüchten, will man die Arme nach ihnen ausstrecken und sie ebenfalls beschützen. Durch die feinfühlige, starke Charakterzeichnung hat der Regisseur eher ein Drama geschaffen, das von stimmigen Horror-Elementen unterstützt wird.
                                                    Dass beide Stilrichtungen nahtlos ineinanderfließen können, beweist Anvari mit einem aufwühlenden Finale, in dem die Spannung schließlich ein beeindruckendes Ausmaß erreicht. Der Regisseur hält fest zu seinen Figuren, genauso wie er in seiner Kindheit vermutlich jemanden brauchte, an dem er sich festhalten konnte, und hat mit "Under the Shadow" ein ebenso beängstigendes wie persönliches Debüt gedreht, in dem realer Horror und unterbewusster Terror auf schlüssige Weise zueinanderfinden und durch stark gezeichnete Figuren einen emotional mitreißenden Zugang gewähren.

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