Patrick Reinbott - Kommentare

Alle Kommentare von Patrick Reinbott

  • 7 .5

    Als „City of Stars“ besingt Ryan Goslings Figur die Stadt, in der er seinem Wunschtraum hinterherjagt, einen kleinen Jazzclub zu eröffnen, in dem die Leute zu Drinks und Hähnchen für jene Musik schwärmen sollen, die sich seit langer Zeit auf einem absteigenden Ast befindet und vom Aussterben bedroht ist. Das Los Angeles in Damien Chazelles „La La Land“ ist gleich in zweierlei Hinsicht eine „City of Stars“. Eine Stadt, in der zwei Menschen unter strahlendem Sternenhimmel mit Blick über ein Panorama aus funkelnden Lichtern zueinander finden, während sich unzählige Seelen tagsüber durch Jobs als Bedienung in Restaurants oder Cafés über Wasser halten, während sie insgeheim hoffen, wie ihre großen Vorbilder eines Tages doch noch zum verehrten Star zu werden.
    In diesem Schmelztiegel der Träume, Illusionen, Hoffnungen, Ambitionen und Frustrationen erzählt der Regisseur die Geschichte von Sebastian und Mia, die beide auf ihre Weise mit den Gedanken in den Sternen hängen, gemeinsam auf Wolke sieben schweben dürfen, nur um irgendwann zu bemerken, dass sich zwischen dem schönen Schein des Ideals und den schweren Kompromissen der Realität eine Kluft öffnet. Interessierte sich Chazelle in seinem Vorgänger „Whiplash“ noch an dem Verhältnis zwischen der Leidenschaft eines Hobbys, der wahnhaften Obsession dahinter und dem destruktiven Eifer, der sich durch erbarmungslosen Drill äußerte, ist „La La Land“ im Vergleich dazu nahezu federleicht, während sich Chazelle mit den traditionellen Mitteln des Musicals in der Moderne auf die Suche nach dem begibt, was Menschen im Allgemeinen unter dem persönlichen Glück im Leben verstehen.
    Die zunächst separate und später gemeinsame Reise von Sebastian, dem talentierten Musiker, der in die Wurzeln des Jazz vernarrt ist, und Mia, die als aufstrebende Nachwuchsschauspielerin von einem Casting zum nächsten wandert, führt durch Schauplätze und Situationen, in denen sowohl die Magie des flüchtigen Moments als auch die unvermittelte Ernüchterung und Enttäuschung im Leben durchblitzt. Wenn die Träume mal wieder die Oberhand gewinnen, lässt Chazelle die Szenerie in strahlenden Farben aufleuchten, wobei die Kamera ohne sichtbare Unterbrechungen in Form von Schnitten dabei zusieht, wie die Figuren ihre Gefühle besingen, lässig über den Boden tänzeln oder Hand in Hand zum gemeinsamen Paartanz ansetzen.
    Zwischen einem verzaubernden Kinobesuch, bei dem sich die Münder zu „Rebel Without a Cause“ nur beinahe für einen Kuss berühren, bevor der Projektor plötzlich den Geist aufgibt und einem schwerelosen Walzer durch jenes Observatorium, in dem sich bereits James Dean nach einem besseren Leben sehnte, drängen sich alsbald die Momente, in denen der hoffnungsvolle Gesang zunehmend verstummt. Wenn Mia in einem ihrer Castings vor zwei Personen steht, die ihr Desinteresse kaum deutlicher äußern könnten, und innerhalb von Sekunden abgefertigt wird, während Sebastian als Mitglied einer Pop-Band dem künstlerischen Ausverkauf nahe ist, vollführt „La La Land“ den Wandel weg vom klassischen Musical hin zu einem charakterorientierten Schauspiel-Drama, in dem sich zwischen den manchmal vielleicht etwas zu glatten Tonfall durchaus schmerzliche Facetten eingliedern.
    So setzt sich Chazelle über den Vorwurf, kaum mehr als eine kitschige Romanze gedreht zu haben, die den alten Zeiten nachtrauert, hinweg, indem sich sein Film zwischen Klassik und Moderne als zeitlose Liebeserklärung an die naiven Tagträumer entpuppt, denen der Regisseur sanft den Weg ebnet, allerdings nicht, ohne ihnen wertvolle Stolpersteine in den Weg zu legen, welche das Band zwischen wohliger Fantasie und unbequemen Tatsachen durchaus gespannt halten.

    15
    • 4 .5

      [...] Die ersten 15 Minuten von Moulin Rouge genügen, um als Zuschauer für sich selbst überprüfen zu können, ob man den weiteren gut 105 Minuten noch folgen kann und in der stilistisch radikalen Vision von Baz Luhrmann (Romeo & Julia) versinken will. Der australische Regisseur inszeniert den Auftakt seines Films mit unerschrockenem Tempo, bei dem die Montage einem schwindelerregenden Wirbelsturm der frenetischen Schnitte gleicht, in dem Augen und Ohren einem wüsten Frontalangriff ausgesetzt werden. Die Kamera rast ohne Unterbrechung durch das Geschehen, auf kurze Momente des Dialogs folgen entfesselte Szenen von Gesang und Tanz und Schauplätze wechseln sich in Sekundenschnelle ab. In Moulin Rouge stehen sämtliche Regler bereits nach kürzester Zeit auf Anschlag und man fühlt sich wie die Hauptfigur nach seinem ersten Glas Absinth dem rauschhaften Taumel nahe, auf den nur allzu schnell Kopfschmerzen oder Übelkeit folgen könnten. [...] Was sich zwischen Christians Ankunft in Paris und dem traurigen Höhepunkt ganz zum Schluss ereignet, erzählt der Regisseur als zuckersüße Romanze im kitschigen Gewand, die unbeholfenen Slapstick ebenso in sich vereint wie zahlreiche Musical-Einlagen, die von Luhrmann in kompromissloser Videoclip-Ästhetik inszeniert werden. Was dem Film zwischen seiner Verschmelzung von stilvoll-opulenter Retro-Ausstattung und Moderne in Form von Songs wie Smells Like Teen Spirit oder Your Song abhanden geht, ist jegliche Art von spürbaren Gefühlen. Auch wenn das hyperaktive Inferno der ersten 15 Minuten später nur noch selten zelebriert wird, ist Moulin Rouge eine ungemein anstrengende, nahezu zermürbende Seherfahrung. Trotz des experimentellen Stilwillens, mit dem sich der Regisseur auf innovatives, so noch nie gesehenes Terrain begibt und beachtlich choreographierte, energiegeladene Darbietungen musikalischer Stücke aufbietet, verkommt der Film mehr und mehr zur Geduldsprobe. Die simpel gestrickte Geschichte wird von süßlichen Klischees oder schrill überzogenen Stereotypen dominiert, der geringste Anflug realer Emotionen wird durch die artifiziellen Sets und das ständige Zurückfallen in den pompösen Exzess im Keim erstickt und selbst das zentrale Hauptfiguren-Duo verkommt zu seelenlosen Abziehbildern, obwohl Ewan McGregor (Trainspotting - Neue Helden) und Nicole Kidman (Eyes Wide Shut) nicht nur sichtlich bemüht spielen, sondern sich darüber hinaus bemerkenswert die Seelen aus dem Leib singen. [...]

      5
      • 7 .5

        [...] Der Film gestaltet sich als Vermischung von Realität und Fiktion, denn die Regisseure verwenden ausschließlich die originalen Tonbandaufnahmen von Hull, während die geschilderten Ereignisse von Schauspielern nachgespielt und Dia- sowie Monologe lippensynchron in die einzelnen Szenen eingeflochten werden. Das Resultat ist ein unkonventioneller Hybrid aus dokumentarischen Wurzeln und inszenierter Interpretation, die einem Gedankengänge und Empfindungen eines Menschen vermitteln, der seinen Alltag plötzlich in vollkommener Finsternis verrichten und sich mit dem eigenen Leben völlig neu arrangieren muss. Obwohl sich der Sinn der gespielten Szenen mitunter nicht so ganz erschließen mag, wenn selbst banalste Momente wie der Gang zur Arbeit oder das gemeinsame Sitzen auf dem Sofa vor der Kamera nachgestellt werden, während die Stimme von Hull erklingt, ist die erschütternde Emotionalität der Thematik ungebrochen. Wenn der Ehemann und zum damaligen Zeitpunkt seiner endgültigen Erblindung Vater von drei Kindern beschreibt, dass es ihm nach mittlerweile drei Jahren ohne Augenlicht zunehmend schwerfällt, sich daran zu erinnern, wie seine Frau aussieht oder nur noch vage, verblassende Bilder seiner kleinen Kinder im Kopf zu haben, entfaltet Im Dunkeln sehen nur alleine durch die melancholisch-zerbrechliche Stimmgewalt des Theologen eine erschütternde Intensität, die zu Tränen rührt. Die Vorzüge ihres filmischen Formats nutzen Middleton und Spinney daher vor allem für die Visualisierung von Traumsequenzen oder Gefühlen, die das Regie-Duo in surreale Bilder transformiert, die sich, wie der gesamte Film, mit dem starken Kontrast zwischen dem Schönen und dem Schrecklichen sowie Lähmung und Akzeptanz beschäftigen. Wenn sich durch das Prasseln des Regens außerhalb des Hauses ganze Klangwelten für Hull öffnen und schließlich auch die Inneneinrichtung komplett durchnässt wird, entstehen in diesem Film Momente, in dem die unsichtbare Schönheit des Lebens nicht nur wieder sichtbar, sondern förmlich greifbar wird. [...]

        6
        • 6 .5

          Um „Pitch Perfect“ irgendwie in sein Herz schließen zu können, schadet es sicherlich nicht, wenn die Erinnerungen an die eigene Schulzeit aus einer Mischung peinlicher Momente voller Fremdscham bestehen, von denen man sich so weit wie nur möglich distanzieren möchte, während andere Erlebnisse so wohlig und auf ewig in das Unterbewusstsein eingebrannt sind, dass man sich vor allem nach dem Abschluss einer solchen Lebensphase regelmäßig in diese Zeit zurücksehnt.
          Jason Moores Film fängt diese Gefühle so treffend ein, dass es zu Beginn tatsächlich eine gewisse Zeit der Eingewöhnung braucht, um sich in die aus Teenie-Albernheiten, Musical-Einlagen sowie RomCom-Klischees bestehende Geschichte einzufinden. Der Campus des Colleges, über den die zurückhaltende Beca als Neuzugang streift, wird von wandelnden Klischees bevölkert, bei denen vom sozial isolierten „Star Wars“-Nerd über muskelbepackte Schönlinge bis hin zu den fast schon übermäßig attraktiven, vorwiegend mit knappen Hotpants bekleideten Mädels keine überzogene Typisierung ausgelassen wird.
          Dabei ist Beca selbst das klassische Mauerblümchen, das sich mit großen Kopfhörern in ihre eigene Welt aus selbstgebastelten Mashup-Songs zurückzieht, davon träumt, in Los Angeles als Musikproduzentin durchzustarten und sich lieber in ihrem Kopfkissen vergräbt als in Vorlesungen zu gehen. Nachdem sich auf dem Campus schon durch die Auftaktszenen eine Rivalität zwischen einer männlichen und einer weiblichen A-Capella-Gesangsgruppe herauskristallisiert, dauert es nicht lange, bis Becas Gesangstalent entdeckt wird, nachdem diese ausgelassen unter der Dusche einen ihrer Lieblingssongs trällert und kurze Zeit später in die singende Girl-Group aufgenommen wird.
          Zunächst wird man in „Pitch Perfect“ von den ausgelassen choreographierten sowie performten Einlagen, in denen Gesang und Tanz kombiniert werden, immer wieder fast schon zum ungläubigen Zähneknirschen verleitet. Der Start des Films erweist sich als holprig, die Songs klingen wie mit Zuckerguss glasierte Verfremdungen ihrer Originale und die Gesichter der Mädels und Jungs auf der Bühne strahlen angestrengte Freude aus, die wie künstlich antrainiert wirkt.
          Auf kuriose Weise ergeben all diese Elemente, welche nach wie vor in eine strahlende Verpackung wie süßlich-klebrige Schokolade verpackt sind, allerdings einen gewissen Reiz, der nicht nur dadurch entsteht, dass zwischendurch gelegentliche Momente der Selbstironie und des verspielten Augenzwinkerns auftauchen, sondern vor allem aufgrund der Dynamik zwischen den Figuren, die man nach einer Weile überraschend schnell liebgewonnen hat.
          Wenn Beca auf ihrem Bett Tränen vergießt, weil sie gerade zum ersten Mal in ihrem Leben die Endsequenz von „The Breakfast Club“ gesehen hat oder die Gruppe während einer Busfahrt ganz im Sinne der ikonischen Szene aus „Almost Famous“ gemeinsam in einen Song einstimmen, hier mit Miley Cyrus anstelle von Elton John, stellt der Regisseur gezielte Referenzen offenkundig zur Schau, während der Ausgang der Geschichte nie auch nur ansatzweise in Frage steht.
          Stattdessen ist „Pitch Perfect“ spätestens ab der zweiten Hälfte mit wundervollen Momenten gespickt, in denen die eher banalen, teilweise totgehörten Pop-Songs und Chart-Hits als energiegeladene Katharsis dienen, in denen sich der Streifen geradezu ausdehnt, zu atmen beginnt und genau die Form von sympathisch-unbekümmertem Spektakel darstellt, in dem sich vor allem Hauptdarstellerin Anna Kendrick als musikalisches Multitalent sowie mit unwiderstehlichem Charme gesegnetes Mädchen von nebenan behauptet. Irgendwo ein potentieller Lieblingsfilm, der die Höchstpunktzahl jedoch nicht einmal im Ansatz streift.

          6
          • 7 .5

            Von Franco Neros Verkörperung des Walter Mancini in „Autostop rosso sangue“ geht bereits ab den ersten Szenen eine gewaltige Ausstrahlung aus, der man sich kaum entziehen kann, obwohl man es am liebsten möchte. Der italienische Reporter mit dem stechenden Blick, welcher oftmals unter einer mit roten Gläsern versehenen Sonnenbrille verborgen ist, und dem markanten Schnauzer verhält sich zu Beginn von Pasquale Festa Campaniles unberechenbar gnadenlosem Film als abschreckendes Alphatier, das ständig an der Schnapsflasche hängt und die eigene Frau nur noch auf ihren Körper reduziert, an dem er sich vergeht, sobald ihm danach ist.
            Nachdem das Pärchen auf der Durchfahrt in den Bergen Nordkaliforniens den Anhalter Adam aufgabelt, entpuppt sich der alkoholkranke, übergriffige Reporter fast schon als geringeres Übel, denn ihr neuer Mitfahrer, den David Hess wie auch schon in Wes Cravens bitterbösen "The Last House on the Left" als Monster in Menschengestalt anlegt, ist nicht nur bewaffnet und mit gestohlenen 2 Millionen Dollar im Koffer auf der Flucht, sondern ein schonungsloser Psychopath, der die gemeinsame Spritztour in einen angespannten Trip durch die blanke Hölle verwandelt.
            „Autostop rosso sangue“, der unter anderem auch als „Hitch-Hike“ oder unter dem prachtvollen deutschen Titel „Wenn du krepierst, lebe ich!“ bekannt ist, gibt sich als unnahbarer (Sub-)Genre-Anschlag auf die guten Geschmacksnerven einer politisch korrekten Zuschauerschaft. Campaniles raue Verbindung von Versatzstücken aus einem Geiselnahme-Thriller, brutalen Rape-and-Revenge-Einlagen sowie einem undurchschaubaren Katz-und-Mausspiel, in dessen Zentrum immer wieder Raum für Charakterstudien von überaus geschädigten Persönlichkeiten geschaffen wird, ist exakt so räudig, fies und wagemutig, wie es Setting und Figurenkonstellation bereits vermuten lassen.
            Auch wenn es „Autostop rosso sangue“ keineswegs an intensiven Szenen mangelt, die aufgrund ihrer Darstellung plötzlicher Gewaltausbrüche, psychischer Erniedrigungen, vulgärer Ausfälle und sexuellen Missbrauchs ungestüm in Exploitation-Regionen umher wildern, bewegt sich der Regisseur erzählerisch auf unvorhersehbarem Terrain. Da sich das Trio gemeinsam auf der Flucht und daher ständig in Bewegung findet, bedeutet dieser Umstand nicht, dass der Film ebenfalls eine einzige, konstante Vorwärtsbewegung darstellt. Campanile variiert das Tempo geschickt, spitzt die drastischen Situationen zwischen den drei Hauptfiguren manchmal auf quälend langsame Weise zu, während einige Momente wie aus dem Nichts ebenso erschreckend wie unvermittelt in einer Art Klimax explodieren.
            Als würde es nicht reichen, einen schmierigen, alkoholkranken Reporter mit dessen nur auf den ersten Blick wehrlosen, unschuldigen Frau und einem mordenden, vergewaltigenden Killer zu vereinen, treibt der Regisseur die Geschichte nach einer weiteren geschickten Wendung in den letzten 20 Minuten auf einen bösartigen Höhepunkt zu, nach dem „Autostop rosso sangue“ mit einer derart zynischen Unverschämtheit von einem Ende in den Abspann überleitet, dass einem Hören und Sehen vergeht. Selten geben sich Filme schlussendlich so konsequent und hinterhältig zugleich. Ein abstoßendes Fest.

            10
            • 5

              Der Vampir zählt sicherlich zu den faszinierendsten Kreaturen, was seine mythologische Wirkung betrifft. Eine unsterbliche Gestalt der Nacht, die auf ewig dazu verdammt ist, ihren nahezu unstillbaren Durst nach Blut zu stillen. In Neil Jordans Romanverfilmung "Interview with the Vampire: The Vampire Chronicles" steht dieses Dilemma stets im Vordergrund, denn das Dasein als Vampir bedeutet in dieser Geschichte auch gleichzeitig ein Dasein als melancholisch-getriebener Gefangener seiner eigenen Triebe.
              Die Handlung des Films setzt in der Gegenwart an, wo der Reporter Daniel Malloy die Gelegenheit erhält, einen jungen, gutaussehenden Mann namens Louis de Pointe du Lac zu interviewen, der laut eigener Aussage mehrere Jahrhunderte alt und ein Vampir ist. Zu Beginn erkundigt sich Malloy nach den typischen Eigenschaften, die im Volksmund mit den mythischen Sagengestalten in Verbindung gebracht werden. Was ihm Louis allerdings umfassend schildert, hat mit den üblichen Klischees wie der Unverträglichkeit mit Sonnenlicht und Knoblauch oder einem Pflock, der direkt ins Herz gerammt werden muss, wenig zu tun.
              Der Regisseur inszeniert Louis‘ Lebensgeschichte, an deren Anfang die Verwandlung in einen Vampir durch den unberechenbaren, verschmitzten sowie geheimnisvollen Lestat steht, in betörend komponierten Bildern, die den barocken Glanz des stilvollen Ambientes und die schmutzige Brutalität der plötzlichen Gewaltausbrüche auf interessante Weise in sich vereinen. "Interview with the Vampire: The Vampire Chronicles" beschäftigt sich zunächst mit dem tragischen Zwiespalt seiner beiden zentralen Hauptfiguren, denen zwar ein ewiges Leben ohne sichtbare Alterungsspuren bevorsteht, welches jedoch in der Verborgenheit verbracht werden muss, damit der übermächtige Drang nach menschlichem Blut keine mörderische Schneise durch die Gesellschaft zieht.
              Daneben blitzt gelegentlich ein unverkennbar homoerotischer Tonfall aus, der sich zwischen Louis und Lestat ereignet. Schon bei ihrem ersten Aufeinandertreffen, wenn Lestat seine Reißzähne genüsslich im Hals von Louis versenkt, entsteht eine Form von erotisch aufgeladener Spannung zwischen den beiden, die Jordan im weiteren Verlauf des Films nie vollständig zur Entladung bringt. Es ist ein Problem, das sich auch in Bezug auf die thematische Bandbreite der Geschichte bemerkbar macht, welche oberflächlich angerissen wird und spätestens ab der zweiten Hälfte, in der der Film aufgrund eines abrupten Wechsels des Settings erzählerisch komplett im Stillstand verharrt, zur frustrierenden Redundanz tendiert.
              Ebenso rätselhaft wie irritierend gestaltet sich der atmosphärische Tonfall, durch den "Interview with the Vampire: The Vampire Chronicles" oft zwischen den Extremen pendelt. Mit der Besetzung von Brad Pitt und Tom Cruise in zwei der elementaren Rollen wird der Film von zwei Stars unterstützt, die ihre Rollen mit wechselhafter Qualität spielen. Während Pitts Darstellung einer gequälten Seele stellenweise zu sinnlichem Kitsch verkommt, dem man dem sanftmütigen, traurigen Blick des Schauspielers jederzeit abkauft, wirft sich Cruise in einigen Szenen mit haarsträubendem Overacting in seine Rolle des psychopathisch veranlagten Vampirs, was den Film mitunter in fragwürdigen Edeltrash verwandelt, der nicht zur melancholisch zurückhaltenden Gangart passen mag. Dieser Eindruck wird durch das sonderbare Ende nur noch verstärkt, das in seiner schrillen Art wie ein Fremdkörper wirkt und den Film eher albern als würdig beschließt.

              4
              • 7 .5

                Sobald sich Ai einem ihrer Kunden hingibt, ist ihr Körper nur noch Mittel zum Zweck. Die Prostituierte leistet keinen Widerstand und lässt sich auf Wunsch zu einem Objekt degradieren, über das per Zahlung frei verfügt werden darf. In ihrer Rolle als sadomasochistische Dienerin setzt sie sich Erniedrigungen und Demütigungen aus, doch wenn es sein muss, wechselt sie die Seite und macht winselnde, gefügige Tiere aus den Männern, die vor ihr auf dem Boden knien.
                In Ryū Murakamis „Topâzu“ verwandeln sich Hotelzimmer in eigene Welten, sobald die Türen verriegelt sind und sehnlichstes Verlangen enthüllt wird. Der Zuschauer begleitet die 22-jährige Prostituierte in die Räumlichkeiten ihrer Kunden, wo sie abgründige Vorlieben, sonderbare Fetische und bizarre Gelüste in die Realität umsetzen soll. Dabei inszeniert der Regisseur die S/M-Sequenzen in ungeschönter Langsamkeit, ohne dabei jemals in zu explizite Gefilde zu geraten.
                Selbst ausgefallene Aktionen, bei denen Ai beispielsweise mit einem angeklebten, in sie eingeführten Vibrator wie ein Hund über den Boden kriechen muss, mit einer Kollegin einen völlig zugedröhnten Kunden um ein Haar umbringt, weil dieser gleichzeitig befriedigt und stranguliert werden will oder in eine Schüssel uriniert, die von einem devoten Kunden prompt ausgetrunken wird, bewahren sich unter der Regie des japanischen Regisseurs einen gewissen Stil, der das Werk nie zur voyeuristischen Provokation verkommen lässt, in der stets auf den nächsten Schockeffekt abgezielt wird.
                Begierde und Perversion, Lust und Schmerz sowie Verlangen und Trieb sind die nahezu alles bestimmenden Gegensätze in Murakamis Film, der die japanische Hauptstadt in einem kalten, von sich selbst entfremdeten Licht zeigt. Das typische Bild von Tokio, in dem sich eine unüberschaubare Zahl an Menschenmassen tagsüber durch dicht bevölkerte Straßen drängt, während die Nacht von unzähligen Lichtquellen schier überflutet wird, wandelt sich in „Topâzu“ zu einem Porträt der Leere und Einsamkeit, in dem Intimität nur noch im kleinsten Rahmen, unter finanziellen Bedingungen sowie hinter verschlossenem Riegel stattfinden kann.
                Im Vergleich zu ihren Kunden, bei denen es zuweilen schwerfällt, Überreste menschlicher Empfindungen auszumachen, ist Ai das letzte noch flackernde Licht in einem lange erloschenen Meer. Ihr finales Aufbegehren nach Liebe und Zuwendung wird von der Gesellschaft daher folglich als das Verhalten einer verrückt gewordenen Irren gedeutet. Nachdem sie sich mit blutigem und tränenverschmiertem Gesicht zuletzt vollständig geöffnet hat, bleibt Murakami abschließend nichts anderes mehr übrig, als Ai wieder hinter der makellosen, unberührten und zugleich falschen Fassade zu verbergen, damit das „normale“ Leben weitergehen kann.

                10
                • 6 .5

                  [...] Das Hauptaugenmerk in Mia Hansen-Løves (Eden - Lost in Music) Alles was kommt liegt wenig überraschend wieder einmal voll und ganz auf Isabelle Huppert (Süßes Gift). Die französische Schauspielerin mit dem berechtigten Status eines Weltstars war im Jahr 2016 gleich dreimal im Kino zu bewundern. In Filmen wie Valley of Love - Tal der Liebe und Louder Than Bombs war ihre Präsenz stets ein Geschenk, denn Huppert verschmilzt nicht nur einfach mit ihren Rollen, sondern reißt die jeweiligen Figuren mit beeindruckendem Geschick an sich und lässt sie mit einer geradezu übermächtigen Ausstrahlung vor der Kamera aufleben. In Alles was kommt verleiht die Schauspielerin dem simplen Sprichwort "In der Ruhe liegt die Kraft" eindringliche Bedeutung, denn trotz der Lebenskrise, in die ihre Figur schlittert, wird Nathalie von einer Aura der Verschlossenheit und Ruhe umgeben, der Huppert mit minimalen Regungen und Reaktionen schwere Risse verleiht, um im nächsten Moment wieder eine souveräne Gelassenheit auszustrahlen. Dabei wird Nathalie durch verschiedene Entwicklungen immer stärker aus der Bahn geworfen, die ihr Leben, das jahrzehntelang in einem geordneten Rhythmus verlief, bislang darstellte. [...] Trotz der vermeintlichen Schicksalsschläge hat Hansen-Løves Film aber wenig von einem schwerfälligen Drama. Die Regisseurin, deren Mutter ebenfalls als Philosophielehrerin gearbeitet hat, blickt mit ambivalenten Gefühlen auf ihre Hauptfigur, die sicherlich auch mit autobiographischen Bezügen konstruiert wurde. Trotz der erkennbaren Verlorenheit, mit der Nathalie rastlos von einem Handlungsort zum nächsten getrieben wird, fügt sie sich den spontanen Entwicklungen mit aufgeschlossener Standhaftigkeit, durch die Hansen-Løve ihre Protagonistin an den Rand einer neu erlangten Selbsterkenntnis rückt. So stark sich die Hauptdarstellerin auch erneut in den ruhigen Facettenreichtum ihrer Figur stürzt, kommt Alles was kommt jedoch selten über den verkopften, distanzierten Ton hinweg, den die Regisseurin einschlägt. Das Milieu aus elitär wirkenden Bildungsbürgen, eitlen Akademikern und naiven Intellektuellen, in dem sich Nathalie bewegt, untermauert Hansen-Løve durch die wiederholte Nennung bedeutender Namen wie Foucault, Rosseau, Schopenhauer oder Adorno. Tiefergehende, philosophische Diskurse bringt die Regisseurin allerdings nie in Gang, es bleibt bei der simplen Benennung großer Vorbilder, die als eine Art Hintergrundkulisse dienen dürfen, ohne jemals einen bedeutenden Mehwert zur Handlung des Films beizusteuern. [...]

                  12
                  • 8
                    über Der 13.

                    Die USA stellt 5% der gesamten Weltbevölkerung dar, doch 25% der weltweiten Gefängnisinsassen sitzen ihre Strafe auf amerikanischem Boden ab. Ava DuVernay eröffnet ihre Dokumentation "13th" mit dieser Information, die längst kein großes Geheimnis mehr sein dürfte und trotzdem weitverbreitete Skepsis über ein Land streuen sollte, welches sich nach wie vor bei zahlreichen Gelegenheiten mit dem Titel rühmt, das großartigste auf diesem Planeten zu sein.
                    Ausgehend von der erstaunlich hohen Zahl an Menschen, die sich in den USA in Haft befinden, spannt die Regisseurin einen Bogen hin zu der titelgebenden Einführung des 13. Zusatzartikels zur Verfassung der Vereinigten Staaten, durch den Sklaverei im Jahr 1865 auf dem Papier und gesetzmäßig abgeschafft wurde. Eine Ausnahme stellt jedoch das Begehen eines Verbrechens dar, nach dem der Schuldige weiterhin in eine Form der Versklavung, in diesem Fall die legale Inhaftierung, sowie Zwangsdienstbarkeit überstellt werden darf.
                    DuVernay, die zuletzt mit "Selma", ihrem Biopic über Martin Luther King, für Aufmerksamkeit in der breiten Öffentlichkeit sorgte und ihren Status als bemerkenswerte Aktivistin für die "Black Lives Matter"-Bewegung demonstrierte, hat mit dieser Dokumentation nun ein aufrüttelndes Manifest geschaffen, mit dem sie ihre Agenda, die weiterhin nichts von ihrer hochaktuellen Brisanz verloren hat, fortführt.
                    "13th" kehrt zunächst zu D. W. Griffiths "The Birth of a Nation" zurück, in dem die afroamerikanische Kultur als wilde, vergewaltigende sowie gefährliche Raubtiere porträtiert werden, während die Darstellung des Ku-Klux-Klans zu einer Rehabilitation dieses Geheimbundes in der Realität führte. "Criminal" ist das Wort, welches immer wieder eingeblendet wird und es ist der wohl markanteste und zugleich prägendste Begriff, unter dem die schwarze Bevölkerung in den USA bis heute zu leiden hat. Die mediale Berichterstattung wird dabei ebenso beleuchtet wie der Aspekt der Segregation, der sich wie ein Gift durch sämtliche Jahrzehnte der jüngeren Zeitgeschichte zieht.
                    DuVernay gestaltet ihr Werk weiterhin als exzellent aufbereitete Geschichtsstunde sowie gesellschaftskritisches Zeitdokument von höchster Brisanz, für das sie den Zuschauer durch die Amtszeit von Richard Nixon und Ronald Reagan führt. Sie zeigt auf, wie der selbstauferlegte "War on Drugs" vor allem dazu führte, dass auffällig viele schwarze Bürger für eher harmlose Verbrechen wie beispielsweise den Besitz von Drogen zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt wurden, während nach und nach der wirtschaftliche Aspekt in den Vordergrund rückt, bei dem Konzerne und Unternehmen erheblich davon profitieren und mitbestimmen, dass die Prozentzahl der Häftlinge unter keinen Umständen gesenkt wird.
                    Neben den obligatorischen "Talking Heads", für die die Regisseurin auf Fachleute aus den verschiedensten akademischen und politischen Schichten zurückgreift, untermauert DuVernay die geschilderten Problematiken, Missstände sowie Ungerechtigkeiten mit kunstvollen Elementen. Nina Simones Soul-Gesang fasst die zuvor dargelegten Fakten ebenso treffsicher zusammen wie wütende Rap-Verse von Nas oder Killer Mike, während "13th" einen bedrückenden Bogen zur aktuellen Gegenwart spannt, wenn nur wenige Zitate aus einer Rede von Donald Trump genügen, um an ein Gefühl von bestürzter Ohnmacht heranzuführen.
                    Kurz vor Ende gelingt es nicht einmal mehr, der Tragik noch konkrete Gesichter zu verleihen, wenn unzählige Namen von schwarzen Menschen eingeblendet werden, die unbewaffnet getötet wurden. Auf die Frage hin, wie irgendjemand die damaligen Zustände der Sklaverei auch nur im Ansatz tolerieren oder gar unterstützen konnte, kommt DuVernay zu einem knappen Fazit: Wir leben in genau diesem Moment immer noch in einer solchen Zeit und zeigen uns mit höchster Toleranz.

                    16
                    • 6 .5

                      Justin Kurzels Wechsel in den Blockbuster-Bereich ist ein Film geworden, der unverkennbar den Stil des Regisseurs trägt, welcher zuvor "Snowtown" und "Macbeth" drehte. Mit nur zwei Filmen hat sich der Australier eine markante, intensive Handschrift angeeignet, mit der er sowohl einem Film über die Hintergründe einer auf realen Tatsachen basierenden Mordserie sowie der Neuverfilmung von Shakespeares klassischer Tragödie eine gewaltige Sogwirkung verliehen hat. Zeitweise versetzen einen Kurzels Filme durch die abgründigen, albtraumähnlichen Impressionen in Verbindung mit der wuchtigen Musik von Bruder Jed Kurzel immer wieder in eine Art hypnotische Trance versetzt, aus der man sich gar nicht mehr herauswinden will.
                      Der Sprung vom Programmkino ins Multiplex sowie die obligatorische Bürde der Videospielverfilmungen, die in der Regel aufgrund ihrer unrühmlichen Historie bereits im Voraus als gescheitert gelten, macht aus "Assassin's Creed" eine zutiefst schizophrene Seherfahrung, für die der Regisseur seinen 125 Millionen Dollar teuren, mit zahlreichen Stars besetzten Blockbuster nie den in ihn gesteckten Erwartungen opfert und ohne Rücksicht auf Verluste mit einer eigenen, durchaus sperrigen Vision vor Augen umsetzt.
                      Im Mittelpunkt der Geschichte, die vor allem zu Beginn alles andere als einfach zu erfassen ist, befindet sich der zum Tode verurteilte Strafgefangene Callum Lynch, der in einem Gefängnis in Texas hingerichtet werden soll. Als das Gift der tödlichen Injektion in seine Adern strömt und vor ihm Erinnerungsfetzen seines bisherigen Lebens aufblitzen, in denen er als Junge beispielsweise die eigene Mutter durch den Vater ermordet auffand, bleibt sein Tod jedoch aus. Callum befindet sich plötzlich in einer Art Forschungslage, die zu seinem vorherigen Gefängnisaufenthalt deutliche Parallelen aufweist. Für den ominösen Konzern "Abstergo Industries" wird er schließlich an eine Maschine angeschlossen, die ihn gedanklich Jahrhunderte in der Zeit zurückreisen lässt. Callum findet heraus, dass er ein Nachfahre der Assassinen ist, die sich seit jeher im Krieg mit den Tempelrittern befinden. Für "Abstergo Industries" soll er die Erinnerungen seines Vorfahren Aguilar de Nerha durchforsten und das Versteck des sagenumwobenen Apfels von Eden ausfindig machen, der den Schlüssel zur Kontrolle des freien Willens enthält.
                      Kurzels Film prescht mit gnadenloser Kinetik durch ein ganzes Füllhorn an Einfällen, Theorien sowie Zusammenhängen, wobei sich "Assassin's Creed" vor allem der Dualität verschreibt. Zwischen Vergangenheit und Gegenwart, grau schattiertem Gut und Böse sowie Science-Fiction und Fantasy inszeniert der Regisseur die furiosen Schlachten während der Spanischen Inquisition 1492 wie auch die erneute Gefangenschaft sowie Manipulation von Callum im Jahr 2016 als fiebertraumartiges Delirium, dessen mit schweißtreibender Physis choreographierte und schwindelerregend geschnittene Action-Sequenzen auf passende Weise der verwirrten, überforderten Psyche des Protagonisten entsprechen, während Callum in der Forschungsanlage immer tiefer im Wahn zu versinken droht, was sich im Anblick des zunehmend ausgemergelten, zerknirschten Michael Fassbender eindrucksvoll widerspiegelt.
                      Der zentrale, mehrere Generationen umspannende Konflikt zwischen Assassinen und Tempelrittern dient in der Handlung des Films als oberflächlich angerissener Diskurs über das Verhältnis zwischen der brutalen Natur des freien Willens sowie der gezwungenen Einschränkung und Kontrolle des Individuums, wobei tiefere Erkenntnisse und Charaktermotivationen der unbarmherzigen Regie des Australiers zum Opfer fallen. Schauspieler wie Jeremy Irons, Brendan Gleeson, Michael K. Williams oder Charlotte Rampling verkommen in dem chaotischen Erzählgeflecht aus psychotischer Raserei und epischen Posen zu Randfiguren mit kurzen Auftritten, während Kurzel, gemäß seiner unangepassten Inszenierung, vor dem eigentlichen Finale, das wie eine notdürftig angehängte Aussicht auf weitere Sequels wirkt, buchstäblich zum Amoklauf ansetzt.
                      Einen derart grimmigen, kalten Mainstream-Blockbuster, in dem das Töten und Sterben so unerbittlich und selbstverständlich in den Vordergrund gerückt wird und der mit faszinierenden Impressionen sowie ohrenbetäubenden Klängen stellenweise fast schon aus der Leinwand bricht, sieht man eher selten. Eine leicht bekömmliche, einfach zu durchdringende Geschichte sowie vielschichtige Charaktere sind die notwendigen Opfer, die der Regisseur erbringt, um seine zielstrebige Vision durchzusetzen. Vernichtende Reaktionen sind daher die fast schon logische Folge, Anhänger von Justin Kurzel dürfe es jedoch freuen, dass sich der Regisseur auch im Big-Budget-Segment treu geblieben ist und eine Videospielverfilmung abgeliefert hat, die eher einem schizophren-psychotischen Arthouse-Blockbuster-Amoklauf gleicht.

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                      • 3

                        Wie konnte ein Film wie dieser überhaupt jemals entstehen? Das ist die Frage, welche man sich während der Sichtung von "Movie 43" ständig selbst stellt, denn rationale Begründungen jeglicher Art werden bereits durch die erste der insgesamt 13 episodenartigen Sketch-Segmente oder Werbeclips zerschmettert.
                        In "The Catch" begibt sich die alleinstehende Karrierefrau Beth auf ein Blind Date mit Davis, der zu den erfolgreichsten sowie begehrtesten Junggesellen der Stadt zählt. Als dieser im Restaurant seinen Schal ablegt, traut Beth ihren Augen nicht, denn unterhalb von Davis' Hals hängt ein Hodensack. Die von Peter Farrelly inszenierte Episode ruht sich alleinig auf dieser skurrilen Prämisse aus, so dass jeder Versuch eines Gags lediglich darin besteht, dass Beth ihr Date auf dessen körperliche Deformation ansprechen will, während Davis sich so verhält, als würde das deutlich sichtbare Paar Hoden, das von seinem Hals baumelt, gar nicht existieren.
                        Nur die Beschreibung dieses Auftaktsegments lässt folgerichtig auf die Richtung des Humors schließen, in die sich der von unterschiedlichen Regisseuren und Drehbuchautoren geschaffene Film bewegt, doch die Tatsache, dass die beiden Hauptfiguren in "The Catch" von Kate Winslet und Hugh Jackman gespielt werden, ist der wohl überraschendste Aspekt dieses misslungenen Auftakts, der sich fortan wie ein roter Faden durch den Rest von "Movie 43" zieht.
                        Liest man sich die vollständige Besetzung der Komödie durch, dann würde diese Anzahl an Stars, prominenten Namen oder bekannten Gesichtern locker für sieben Filme ausreichen, doch jedes Segment wartet tatsächlich mit mindestens zwei dieser namhaften Darsteller auf, von denen sich einige mit erkennbare Selbstironie und Schadenfreude in die grenzwertigen Kurzgeschichten stürzen, wo pubertäre Fäkaleinlagen zelebriert, stumpfer Nonsense dargeboten oder derbe Tabus angesteuert werden, während andere Beteiligte fast schon hilflos wirken, so dass die Besetzung immer wieder Rätsel aufwirft.
                        Wenn Seann William Scott und Johnny Knoxville in Brett Ratners "Happy Birthday" in eine brutale Auseinandersetzung mit einem von Gerard Butler gespielten Leprechaun verwickelt werden, wobei das Finale in einem blutigen Chaos eskaliert, Elizabeth Banks von James Gunn in "Beezel" in einen Wettstreit mit dem lüsternen Cartoon-Kater ihres Freundes gerät, der ebenfalls in Josh Duhamel verliebt ist oder Stephen Merchant und Halle Berry bei ihrem ersten Date "Wahrheit oder Pflicht" spielen, was zu einer Abfolge bizarrer Szenen führt, die in haarsträubenden Schönheitsoperationen ihr Ende findet, zeigt "Movie 43" immerhin in drei der 13 Geschichten das unterhaltsame, schwungvolle sowie rücksichtslose Potential, welches in den übrigen Segmenten zu gnadenlosen Rohrkrepierern verkommt, die von einer ebenso miserablen Rahmenhandlung notdürftig zusammengehalten werden.
                        Ansonsten bleibt die wirklich interessante Frage auch nach dem Abspann immer noch: Wie konnte ein Film wie dieser überhaupt jemals entstehen?

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                        • 7
                          über Agnes

                          [...] In Peter Stamms 1998 erschienenen Roman, der an Schulen in Baden-Württemberg auch heute noch zur Pflichtlektüre gehört und als Vorlage für den Film diente, verschiebt der Autor die Grenze zwischen seiner Geschichte und einer Geschichte innerhalb der Geschichte regelmäßig, so dass irgendwann nicht mehr klar trennbar ist, was dem unbenannten Ich-Erzähler wirklich widerfährt und was nur Teil seiner eigenen, aufgeschriebenen sowie fiktiv konstruierten Gedanken ist. Der Regisseur gießt diese experimentelle, anspruchsvolle Form in eine filmische Struktur, die den Kern der Romanvorlage ebenso komplex wie stimulierend einfängt. Ein Song, der in einer Szene erst nur dumpf aus den Lautsprechern von Walters Laptop ertönt, wird in der nächsten Szene zum Soundtrack eines idyllischen Moments, der den gesamten Raum ausfüllt. Genauso wie sich der Autor ab einem bestimmten Punkt zwischen dem wirklichen Leben und dem von ihm erschaffenen, nach seinem Belieben manipulierten Leben kaum noch selbst wiederzufinden scheint, verliert sich auch der Zuschauer spätestens ab der Hälfte in den bewusst verwirrenden, vielschichtigen Bildern, die Schmid zu einem unklaren Bewusstseinsstrom montiert. Auch wenn Hauptdarstellerin Odine Johne (Die Welle) in der Rolle von Agnes manchmal etwas unbeholfen agiert und die Chemie zwischen ihr und Walter, den Stephan Kampwirth (Fleisch ist mein Gemüse) mit souveräner Unsicherheit verkörpert, nicht immer einen idealen Eindruck erweckt, passt dieser Tonfall wiederum zum Wesen der Geschichte, welche ständige Interpretationen zulässt, ob die ausgesprochenen Worte nicht vielleicht absichtlich hölzern klingen, da sie Walter zuvor unüberlegt in seiner Geschichte aufgeschrieben hat. Agnes regt somit fernab der zunehmend chaotischen Gefühlswelten seiner Figuren zum Nachdenken an, inwieweit das Leben von fremden Konstanten abhängig sein kann und wie sich spontane Momente sowie kontrollierte Bestimmungen überlappen und abstoßen. Während eines harmonischen Ausflugs am See sagt Walter zu Agnes, er könne seinen Roman momentan nicht weiterschreiben, da das Glück keine guten Geschichten hergeben würde. Später kehrt er immer und immer wieder zu diesem Gefühl zurück, auch wenn seine Realität längst eine andere geworden ist. Vielleicht ist ihm der perfekte Moment schon viel früher einfach nur entgangen. [...]

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                          • 6

                            [...] Pieter van Huystees Film gestaltet sich daher eindeutig als Nischenprogramm, das sich in erster Linie an Kunstliebhaber und Bosch-Interessierte richtet. Hieronymus Bosch - Schöpfer der Teufel ist jedoch keinesfalls eine trockene Abhandlung seiner Thematik, sondern funktioniert ebenfalls für all diejenigen, die mit dem Schaffen des Malers bislang völlig unvertraut sind. Van Huystee legt auf Hintergründe und biographische Fakten zu Bosch wenig Wert, stattdessen unterteilt er seine Dokumentation in zwei erzählerische Bahnen. Die akribische, überaus aufwendige Forschungsarbeit des Teams, in dem jedes einzelne Mitglied eine tragende Rolle übernimmt, wird ebenso Schritt für Schritt beleuchtet wie die technischen Verfahren, bei denen die Werke unter anderem mithilfe von Infrarot-Fotografie in einem vollkommen anderen Licht erstrahlen. Am stärksten ist Hieronymus Bosch - Schöpfer der Teufel auf fast schon ironische Weise aber immer dann, wenn die filmischen Möglichkeiten des eigentlichen Mediums in den Hintergrund treten und die Werke selbst auf eine gewisse Art zu Wort kommen. Indem die Kamera in schlichten Nahaufnahmen über die Gemälde schweift, ganz bestimmte Aspekte in den Fokus rückt und den Betrachter hypnotisiert in die morbide-verstörenden Einzelheiten eintauchen lässt, erzählen diese Szenen jeweils ganz eigene Geschichten, deren Sogwirkung man sich nur schwer entziehen kann. Im fortschreitenden Verlauf entwickelt sich die Dokumentation immer mehr zu einem diplomatischen Wettstreit, bei dem es darum geht, Verhandlungen über den Austausch der Gemälde zu führen, die im niederländischen Museum ausgestellt werden sollen, und zu einer grundlegenden Hinterfragung von Boschs Arbeiten, bei der Zweifel darüber aufkommen, ob der Maler seine Gemälde wirklich in Einzelarbeit erschuf oder nicht vielleicht sogar Unterstützung erhielt. Als interessant aufbereiteter Einblick in einen zähen Arbeitsprozess, der ebenso viel Zeit wie Aufwand in Anspruch nimmt, dient Hieronymus Bosch – Schöpfer der Teufel somit ebenso wie als Einblick in das faszinierende, bis heute rätselhafte Schaffen eines ungewöhnlichen, einflussreichen Künstlers, auch wenn viele, die für solch eine Thematik wenig Interesse aufbringen, womöglich auf der Strecke bleiben könnten. [...]

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                            • 7 .5
                              über Julieta

                              12 Jahre sind vergangen, seit Julieta zu ihrer Tochter Antía das letzte Mal Kontakt hatte. Regisseur Pedro Almodóvar enthüllt diese Information in seinem Werk "Julieta" erst spät, doch die lange Zeit findet schon zuvor Bedeutung. Almodóvar beginnt seine Geschichte mit einer älteren Julieta, die desillusioniert, lebensmüde und resigniert wirkt. Was genau dieser Frau widerfahren ist, zeichnet der Regisseur bereits ohne jegliches Hintergrundwissen im Gesicht seiner Protagonistin ab und die Narben, die all die Jahre an ihr hinterlassen haben, werden sichtbar, ohne dass die Ursachen dafür konkret im Raum stehen.
                              Wieso Julieta ihrer Tochter einen umfassenden Brief schreibt, der wie eine Art letzter Rettungsanker wirkt, um sich noch irgendwie aus der eigenen Misere befreien zu können, erzählt Almodóvar mit einer raffinierten Struktur, durch die Julietas bewegte Lebensgeschichte in bewegende Eindrücke gefasst wird. Schmerzhafte Enthüllungen offenbaren sich aufgrund des Wechsels zwischen Gegenwart und Vergangenheit wie schockierende Twists in einem Thriller, doch "Julieta" gibt sich auch in besonders tragischen Momenten, von denen der Film gleich eine Handvoll verborgen hält, mit einer bescheidenen Art, die keinerlei Platz für schwülstigen Kitsch einräumt.
                              Nach außen hin verhandelt der Regisseur schwerwiegende Themen wie Verlust, Trauer und die plagende Frage nach der Schuld bestimmter Vorfälle, die Almodóvar eng mit elementaren Bestandteilen des Lebens, der Liebe und dem Tod, verzahnt. Hinter den betörenden Bildern, in denen immer wieder grelle Farben wie die blaue Strumpfhose oder der rote Ohrschmuck von Julieta, prächtig strahlende Wände oder ansehnliche Muster auf stilvollen Kleidungsstücken ins Auge fallen, thematisiert "Julieta" nicht nur das Gefühl vom unaufhaltsamen Lauf der Zeit, sondern macht Minuten, die der Protagonistin wie Sekunden vorkommen, oder Tage, die sich wie Monate in Julietas Leben niederschlagen, durch die kluge Montage persönlich fühlbar.
                              Die Zeit verrinnt in Almodóvars Werk wie feine Sandkörner, die durch die Finger hindurch gleiten. Beängstigend sind die Momente, in denen einem der Film die eigene Vergänglichkeit durch ebenso unvermittelte Schicksalsschläge wie natürliche Altersprozesse vor Augen führt, doch "Julieta" greift nach den kurzen Augenblicken, an denen es sich festzuhalten gilt. Ob das ein Hirsch ist, der neben dem Zug her rennt, ein kleines Kind, das schlafend neben dem eigenen Bett liegt, der Atem einer geliebten Person, den man kurzzeitig im Nacken spürt oder eine Adresse auf einem Briefumschlag, die noch einmal völlig neue Hoffnung verleiht. Wenn auch vielleicht nur für diesen Augenblick.

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                              • 5 .5

                                "Maggie's Plan" kommt einem verfilmten "Es ist kompliziert!"-Beziehungsstatus gleich, mit dem sich vermutlich sehr viele Menschen in der heutigen Zeit nur zu gut identifizieren können. Die New Yorkerin Maggie zählt ebenfalls zu diesen Menschen, die ständig auf der Suche nach dem perfekten Glück in ihrem Leben sind und auf dem Weg dahin durch Wünsche und Sehnsüchte schlittern, die früher oder später wie Seifenblasen in der Luft zerplatzen.
                                Rebecca Millers Tragikomödie ist sichtlich an den Werken des frühen Woody Allen oder aktuellen Noah Baumbach geschult, was durch die Besetzung von Greta Gerwig, dem zurzeit vermutlich prägnantesten Gesicht für neurotisch-exzentrische, verträumt-naive Frauenfiguren des Independent-Kinos, bereits vorab ohne eine genauere Betrachtung des eigentlichen Films feststehen dürfte. Gerwig spielt Maggie auf ihre gewohnt bezirzende Art als junge Frau, die ebenso sympathisch wie verplant durch den Alltag irrt und sämtliche Hoffnungen auf die große Liebe schon lange aufgegeben zu haben scheint. Da sie sich trotzdem nichts sehnlicher wünscht als ein eigenes Kind, will sie es mit künstlicher Befruchtung versuchen. Als Samenspender wählt sie einen ihrer Ex-Kommilitonen aus, doch als sie dem charismatischen John begegnet, der an der gleichen Universität wie Maggie als Gastdozent arbeitet, und kurz nach der künstlichen Befruchtung mit diesem im Bett landet, beginnen die Dinge schon wieder kompliziert zu werden.
                                Millers Film besticht keinesfalls mit Szenen, die man in den Geschichten von orientierungslosen, am Leben verzweifelnden Protagonisten in ihren 20ern in den Indie-Filmen oder neuerdings auch vermehrt Serien der vergangenen Jahre nicht schon oft genug gesehen hat. Um eigene Akzente zu setzen, hat die Regisseurin für "Maggie's Plan" daher ein Personal von Figuren kreiert, welches das Milieu, aus dem es stammt, mehr als offen zur Schau stellt. Ob Julianne Moore in der Rolle der egozentrischen, dominanten Uni-Professorin oder Travis Fimmel, der als Ex-Kommilitone von Maggie mit Vollbart und Wollmütze auftritt und als Gurken-Entrepreneur ein erfolgreiches Business aufziehen will, Miller ist sich den sozialen Milieus ihrer Figuren derart bewusst, dass sie klischeehafte Stereotypen wie den zotteligen, unbekümmerten Hipster aus dem Williamsburg-Viertel genauso überspitzt anprangert wie die verkopfte, selbstbezogene Akademiker-Schicht, die hinter ihren intellektuell befeuerten Dialogen kaum noch den Blick auf das Wesentliche richtet.
                                Miller gelangt dabei irgendwann in eine Sackgasse, denn ihr gelingt es nur schwer, zwischen dem unbekümmerten Tonfall, für den sie die Macken und Neurosen der Figuren mit offensichtlichem Augenzwinkern vorführt, jene emotionale Zwischentöne zu unterstreichen, die sich in wenigen leisen, zaghaften Momenten offenbaren.
                                Wenn Maggie mit brüchiger Stimme äußert, dass sie ein ehrliches Leben führen möchte, obwohl sie John, mit dem die Beziehung schon länger kalt und distanziert verläuft, unter falschem Vorwand mit dessen Ex-Frau wiedervereinen möchte, da nur sie ihm das Feuer verleiht, in das sich Maggie anfangs verliebt hat, schildert die Regisseurin treffsicher den verzwickten Selbstbetrug an sich und dem engsten Umfeld, welchen Millers Figuren in abgewandelter Variation ständig aufs Neue betreiben.
                                Obwohl "Maggie's Plan" aufgrund der quirligen, teilweise mehrdimensionalen Figuren definitiv mit charmanten Höhepunkten aufwartet, kommt der Film über seinen unentschlossenen Rhythmus hinaus am Ende trotzdem wieder zur gleichen Aussage wie schon zu Beginn: "Es ist kompliziert!"

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                                  über Ekel

                                  Carols Wohnung ist kein typischer Rückzugsort für die junge Frau, wo sie mit ihren Gedanken und Gefühlen mit sich alleine sein kann. In Roman Polanskis "Repulsion" gerät das Apartment zu einem Schauplatz der verzweifelten Isolation, an dem die Hauptfigur des Films langsam in den Abgrund und schließlich mit furchtbarer Gewissheit in den endgültigen Wahnsinn stürzt.
                                  Die Nahaufnahme von Catherine Deneuves Augen im Intro verraten bereits, dass sich hinter der bildhübschen Fassade von Carol beinahe unergründliche Spannungen verbergen. Polanski formuliert die Seelenpein der Protagonistin jedoch nie aus, sondern verwandelt ihr eigenes Umfeld in ein Spiegelbild ihres Inneren, das ebenso wie ihr Äußeres eine Form der Gefangenschaft ausdrückt. Hände brechen durch Wände, um Carol zu packen und zu umschlingen, Risse symbolisieren ihre eigene Persönlichkeit und ein Hase verrottet im Kühlschrank immer stärker vor sich hin.
                                  "Repulsion" schwankt unentschieden zwischen einem psychologischem Drama, in dem der Ursprung von Carols Leiden, das offensichtlich schmerzliche Erlebnis, das ihre deutliche Abneigung gegenüber dem männlichen Geschlecht prägte, lediglich oberflächlich skizziert wird, und surreal eingeflochtenen Horror-Elementen, in denen plakative Schockmomente, zu offensichtliche Symbolik sowie befremdlich hysterische Mordsequenzen nie ein Gefühl von Anspannung oder Angst erzeugen.
                                  Neben der stimmungsvollen Klangkulisse, bei der beispielsweise das Ticken einer Uhr, Schrittgeräusche auf dem Flur oder das Läuten von Kirchenglocken mit beunruhigender Dominanz in den Vordergrund dringen und Carols persönliche Last, die auf ihr zu liegen scheint, für den Zuschauer intensiviert wird, ist es vor allem das wahnhafte Schauspiel der Hauptdarstellerin, mit dem "Repulsion" einige erinnerungswürdige Momente erzeugt.
                                  Ansonsten hinterlässt Polanskis mittlerweile als fester Klassiker geltendes Werk den leichten Eindruck, dass hier ein Regisseur das Dilemma einer Frau verfilmen wollte, von dem er selbst zu wenig verstanden hat. Die Sorgen und Ängste von Carol, welche schließlich in tragischen Dimensionen eskalieren, bringt der Regisseur mithilfe von Stilmitteln des Horrorfilms ansatzweise zur Geltung, doch zu dem enigmatischen, ungewöhnlichen Wesen dieser Frau vermag der Film nie vorzudringen.

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                                    John Anderton herrscht mit zielstrebig geführter Hand über die Bilder, die vor ihm auf dem Bildschirm auftauchen. Er dreht sie mehrfach, um eine neue Perspektive zu erhalten, zoomt an spezielle Stellen heran, damit ihm wichtige Details nicht verborgen bleiben, sieht sich entscheidende Momente mehrfach an und filtert innerhalb von Sekunden Informationen heraus, die einen potentiellen Mord verhindern können.
                                    Die statistische Erfolgsquote bestätigt seine Arbeitsweise, denn im Jahr 2054 der Zukunft ist seit mittlerweile sechs Jahren kein Mord mehr verübt worden. Durch die fortschrittlich ausgerüstete Behörde "PreCrime" ist es möglich, Morde vorherzusehen, bevor sie geschehen, wodurch der Täter noch vor dem eigentlichen Akt des Tötens festgenommen werden kann. Wie dieser Prozess genau abläuft, schildert Steven Spielberg in "Minority Report", welcher auf einer Kurzgeschichte von Philip K. Dick basiert, mit einer schier atemlosen Eröffnung, in der die Funktionsweise von "PreCrime" erklärt wird, während der Regisseur gleichzeitig ein beeindruckendes Zukunftsszenario etabliert, das voller visionärer Denkansätze sowie visueller Auffälligkeiten steckt, die es zu entdecken gilt.
                                    Wenn sich ein System über Jahre hinweg als fehlerfrei behaupten konnte, bedeutet dies allerdings nicht, dass nicht doch irgendwo ein Makel vorzufinden ist, der jenes System zum Einsturz bringen könnte. Anderton, Captain der Polizeieinheit von "PreCrime", wird plötzlich selbst von Zweifeln geplagt und muss sich vor seinen eigenen Leuten auf die Flucht begeben, nachdem die Orakel prophezeien, dass er in den nächsten 36 Stunden zum Mörder werden soll und einen Mann erschießt, den Anderton bislang noch nie gesehen hat.
                                    Die Jagd nach dem ehemaligen Jäger verkommt unter der Regie von Spielberg zu einem packenden Thriller, in dem das Tempo trotz der überlangen Laufzeit kaum zum Stillstand kommt, während Anderton noch tiefer in die Mechanismen des Systems, dem er die ganzen Jahre über blind vertraut hat, eintaucht, um seine Unschuld zu beweisen. Mithilfe von Kameramann Janusz Kamiński und dem Editor Michael Kahn inszeniert Spielberg einige atemberaubende Spannungssequenzen, die man selbst gesehen haben muss. Wenn die Polizisten Spinnen-Roboter durch einen Wohnkomplex schicken, die mittels Augen-Scanner gesuchte Personen ausfindig machen, und Anderton in einer mit Eiswasser gefüllten Badewanne untertaucht, damit seine Körpertemperatur vom Suchradar verschwindet, gelingt dem Regisseur eine fulminante Szene, in der man den Atem mit Tom Cruise anhalten möchte.
                                    "Minority Report" funktioniert aber nicht nur als geradliniger Action-Thriller, in dem sich die Handlung frühzeitig von einem Höhepunkt zum nächsten schwingt, sondern wartet mit einer Vielzahl an komplexen Themen auf, die auf anregende Weise in den Spannungsfluss eingefädelt werden. Fragestellungen, die den Konflikt zwischen Determinismus sowie dem freien Willen anschneiden, finden ebenso ihren Platz wie das für Spielberg typische Familiendrama, welches als entscheidender Faktor für den emotionalen Zugang dient.
                                    Neben all diesen Elementen, dem wieder einmal unwiderstehlichen Schauspiel von Hauptdarsteller Tom Cruise, dem philosophischen Diskussionsstoff, dem erhellenden Blick auf technologischen Fortschritt wie Werbetafeln, die direkt mit dem Konsumenten kommunizieren und auf dessen individuelle Interessen gemünzt sind, und den betörenden Spannungsmomenten, die inhaltlich zudem gerne in die Irre und schließlich in eine ganz neue Richtung führen, ist "Minority Report" aber auch ein Film über die Macht der Bilder.
                                    Anderton kann sich die Bilder formal zu eigen machen, doch er hinterfragt sie nicht, erliegt ihrem Reiz und bemerkt ihre manipulierende Wirkung erst, als es fast zu spät ist. Spielberg erzählt somit auch über das Kino selbst, erreicht den Betrachter seines Films auf ungeahnt kluge Weise und führt ihm im selben Augenblick, in dem er sich den Bildern des Regisseurs kaum noch entziehen kann, die eigene Machtlosigkeit gegenüber dem Kino vor.

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                                      [...] Wie eine Schaufensterpuppe liegt sie auf dem Tisch, äußerlich unberührt und doch ohne ein einziges Zeichen von Leben. Die unbekannte Tote, welche folglich nur als Jane Doe bezeichnet werden kann, gibt den beiden Gerichtsmedizinern Tommy und Austin Rätsel auf. Dabei drängt die Zeit, denn bis zum nächsten Morgen sollen sie die Todesursache der jungen Frau festgestellt haben. Das Vater-Sohn-Duo beginnt daher umgehend mit der Autopsie, doch je weiter sie in den toten Körper der Leiche vordringen, desto merkwürdiger und rätselhafter gestalten sich die kuriosen Erkenntnisse über das Ableben dieser Jane Doe. [...] Dabei mutet der Streifen zunächst gar nicht wie ein typischer Horrorfilm an, sondern bezieht seine beunruhigende Stimmung vordergründig aus dem realistischen Setting, in dem sich praktisch die gesamte Handlung abspielt. Durch die Leichenhalle von Vater und Sohn weht unentwegt ein kalter Hauch des Morbiden, denn auch wenn anfangs gezeigt wird, wie Tommy und Austin ihrem Beruf mit charismatischer Gelassenheit nachgehen, hat dieser Ort, an dem das Gefühl des Todes so unmittelbar vorherrscht wie an kaum einem anderen, eine grundlegend unbehagliche Ausstrahlung. [...] Die weitere Autopsie, bei der sich immer neue Ungereimtheiten und Fragen ergeben, wirkt dabei wie die Erkundung eines abstoßenden Rätsels, in dem jede offengelegte Faser im Inneren des Körpers ein anderes schreckliches Puzzleteil darstellen könnte, welches irgendwie ein Bild ergeben und die Todesursache von Jane Doe enthüllen sollte. [...] Durch die ausgeklügelte Nutzung von Licht und Schatten, konträren Songs aus dem Radio und unheimlichen Geräuschen in naher Umgebung sowie Bewegungen und Erscheinungen, bei denen unklare Silhouetten durch kaum beleuchtete Korridore wandern oder nur das Klingeln eines kleinen Glöckchens pure Angst verbreitet, spitzt Øvredal die Situation immer stärker zu und verwandelt den ohnehin bereits gruseligen Schauplatz in einen Ort des Schreckens, an dem morbide Realität und irrationale Imagination aufeinanderprallen. [...] Nach einer wirklich großartigen ersten Stunde, in der sich Øvredals Werk als eines der Genre-Highlights des Filmjahres empfiehlt, fallen die anschließenden rund 20 Minuten dafür umso ernüchternder aus. Mit der schlussendlichen Enthüllung des großen Mysteriums verliert The Autopsy of Jane Doe sehr viel von seiner subtil beklemmenden Atmosphäre, um im Finale Platz für drastisches Getöse zu machen. Das Ende des Streifens kommt nicht nur zu einem übereilten Abschluss, der Horror mit Gewalt verwechselt, sondern führt behutsam errichtete Schicksale zu einer abrupten, unbefriedigenden Konklusion. [...]

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                                        Warum sich Bill Dubuques Drehbuch zu "The Accountant" jahrelang auf der berüchtigten Black List befand, wo Drehbücher ein Dasein fristen, die laut einer Umfrage zu den beliebtesten, aber bislang unverfilmten Exemplaren gehören, beantwortet sich während und spätestens nach der Sichtung von Gavin O'Connors Film mit Leichtigkeit.
                                        Die seltsam überladene, in diverse Erzählrichtungen strebende sowie durch verschiedenste Genres mäandernde Handlung dürfte zum chaotischsten zählen, was im Filmjahr 2016 in Gestalt eines starbesetzten, multimillionen Dollar teuren Mainstream-Streifens in den Kinos zu sehen war. Es beginnt bereits mit der Hauptfigur des titelgebenden Buchhalters, um den sich alles in diesem Werk dreht. Durch eine Rückblende in seine Kindheit erfährt man, dass Christian Wolff seit frühester Kindheit an Autismus leidet. Diese Erkrankung hinderte ihn aber offenbar nicht daran, als Erwachsener mittlerweile ein Leben zu führen, das in relativ geregelten Bahnen verläuft und beruflich zum Erfolg führte. Christian ist ein Mathematik-Genie und in der Welt der Zahlen findet er sich im Gegensatz zur sozialen Welt mit beeindruckendem Talent zurecht. Er arbeitet daher nicht nur als Steuerberater, sondern auch als Buchhalter und gleichzeitig Geldwäscher für kriminelle Organisationen oder Einzelpersonen auf der ganzen Welt, was ihm bald die Aufmerksamkeit einer Behörde einbringt, die gegen ihn zu ermitteln beginnt.
                                        Was als grundsätzlich umrissener Plot wie eine leicht überschaubare Mischung aus Charakterdrama und Thriller klingt, entwickelt sich mit jeder neuen Minute der fortschreitenden Laufzeit in ein unberechenbares Seherlebnis, bei dem Frustration und Faszination gefährlich nahe beieinander liegen. Christian ist nicht nur mathematisch hochbegabt, sondern entpuppt sich darüber hinaus als fast schon übermenschliche Einsatzwaffe. Im Nahkampf setzt er seine Gegner wie Jason Bourne innerhalb kürzester Zeit außer Gefecht, während sein Umgang mit Schusswaffen einem John Wick gleicht, bei dem jeder Schuss ein Treffer ist.
                                        Die verschiedenen Handlungswege, in denen Christian nicht nur das Finanzministerium auf der Spur ist, sondern zusätzliche Killer einer vorerst unbekannten Partei, denen der Buchhalter bei seinem neuesten Auftrag aufgrund einer aufgedeckten Finanzkorruption ein wenig zu nahe auf die Schliche gekommen ist, während er nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das einer eben erst kennengelernten, in den Fall verwickelten Buchhalterin beschützen muss, ergeben wenig überraschend ein ebenso uneben wie ruppig erzähltes Szenario.
                                        "The Accountant" steht sich durch die heillose Überfrachtung ständig selbst im Weg, mischt konzentriert inszenierte Action-Momente unter langsame Drama-Einlagen, bricht den seriösen, ernsthaften Charakter der Handlung mit einigen überraschend humorvollen Szenen auf und springt durch einen Handlungsstrang von einem Protagonisten über die nächste eingestreute Rückblende zurück zu einem anderen Schauplatz, bis das Durcheinander perfekt ist.
                                        Wer sich auf den unüblichen, vermeintlich komplett unbeholfenen Rhythmus von O'Connor einlässt, wird im letzten Drittel des Films schließlich belohnt. Hier schlägt "The Accountant" mindestens zwei Haken, die man aufgrund ihrer fast schon frechen Absurdität sofort ins Herz schließt, während die zuvor äußerst verstrickte Handlung mit einem opulenten Finale und einer geradezu antiklimatischen Direktheit zur verdienten Ruhe findet. Fast so, als sei das pochende, schmerzhafte Gewirr in Christians Kopf am Ende auch mal zur Ruhe gekommen.

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                                          Am 15. Juli 1974 schrieb die Nachrichtenmoderatorin Christine Chubbuck auf tragische Weise amerikanische Geschichte. Vor laufender Kamera zog sie während einer Live-Übertragung ihrer gewohnten Moderation einen Revolver aus der Tasche unter dem Tisch und schoss sich in den Kopf, woraufhin sie 14 Stunden später starb. Ein schockierendes Ereignis wie dieses hatte das US-Fernsehen zuvor noch nie erschüttert und bis heute bleibt diese Tat ein Einzelfall, dem sich nichtsdestotrotz zahlreiche Fragen anschlossen, die unbeantwortet blieben.
                                          Kate Lyn Sheil, als Schauspielerin bislang eher aus Indie-Produktionen und einer Rolle in "House of Cards" bekannt, unterzieht sich in Robert Greenes Dokumentation "Kate Plays Christine" einem Experiment, für das sie in die Haut von Christine schlüpfen will. Durch Method Acting versucht sich die Schauspielerin ihrem realen Vorbild so weit wie möglich anzunähern, wobei sie einige Szenen aus Christines Leben bis hin zu jenem Vorfall von 1974 nachspielen soll, um tiefere Einblicke in deren Wesen zu erlangen und zu ergründen, was die erst 29-Jährige in den Selbstmord trieb.
                                          Mit klassischer Recherche- und Vorbereitungsarbeit für ihre Rolle begibt sich Sheil auf eine Reise in die Vergangenheit, durch die sie immer traurigere Details über das Leben der Nachrichtenmoderatorin erfährt. Christines Depressionserkrankung ist dabei ebenso von Bedeutung wie die Tatsache, dass sie kurz vor ihrem 30. Geburtstag noch nie einen Partner an ihrer Seite hatte, mit dem sie jene Intimität teilen konnte, nach der sie sich die verschlossene Frau nach außen hin so sehr sehnte.
                                          In "Kate Plays Christine" entsteht Stück für Stück ein trauriges Porträt dieser Frau, dessen Zeichnung längst nicht alle offenen Wunden, die Christines Ableben hinterlassen hat, schließen kann. Daneben geht es auch um den Prozess des Schauspielens an sich, in dem Sheil ihre Rolle, die sie persönlich offenbar sehr tief beschäftigt und bewegt, in vielen Momenten über den Kopf zu wachsen scheint.
                                          Was die Schauspielerin dazu bewegt, gerade solch ein Ereignis auszuwählen und in das Leben eines Menschen einzutauchen, das sie in einigen Szenen wiederholt dazu nötigt, innezuhalten, tief durchzuatmen und sämtliche Informationen, die Sheil erfährt und die sie umgehend in fiktionale Rekonstruktionen einfließen lässt, eine Weile verarbeiten zu müssen, findet in Greenes Werk nie eine klare Begründung.
                                          "Kate Plays Christine" kreist viel mehr um die aufgeworfenen Fragestellungen, welche die Schauspielerin, die Verantwortlichen hinter der Kamera, unzählige andere Menschen und den Zuschauer dieser Dokumentation beschäftigen, rückt die interessanten Aspekte zwischen tatsächlichen Fakten und fiktiver Aufarbeitung in eine Art undurchsichtigen Meta-Diskurs, bei dem nie klar wird, welche Momente dieser Inszenierung eines ohnehin schon inszenierten Suizids selbst inszeniert wurden und gelangt ganz am Schluss zu einem gleichermaßen plakativen wie wirkungsvollen Moment, in dem scharfe Medienkritik und die Anklage des Voyeuristen in jedem von uns auf ein verzweifeltes Plädoyer für das Leben treffen.

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                                            Tom Fords Talent für eine Bildkomposition, die umgehend ins Auge sticht, ist dem Regisseur auch für sein zweites Werk "Nocturnal Animals" nicht abhanden gekommen. Ford weiß, wohl auch bedingt durch seine Profession als Modedesigner, wie er Dinge anordnen, in Szene setzen und präsentieren muss, so dass sie beim Betrachter Gefühle auslösen, über die er präzise bestimmt.
                                            Mit "A Single Man" gelang ihm ein imposanter Erstling, in dem Ford bestechende Ästhetik an der Oberfläche und bestürzende Intimität im Inneren kombinierte, so dass man als Filmfan lange Jahre auf einen neuen Film von ihm gespannt sein durfte. Für sein nachfolgendes Werk hat Ford wieder einen Roman adaptiert, wobei Austin Wrights "Tony & Susan" einen klaren Richtungswechsel bedeutet, bei dem der Regisseur inhaltlich völlig neue Bahnen einschlägt.
                                            Im Zentrum der (ersten) Geschichte befindet sich Susan, die ein Kunstmuseum leitet und mit Walker, einem Arzt, verheiratet ist. Beide leben in einem makellos eingerichteten Haus, doch beide leben ebenso getrennt voneinander, denn Walker ist ständig auf Reisen und betrügt seine Frau, während Susan ihre Abneigung gegenüber der glatten, sterilen Welt, in der sie sich bewegt, bereits früh im Film zum Ausdruck bringt.
                                            "Nocturnal Animals" gerät hierdurch jedoch keineswegs vorschnell zu einer Abrechnung mit einem Leben aus kalter Oberflächlichkeit, mit dem der Regisseur selbst ebenfalls nur zu gut vertraut sein dürfte, sondern erzählt noch eine weitere Geschichte in der eigentlichen Geschichte. Von ihrem Ex-Mann Edward bekommt Susan ein Manuskript seines neuen Romans zugeschickt, der ihr gewidmet ist. Sobald sich Susan in den Seiten von "Nocturnal Animals" verliert, formt Ford seinen Film zu einem beklemmenden Rape-and-Revenge-Thriller im Gewand eines Texas-Neo-Noir, in dem Frau und Tochter eines Mannes, welcher ebenso wie Susans Ex-Mann von Jake Gyllenhaal gespielt wird, einem psychopathischen Redneck zum Opfer fallen, woraufhin der Hinterbliebene mit der Unterstützung eines lokalen Cops Vergeltung ersucht.
                                            Wie genau die Geschichte in der Geschichte mit Susans und Edwards gemeinsamer Vergangenheit zusammenhängt, lässt der Regisseur lange Zeit unbeantwortet. Auf subtile Art streut Ford vor allem charakterliche Parallelen zwischen Real- und Romanfiguren, wobei "Nocturnal Animals" gerade durch die beeindruckende Montage, bei der zwischen Gegenwart, Vergangenheit und fiktivem Romanszenario geschnitten wird, zu einer überaus anregenden Form findet. Der Film lebt geradezu von seinem starken Kontrast zwischen dem Hochglanz-Design-Chic, der Susans Umgebung darstellt, und den schmutzigen Aufnahmen von Texas, in denen die Figuren schwitzen, husten, bluten, vergewaltigen und morden.
                                            So elegant und virtuos die mindestens drei Erzählebenen miteinander verwoben sind, so brüchig und dezent unvollendet wirkt das Gesamtbild, welches der Regisseur erst mit der letzten Szene zusammensetzt. Ford schneidet den inneren Konflikt, in dem sich Susan befindet, und die große Tragödie ihrer Vergangenheit, die ganz entscheidend mit Edwards Roman in Verbindung steht, zwar an, doch tiefgreifende, umfassende Konsequenzen findet er abschließend kaum. Es wirkt so, als hätte dem Regisseur der Handlungsstrang aus dem Roman, der einen Großteil des gesamten Films einnimmt, und somit der Abstieg in ein Genre, das man einem klinisch sauberen Filmemacher und gleichzeitig Modedesigner kaum zugetraut hätte, etwas zu sehr gefallen. Obgleich ihm die Inszenierung dieses düsteren, harten Thriller-Plots eindrucksvoll geglückt ist, findet dieser nur in Ansätzen einen stimmigen Anschluss zum emotional mitreißenden Kern des eigentlichen Geschehens.
                                            Ein virtuos inszenierter, fantastisch gespielter sowie inhaltlich ebenso durchdachter wie mutiger Streifen ist "Nocturnal Animals" daher unbedingt, doch am Ende verhält es sich mit Ford ein wenig wie mit Edward. Auch ihm könnte man vorwerfen, er interessiere sich in seiner Arbeit etwas zu sehr für sich selbst und es fehle ihm an Ambition, nach noch Größerem zu streben.

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                                              Wie so oft erweist sich der grundsätzlich spannende Hype um eine Fortsetzung des legendären Ausflugs in die Wälder, der zur viralen Sensation wurde und sich als ungeschliffenes, authentisches Horror-Lehrstück entpuppte, als irreführend. Während Wingard und Barrett ihre Arbeiten bislang ohne großen Wirbel vorab qualitativ für sich selbst sprechen ließen, ist ihr Sequel kaum mehr als eine schlappe Neuauflage der damaligen Schockmechanismen, die auf uninspirierte Weise wiedergekäut werden und bis auf einige wenige Ausnahmen jegliche Anflüge origineller Einschübe vermissen lassen.
                                              Im Jahr 2014 ist es James, der mit ein paar Freunden sowie zwei Einheimischen aus der Gegend in die Wälder von Maryland aufbricht, da er dort seine immer noch lebende Schwester Heather vermutet, die dort 17 Jahre zuvor bei den Dreharbeiten für eine Dokumentation über die mythenumwobene "Blair Witch" verschwunden war. Während James und seine Freunde die Legende lediglich für eine schaurige Lagerfeuergeschichte halten, sind die beiden Einheimischen fest von der Existenz der Hexe überzeugt. Schon in der ersten Nacht dringen schließlich seltsame Laute durchs Unterholz und am Morgen sind die Bäume rund um den Zeltplatz mit jenen ikonischen Holzfiguren geschmückt, die man als Zuschauer sofort wiedererkennt.
                                              Was im Ursprungsfilm von 1999 fortan als perfides, undurchdringliches Geflecht aus (ungespielter) Panik, brillant inszenierter Beklemmung und imaginärem Schrecken ausgebreitet wurde, verkommt in "Blair Witch" zu abgestandenem Found-Footage-Terror, der sich auf Bildern ausruht, die in diesem längst totgelaufenen Subgenre keinerlei eigenen Horror mehr erzeugen können, während die Tonspur neben einer bedrohlich errichteten Klangkulisse zu oft in penetranten Jumpscare-Mustern endet.
                                              Das Setting des Waldes bei Nacht, in dem man die Hand vor Augen kaum noch sieht, hat seine Wirkung bis heute nicht verloren, doch Wingards Film fehlt die aufregende Unschuld des Gezeigten und das Gefühl, sich selbst ohne Orientierung an einem Ort des blanken Grauens zu verirren. Die Technik setzt der Regisseur auf vielfältige Weise ein, denn neben der klassischen Handkamera tragen die Figuren Mini-Kameras hinter den Ohren und steuern eine Drohne, mit der sie den gesamten Wald von oben überblicken können. Knarzendes Holz, raschelnde Büsche, fremde Stimmen aus der Ferne und panische Schreie bleiben aber auch in dieser technisch modernisierten Variante, die sich über weite Strecken tatsächlich wie ein Remake anfühlt, identisch.
                                              Erst im Finale entfaltet dieser in jeder Hinsicht durchschnittliche Horror die Wirkung, die Zuschauer vor 17 Jahren zum ersten Mal empfinden durften. Der unvermeidliche Gang durch das Hexenhaus treibt den Puls in die Höhe und die Hände ab und zu beinahe schützend vor die Augen, denn gerade, weil dieser Ort so vertraut erscheint, macht die Form des Sequels in den letzten Szenen dieses Films erst Sinn und entfacht wahrhaft Angst und Schrecken. Wie gerne man so schon viel früher gefühlt hätte.

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                                                [...] John ist die Hauptfigur in Billy O'Briens (Isolation) I Am Not a Serial Killer, in dem der Regisseur die Geschichte eines problembehafteten, sozial isolierten Jungen mit dem merkwürdigen Handlungsstrang eines skurrilen Serienmörders kreuzt, der im Heimatort des Protagonisten regelmäßig eine neue Leiche auftauchen lässt, der ein Organ entfernt wurde, wobei am Tatort stets eine schwarze Flüssigkeit zurückbleibt. Die Faszination, die John aufgrund dieser Vorfälle verspürt und die ihn umgehend dazu bewegt, den Täter aufzuspüren, treibt ihn zugleich immer stärker an seine persönliche Grenze. Sollte er diese überschreiten, ist er den grausamen Serienmörder-Vorbildern womöglich näher, als ihm selbst lieb ist. Wie es um die Gefühlswelt des Jugendlichen bestellt ist, schildert O'Brien in einer fantastischen Schlüsselszene, in der John einem der Schüler, die ihn mobben, auf einer Halloween-Party begegnet. Ihm erklärt er, alle Menschen wären für ihn lediglich Objekte wie Pappkartons, deren Äußeres für ihn ohne Bedeutung sei. Viel mehr stelle er sich bei jeder Begegnung vor, wie es wäre, den Pappkarton aufzuschlitzen, um herausfinden, ob sich darin nicht etwas interessantes oder wertvolles befände. Der als Soziopath diagnostizierte und sich in therapeutischer Behandlung befindende Protagonist ist der Fixpunkt dieses ungewöhnlichen Horror-Thrillers, in dem der Regisseur Stück für Stück hinter die Fassade des vermeintlich Bösen blickt. Dabei beleuchtet I Am Not a Serial Killer, dessen Titel als verzweifelter Hilfeschrei von John aufgefasst werden darf, nicht nur das Dilemma seiner Hauptfigur, sondern befördert darüber hinaus auch auf der Gegenseite in Gestalt des ominösen Serienmörders ambivalente Zwischentöne ans Licht, für die sich selbst der Rückgriff auf übernatürliche Elemente stimmig in den Gesamteindruck einfügt. Wie Hauptdarsteller Max Records (Wo die wilden Kerle wohnen) den Charakter des Jugendlichen dabei zwischen empathischer Verschlossenheit und gefährlicher Ungewissheit anlegt, ist ebenso überzeugend wie Christopher Lloyds (Zurück in die Zukunft) Darstellung von Johns Nachbar Mr. Crowley, der im Verlauf des Films eine elementare Bedeutung erhält. Beachtliche Ausstrahlung entwickelt I Am Not a Serial Killer neben den interessanten Figuren und der eigenartigen Geschichte, die sich einige Fragen auch bis in den Abspann hinein noch aufbewahrt, aber auch durch die Inszenierung von O'Brien. Der Regisseur verleiht seinem Werk, das auf einer ganzen Reihe von Romanen basiert, die erstmals 2009 erschienen, mit grobkörnigem 16-mm-Filmmaterial sowie dem eindringlich beunruhigenden Score, unter den sich immer wieder schräge Orgelklänge schleichen, die Qualität eines Streifens, der keinesfalls aus der heutigen Zeit stammt, dessen unwiderstehlichem Retro-Charme aber nichtsdestotrotz eine pochende Modernität anhaftet. [...]

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                                                  Der Ton macht die Musik und die Musik bestimmt den Takt von Andrea Arnolds "American Honey" maßgeblich. Wie auch schon "Fish Tank" ist das epochale Werk der britischen Regisseurin erneut ein Film der pulsierenden Körpersprache, in dem sich die Protagonisten vorübergehend in einen fast schon meditativen Zustand versetzen, wenn sie in der Gruppe wie ritualisiert zu Disco-Beats und ratterndem Trap tanzen und die Texte so laut mitsingen, als ginge es in den Songs stets um ihr eigenes Leben.
                                                  Für die 18-jährige Star, die in Müllcontainern nach Lebensmitteln wühlen und sich um die kleinen Kinder ihres aufdringlichen Freundes kümmern muss, während sie nach dem Tod ihrer drogenabhängigen Mutter in einem recht heruntergekommenen Haus lebt, kommt Rihannas Radio-Hit "We Found Love" einem Befreiungsschlag gleich. Als sie Jake, dem Shia LaBeouf meisterhaft einen unwiderstehlich verschlagenen Charme verleiht, und seiner Crew im Supermarkt begegnet, die zu dem Song prompt eine ausgelassene Tanzeinlage aufführt, verwandelt Arnold ihren Film für diesen kurzen Moment in jenes magische Musical, zu dessem Rhythmus der Film im Verlauf der insgesamt 165 Minuten wieder und wieder zurückkehren wird.
                                                  Gelockt durch das Versprechen, mit harter Arbeit täglich 300 Dollar zu verdienen, lässt Star ihr bisheriges, tristes Leben hinter sich und wird Teil dieser Crew, die durch den Mittleren Westen der USA fährt, um von Tür zu Tür zu laufen und fremden Leuten Zeitschriften-Abonnements anzudrehen. "American Honey" versteht sich dabei als gleichermaßen sensibles wie raues Porträt einer unbefriedigten Jugendgeneration, die sich unentwegt auf der Reise nach etwas befindet, das sie vermutlich selbst nicht genau benennen kann. Früher nannte man es leichtgläubig den "American Dream", durch den es jeder zu finanziellem Wohlstand bringen wird, der nur hart genug schuftet und weiterhin an diesem naiven Wunschglauben festhält. Arnold durchleuchtet diese Gesinnung neugierig sowie skeptisch zugleich und klammert sich gelegentlich an Einzelmomenten fest, in denen sie ihren Figuren tatsächlich so etwas wie poetisch-einfühlsame Erfüllung zugesteht, während sich schon kurz darauf unheilvolle Ernüchterung ankündigt, die jegliche träumerische Unbeschwertheit und Glückseligkeit auf den harten Realismus des Hier und Jetzt prallen lässt.
                                                  Neben den intimen 4:3-Aufnahmen, in denen der Betrachter durch Robbie Ryans losgelöste Handkamera ständig auf Tuchfühlung mit den Figuren gehen darf und sich manchmal gar selbst als Teil der extrovertierten Drückerkolonne wähnt, ist "American Honey" aber auch ein vielschichtig-verblüffendes Portrait eines Amerikas, in dem die Regisseurin einem gerne übersehenen Teil dieses Landes und vor allem dessen vielfältiger Bevölkerung nachspürt.
                                                  Stars Reise führt in Wohnzimmer gottesfürchtiger Mittelstandsfrauen, deren deutlich minderjährige Töchter am Kindergeburtstag mit den Freundinnen im Garten zu Ciaras "Ride" twerken, zu einem Barbecue älterer, reicher Männer, die mit Cowboyhüten auf dem Kopf harten Schnaps kippen oder zu den Arbeitern auf die Ölfelder, wo Prostituierte gerne gesehen werden und ohne zu Zögern 1000 Dollar locker gemacht werden, damit bereitwillige Damen für einen gemeinsamen Abend erworben werden können.
                                                  Arnolds energiegeladenes, ausschweifendes Epos ist prall gefüllt mit derlei bereichernden, kuriosen, amüsanten oder beängstigenden Beobachtungen und Anekdoten, die die Regisseurin mit selbstbewusster Führung in eine Geschichte einwebt, in der es letztlich um nichts anderes geht, als auf der schier endlosen Reise vielleicht irgendwann (bei sich selbst) anzukommen, auch wenn das Ziel nie klar zu sein scheint.

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                                                    Kelly Reichardts Experimentierfreudigkeit scheint sich nach ihrem vergangenen Werk bereits wieder gelegt zu haben. In "Night Moves" unterwanderte die Regisseurin zuletzt gängige Muster eines konventionellen Thriller-Plots, indem sie den Film mithilfe ihres markanten Minimalismus sowie der betont introvertierten Charakterfokussierung in ein unterschwellig brodelndes Drama verwandelte, das viele vor den Kopf stieß, die sich von der Geschichte um drei radikale Umweltaktivisten, die die Sprengung eines Staudamms planten, simpel gestricktes, geradlinig packendes Genrekino erhofften.
                                                    Für "Certain Women" ist Reichardt nun aber wieder ganz bei sich und ihrem ursprünglichen Stil angekommen und erzählt auf ebenso unaufgeregte wie eindringliche Weise aus dem Leben von mehreren Frauen. Die Handlung hat sie hierfür in drei Episoden unterteilt, welche lediglich in feinsten Details gewisse Überschneidungen preisgeben, ansonsten aber eigenständig für sich stehend sowie unabhängig voneinander betrachtet werden können.
                                                    Was die drei Geschichten allerdings vereint, ist der Handlungsort Montana, dem die Regisseurin mit körnigem 16mm-Film zu einer Schönheit verhilft, die man fast nur noch erblickt, sofern man sich in der Filmgeschichte um Jahrzehnte in der Zeit zurück begibt, während gerade die von Natur aus eher spröden, kargen Landschaften ein vertrautes Gefühl von Heimat und Geborgenheit ausstrahlen.
                                                    Dieser Eindruck verhält sich nahezu konträr zu den Figuren in "Certain Women". Sei es die ältere Anwältin Laura, die mit einem ihrer Klienten überfordert ist, Gina, die in ihrer Rolle als Mutter, Ehefrau sowie hauptverantwortliche Geldverdienerin in einen persönlichen Zwiespalt gerät, die junge Nachwuchsanwältin Beth, die für ihren Nebenjob, den sie versehentlich angenommen hat und für den sie wöchentlich insgesamt 16 Stunden Fahrt auf sich nehmen muss, oder die schüchterne Jamie, die als Pferdepflegerin auf einer Farm vor allem im Winter in ihrer Einsamkeit versinkt, sie alle strahlen das genaue Gegenteil von Geborgenheit aus.
                                                    Auf den ersten Blick schildert die Regisseurin kaum mehr als beiläufigen Alltag und schlichte Banalität, doch unter der Oberfläche verbirgt sie tiefschürfende Frustrationen und Sehnsüchte, die sich in den Gesichtern von Reichardts Frauenfiguren durch hell entflammte Ausdrücke widerspiegeln. Dabei erreicht "Certain Women" eine beeindruckende Form von Zeitlosigkeit, die als großes, universelles Gefühl über den Bildern thront. Einsame, rastlose Seelen, die in Diners ihre bestellten Sandwiches nach wenigen Bissen einfach stehen lassen und weiterziehen, eine Frau, die am Wagen ihres Steuers zwischen einem Ehemann, den sie kaum noch zu kennen scheint, und einer jugendlichen Tochter, von der sie befürchtet, dass sie diese nie so richtig kennen wird, zum Schweigen verdammt ist oder etwa die Flüchtigkeit eines Moments, wenn man der Person, für die man erst kürzlich unaussprechlich große Gefühle entwickelt hat, noch einmal etwas sagt, bevor es wortlos wieder in den Trott des Alltags zurückgeht.
                                                    Für kurze Zeit bringt "Certain Women" genau diese Momente in uns zum Glühen.

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