Patrick Reinbott - Kommentare
Die 5 meist diskutierten Serien
der letzten 30 Tage
-
Dept. QDept. Q ist eine Kriminalserie aus dem Jahr 2025 von Scott Frank mit Matthew Goode und Alexej Manvelov.+25 Kommentare
-
Star Wars: AndorScience Fiction-Serie von Tony Gilroy mit Diego Luna und Genevieve O'Reilly.+18 Kommentare
-
Das ReservatDas Reservat ist eine Drama aus dem Jahr 2025 von Ingeborg Topsøe mit Marie Bach Hansen und Danica Curcic.+15 Kommentare
Die 5 meist vorgemerkten Filme
-
28 Years Later392 Vormerkungen
-
The Fantastic Four: First Steps94 Vormerkungen
-
Jurassic World 4: Die Wiedergeburt93 Vormerkungen
-
Weapons - Die Stunde des Verschwindens87 Vormerkungen
Alle Kommentare von Patrick Reinbott
Mit "The Purge: Election Year" hat sich James DeMonaco eventuell völlig bewusst in eine problematische Zone manövriert. Während das Konzept der Reihe unverändert bleibt, wurden gesellschaftskritische Elemente im vorherigen Teil unter dem Gerüst eines konventionellen Action-Reißers begraben. Im dritten Teil geht der Regisseur jetzt in die Vollen, treibt das Konzept mit Schaum vor dem Mund auf die Spitze und inszeniert eine reinrassige Groteske.
Passend zum aktuell in den USA stattfindenden Präsidentschaftswahlkampf greift DeMonaco diese Thematik für die Handlung des Films auf und stellt eine Senatorin in den Mittelpunkt, die nicht nur gute Chancen auf die Wahl zur Präsidentin hat, sondern sich darüber hinaus das Ziel gesetzt hat, das umstrittene "Purge"-Gesetz abzuschaffen. Da das Gesetz den Reichen und Mächtigen aber nach wie vor in die Hände spielt, beschließen diese, die Politikerin aus dem Weg zu räumen.
Von einem ausgeklügelten Politthriller, der reale Umstände satirisch aufgreift und weiterdenkt, ist "The Purge: Election Year" weit entfernt. Viel mehr knöpft sich DeMonaco eine Vielzahl an Abgründen und Missständen vor, die mit der amerikanischen Gesellschaft in Verbindung gebracht werden können, und dreht diese genüsslich durch den Fleischwolf.
Der Regisseur erreicht somit einen tonalen Zwiespalt zwischen ernsthaft angelegtem sozial-/politikkritischem Kommentar und plakativ-brutaler Groteske, der die Vorgänger sichtlich übertrifft und noch stärker als jemals zuvor für gespaltene Diskussionen sorgen wird. Jeder sich anbahnende Konflikt, jede gewalttätige Auseinandersetzung und jede noch so absurde Konfrontation ist mit einer politischen Note oder einem kritischen Kommentar versehen, was wiederum durch den politisch unkorrekten, zynischen Tonfall ins haarsträubende Gegenteil verzerrt wird.
Ausländer strömen zum "Murder Tourism" in das Land und tragen Masken ehemaliger Präsidenten, junge Teenagerinnen versammeln sich zu den Klängen von "Party In The U.S.A." von Miley Cyrus vor einem Kiosk und wollen alle darin wegen einem Schokoriegel auslöschen, eine paramilitärische Neo-Nazi-Einheit mischt sich ebenfalls ins Geschehen ein und christliche Fundamentalisten dürfen zuletzt auch nicht fehlen. Abgerundet wird das ungestüme Spektakel durch öffentliche Guillotinen-Exekutionen, fremdgesteuerte Killer-Drohnen, radikale Untergrund-Gegenbewegungen und allerhand weitere albtraumähnliche Impressionen.
Unter einen Hut bringt DeMonaco seine Elemente nie und der Film springt ihm immer wieder aus der Spur, doch gemessen an dem Können, das der Regisseur bisher vorgelegt hat, ist "The Purge: Election Year" vermutlich der beste Film, den er hätte drehen können. Auch wenn dieser beste Film für viele kaum mehr als pure Verärgerung darstellen dürfte.
Eine Nacht im Jahr, in der alle Verbrechen legal sind. Das Konzept, welches Regisseur und Drehbuchautor James DeMonaco bereits in "The Purge" einführte, bietet nach wie vor viel Raum für Gedankenspiele und ist als grundsätzliche Idee keineswegs verwerflich. Das gesellschaftskritische Potential, bei dem dieses von der Regierung beschlossene Gesetz in naher Zukunft zu einem Rekord führt, was die niedrige Prozentzahl von Verbrechen und Arbeitslosigkeit betrifft, hat DeMonaco aber bereits im ersten Teil einem reduzierten Home-Invasion-Thriller-Szenario untergeordnet, das neben einigen massiven Logiklücken und dem verschenkten Potential der Prämisse immerhin mit verdichteter Spannung und guten Schauspielern überzeugen konnte.
Im zweiten Teil "The Purge: Anarchy" liefert der Regisseur jetzt das, was sich viele bereits vom Vorgänger erhofften. Die "Purge"-Nacht wird in die Öffentlichkeit verlegt, wo unterschiedliche Figuren nach kurzer Zeit zusammengeführt werden und auf offener Straße ums nackte Überleben kämpfen müssen. Das satirisch-gesellschaftskritische Potential bringt der Regisseur diesmal lediglich mit einigen Holzhammer-Plattitüden zum Ausdruck, wenn sich eine wütende Widerstandsgruppierung darüber aufregt, dass das Gesetz ausschließlich dazu dienen würde, die Armen und Schwachen aus dem Weg zu räumen, die Reichen noch stärker zu machen und der Überbevölkerung entgegenzuwirken oder reiche Privatleute Menschen gegen hohe Bezahlung kaufen, um diese ungestört im Eigenheim ermorden zu dürfen.
Die Antworten auf diese gesellschaftlichen Defizite fallen in der Fortsetzung dagegen genauso simpel aus wie der Rest der Handlung. DeMonaco antwortet mit Gewalt auf Gewalt und konzentriert sich fast nur auf Action-Szenen, die der Regisseur diesmal weitläufiger verstreut, in Straßenschluchten, U-Bahn-Stationen oder erneut Wohnungen. Auch wenn "The Purge: Anarchy" wenig überraschend wieder nicht mit tiefgehenderen Überlegungen zu seiner brisanten Thematik aufwartet und kritische Anmerkungen oberflächlich anschneidet oder rausschreit, hat DeMonaco unbestreitbar ein Gespür dafür, Action, Horror und Thriller gleichermaßen in einen Mixer zu werfen und einige knackige Sequenzen zu kreieren. Das Masken-Design der tödlichen "Purge"-Anarchisten wartet erneut mit schaurigen Variationen auf, während der Regisseur Action in Exploitation-Manier ohne Rücksicht auf Verlust inszeniert und noch dazu mit Frank Grillo einen passenden Darsteller an Bord hat, der neben den anderen vergessenswerten Gesichtern mit grimmiger Freude in das Korsett des B-Movie-Racheengels mitsamt ausgeprägter Waffenexpertise schlüpft.
Als kurzweiliger, seichter Action-Thriller ist "The Purge: Anarchy" also gerade noch so zu gebrauchen, doch dass sich DeMonaco erneut dem ganzen Potential seiner Grundidee verweigert, enttäuscht auch ein zweites Mal.
Mit seinem Regiedebüt "The Collector" hat sich Marcus Dunstan mit einem regelrechten Schlag von seinem eher unrühmlichen Image befreit, er sei nur einer der Autoren einiger Teile der "Saw"-Reihe. Der Film aus dem Jahr 2009 ist ein unglaublich geradliniger Thriller, der einige hervorragend inszenierte Spannungsmomente zu bieten hatte, die einem den Atem stocken ließen, und darüber hinaus mit effektiv platzierten Gewaltspitzen punkten konnte. Für das Sequel "The Collection" erntete Dunstan jedoch heftige Kritik, wobei ihm vorgeworfen wurde, er hätte lediglich eine voyeuristische, abstoßende Gewaltorgie inszeniert, in der die Struktur des ersten Teils auf überzogene Weise nachgeahmt wurde.
Offenbar hat sich der Regisseur sämtliche Kritik zu Herzen genommen, denn sein dritter Film "The Neighbor" ist eine glorreiche Rückkehr zu alter Form, bei der sich Dunstan ganz auf seine Stärken fokussiert und dadurch sein womöglich bisher stärkstes Werk abgeliefert hat. Ein Kleinkrimineller wickelt für seinen gefährlichen, mächtigen Onkel Drogengeschäfte ab, jedoch nur noch so lange, bis er in Kürze endlich genug Geld hat und sich mit seiner Freundin aus dem Staub machen kann. In dem abgelegenen Örtchen in Mississippi, wo beide zusammen wohnen, stellen die illegalen Aktivitäten aber nicht die alleinige Gefahr da, denn der Nachbar des Grundstücks ist eine zwielichtige Erscheinung, hinter dessen Fassade sich unter Umständen tiefe Abgründe verbergen.
Dunstan nimmt sich anfangs ausgiebig Zeit, um die Hintergründe und Motive der Figuren zu beleuchten, während er sie für bedeutende Entwicklungen in Position bringt. Natürlich weiß man schon im Voraus, dass der Regisseur die Lage irgendwann zur Eskalation bringen wird, doch Dunstan hat das ein oder andere Ass im Ärmel, um die Situation genüsslich zu verdrehen und neu auszurichten.
Was zunächst wie ein gewöhnlicher, handwerklich an brodelnde Neo-Noir-Streifen erinnernder Thriller wirkt, wandelt sich zunehmend zum psychotischen Schocker, in dem der Regisseur gekonnt mit Horror-Anleihen jongliert, Stereotypen durcheinander würfelt und sich wie von ihm gewohnt auf engstem Raum durch fantastisch inszenierte Spannungssequenzen bewegt. Die Einzelteile von "The Neighbor" sind für sich genommen von Innovationen weit entfernt, aber Dunstan setzt sie wie Puzzlestücke zu einem stimmigen Bild zusammen, bei dem er langsame Intensität, nervenzerfetzende Spannung, überraschende Entwicklungen und blanken Terror mit einer Art von Gewalt inszeniert, die sich erst sehr zurückhält, um später in einen passend umgesetzten Strudel der schnörkellosen Brutalität zu kippen.
Beeindruckend ist zuletzt noch Hauptdarsteller Josh Stewart, der hier nicht nur aussieht, als bekäme er täglich maximal zwei Stunden Schlaf, sondern mit seiner abgeklärten Ruhe und physischen Präzision bisweilen an Figuren wie Ryan Goslings namenlosen Fahrer aus "Drive" oder Dan Stevens´ undurchschaubaren Armeeveteranen aus "The Guest" erinnert.
Schön, einem Regisseur wieder auf der Höhe seiner Fertigkeiten zusehen zu dürfen.
Genauso wie die Musik in Rob Reiners "Misery" oftmals zwischen friedfertigen Heimatfilm-Klängen und nervenzerreißendem Geigengekreische pendelt, schwankt der Gemütszustand von Kathy Bates´ Figur. Die Schauspielerin ist der beeindruckende Fixpunkt dieser Stephen-King-Adaption, in der sie der fürsorglich erscheinenden Krankenschwester Annie ein Wesen verleiht, das von der bemitleidenswerten Gestörten hin zum garstigsten Monster führt, welches selbst berüchtigste Ikonen des Horrorfilms erblassen lässt.
Die Geschichte des Autors Paul Sheldon, der nach einem schweren Autounfall von der Krankenschwester aufgenommen und gepflegt wird, während die Frau, die sich als größter Fan von Paul outet, immer psychopathischere Züge annimmt, war in Kings Roman eine autobiographisch angehauchte Verarbeitung von Ängsten und Traumata. King selbst erlitt einen ähnlichen Autounfall wie Paul und hatte außerdem große Sorgen, dass er nach jahrelanger Drogensucht, unter der er bekanntlich seine größten Erfolge schrieb, nicht mehr fähig sein könnte, im nüchternen Zustand noch einmal schreiben zu können.
Annie ist im Roman wie in Reiners Film eine Manifestation des puren Bösen, dem der ans Bett oder an den Rollstuhl gefesselte Autor schutzlos ausgeliefert ist. Der Regisseur verdichtet die Vorlage bis auf einige wenige Szenen, in denen ein paar Nebenfiguren eher holprig in die Hauptgeschichte eingeflochten werden, auf ein packendes Zwei-Personen-Stück. Dabei ist es ein atmosphärischer Genuss, dem in die Ecke getriebenen und dadurch zurückgenommen spielenden James Caan dabei zusehen zu dürfen, wie er sich mit Bates´ fast schon dämonischer Erscheinung ein Katz-und-Maus-Spiel liefert, in dem Reiner die Kontrolle über das vorherrschende Szenario immer wieder leicht verschiebt und mit der präzise geführten Kamera Momente purer Spannung einfängt, die in mitunter schmerzhaften Szenen explodiert wie beispielsweise jene, in der ein Vorschlaghammer eine Rolle spielt.
Ein souverän aufgezogener Thriller, der die zentrale Aussage von Kings Roman adäquat zum Ausdruck bringt und in ein klaustrophobisch-reduziertes Kammerspiel-Szenario zwängt, in dem sich zwei tolle Darsteller ein denkwürdiges Duell liefern.
[...] Jede Episode der ersten Staffel von Easy erzählt eine eigenständige Geschichte mit wechselnden Figuren, wodurch der Zuschauer im Prinzip acht Kurzfilme zu sehen bekommt. Das Problem dabei ist nur: Die einzelnen Episoden unterliegen starken Qualitätsschwankungen, wobei das allgemeine Niveau die meiste Zeit über eher im unteren Bereich anzusiedeln ist. Es beginnt bereits mit der ersten Episode The F**king Study, die einen äußerst ernüchternden Eindruck hinterlässt. [...] Eine ebenso ernüchternde wie platte Episode, nach der man sich fragt, was Swanberg hiermit überhaupt aussagen wollte. Nach dem Auftakt hat der Rest der Staffel genau zwei Episoden zu bieten, die herausstechen. Vegan Cinderella ist eine süße, sympathische Liebesgeschichte, in der eine junge, lesbische Frau eine andere Frau kennenlernt, die ihre vegane Lebenseinstellung ziemlich aktiv vertritt. Auf charmante Weise erzählt Swanberg hier vom altbekannten Laster des Zwangs, unbedingt dazugehören zu wollen, um jemand anderem zu gefallen und von den Konsequenzen, die mit der Verdrängung eigener Überzeugungen und Vorlieben einhergehen. Höhepunkt ist aber Art and Life, die fünfte Episode, in der Marc Maron (Sleepwalk With Me) als leidlich erfolgreicher Comicbuch-Zeichner auftritt und dabei eine Art Meta-Version von sich selbst spielt. Mit trockenem Witz vermengt Swanberg den Clash der Generationen, der sich wie ein roter Faden durch die ganze Staffel zieht, auf gekonnte Weise mit cleveren Beobachtungen über das Verhältnis zwischen Kunst und Leben, wenn private Details in persönliche Werke einfließen. Neben diesen beiden Episoden ist Easy allerdings eine blanke Enttäuschung, die sich die meiste Zeit auf dem belanglosen, überflüssigen Niveau der Pilotfolge bewegt. Swanberg kratzt lediglich an der Oberfläche, wenn er Themen wie Dreiecksbeziehungen, Dates, Konflikte zwischen prüden und aufgeschlossenen Beziehungen oder Trennungsschmerz auf überholte, altbackene Weise erzählt und inszeniert, bei der uninteressante Mittelständler im Fokus stehen, die in gut situierten Verhältnissen leben und Defizite beklagen, über die andere nur den Kopf schütteln würden. Obwohl die Staffel mit Namen wie Orlando Bloom (Zulu), Malin Akerman (27 Dresses), Dave Franco (21 Jump Street), Emily Ratajkowski (We Are Your Friends) oder Hannibal Buress (The Nice Guys) beeindruckend besetzt ist, bleiben ihre Figuren austauschbare Abziehbilder, die über die kurze Episodenlänge von ungefähr 25 Minuten keinerlei Profil entwickeln und in Geschichten verheizt werden, welche überwiegend nur heiße Luft um nichts sind. [...]
Zahlen, Formen, Farben, Zahlen, Morde, Muster, Zahlen, Spiele, Rätsel, Zahlen, Insekten, Kadaver, Zahlen, Frauen, Männer. Wie immer bei Peter Greenaway weiß man gar nicht, wohin sich der Blick als erstes richten soll, sobald eine neue Einstellung in seinem Film zu sehen ist.
In "Drowning by Numbers" genügt dem malerischsten Künstler unter den Regisseuren eine simple Geschichte, die sich grob in nur einem Satz zusammenfassen lässt. Drei Frauen, Großmutter, Tochter und Enkeltochter, entledigen sich ihrer Ehemänner, indem sie diese ertränken und verschaffen sich ein Alibi vom befreundeten Leichenbeschauer, der sich im Gegenzug dafür Liebesdienste von den Frauen verspricht. Was hier passiert, ist allerdings nur von zweitrangiger Bedeutung. Wie Greenaway mit dem Plot jongliert, ihn formal aufbereitet und entgegen sämtlicher Regeln sowie konventioneller Normen verbiegt, macht aus dem Film letztlich das betörende Kunstwerk, das er ist.
Als würde er mit feinen Pinselstrichen und einer satten Farbpalette auf eine Leinwand malen, zaubert der Regisseur aus praktisch jeder Einstellung kleine Gemälde, die gefüllt sind mit dynamischer Lebendigkeit, faszinierendem Detailreichtum, verspielten Rätseln, rätselhaften Spielen und den Zahlen 1-100. Zu den eingängigen Klängen seines Stammkomponisten Michael Nyman erzählt Greenaway die Geschichte dreier Frauen, die allesamt den gleichen Namen und die gleiche mörderische Motivation in sich tragen, vielleicht sogar ein und dieselbe Person sind, in vertrackter Manier, mit tiefschwarzem Humor und makaberen Einzelheiten. Wunderschön geformte, nackte Frauenkörper räkeln sich neben behaarten, übergewichtigen, nackten Männerkörpern, schleimige Insekten kriechen über saftiges Obst, blutrote Tierkadaver liegen neben strahlend grünen Wiesen und unschuldige, kleine Kinder greifen für die Selbstbeschneidung zur Schere.
Ebenso wie der Titel selbst bereits ein Spiel ist und "Malen-nach-Zahlen" mit der zentralen Todesursache verbindet, spielt Greenaway in jeder Sekunde des Werks mit der Aufmerksamkeit des Zuschauers, versteckt in jeder Einstellung durch visuelle oder akustische Form eine Zahl, verführt ihn durch unwiderstehliche Oberflächenreize und führt ihn in einen verwinkelten Irrgarten der Metaphern und Symbole, aus dem er nach gut zwei Stunden gar nicht mehr heraus finden möchte.
[...] Immer nah an der Grenze zur Gross-Out-Comedy loten die beiden Regisseure Mannys besondere Fertigkeiten in grotesk-schwarzhumorigen Szenen aus, in denen der erregte Penis des Toten beispielsweise als Kompass dient oder ständig ausgestoßene Flatulenzen als wundersamer Antrieb dienen, wenn Hank seinen verfaulenden Kumpel zum Motorboot zweckentfremdet und übers Meer braust. "Swiss Army Man" ist gespickt mit sonderbaren Einfällen dieser Art, bei denen sich Manny ganz gemäß dem Titel des Films als menschliches Schweizer Taschenmesser entpuppt. Daneben ist der Streifen aber auch mit ruhigeren, nachdenklichen Untertönen versehen, mit denen die Regisseure Hanks Innenleben ergründen. Hierdurch ergibt sich gleichzeitig das große Problem des Films, denn Kwan und Scheinert scheinen nie zu wissen, welchen Tonfall ihr Werk einschlagen soll und versuchen sich daher gleich an einer Handvoll atmosphärischer Stilrichtungen. So passiert es öfters, dass "Swiss Army Man" nach einem zuerst vulgär erscheinenden Dialog über Masturbation in tiefgründige Diskurse abdriftet, bei denen es darum geht, dass Hank in der größten Einsamkeit Trost findet, sein eigenes Selbst entdeckt und vor allem lernt, sich selbst so zu akzeptieren wie er ist und nicht von allgemeinen Normen verbiegen und unterdrücken lässt. Durch dieses ständige Wechseln zwischen absurden Momenten und reifen Überlegungen sowie Erkenntnissen wirkt der Film oftmals sehr holprig, so als habe man einen unglaublich kreativen Ansatz, der leicht für einen besonderen Kurzfilm ausgereicht hätte, mit zu vielen Drehbuchänderungen in ein unpassendes Korsett gezwungen. Irritierend ist außerdem die Ästhetik, bei der die Regisseure aufgrund der fröhlichen, farbenfrohen Einstellungen und der völlig unpassenden Musikuntermalung vermutlich eine Parodie typischer Independent-Wohlfühlfilme im Sinn hatten. Ein subversiver Akt gegen diese Sorte von Filmen ist ihnen aber nicht geglückt, denn paradoxerweise suhlen sich die gefühlvollsten, extrovertiertesten Szenen des Films in genau dieser Ästhetik und Mentalität der Streifen, die eigentlich vorgeführt werden sollen. Paul Dano und Daniel Radcliffe verkörpern ihre herausfordernden Rollen überzeugend, doch neben dem exzellent gelungenen Finale, das einen vermutlich noch lange verfolgen wird und grübeln lässt, sind es eher hervorstechende Einzelmomente, die anstelle des durchwachsenen Gesamtwerks in Erinnerung bleiben werden. [...]
Ausgerechnet in Las Vegas, der Stadt, in der täglich tausende Menschen dem großen Glück nachjagen, sucht Ben den Tod. Völlig neben sich streift er durch die Casinos, fährt über den Strip und tanzt durch die Likörläden, um sich neuen Vorrat zu besorgen. Ben ist eigentlich Drehbuchautor, doch in Wirklichkeit ist er Vollzeitalkoholiker, der sein Leben schon lange nicht mehr im Griff hat.
In "Leaving Las Vegas" lässt Regisseur Mike Figgis seine Hauptfigur auf einen rettenden Engel treffen, wenn ihm die Prostituierte Sera das erste Mal vors Auto läuft, nachdem er alkoholisiert die Ampel übersieht. Gegen eine Zahlung von 500 Dollar dürfen Kunden mit Seras Körper so ziemlich alles machen, was sie möchten, während sich Ben von dem Geld nichts anderes als ihre Nähe wünscht. Zwei einsame Seelen, die in der Stadt der blinkenden Lichter, falschen Versprechen und schnellen Verlusten zueinander finden, während sie ihn so dauerhaft betrunken akzeptiert wie er ist und er sie als den Menschen liebt, der sie ist, nicht der, den sie verkauft.
Mit traumhaften Einstellungen der Stadt und einem wundervollen Jazz-Score begleitet man Ben und Sera durch eine der schönsten und zugleich grausamsten Liebesgeschichten, die das Kino zu bieten hat. "Leaving Las Vegas" ist ein Film, der zurückhaltend erzählt, kleine Momente mit übergroßen Gefühlen füllt und dabei stets die Schmerzgrenze des Erträglichen auslotet, wenn Ben nach einem ruhigen Moment in wilde Raserei verfällt, da ihn seine Krankheit so stark im Griff hat und Sera dabei wieder und wieder für ihn gerade steht. Das schönste an diesem Werk ist, dass es für gewisse Zeit wieder Hoffnung schöpfen lässt, für beide Hauptfiguren, aber auch für den Zuschauer, dass alles eigentlich gar nicht so schlimm sei und jeder irgendwann den Richtigen finden wird. Zum Ende spricht Figgis leider eine andere Sprache, die klarer ist, als Ben es im gesamten Film jemals war.
Mit der Produktionsschmiede Illumination Entertainment, die sich vordergründig auf Animationsfilme spezialisiert, bringt man mittlerweile in erster Linie die "Minions" in Verbindung. Mit der Schöpfung der kleinen, doof-sympathischen gelben Tic Tacs, die zunächst nur als Sidekicks in "Despicable Me" auftraten, hat die Firma einen echten Renner geschaffen, der sich vor allem durch die Merchandise-Vervielfältigung als wahre Goldgrube erwies.
"The Secret Life of Pets" ist neben "Hop" und "Dr. Seuss' The Lorax" nun ein weiterer Versuch von Illumination Entertainment, mit einem frischen, originellen Stoff aufzuwarten. Durch den Titel des Films und aufgrund des ersten, überaus witzigen Teasers durfte man sich auf ein kreatives Spektakel freuen, in dem die Regisseure Chris Renaud und Yarrow Cheney zeigen, was sich in den Wohnungen der Haustierbesitzer alles so abspielt, sobald Herrchen oder Frauchen ihren Liebling mehrere Stunden lang alleine lassen.
Der Auftakt von "The Secret Life of Pets" ist ein quietschbunter Spaß, bei dem die Macher verschiedene Eigenheiten oder Macken der zahlreichen Tierarten augenzwinkernd aufgreifen, während diese völlig eigenständig und mühelos über Häuserdächer oder Fensterbretter hinweg miteinander kommunizieren und agieren. Doch schon nach kurzer Zeit entwickelt sich die Handlung zu einer überdrehten Hetzjagd, bei der sich die Drehbuchautoren zusätzlich recht offensichtlich bei Pixars "Toy Story" und "Toy Story 2" bedient haben, indem einzelne Plotpunkte fast schon identisch übernommen wurden.
Anstatt sich auf die mitunter wirklich liebevoll erdachten sowie entworfenen Charaktereigenschaften der Tierfiguren zu konzentrieren, bewirft einen der Film stattdessen mit Slapstick-Einlagen und spult eine so schon unzählige Male gesehene Geschichte ab, bei der sich Figuren, die zuvor in keinem guten Verhältnis zueinander standen, zusammenraufen müssen, während klassische Antagonisten in Form von verstoßenen und misshandelten Tieren, die in der Kanalisation leben, zum Teil auf platte Weise zum Guten bekehrt werden.
Neben dem schön animierten New York, einigen wirklich charmanten Charakteren und wenigen erfrischenden Einfällen wie der Abstecher in die Wurstfabrik mitsamt musikalischer Fantasie-Sequenz ist "The Secret Life of Pets" somit nur Animationskost von der Stange, bei der man die ganze Zeit daran erinnert wird, dass man an solch einem qualitativen Punkt schon lange vorher angelangt war, während Konkurrenten wie Pixar Werke abliefern, die sowohl optisch, aber auch inhaltlich um Längen kreativer und abwechslungsreicher sind. Als kurzweilige, schnell wieder vergessene Unterhaltung für zwischendurch, bei der die ganz Kleinen sicherlich hin und wieder große Augen kriegen und ein Lächeln ins Gesicht gezaubert bekommen, reicht dieser Film gerade noch so aus, mehr steckt aber nicht dahinter.
[...] Frears Film lebt zweifelsohne voll und ganz von seiner außergewöhnlichen Hauptfigur. Ein Lebensweg wie der von Florence, die trotz ihrer schweren Krankheit an das glaubte, was sie liebte, sang, als könne sie Berge versetzen und trotz ihres grandiosen künstlerischen Scheiterns zum angehimmelten Star wurde, ist der Stoff, aus dem große Werke entstehen können. Florence Foster Jenkins scheitert hingegen auf hohem Niveau an der unentschlossenen Erzählweise. Der Regisseur und sein Drehbuchautor Nicholas Martin können sich nicht entscheiden, ob sie die zu porträtierende Person würdevoll auf Händen tragen oder sich augenzwinkernd über sie lustig machen wollen. Wenn Frears Florences Auftritte vor Publikum als gröhlende Spektakel inszeniert, bei denen die Menge Tränen lacht, und den schrecklich schrägen Gesang der Frau über Minuten in die Länge zieht, wird die Protagonistin zur Witzfigur degradiert, über die sich der Zuschauer eindeutig amüsieren soll. Als Komödie funktioniert der Streifen aber so gar nicht, denn dafür sind das Drehbuch und vor allem die Leistungen der Schauspieler zu sehr darum bemüht, für ernstere Zwischentöne zu sorgen. Wenn Florence von ihrer tragischen Krankheitsgeschichte erzählt, durch die sie nicht nur die Fähigkeit zum Klavierspielen verlor, sondern auch keine Kinder mehr kriegen konnte, erhält der Film gleichzeitig den Anstrich eines Dramas, das kaum zum ansonsten heiter-ausgelassenen Tonfall passen will. Mit Meryl Streep (Im August in Osage County) konnte der Regisseur eine wahre Grande Dame Hollywoods für die Rolle der eigenwilligen Sängerin gewinnen, während Hugh Grant (Cloud Atlas) als ihr Lebensgefährte und Simon Helberg (The Selling) als neu angestellter Pianist auftreten. Streep spielt ihren Part mit routinierter Eleganz, wobei sie vor allem bei den Gesangsparts großartiges Gespür dafür zeigt, nicht vorhandenes Talent mit großem Talent zu verkörpern. Die Charaktere von Grant und Helberg sorgen hingegen erneut für unbeantwortete Fragen. Obwohl beide ihre Figuren sichtlich überzeugend spielen, werden sie vom Drehbuch hängen gelassen. Nie wird so wirklich klar, weshalb sie Florence Komplimente machen, um alles in der Welt versuchen, den falschen Schein aufrecht zu erhalten und sie dadurch dem Risiko aussetzen, dass ihr Herz bei der Realisierung der Wirklichkeit zerbrechen wird. Erst in der außerordentlichen Schlussszene, die als einzige des Films mitten ins Herz trifft, erhält Florence die respektvolle, anrührende Würdigung, die sie verdient. [...]
Ein Film, zu dem eigentlich schon mehr als genug geschrieben wurde, über den die Leute sprechen und schwärmen, ihn wieder und wieder ansehen und der längst als einer der besten Actionfilme aller Zeiten gilt. Blockbuster-König James Cameron hat mit "Terminator 2: Judgment Day" ein fulminantes Sequel zu seinem düster-apokalyptischen Erstling geschaffen, das mit zahlreichen Szenen gepflastert ist, die sich vermutlich auf ewig ins popkulturelle Gedächtnis eingebrannt haben.
Sobald Arnold Schwarzenegger in seiner vielleicht kultigsten Rolle als T-800 in einem Flur zum ersten Mal auf seinen Widersacher, den fortschrittlicheren T-1000, trifft und in Zeitlupe die Schrotflinte aus der Schachtel Rosen zückt, ist klar, dass auch Cameron selbst möglichst darum bemüht ist, die ganz großen Geschütze aufzufahren. Der vor allem technisch beeindruckende Action-Kracher reiht mühelos ein gewaltiges Setpiece an das nächste, von deren Bombast manche Filme dieses Genres mitunter nur ein einziges von diesem Format enthalten. Unvergesslich sind zudem die Effekte des T-1000, der sich aufgrund seiner Beschaffenheit ständig neu verformen kann und nahezu unzerstörbar ist, was dem Regisseur Raum für einzigartige Momente bietet.
Neben seinen unbestreitbar krawalligen Oberflächenreizen besticht "Terminator 2: Judgment Day" aber auch durch die Liebe zu den Figuren, die Cameron mit bedächtiger Sorgfalt entwirft oder, ausgehend von den Vorgeschehnissen des ersten Teils, weiterentwickelt. Der junge John Connor, seine traumatisierte, schlagfertige Mutter Sarah Connor und der T-800 geben ein dynamisches Trio ab, bei dem der Regisseur das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine beständig hinterfragt. Wenn Sarah zur Erkenntnis kommt, dass der künstlich erschaffene und programmierte T-800 ein besserer Vater für John ist als all die bisherigen menschlichen Ersatzväter des Jungen, während sie selbst auf einer Mission, bei der sie eine Zielperson umbringen will und ohne Rücksicht auf Verlust in das Haus der Familie feuert, wie ein Terminator wirkt, stellt Camerons Film neben seiner nach wie vor gekonnt düster-pessimistischen Zukunftsvision, bei der sich Maschinen eigenständig gegen Menschen wenden, kluge wie ambivalente Fragen nach der Beschaffenheit des menschlichen Wesens.
Ein Blockbuster, wie er sein sollte.
Michael Bays filmische Auseinandersetzung mit dem Bengasi-Anschlag des 11. Septembers 2012, bei dem schwer bewaffnete Anhänger der Terrormiliz Libyens das US-Konsulat attackierten, gerät in den Händen eines Regisseurs wie Bay wenig überraschend zum großspurig angelegten Action-Inferno.
Der politisch brisante Zündstoff dieses Ereignisses, in dem die Außenpolitik der USA nachweislich große Mitschuld trug, da die Sicherheitsvorkehrungen vor Ort zu gering waren und Verstärkung während des Attentats lange Zeit ausblieb, ist in "13 Hours: The Secret Soldiers of Benghazi" nur eine Randnotiz, die der Regisseur eher beiläufig einstreut, aber immerhin nicht unerwähnt lässt. Mit überhand nehmenden, patriotischen Untertönen hält sich Bay in diesem Film nichtsdestotrotz stärker zurück als von ihm gewohnt, auch wenn er es sich nicht nehmen lässt, den Verlust amerikanischer Staatsbürger in ausgedehnten Zeitlupen, mit weinenden Gesichtern und von Klaviermusik untermalten Momenten zu beklagen.
Die sechs Soldaten der paramilitärischen, ohne offizielle Autorität agierenden Einheit inszeniert Bay als muskelbepackte, bärtige Krieger, auf die selbstverständlich zu Hause eine besorgte Frau mitsamt strahlenden Kindern wartet. Wenn der Regisseur nach anfänglichen 45 Minuten, in denen potentielle Konflikte mit Spannung, aber ohne Eskalationen aufgelöst werden, schließlich die Hölle ausbrechen lässt, erweist sich "13 Hours: The Secret Soldiers of Benghazi" inmitten des atemlosen, schweißtreibenden Kugelhagels sowie der ohrenbetäubenden Bombeneinschläge als Bays stärkstes Werk seit langer Zeit.
Auch wenn man ihm inhaltliche Entgleisungen erneut übel nehmen muss, wenn er die einzige Frau der Einheit vor Ort beispielsweise als tollpatschiges Anhängsel zeigt, die von einer Treppenstufe auf den Boden stolpert, sobald sie sich einmal in das Geschehen einmischt, ist der Streifen im Rahmen der Möglichkeiten des Regisseurs, welche bekanntermaßen limitiert sind, ein ungemein kompetent inszenierter Action-Reißer. Ähnlich wie der aufgekratzte Dompteur eines Zirkusses hält Bay die Zügel des unbequemen Kriegsinfernos jederzeit voll in seinen Händen, konzentriert sich auf brutale Gefechte, in denen Freund und Feind innerhalb der dichten Rauchschwaden unkenntlich miteinander verschwimmen und greift auf eine breit gefächerte Palette inszenatorischer Stilmittel wie Ego-Shooter-Perspektiven oder Zeitlupen zurück.
Mittlerweile dürfte man sich ohnehin damit abgefunden haben, dass Bay in diesem Leben keinen differenzierten, subtil überlegten oder kritisch hinterfragenden Film mehr drehen wird, doch "13 Hours: The Secret Soldiers of Benghazi" ist keineswegs das patriotische, glorifizierende Debakel, das man im Vorfeld befürchten konnte, sondern im entfernteren Sinne ein betäubender Film des Schreckens, welcher Krieg über volle 145 Minuten hinweg ohne Verschnaufpausen als puren Horror schildert, wenn Gesichter angsterfüllt dem möglichen Tod ins Auge blicken und der Score ungemein bedrohlich zu einem tiefen Dröhnen anschwellt.
Wie verfilmt man ein Buch, das für viele einen ganz besonderen Sprachstil hat, welcher jugendliche Gefühle und pubertäre Gedanken so gekonnt auf den Punkt bringt, dass Wolfgang Herrndorfs Werk selbst als oftmals ungeliebte Schullektüre die Herzen zahlreicher Schüler für sich gewinnen konnte? Ein schwieriges Unterfangen, zu dem als Produktionsnotiz noch dazu kommt, dass ursprünglich David Wnendt als Regisseur angedacht war, der nach offensichtlichen Meinungsverschiedenheiten mit dem Produzenten von Fatih Akin ersetzt wurde.
Akin, dessen Filme bisher eher dramatische Themen behandelten, in denen der Regisseur kulturelle Differenzen oder politische Hintergründe errichtete, hat jetzt also laut eigener Aussage seine Version eines deutschen "Stand by Me" gedreht. In seinen besten Moment strahlt "Tschick" tatsächlich eine jetzt schon zeitlose Schönheit aus, wenn die beiden Hauptfiguren Maik und Tschick mit dem gestohlenen Lada durch die Gegend brausen und das gesamte Setting dabei geschickt aus dem zeitlichen Kontext, das aktuelle Jahr 2016, gerissen wird, indem Tschick Maiks Smartphone aus dem Fenster wirft und sich beide auf völlig altmodische Weise, ohne technische Hilfsmittel, orientieren müssen.
"Tschick" versetzt den Zuschauer, auch wenn dieser bereits deutlich älter ist als die Protagonisten, wieder zurück in seine Jugend, wo man noch das Gefühl hatte, die Tore zu Welt stehen einem offen, die Möglichkeiten seien unbegrenzt und man müsse nur einmal den Absprung schaffen, das gewohnte Umfeld hinter sich lassen, um die größten Abenteuer seines Lebens zu entdecken. Das Schauspiel von Tristan Göbel und Anand Batbileg, die beiden Hauptdarsteller, ist dabei immer wieder ungelenk, eine Spur zu übertrieben oder unbeholfen und ihre Art zu reden manchmal etwas peinlich, was den Charakter der 14-jährigen Jungs, die sie spielen und auch fast im wahren Leben noch sind, ideal zum Ausdruck bringt.
Und doch wird man den Eindruck nicht los, dass diesem Film irgendetwas fehlt. Obwohl Akin der Mischung aus charmantem Coming-of-Age-Film und abenteuerlichen Road-Trip mit einigen visuellen Kniffen zu Eindrücken verhilft, die im Kino genau richtig aufgehoben sind, wird man selbst als Nicht-Kenner der Romanvorlage merken, dass der knapp 93 Minuten lange Film schlichtweg zu reduziert und verknappt ausgefallen ist. Wenn Maik schließlich äußert, dass der im Film durchlebte Sommer der beste seines Lebens war, entsteht der Eindruck, dass viele Facetten des Trips zu kurz kamen. Teilweise wirkt die durchaus treibende Handlung wie ein Flickenteppich, der sich die Teile des Buchs greift, die gerade am besten passen, während gewisse Aspekte zu kurz kommen, ohne dass man sich erklären kann, welche genau das sind.
Auch bei der Darstellung mancher Nebenfiguren schießt "Tschick" leicht übers Ziel hinaus. Maiks Vater wäre so ein Beispiel, denn auch wenn man verstehen kann, dass ein Vater wie dieser, der nie Zeit für den eigenen Sohn hat und lieber mit der Sekretärin wochenlang eine Affäre hat, während die alkoholkranke Mutter in der Entzugsklinik ist, eine Strafe für den Jungen ist, überspannt der Film den Bogen massiv, wenn Maik von seinem Vater in einer Szene nicht nur gerügt, sondern aus dem Sprung heraus K.O. geschlagen (!) wird.
Am Ende ist "Tschick" ein Film, bei dem einzelne Momente gewiss im Kopf hängen bleiben, da Akin markante Stationen der Romanvorlage in verträumte, aufregende Bilderbögen übersetzt und mit einem sehr gelungenen Soundtrack bereichert. Als Gesamtwerk hinterlässt der Streifen aber einen seltsam unvollständigen Eindruck, bei dem der etwas bittersüße Nachgeschmack bleibt, man habe nur einen großzügigen Auszug von etwas Größerem gesehen.
[...] Seinen großen Durchbruch hatte Scorsese mit Hexenkessel. Der 1973 erschienene Film trägt bereits sämtliche Markenzeichen des Regisseurs in sich, auch wenn man dem Film anmerkt, dass Scorsese noch nicht so richtig wusste, wie er verschiedene, großartige Elemente zu einem stimmigen Gesamtwerk verbindet. Hexenkessel muss daher folglich in erster Linie als Milieustudie betrachtet werden, in der der Regisseur persönliche Einflüsse und reale Erlebnisse verarbeitet, die ihn in seiner Jugend prägten, als er in Little Italy aufwuchs. Scorsese porträtiert das Gangsterleben in diesem Stadtteil während der 60er, welches zu diesem Zeitpunkt von Kriminalität, organisiertem Verbrechen, Gangstern in Anzügen, wilden Partys und schnellen Toden geprägt war. [...] Mit einer Reihe loser Einzelszenen, die Scorsese weitestgehend ohne sichtlich erkennbare Dramaturgie inszeniert, bebildert er den Alltag von Charlie mit größtmöglicher Authentizität. Der Film lebt eindeutig von seinen Schauplätzen und dem rohen Lebensgefühl, das der Regisseur hauptsächlich in Bars, Lokalen und Wohnungen einfängt. Im Grunde passiert nicht wirklich viel, außer, dass man Charlie dabei zusieht, wie er von einem Ort zum nächsten läuft, dafür sorgt, dass jeder seinen Schutzgeldzahlungen nachkommt und keine Konflikte entstehen. Daneben wird er als Mensch dargestellt, der sich aus Stress lieber raushält, in die Kirche geht, seinem Freund Johnny Boy den Rücken decken will und mit dessen Cousine Teresa eine Liebesbeziehung führt. In vielen Szenen plätschert Hexenkessel arg ereignislos vor sich hin, denn Scorsese konzentriert sich vor allem darauf, dass er sämtliche Geschehnisse mit einer tollen Kameraführung festhält und von großartiger Musik begleiten lässt. [...] Erst in den letzten 15 Minuten tritt Scorsese merklich aufs Gaspedal, wenn brodelnde Konflikte hochkochen und der gesamte Film stark an Fahrt gewinnt, nachdem Johnny Boy den Bogen ein weiteres Mal überspannt und Charlie zusammen mit ihm und seiner Geliebten dafür sorgen muss, dass alle drei unbeschadet aus der Sache rauskommen. In diesem Finale wird ersichtlich, was für dichte Spannungsmomente der Regisseur künftig noch inszenieren kann. Potential, das Scorsese mit seinen folgenden Werken auch mehr als überdeutlich erfüllte. [...]
Als hätten Wes Anderson und Edgar Wright zusammen einen Film gedreht. "Hunt for the Wilderpeople" ist einer dieser Indie-Filme, der zwar keine bahnbrechenden Innovationen auffährt und wesentliche Elemente seiner Geschichte wirkungsvollen Versatzstücken entnimmt, doch er vermengt diese einzelnen Bestandteile so herzerwärmend, unterhaltsam und charmant zu etwas völlig Eigenständigem, dass man Taika Waititis Werk nur allzu gerne mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht verfällt.
Zuletzt brachte sich der neuseeländische Regisseur durch seine Beteiligung an dem herrlich schwarzhumorigen "What We Do in the Shadows" ins Gespräch, den er gemeinsam mit Jemaine Clement schrieb und drehte. Sein neuer Film als Autor und Regisseur ist dabei deutlich leichtfüßiger geraten, fühlt sich an wie ein großes Abenteuer, dem Waititi in jeder neuen Szene frischen Aufwind verleiht und betrachtet das Coming-of-Age-Genre gleichzeitig durch widerspenstige Kinderaugen.
Hauptfigur ist der kleine Ricky Baker, ein übergewichtiger Junge in Hip-Hop-Klamotten, der elternlos ist und als schwieriges Problemkind gilt. Seine neue Pflegefamilie, in die ihn das Jugendamt übergibt, ist ein älteres Ehepaar vom Land, das sich den Lebensstandard noch selbst durchs Jagen sichert. Während Bella ihn herzlich aufnimmt und sofort wie ein eigenes Kind behandelt, ist Hec ein mürrischer Sturrkopf, der keine Lust hat, sich auch nur für kurze Zeit mit Ricky zu beschäftigen. Aufgrund eines bestimmten Ereignisses müssen Ricky und Heck allerdings gemeinsam in die Wälder fliehen.
Waititi erzählt in "Hunt for the Wilderpeople" die altbewährte Geschichte von zwei Menschen, die sich erst nicht ausstehen können, in brenzligen Situationen aber aufeinander angewiesen sind und lernen, miteinander umzugehen, während sie sich langsam näher kommen. Eigentlich ist die Handlung dieses Films somit nach gängigen Indie-Mustern gestrickt, die der Regisseur hingegen ständig ironisch unterwandert, mit irrwitzigen Überraschungen spickt und durch freche Anspielungen sowie gelungene Gags auflockert. Tonal könnte man den Film leicht im quirlig-schrulligen Universum von Wes Anderson ansiedeln, da die prächtig durchkomponierten Einstellungen, Kapiteleinblendungen, toll eingesetzten Songs und vor allem lebhaften sowie manchmal anstößigen Figuren wie für Anderson geschaffen sind. Waititi fügt dem Streifen aber stets eine ganz eigene Note bei, wenn er urplötzlich von einer lockeren Situation in unvermittelte Gewalt übergeht, auf ruhige Passagen Momente flotter Abenteuer-Action folgen lässt oder amüsante Filmzitate im Stil von Edgar Wright einfügt.
Das Herzstück von "Hunt for the Wilderpeople" ist dabei das fast schon sensationelle Hauptdarsteller-Duo. In seiner ersten große Hauptrolle ist der 13-jährige Julian Dennison eine echte Entdeckung, der Ricky mit frecher Schnauze und kindlichem Charisma verkörpert, wobei er insbesondere jeden Gag, den der Junge äußert, perfekt auf den Punkt bringt. An seiner Seite spielt Sam Neill, den man auf den ersten Blick gar nicht erkennt, die Rolle des lebensmüden, mürrischen Eigenbrötlers mit kantigem Charme und einer einnehmenden Präsenz, wie man sie von dem Neuseeländer schon lange nicht mehr in einem Film gesehen hat.
"Hunt for the Wilderpeople" ist der beste Beweis dafür, dass vertraute Geschichten mit viel Kreativität und Charisma einen völlig eigenständigen Sog entwickeln können. Taika Waititi weiß ganz genau, welche Knöpfe er drücken muss, aber auch, wann er den Zuschauer um den Finger gewickelt hat, damit er ihm ein paar derbe Überraschungen verpassen kann. Ein Indie-Film, der keine Revolution darstellt, dessen Ausstrahlung man sich aber praktisch unmöglich entziehen kann.
Jake Szymanskis "Mike and Dave Need Wedding Dates" ruft nur durch einen Blick auf die Besetzungsliste automatisch Erinnerungen an eine andere Komödie aus dem Jahr 2016 hervor. Auch in "Dirty Grandpa" haben Aubrey Plaza und Zac Efron mitgespielt, ein Film, der vor allem flächendeckend in Verruf geriet, da er für die meisten den endgültigen Sargnagel in Robert De Niros Spätkarriere bedeutete, welcher als vulgärer Opa kein Blatt vor den Mund nahm und im wahrsten Sinne des Wortes alle Hüllen fallen ließ.
Die Parallelen zwischen "Dirty Grandpa" und Szymanskis Film hören bei der Casting-Überschneidung allerdings nicht auf, denn "Mike and Dave Need Wedding Dates" ist auch vom Humor her ein ganz ähnliches Werk, in dem eine schamlose Zote nach der anderen abgefeuert wird, mit dem Ziel, möglichst unter die Gürtellinie zu treffen. Zu Beginn punktet der Streifen aufgrund der Rollenverteilung zunächst mit einer Überraschung. Nicht die beiden titelgebenden Brüder, welche mithilfe eines Videozusammenschnitts als chaotische Partycrasher etabliert werden, sind der gagstiftende Unruheherd der Komödie, sondern Aubrey Plaza und Anna Kendrick. Als verlotterte, ständig betrunkene, Gras rauchende Freundinnen sind sie es, die sich das Vertrauen von Mike und Dave erschleichen, um beide zur Hochzeit deren Schwester auf Hawaii zu begleiten, wo sie notgezwungen Dates mitbringen müssen, damit sie zumindest diesmal keinen Schaden anrichten können.
Mit Tatiana und Alice im Schlepptau kommt natürlich alles ganz anders, als sich die Eltern der Brüder das alles vorgestellt hatten und so entpuppt sich der Ausflug auf die Insel als Desaster. "Mike and Dave Need Wedding Dates" ist gar nicht erst darum bemüht, das brüderliche Duo mit Sympathien zu versehen. Mike und Dave sind zwei Schwachköpfe, die mit ihrem lächerlichen Gehabe geradezu danach betteln, durch die ungestüme Brachialität von Tatiana und Alice förmlich zerlegt zu werden. Bedauerlicherweise stellt sich der Humor des Drehbuchs von Andrew J. Cohen und Brendan O´Brien als lauwarmer Aufguss unzählige Male gesehener Fäkalwitze, platter Slapstick-Einlagen und unpassender Filmzitate heraus. Auch wenn die Schlagzahl der Gags recht hoch ist, vermag kein einziger für richtiges Gelächter zu sorgen, in einigen wenigen Szenen allenfalls für ein mildes Schmunzeln. Szymanskis Film versucht es auf die bemüht harte Tour, wenn die Schwester der Brüder beispielsweise auf höchst bizarre Weise eine Massage mit "Happy End" erhält, bei der Mike genau zum Zeitpunkt des Höhepunkts reinplatzt, nur um Tatiana danach mit seiner lesbischen Cousine Terry in der Sauna zu erwischen, die für ein paar Rihanna-Tickets ebenfalls gewisse Liebesdienste erbringt. Diese erzwungene Art, die typisch amerikanische Prüderie aufzubrechen, verpufft durch feige Mutlosigkeit, bei der "Mike and Dave Need Wedding Dates" im finalen Akt in seichte RomCom-Gefilde versandet, wenn Konflikte herzerwärmend gelöst werden müssen und Platz für falsche Gefühle geschafft wird.
Während sich Anna Kendrick und Aubrey Plaza in ihren frechen Rollen sichtlich wohl fühlen und zumindest einen Hauch von Sympathie versprühen, ist Adam DeVine die katastrophalste Komödien-Fehlbesetzung seit längerem. Wenn er sich mit hoher, schriller Stimme durch unangenehme Situationen schreit oder ständig in peinliche Grimassen verfällt, ist man als Zuschauer verunsichert, ob dieser Film nicht vielleicht doch eine völlig überzogene Parodie auf das ist, was allgemein als Schauspiel bezeichnet wird. Am Ende tut einem hauptsächlich nur noch Zac Efron leid, denn der ist charismatisch wie eh und je, zeigt in einer Tanz- und Gesangseinlage ganz zum Schluss nochmal, wieso er die geborene Rampensau ist und wird vom Drehbuch trotzdem ungelenk verpulvert.
"Mike and Dave Need Wedding Dates" ist somit eine der schlechtesten Komödien des Filmjahres 2016, bei der kaum ein Gag überhaupt zündet, angedeutete Schamlosigkeit in seichten Konventionen verwässert und das dünne Handlungsgerüst schnell an den Nerven zerrt.
[...] Für seinen neuen Film The Handmaiden, der auf dem im Jahr 2002 veröffentlichten Roman "Fingersmith" von Sarah Waters basiert, kehrte der Regisseur wieder in sein Heimatland zurück und drehte eine höchst erotisch aufgeladene ménage à trois, die sich ganz behutsam entfaltet und im weiteren Verlauf so manchen Haken schlägt. [...] Schicht um Schicht entblättert der Regisseur neue Erzählebenen der Handlung, indem der Streifen, welcher in drei entscheidende Kapitel eingeteilt ist, große Wendungen einschlägt. Gemäß der Romanvorlage bewegt sich Park in einem geradezu literarischen Rhythmus fort, bei dem er mit jeder neuen Überraschung auch gleichzeitig einen Perspektivwechsel vollzieht und bedeutende Rückblenden einstreut, die sich mitunter rätselhaft mit der Gegenwart vereinen. Einzelne Momente sexueller Explizität haben bei der Uraufführung bei den Filmfestspielen in Cannes für einige erhitzte Gemüter gesorgt, die dem Regisseur vorwarfen, er inszeniere hier zu gerne reine Altherrenphantasien. In der Tat ist der erste gemeinsame Höhepunkt zwischen Sookee und Hideko ein sehr freizügiger, ausgelassener Moment, doch Park stellt den intensiven Ausbruch lustvoller Gefühle immer in den Kontext der Erzählung sowie der Charakterentwicklung, weshalb der Film nur aufgrund von zwei oder explizit sexuellen Szenen keineswegs ein provokanter Erotik-Thriller im Softcore-Gewand ist. Viel mehr ist The Handmaiden wahrscheinlich bislang Parks feministischster Film, der die Kraft der Liebe zum zentralen Faktor macht, welcher alles in diesem ansonsten betörenden Spiel der Maskeraden, Täuschungen, doppelten Böden und verwirrenden Fassaden überstrahlt. [...]
[...] Zuletzt überraschte der Regisseur mit The Lords of Salem für den Zombie seinen markanten Grindhouse-Stil gegen langsameren Horror eintauschte, der an die formstrengen Impressionen eines Stanley Kubrick (Uhrwerk Orange) und den schleichenden, surrealen Psycho-Horror von Roman Polanski (Ekel) erinnerte. 31 ist nun zumindest formal ein Rückschritt, bei dem sich Zombie erneut in das White-Trash-Milieu begibt, bei dem die vulgären Dialoge im Dauerfeuer aus den Mündern der ungepflegten, verschwitzten Charaktere schießen. Nach dem beeindruckenden Schwarz-Weiß-Auftakt, in dem Richard Brakes psychopathischer Doom-Head einen furchteinflößenden, unglaublich bösartigen Einstand erhält, zelebriert der Regisseur erneut seine heißgeliebte 70er-Ästhetik, die sich durch flirrende Bilder, toll ausgewählte Musik der damaligen Epoche und visuelle Spielereien sofort bemerkbar macht. Der Film wird durch eine Einblendung nicht nur eindeutig im Jahr 1976, am 31.10., verortet, sondern fühlt sich auch durch und durch wie ein Film an, der in diesem Jahrzehnt entstanden ist. Ohne große Umschweife führt Zombie seine kleine Gruppe von Schaustellern direkt in die Arme von unbekannten Angreifern, die die verbleibenden fünf Personen in eine Art großes Lagerhaus bringen, in dem sie die Hölle auf Erden erwartet. [...] Die darauffolgenden Geschehnisse lassen sich wohl am besten als Geisterbahnfahrt bezeichnen, zumindest als die Art von Geisterbahnfahrt, die sich Zombie in seinem von kranken Ideen nicht gerade armen Verstand ausgedacht hat. In jeder einzelnen Phase des Spiels zelebriert der Regisseur die pure Lust am bizarren Horror. Die Antagonisten, welche in der Regel als Clowns verkleidet sind, tragen so illustre Namen wie "Sick-Head", "Sex-Head" oder "Schizo-Head" und sehen aus, als seien sie tiefsten Albträumen von Leuten entsprungen, die generell große Angst vor Clowns haben. Sobald 31 atmosphärische Höhepunkte erreicht, kreischen die Kettensägen, brüllen die Figuren auf beiden Seiten in ohrenbetäubender Lautstärke, aus Angst vor dem Tod oder aus wahnhafter Lust am Töten, und verdichtet sich die Bild- und Tonebene zusammen mit dem wilden Schnitt zu einem Gipfel des Terrors, der Zombie in verspielt-fieser Höchstform zeigt. Das Problem dabei ist nur: Zombie hat bereits wiederholt gezeigt, dass er diese Art von Horror erstaunlich gut beherrscht, wodurch sich dieses Werk eher wie eine lockere Fingerübung, ein deftiges Best-of von sämtlichen Markenzeichen des Regisseurs anfühlt. Da die Figuren durch die Bank weg eher unsympathisch sind und im Kampf um ihr Leben über ihre Grenzen gehen, verschwimmen die Grenzen zwischen Täter und Opfer, sobald beide Parteien aufeinander losgehen. Gruselig ist der Streifen daher selten, Zombie setzt eher auf offensiven Terror, der sich entweder in brutaler Langsamkeit ausbreitet oder in frenetischer Hysterie explodiert. [...]
Mit Johnnie Tos Filmen ist es meist ein wenig wie mit einer bunten Wundertüte. Selten weiß man vorher, was sich im Inneren verbirgt, doch enttäuscht wird man ebenso selten, da immer irgendetwas zum Vorschein kommt, das einen glücklich macht.
In seinem kleinen, minimalistisch angelegten Thriller-Kammerspiel "Saam Yan Hang" benötigt der Regisseur lediglich drei bedeutende Figuren und ein einziges Setting, um seine herausragenden handwerklichen Fertigkeiten mit maximalster Präzision zum Einsatz zu bringen. Ein Gangster, der an einem Raubüberfall beteiligt war, wird mit einer Schusswunde am Kopf ins Krankenhaus eingeliefert, wo ihn ein Polizist überwacht und ausfragt, der am Verbleib der restlichen Bande interessiert ist. Daneben widmet sich der Regisseur außerdem einer Ärztin des Krankenhauses, die auf eine persönliche Krise zusteuert, nachdem zwei ihrer Patienten bei Operationen schwerwiegende, langfristige Folgeschäden davon trugen, wofür sie sich selbst verantwortlich macht.
To operiert in seinem Film nicht nur weitestgehend in Echtzeit, sondern inszeniert die geradlinige Geschichte als verdichtetes Schachspiel, in dem die wie gewohnt brillant eingesetzte Kamera durch die Szenerie schwebt und kreist, immer wieder kleine Details in den Fokus rückt, die mehr oder weniger bedeutend sind, und die Atmosphäre geschickt zuspitzt. Von Anfang an, nachdem sich die Schlüsselfiguren in dem Schauplatz eingefunden haben, liegt eine Atmosphäre der angespannten Ungewissheit über dem Geschehen. Für tiefgründigere Charakterisierungen der Figuren verwendet To kaum Zeit, stattdessen macht er dem Zuschauer in jeder Szene klar, dass eine gewaltige Eskalation unweigerlich bevorstehen wird. Mit Hitchcock´scher Raffinesse platziert der Regisseur in oftmals lang gehaltenen Einstellungen viele kleinere Ereignisse, die geschickt für Unübersichtlichkeit sorgen, so dass To hier der einzige ist, der über sein Szenario jederzeit den vollen Überblick hat. Es ist der alte Trick der Bombe, die sich im Raum unter einem Tisch befindet, während der Zeitpunkt der Explosion unklar bleibt.
In diesem Fall bleibt es nicht nur bei einer Explosion, wenn "Saam Yan Hang" schließlich seinen unglaublichen Höhepunkt erreicht. Die Klimax des Streifens ist die bislang beste Action-Sequenz des Kinojahres 2016, ein schamloses Pistolen-Ballett, in dem getroffene Körper in extremer Zeitlupe durch die Luft wirbeln, Figuren in minutiös choreographierter Eleganz aufeinander feuern und unbedarfte Zivilisten in helle Panik ausbrechen. Das alles dargeboten in einer knapp fünfminütigen Plansequenz, die To noch dazu mit einem großartigen Song unterlegt.
Ein großartiger Thriller.
Ein mit 17,5 Millionen Dollar budgetiertes Historien-Epos, das es in dieser Form noch nie gegeben hat und so ganz sicher auch nie wieder geben wird. Aufgrund der extrem bewegten, von zahlreichen Streitigkeiten durchzogenen (Post-)Produktionsgeschichte, nach der sich Regisseur Tinto Brass und ein Teil des Casts selbst von der finalen Schnittfassung distanzierten, ist "Caligula" so wie er jetzt ist eine unglaubliche Geschichtsstunde, in der historische Fakten zugunsten eines ungezügelten, vor nackter Haut und blutigen Details übersprudelnden Spektakels weichen müssen.
Die Geschichte des Aufstiegs und Falls von Caligula, der mittels einer mörderischen Intrige zum neuen Imperator Roms gekürt wird und eine unvorstellbare Herrschaft der Tyrannei mit sich bringt, ist gespickt von dramaturgischen Stolpersteinen, durch die der Streifen über volle 156 Minuten hinweg viele Szenen enthält, in denen belanglose Momente unnötig in die Länge gezogen werden, sodass die nachträglichen Änderungen, Schnitte und Nachbesserungen am laufenden Band sichtbar werden.
Als völlig wahnsinnige Charakterstudie und Porträtierung dessen, zu welchen unvorstellbaren Abgründen die alleinige Verfügung und Ausnutzung absoluter Macht führt, strahlt "Caligula" aber eine gewisse Faszination aus, die dem völlig ungelenken Mix aus kitschigem Theaterschwulst, bodenloser Exploitation-Frechheit und purer Hardcore-Porno-Fleischeslust geschuldet ist. In der Hauptrolle des Caligula scheint Malcolm McDowell zwischenzeitlich selbst dem Wahn verfallen zu sein, weshalb seine Darstellung des monströsen Herrschers, dem die unberechenbare Gier nach Macht, Sex und Mord in beinahe jeder Szene in den Augen funkelt, dem ganzen Film eine wuchtige Note verleiht.
Wenn der Imperator die zum Tode Verurteilten in einer riesigen Arena per grotesk entworfener Todesmaschine enthaupten lässt, ein Brautpaar nach der Hochzeit weiht, indem er die jungfräuliche Braut vergewaltigt oder sämtliche Frauen seiner Senatoren zur Prostitution freigibt, was schließlich zu einer gigantischen Orgie führt, enthält "Caligula" so einige Momente, in denen das oftmals eng geschnürte Korsett gewöhnlicher Historienverfilmungen gesprengt wird und reinster, schmuddeliger sowie blutbesudelter Exzess frei liegt.
Ein Film wie dieser, in dem die prachtvoll eingerichteten Kulissen und aufwendig eingekleideten Schauspieler durch den Fleischwolf gedreht werden, indem der Fokus teilweise minutenlang auf Exekutionen sowie nachträglich gedrehten und eingefügten Hardcore-Sexszenen liegt, die Penthouse-Chef Bob Guccione forderte, nachdem er den Film mitfinanzierte und als zu zahm empfunden hatte, trägt den Stempel "Skandalfilm" völlig zurecht. Ein verkanntes und von Kritikern zu Unrecht verrissenes Meisterwerk ist "Caligula" mitnichten, denn dazu ist er inhaltlich oftmals zu träge und sprunghaft zugleich, aber als Dokument darüber, was im hochbudgetierten Mainstream-Sektor alles entstehen kann, wenn Meinungsverschiedenheiten auf groteske Weise in einem einzelnen Film aufeinanderprallen, lässt er sich durchaus wertschätzen.
Neben Dario Argento gilt er als einer der prägendsten Wegbegründer für die Popularität des "Giallo", ein italienisches Thriller-Subgenre, welches zwar nie bei der breiten Masse Anklang fand, sich dafür in Insider-Kreisen umso größerer Beliebtheit erfreut.
Mit "Sei donne per l´assassino" schuf Bava 1964 gewissermaßen die Blaupause für viele glorreiche Werke, die innerhalb des Subgenres nachfolgend noch das Licht der Welt erblicken sollten. Geschärfte Rasiermesser, die von schwarzen Lederhandschuhen geführt werden und sich meist schöne, junge Frauen als Opfer aussuchen. Opulente Mordsequenzen, die sich in der Regel über Minuten erstrecken, währen die Musik immer stärker zu qualvollen Höhepunkten anschwellt, bis es nach beinahe unerträglicher Spannung schließlich zum gewalttätigen Akt kommt. Kreativ-morbide Tötungsszenarien sind die großen Markenzeichen des "Giallo" und sie überstrahlen meist alles andere.
Bavas von vielen Seiten als Meilenstein gepriesener Film ist in dieser Hinsicht vor allem ästhetisch ein wahrer Hochgenuss. Der Schauplatz, an dem der Regisseur die Morde stattfinden lässt, ist eine Modeagentur, in der sich in jeder Ecke neue stilvoll eingerichtete Details entdecken lassen. Sobald die Hetzjagd auf ein neues Opfer eröffnet wird, erstrahlt das Setting in warmen, intensiven Farbtönen, welche die ansonsten in Dunkelheit verhüllten Räumlichkeiten wohlig durchziehen. Diese Höhepunkte, von denen es im gesamten Film ungefähr eine Handvoll gibt, sind die inszenatorischen Glanzmomente, die sich beim Betrachter unweigerlich einbrennen werden.
Dazwischen zeichnet sich "Sei donne per l´assassino" hingegen auch durch sämtliche negative Eigenschaften aus, die mit dem Subgenre fast immer in Verbindung gebracht werden können. Die Ermittlungsarbeit des Inspektors hangelt sich an staubtrockenen "Whodunnit"-Mustern entlang, durch die das Geschehen oftmals auf der Stelle tritt, während sich auf recht schleppende Weise Geheimnisse irgendwann zu einem klaren Bild formen. Schauspielerisch ist der Streifen außerdem kaum mehr als hölzern, was wie so oft daran liegt, dass alle Darsteller, egal, welche Tonspur man wählt, nachsynchronisiert wurden.
Wer begutachten will, worauf die späteren, ganz großen Meilensteine des "Giallo" fußen, sollte Mario Bavas "Sei donne per l´assassino" mindestens einmal gesehen haben. Auch wenn das Drehbuch eher öde konstruiert ist und der Cast kaum positiv auffällt, bleiben vor allem die großartig in Szene gesetzten Mordsequenzen im Gedächtnis haften, in denen Bava betörende Farben, panischen Terror, minutenlange Spannung und scheußlich-morbide Tötungsmethoden zu furiosen Schlüsselmomenten kombiniert.
Ist der Noah Baumbach, der "Mistress America" gedreht hat, wirklich derselbe Regisseur, der auch "Frances Ha" und "While We´re Young" gedreht hat? Man kann es kaum glauben, denn nach den beiden vorherigen Werken, in denen sich Baumbach in anstrengenden Hipster-Plattitüden, aufgesetzten, weltfremden Dialogen und unsympathischen Figuren, für die sich der Regisseur noch nicht mal selbst zu interessieren schien, verlief, kommt "Mistress America" einem regelrechten Befreiungsschlag gleich.
Mit Stoff, aus dem andere eine ganze TV-Serie spinnen würden, erzählt Baumbach in gerade mal 84 kurzweiligen, viel zu schnell verfliegenden Minuten davon, wie es sich anfühlt, wenn Ideale wie Seifenblasen zerplatzen und naive Träume auf die biedere Realität prallen. Hauptfigur Tracy kommt als frische Studienanfängerin nach New York, wo sie sich natürlich ein Leben verspricht, das einer Achterbahnfahrt gleichkommt. Ernüchtert erzählt sie ihrer Mutter am Telefon jedoch bald, dass sie sich in der Weltstadt wie auf einer Party fühlt, auf der sie niemanden kennt. Das ändert sich schlagartig, nachdem sie Brooke kennen lernt, die ihre zukünftige Stiefschwester werden soll, denn Tracys Mutter wird bald Brookes Vater heiraten. Die quirlige New Yorkerin eröffnet Tracy eine ganz neue Welt, nimmt sie mit in angesagte Locations, stellt sie neuen Leuten vor und begeistert die junge Literaturstudentin vor allem mit ihrer kaum zu bremsenden Energie. Tracy beginnt, eine Kurzgeschichte zu schreiben, für die sie sich von Brookes Art inspirieren lässt.
"Mistress America" fügt sich thematisch nahtlos in das bisherige Schaffen von Baumbach ein. Erneut dreht sich die Handlung um kluge, kreative Menschen Ende 20/Anfang 30, die in ihrem Übermut, vieles so schnell wie möglich noch zu erreichen, an großen Plänen scheitern und sich mit den kleineren, nichtsdestotrotz bereichernden Momenten begnügen müssen. Für Lola Kirke ist es die erste große Hauptrolle und sie schlägt sich ganz hervorragend als Tracy, doch der Film gehört voll und ganz Greta Gerwig, der Partnerin und großen Muse des Regisseurs, die Brooke mit strahlender Herzlichkeit, frechem Charme und sanfter Wärme spielt. "Mistress America" ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Tragikomödie. Baumbach war seinen Figuren noch nie so nahe, dass man mit ihnen lacht, weint und sie leicht ins Herz schließen kann. Einen Großteil der pfeilschnellen, großartigen Dialoge dieses Films will man sich am liebsten mitschreiben, damit sie einen auch noch eine Weile nach der Sichtung des Films durchs Leben begleiten. Gerade der spätere Abstecher nach Conneticut, bei dem sich "Mistress America" aus dem wie so oft überwältigenden Lebensgefühl New Yorks wegbewegt, verwandelt den Streifen in grandiose Situationskomik. Die Passage, in der Brooke eine ehemalige Freundin besuchen will, die sie für viele Misserfolge und Rückschläge in ihrem Leben verantwortlich macht, formt Baumbach zu einer urkomischen Ansammlung unterschiedlichster Figuren, die der Regisseur verspielt aufeinanderprallen lässt, mit hitzigen Wortgefechten, rasanten Verwicklungen und mühelos vollzogenen Entwicklungen vom Komischen ins Tragische.
Ein hinreißendes Stück Kino, voller Herzblut, Lebendigkeit, aufrichtigen Dialogen, liebenswürdigen Figuren und viel mitreißendem Lebensgefühl. Ist das wirklich noch derselbe Noah Baumbach?
[...] Bereits beim Auftakt des Streifens wird in so manchem Zuschauer der sehnlichste Wunsch nach Beruhigungstabletten aufkommen. Hauptcharakter Ross stattet seinem Dealer Spider Mike einen Besuch in dessen heruntergekommener Wohnung ab, wo sich außerdem noch Spider Mikes Freundin Cookie, natürlich ebenfalls stark abhängig und von den Drogen gezeichnet, sowie Frisbee, ein anderer jugendlicher Junkie, aufhalten. Dieses Aufeinandertreffen der völlig verpeilten, nervösen Charaktere inszeniert Åkerlund als pausenlose Abfolge von extrem harten Schnitten, die den Streifen eher wie eine Ansammlung von einzelnen Videoclips erscheinen lassen, welche im gnadenlosen MTV-Stil auf den überforderten Zuschauer einprasseln. Wer glaubt, der Regisseur hätte in diesem Intro sein Pulver schon verschossen, um unerwartet und explosiv in seinen Film zu starten, irrt jedoch gewaltig. Mit insgesamt rund 5000 Schnitten behält Spun dieses frenetische Tempo die gesamte Länge über bei, wobei der Regisseur von berühmten Musikvideos wie "Smack My Bitch Up", die ebenfalls durch den exzessiven Einsatz von Drogenkonsum, Nacktheit oder Gewalt auffielen, seinem Ruf alle Ehre macht. Spun folgt keiner klaren Erzähllinie, viel mehr überträgt der Streifen das Gefühl eines irritierenden, hilflosen Drogentrips direkt auf den Betrachter. Wer noch nie in seinem Leben Crystal Meth konsumiert hat, muss es auch nach der Sichtung dieses Films zum Glück nicht, denn man spürt die Wirkung der Droge förmlich am eigenen Leib. Mehr oder weniger ziellos lässt der Regisseur sein Ensemble durch lose Einzelszenen wandeln, wobei einige Szenen des Films mit ihrer Darstellung expliziter Details oder vulgärer Obszönitäten stark an die Nieren gehen. [...] Es ist nicht immer leicht, bei Jonas Åkerlunds "Spun" voll am Ball zu bleiben. Der Regisseur schickt den Zuschauer selbst auf einen üblen Drogentrip, denn sein Porträt unterschiedlicher Crystal-Meth-Junkies fällt neben der unkoordinierten, flapsigen Erzählweise in erster Linie durch den kompromisslosen, hektischen Stil auf, bei dem sich stakkatoähnliche Schnitte, experimentelle Einschübe wie beispielsweise Zeichentrick-Sequenzen oder wilde Musik-Einlagen zu einem schwer bekömmlichen Rausch verdichten, der "Spun" zu einer außergewöhnlichen, unbedingten sehenswerten Filmerfahrung macht. [...]
Wer hätte gedacht, dass sich Henry Joost und Ariel Schulman nach "Paranormal Activity 3" und "Paranormal Activity 4" noch einmal derartig rehabilitieren können? Mit "Nerve" knüpfen die beiden Regisseure mühelos an die bestechenden Qualitäten ihres Debüts "Catfish" an, in dem das Duo bereits 2010 auf innovative Weise einen zurecht hohe Wellen schlagenden Kommentar zur brandaktuellen "Social Media"–Thematik lieferten.
Mit der Verfilmung des Romans von Jeanne Ryan ist den beiden nun wieder ein beeindruckender, von pulsierendem Lebensgefühl durchzogener Film geglückt, dessen Veröffentlichung kaum passender geschehen konnte als momentan, wo "Pokémon Go" Millionen von Menschen mit dem Smartphone wie getrieben durch die Öffentlichkeit jagt. "Nerve" ist bunt, laut und schrill, genau der Film, den seine hier porträtierte Zielgruppe verdient hat, mit einem nächtlichen New York als explodierendes Neonlichter-Meer, in dem junge Menschen dem Drang nachgehen, unbedingt und überall gesehen werden zu wollen. Die Regisseure inszenieren den Wunsch nach dauerhafter Geltung als adrenalingeladene Ansammlung von betörenden Abenteuern, wobei sie der abgenutzten, kaum noch erträglichen "Das Internet ist böse!"-Botschaft eine klare Absage erteilen.
"Nerve" verschreibt sich nicht nur voll und ganz der derzeitigen Jugendkultur, er trägt sie über weite Strecken auf Händen, setzt zum übermütigen Start an und legt einen berauschenden Höhenflug hin. Emma Roberts und Dave Franco sind das bislang schönste Leinwandpärchen des Kinojahres. Jetzt schon unvergesslich sind die Szenen, in denen Franco eine beschwingte Gesangsnummer zu Roy Orbisons "You Got It" auf den Tischen eines Restaurants hinlegt oder Roberts, gekleidet in einem sündhaft teuren Kleid von Couture und Turnschuhen, "C.R.E.A.M." von Wu-Tang Clan mitrappt.
Mit einer unglaublich entfesselten Kamera, die jede Szene in einen dynamischen Trip verwandelt, einem fantastischen Soundtrack, der treibende Techno-Beats und bezaubernden Pop vereint sowie dem punktgenauen Schnitt peitscht "Nerve" seine Figuren durch eine grelle "Social-Media-App"-Odyssee, die im finalen Akt immer düstere Ausmaße annimmt und von unbekümmerten Coming-of-Age-Eskapismus zu einem Spiel auf Leben und Tod führt.
Einen übermäßig moralisierenden Beigeschmack erhält der Film aber nie, denn "Nerve" hat den Zeitgeist nicht nur präzise eingefangen, sondern führt ihn respektvoll durch verständnisvolle Sphären, bei dem er die Gefühle seiner Figuren mit universellen Aspekten wie Voyeurismus sowie der puren Lust am Spektakel verknüpft und selbst auffälligere Logikfehler komplett der atemlosen Faszination unterordnet. Hätten die Regisseure etwas mehr Mut bewiesen und sich noch weiter weg von traditionellen Plotstrukturen bewegt, "Nerve" wäre der "Spring Breakers" des Jahres 2016 geworden und somit ein moderner Klassiker.
Ob er sich mit einem Mann beschäftigt, der sein Leben unter Bären verbracht hat, eine Station von Wissenschaftlern am Nordpol besucht, die Wandmalereien einer Jahrtausende alten Höhle besichtigt oder zum Tode verurteilte Straftäter kurz vor ihrer Hinrichtung interviewt. Die Dokumentationen von Werner Herzog sind unabhängig von ihren Thematiken vor allem Filme, die durch den einzigartigen Charakter des Regisseurs geprägt sind. Herzog verweigert sich meist den Konventionen herkömmlicher Dokumentationen und inszeniert mit unverkennbarem Stil, der durch seine markanten Voice-over, eine fast schon kindliche Neugierde und ein Auge für Nebenschauplätze sowie Abschweifungen geprägt ist.
Die Dokumentation "Lo and Behold, Reveries of the Connected World", in der es um nichts geringeres als das Internet selbst geht, ist erneut ein typisches Herzog-Werk, in dem sich der Regisseur mit sämtlichen Aspekten auseinandersetzt, die unser tägliches Leben mit der weltweiten Vernetzung betreffen. Unterteilt in neun verschiedene Kapitel geht Herzog Bereichen nach, die ihn im Bezug auf das Internet interessieren und ergründet vielschichtige, komplexe Thematiken.
Zunächst wird der Betrachter mit auf eine Reise in die Vergangenheit hin zur Geburtsstunde des Internets genommen, wobei "Lo and Behold, Reveries of the Connected World" aufgrund der verträumten, sanften Musikuntermalung und der gewohnt markanten Erzählstimme des Regisseurs wieder einmal so wirkt, als würde ein kleines Kind die große, weite Welt für sich entdecken und voller verschüchterter, freudiger Neugierde und mit weit aufgerissenen Augen alles fragen, was ihm brennend auf der Seele liegt. Herzog nimmt sich diesmal persönlich etwas zurück und lässt lieber seine Interviewpartner zu Wort kommen. Auch die surrealen Einschübe, die sich sonst eigentlich immer in seinen Dokumentationen finden, sind hier merklich reduziert, was sicherlich auch daran liegt, dass die vielen Zukunftstheorien bezüglich des Internets genügend wilde Spekulationen zulassen, was für sich genommen bereits einige absurde wie nachdenkliche Momente zur Folge hat.
Herzogs Blickweise auf das Internet gestaltet sich dabei ohne drohenden Zeigefinger, auch wenn sich der Regisseur neben den vielen technischen Möglichkeiten, globalen Errungenschaften und alltäglichen Vorzügen mit erschreckenden Warnbeispielen beschäftigt, wenn er die Familie von Nikki Catsouras interviewt, die in einen Skandal verwickelt war, nachdem Fotos ihrer bei einem Autounfall ums Leben gekommenen Tochter ins Netz geleaked wurden, oder süchtige Jugendliche zeigt, die bis zu 16 Stunden täglich in virtuellen Welten gefangen waren.
Als Gesamtwerk stellt der Regisseur in "Lo and Behold, Reveries of the Connected World" abermals tiefschürfende Fragen nach dem, was uns aktuell als Menschen ausmacht und wie sich unsere Welt verändert hat und vor allem zukünftig noch entwickeln wird. Mit 98 Minuten Laufzeit ist die Dokumentation vielleicht etwas zu knapp ausgefallen und lässt bezüglich einiger Aspekte etwas Tiefgang vermissen, doch für Herzog-Fans ist sie ohnehin Pflichtprogramm, das bevorzugte Themen des Regisseurs wieder einmal provokant, unterhaltsam und nachdenklich zum Ausdruck bringt.