Stefan Ishii - Kommentare

Alle Kommentare von Stefan Ishii

  • Sehr schön. Und toll, dass du zu den meisten Filmen auch einen kleinen Kurzkommentar hinzugefügt hast. Deshalb ist es nochmal spannender, die kleinen Unterschiede zwischen unseren Wahrnehmungen und Einschätzungen nachzuvollziehen. Da bleibt für mich aber noch die Frage nach "Die Zeit mit Monika", der ja mein Lieblings-Bergman ist und bei dir eher schwächer abschneidet. Vielleicht könntest du dazu noch ein paar Sätze finden. Das würde mich sehr freuen...

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    • In dieser Liste fehlen noch einige Filme, die ich gesehen habe, aber leider nicht in der Datenbank zu finden sind. Der Vollständigkeit halber sollen diese hier aufgeführt werden.

      "PORTRÄT" (2002, Bewertung: 7,5): Ich mag Loznitsas Kurzfilme der frühen 2000er Jahre aufgrund ihrer zeitlichen Unbestimmbarkeit. Und trotzdem fühlen sie sich aus der Zeit gefallen an. Er erzählt hier vom Verlust einer Ära: Das bäuerliche Leben. Aber ohne Trauer oder Reue. (➽)

      "DIE FABRIK" (2004, Bewertung: 7,0): Die Bilder liefern einen starken Kontrast zwischen der Schönheit von Bewegungen und Kompositionen zu der harschen Realität der Arbeiter, die in der Fabrik ihrer Arbeit nachgehen.

      Außerdem vermisse ich in der Datenbank noch folgende Filme:
      - "Segodnya my postroim dom" (1996)
      - "Leben, Herbst" (1999)
      - "Artel" (2006)
      - "Sweet Sixties" (2008)
      - "Severnyy svet" (2008)
      - "O Milagre de Santo Antonio" (2012)
      - "Pismo" (2013)
      - "The Old Jewish Cemetery" (2015)

      6
      • 9

        Als ich vor einigen Wochen begann, mich ausführlicher mit Sergey Loznitsa zu beschäftigen, habe ich relativ schnell gespürt, dass ich es hier mit jemand besonderem zu tun haben könnte. Die hochinteressant gestalteten Dokumentar- oder Essayfilme, die sehr vielfältig und doch so ähnlich zu einander sind, haben mir durchweg gefallen. Es gibt rote Fäden im Schaffen des Filmemachers zu entdecken. Überhaupt geht es bei ihm oftmals mehr ums Beobachten, Entdecken, Verallgemeinern, Übertragen und Reflektieren, was ich stets als lohnenswerter und erfüllender empfinde im Vergleich zu narrativen Werken. Auch Loznitsas ersten Spielfilm "Mein Glück" von 2010 möchte ich im Großen und Ganzen sehr, wenn ich auch einige Kritikpunkte hatte. Dass ich nun jedoch ausgerechnet mit einem Film, der mich zuvor aus unerfindlichen Gründen etwas weniger zu interessieren schien, ein Werk im Schaffen des Regisseurs für mich entdeckte, das bei mir persönlich den stärksten Eindruck hinterließ und mich uneingeschränkt begeisterte, ist schon wirklich befriedigend, gleichzeitig aber auch faszinierend.

        "Im Nebel" ist einer dieser wundervollen Filmerlebnisse, die einen unvorbereitet treffen. Sie kommen ganz leise und zurückhaltend daher, entpuppen sich aber als wirkliche Monster. Schon lange habe ich nicht mehr solch einen intensiven Film erlebt, der mich zu keinem Zeitpunkt langweilte. Ein Film, der mich von der ersten Minute an fesselte und dessen Laufzeit schneller vorbei erschien als die Länge von über zwei Stunden andeuten. Dass sich die scheinbar karge Handlung zu Kriegszeiten abspielt – wahrscheinlich ein Grund dafür, warum mich der Film zunächst nicht so stark reizte – ist zwar nicht unwichtig, aber in meinen Augen präsentiert "Im Nebel" in erster Linie eine faszinierende Beschreibung einer komplexen Situation, in der sich ein Mann ungewollt befindet, beziehungsweise sich ihr aus komplizierten, persönlichen Gründen nicht entziehen kann. "Im Nebel" ist ganz starkes Kino, das nicht zuletzt auch mit wunderschönen Bildern ausgestattet ist und in Vladimir Svirskiy einen passenden Hauptdarsteller gefunden hat. Ein Werk, wie für mich gemacht. Welches mir den letzten nötigen Beweis lieferte, dass Sergey Loznitsa tatsächlich ein großartiger Filmemacher ist.

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        • 7

          Mit "Blokada - Blockade" schlug Sergey Loznitsa andere Wege ein ohne jedoch sein Kernthema zu verlassen. Anders als bei seinen früheren Filmen besteht "Blockade" ausschließlich aus Archivmaterial, das Loznitsa unkommentiert zusammenschnitt. Auch wenn zum Beispiel bei "Haltepunkt" die Bilder wirken, als könnten sie zur selben Zeit aufgenommen worden sein wie hier bei "Blokada", oder auch wenn Filme wie "Porträt" (und indirekt auch "Landschaft") von nicht mehr gegenwärtiger Zeit berichten, so haben sich Loznitsas Filme zuvor nicht wirklich mit der Vergangenheit beschäftigt. Der aktuelle Zustand der Gesellschaft stand viel stärker im Fokus, wobei die Vergangenheit natürlich einen unvermeidlichen Einfluss auf diese hat.

          Die Archivbilder in "Blokada" wurden während der deutschen Belagerung Leningrads (heute St. Petersburg) aufgenommen, die vom September 1941 bis zum Januar 1944 andauerte und mehr als eine Million ziviler Opfer forderte. Loznitsa hält sich in dem Film nicht lange mit solchen Hintergrundfakten auf - genau genommen sagt er Film absolut nichts über die Umstände, Hintergründe oder Vorgänge der Blockade aus. Er zeigt dem Zuschauer mehr oder weniger fokussiert den alltäglichen Umgang mit der katastrophalen Situation, wobei es im Film allerdings schon so etwas wie eine Entwicklung zu beobachten gibt. Zu Beginn fühlt sich alles noch irgendwie erträglich an. Später zeigen Feuer und zerstörte Häuser erste konkrete Konsequenzen. Die Atmosphäre wird düsterer. Der unwirkliche Ton mitsamt fast surrealer Effekte, mit dem Loznitsa seinen Film subtil unterlegte, trägt zur bedrückenden Stimmung bei. Aber erst kurz vor Schluß werden wirklich schockierende Bilder von beispielsweise Leichen gezeigt, die in den Straßen liegen oder in Massengräbern verscharrt werden. Der Film schließt mit Feierlichkeiten zur Beendigung der Belagerung.

          Doch gerade weil sich Sergey Loznitsa kaum mit den historischen Fakten beschäftigt (oder sie einfach als bekannt voraussetzt), wird deutlich, worum es ihm hier und (wie ich durch diesen Film überhaupt erst so richtig verstanden habe) es in seinem bisherigen Schaffen zentral geht: Das alltägliche, entbehrungsreiche und hoffnungslos erscheinende Leben der einfachen Menschen, die auf die Umstände oder gesellschaftlichen Veränderungen, die sie betreffen, keinen Einfluss haben. Der Zuschauer betrachtet in "Blokada" das Geschehen stets aus der Sicht der zivilen Bevölkerung. Auch wenn es einige Segmente gibt, in denen Soldaten zu sehen sind, so erscheint mir die Reaktion der einfachen Menschen auf diese viel relevanter. Und tatsächliche Kriegshandlungen gibt schließlich überhaupt nicht zu sehen. Das wirkliche Gräuel der Situation sind Hunger und Elend der belagerten Bevölkerung. Zu welchen unmenschlichen Ereignissen es gekommen sein muss, mag man sich kaum vorstellen.

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          • 7

            Man könnte "Peyzazh - Landschaft" mit weniger Sätzen abhandeln. Es handelt sich dabei um einen 60-minütigen Dokumentarfilm von Sergey Loznitsa, in dem einfache, russische Landbewohner an einer Bushaltestelle gezeigt werden. Über Gesprächsfetzen, die scheinbar nicht zur selben Zeit aufgezeichnet wurden (und wahrscheinlich sogar insziniert sein dürften), wird im Verlauf ein Bild der russischen Gefühlslage gezeichnet.

            Ich habe mir jedoch vorgenommen, mich etwas genauer mit dem Schaffen Loznitsas auseinanderzusetzen, weshalb ich mich etwas ausführlicher mit "Landschaft" beschäftigt habe. Anders als in Loznitsas früheren Werken ist der Film nicht in schwarz-weiß bebildert. Erstmals entschied sich der Filmemacher für Farbe. Formal besteht der Film dabei ausschließlich aus Kameraschwenks, die von der linken zur rechten Seite ausgeführt wurden, und niemals zur Ruhe kommen. Der Blick schweift in gleichbleibender Geschwindigkeit unaufhörlich über Straßenzüge oder Gesichter hinweg. Der Zuschauer kann dabei niemals wirklich alles erfassen, was sich in den Bildern abspielt. Wir können unseren Blick stets nur für wenige Momente auf die größtenteils faszinierenden Gesichter der Menschen ruhen lassen, bevor sie vom linken Bildrand verschluckt werden. Loznitsa beschäftigte sich nicht mit einzelnen Individuen, ihm ging es offenbar um die Gemeinschaft, etwas thematisch Größerem.

            Zunächst sind in der Kleinstadt Okulovka nur wenige Menschen zu sehen, später befinden wir uns innerhalb einer größeren Ansammlung, die offenbar auf einen Bus wartet. Ähnlich wie in dem ein Jahr zuvor entstandenen Film "Porträt" sind in "Landschaft" größtenteils ältere Leute zu sehen. Es gibt hier jedoch unter den Wartenden auch einige jüngere Menschen und kurz vor Ende kann sogar ein Baby entdeckt werden, das nach all den vom Leben gezeichneten Gesichtern, die zuvor zu beobachten waren, merkwürdig fehl am Platze wirkt. Während "Porträt" vom Niedergang des Bauerntums erzählt, dürfte "Landschaft" von der Landflucht und der damit einhergehenden Überalterung der ländlichen Bevölkerung berichten.

            Die Gesprächsfetzen, die verfolgt werden können, beschreiben Lebenssituationen der einfachen, armen oder wohl leider schon längst abgehängten Bevölkerung. Nicht selten schwingen Zukunftsängste, Missgunst oder Vorurteile mit. Mit diesen fragmentarischen Gesprächen beschreibt Loznitsa nicht weniger als eine russische Großwetterlage, deren Aussichten düsterer und bedrückender nicht sein könnten. Ein Klammern an Traditionen oder an einem so gut wie vergangenen Status Quo könnte katastrophale Folgen für den Einzelnen haben. Veränderungen sind unausweichlich, aber die Zukunft ist unsicher und birgt natürlich auch Gefahren und unvermeidliche Auswirkungen auf die Gesellschaft.

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            • 8

              "Wo Bu Shi Pan Jin Lian" ist ein sehr unterhaltsamer und auf mehreren Ebenen interessanter Film, den ich weder als reine Komödie noch als direkte Kritik an chinesischen Machtstrukturen verstande habe. Der Film soll zunächst auch trotz seiner interessanten (ich scheue mich, hier den Begriff innovativ zu benutzen) Bildgestaltung ein Blockbuster-Publikum ansprechen; zumindest in China ist das wohl auch sehr erfolgreich geglückt. Die Spielerei mit den Bildformaten, über große Teile des Filmes kreisförmig, dann kurzzeitig auch mal rechteckig oder quadratisch, unterstreicht sicherlich die Gefühlslage der Hauptfigur, ist aber gleichzeitig auch ein wunderbar ästethischer Aspekt. Natürlich verstehe ich, dass man bei der Geschichte einer Frau, die gegen den chinesischen Rechtsstaat kämpft, hierzulande schnell eine Kritik an der chinesischen Politik hineininterpretieren möchte, aber ich glaube der Film versucht lediglich, ein tatsächlich existentes absurdes System unterhaltsam darzustellen, dass so auch in Deutschland oder in ziemlich allen Ländern der Welt möglich ist. Kleinere Staatsangestellte klammern sich an ihre Positionen und können leichtfertig getätigte Fehler nicht eingestehen, aus Angst vorm Verlust dieser Positionen. "Wo Bu Shi Pan Jin Lian" hat letztendlich auch keine wirklichen Bösewichte. Der Film zeichnet hier nichts schwarz-weiß. Wir haben es mit einer Frau zu tun, die sich mit 18 Männern auseinanderzusetzen hat, um ein (zu Recht) empfundes Unrecht an ihrer Person zu tilgen. Dass im internationalen Titel Pan Jin Lian mit Madame Bovary gleichgesetzt wird, finde ich etwas ungünstig, zumal die Geschichte Pans direkt am Anfang des Filmes geklärt wird; der Name Madame Bovary schafft da nur noch Verwirrung.

              Der Film thematisiert am Rande auch die Unterschiede zwischen der modernen Stadt und dem traditionellen Land. In der Stadt sind Gerichte als Staatsmacht akzeptiert, doch bei der einfachen ländlichen Bevölkerung ist ein Mißtrauen gegenüber der Judikative noch weitverbreitet. Dort wird noch immer im Zweifel eher den Offiziellen, den Bürgermeistern oder sonstigen Volksvertretern das Vertrauen geschenkt. Dies macht das Verhalten der Hauptfigur Li Xuelians auch verständlich und nachvollziehbar.

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              • 8 .5
                Stefan Ishii 21.02.2017, 09:06 Geändert 21.02.2017, 09:52

                Dass mir ein Film wie Ole Giævers "Fra balkongen - From the Balcony" derart gut gefällt, hätte ich im Vorfeld zugegebenermaßen tatsächlich nicht erwartet, erscheint mir aber rückblickend eigentlich ziemlich verständlich. "Fra balkongen" ist eine witzige Auseinandersetzung eines norwegischen Filmemachers mit sich, seinem Leben und der menschlichen Existenz im allgemeinen. Giæver bringt dabei eigene Heimvideoaufzeichnungen mit Dokumentaraufnahmen, Animationen sowie Momenten der Selbstreflexion zusammen. Er spricht über seine Familie, seine Gedanken und Gefühle, über wissenschaftliche Fakten und Möglichkeiten. Ein mäandernder Stream of Consciousness, den Giæver vom eigenen Balkon mit Blick auf die Welt auf unfassbar sympathische, ehrliche und humoristische Weise eineinhalb Stunden dem Publikum präsentiert und damit dort dessen Neugierde auf die eigene Situation zu eigenständigen Reflexionen im Zuschauer anregt. Leichtfüssig, verspielt und stets nachvollziehbar, aber im Kern auch immer nachdenklich. Auf der Suche nach Verständnis der eigenen Beziehungen zu seinem Umfeld, vor allem seinen Kindern, stellt Ole Giæver letztenendes die großen Fragen der menschlichen Existenz. Warum sind wir da? Was machen wir hier eigentlich?

                Doch warum spricht mich ein Film, dessen zentraler Akteur gerne herumalbert und zu (aus meiner Sicht) schlechter Musik tanzt, dann überhaupt so stark an? Zum einen mag ich Giævers Neugier am Leben und der Welt, die einfach ansteckend ist. Aber in noch viel größerem Maße liegt meine Begeisterung in einigen Parallelen zu meinem eigenen Leben begründet. Ole Giæver ist nur ein Jahr älter als ich und hat einen vergleichbaren familiären Hintergrund. Außerdem habe auch ich zwei Kinder. Zwangsläufig ähneln sich meine derzeitigen Fragen, Gedanken und Wahrnehmungen. Man sieht sich selbst durch die eigenen Kinder und stellt sich neuerdings andere Fragen. Ich konnte mich also gut in Giævers Ausführungen wiederfinden. Der Norweger ist mir einfach sehr sympathisch. Da verzeihe ich ihm sogar seinen „schlechten“ Musikgeschmack und fand es sogar recht witzig, dass der Film mit einem Modern-Talking-Song endet.

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                • 8

                  Ich möchte hier versuchen, einen Kommentar zu einem Film zu schreiben, der seit Tagen in mir arbeitet. Ein Film, der es mir außergewöhnlich schwer macht; erstaunlicherweise aber nicht weil er mir nicht gefallen hat oder etwas tut, mit dem ich grundsätzlich Probleme hätte. Im Gegenteil: Der Film hat alles, was mich anspricht: Politik, vielschichtige Auseinandersetzung mit und essayistische Reflektion mittels dieser, sowie von diversem Filmmaterial, persönliche Verknüpfung zur Lebensgeschichte des Filmemachers und vieles mehr. Zwei Stunden lang hat mich "No Intenso Agora - In the Intense Now" absolut fasziniert und gefesselt. Mein Problem setzte erst nach dem Film ein; oder genauer: Mit Einsetzen der Credits - im Moment meiner Einsicht, dass ich den Film 120 Minuten lang anders gelesen habe als es der Regisseur João Moreira Salles im Sinn hatte.

                  Ansatzpunkt des brasilianischen Filmemachers für dieses Werk sind Videoaufnahmen, die seine Mutter in den 60er Jahren auf einer Kulturreise durch China drehte. João Moreira Salles nutzt ihre Eindrücke vom Beginn der dortigen Kulturrevolution Mao Zedongs als Startpunkt zu einer Diskussion über diverse - mehr oder weniger parallel ablaufende - Revolutionen. Im Zentrum stehen dabei die politischen Unruhen in Paris im Mai 1968 sowie der Prager Frühling und dessen gewaltsame Niederschlagung im August desselben Jahres, aber auch den brasilianischen Militärputsch von 1964 und (eher am Rande) die Demonstrationen in den USA aufgrund des Vietnamkrieges. Moreira Salles verwendet dabei größtenteils Archivaufnahmen und Bilddokumente, die von Filmamateuren gedreht wurden. Der Regisseur versteht es vorzüglich, die Einordnung und Analyse dieses Materials dem Zuschauer verständlich zu machen. Ich war tatsächlich regelrecht begeistert, wie er sich den Beziehungen zwischen Bild und der zu dem entsprechenden Zeitpunkt vorherrschenden Wahrnehmung der Probleme sowie dem Scheitern revolutionärer Illusionen annähert. Was mir allerdings erst spät klar wurde: Moreira Salles denkt den Film niemals aus heutiger, "wissender" Sicht. Ein erstes exemplarisches Beispiel dürfte eine durchaus witzige Neujahransprache Charles de Gaulles sein, in der dieser von einem ruhigen Jahr 1968 spricht. Natürlich steckt in "No Intenso Agora" stets zwischen den Bildern das Wissen um Kontexte und Zusammenhänge, doch diese werden vom Zuschauer mehr oder weniger erwartet. Dem Filmemacher geht es tatsächlich mehr um das damals aktuell empfundene Gefühl der Revolution. Und genau da liegt mein Problem. Für mich erschien der Film zunächst als eine hinterfragende Auseinandersetzung mit Idealen, Illusionen und Desillusionen der diversen politischen Bewegungen und Aufstände zu sein. Natürlich steckt das auch im Film drin. So wird beispielsweise die Beendigung des Pariser Mais konkret aufgearbeitet; ein Scheitern, das trotz aller einschneidender Veränderungen, die es über die Jahre nach sich ziehen sollte, von vielen als Niederlage oder Scheitern empfunden wurde. Die Rolle und die Selbstwahrnehmung eines Daniel Cohn-Bendit wird hier beispielsweise ausführlich beleuchtet. Doch am Ende des Filmes, wenn João Moreira Salles erneut auf das Filmmaterial seiner Mutter aus China zurück kommt, erwartete ich zunächst eine kritische Einschätzung der wahrgenommenen Eindrücke und damit verknüpften Hoffnungen auf ein neues System. Was erscheint ein besserer Abschluss für solch einen Film zu sein, als die eigene Mutter zu hinterfragen? Aber genau dies bleibt (zumindest im Film) eben aus. João Moreira Salles geht es in "No Intenso Agora" um eine Form von empfundener Intensität, wie es ja auch der Titel des Filmes andeutet. Ein Gefühl vom Hier und Jetzt, von einem Moment des Umbruchs, der Hoffnung und des Widerstandes. Aber auch vom Nichtloslassenkönnen, wenn die idealist geprägten Aufstände ins - scheinbare - Nichts führen, oder wenn die Ikonen der Revolutionen sich persönlich verändern.

                  "No Intenso Agora" ist ein spannender, faszinierender und wirklich lohnenswerter Film, der sich letzten Endes weniger mit der Politik (beziehungsweise Meinungen, Ansichten oder gar die "Wahrheit") als vielmehr mit den Menschen und deren im Moment des Geschehens intensiv gefühlten Wahrnehmungen auseinandersetzt.

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                  • 8 .5

                    "Obaltan - Aimless Bullet" (1961, Yu Hyun-mok). Was für eine Entdeckung! Ein Film aus einer Zeit in Korea, in der es obwohl (man muss fast sagen ausnahmsweise) mal kein Krieg oder keine Diktatur herrschte, aber in der es nach dem Koreakrieg (1950-53) trotz Entwicklungshilfe aus dem Westen dem Land und der Bevölkerung wirtschaftlich nicht wirklich besser ging. Ein bedrückende Stimmung, die der Film fast schon auf neorealistische Weise aufzugreifen vermag.

                    "Obaltan" ist bevölkert von sowohl körperlich als auch seelisch gebrochenen Menschen. Sie sind versehrt aus dem Krieg zurückgekommen oder leben aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit in Armut. Traumatisierte Wesen; beispielsweise eine Mutter, die den Verstand verloren hat. Die Menschen sind tiefgreifend enttäuscht, verzweifelt und hoffnungslos. Selbstmorde sind an der Tagesordnung. Kleinkriminalität bleibt ein letzter Ausweg. Töchter prostituieren sich (oftmals mit amerikanischen Soldaten) und die Familie schaut beschämt weg. Und so sind selbst die, die eine gute Anstellung gefunden haben, einem unüberwindbaren Schmerz ausgesetzt. Selbst die Liebe vermag für die meisten keine Linderung der seelischen Qualen zu versprechen. Fast beiläufig zeigt der Film die schockierensten Begleiterscheinungen einer koreanischen Nachkriegszeit: Während einer Polizeijagd eines Diebes passiert die Kamera den erhängten, leblosen Körper einer Mutter, die ein schreiendes Kind auf dem Rücken gebunden hat. Düstere Bilder. Ein bedrückender Nachkriegsfilm, wie ich ihn aus Korea bisher noch nie gesehen habe. Es ist so unschätzbar wertvoll, dass die koreanische Filmarchivbehörde dieses ergreifende Werk restauriert, digitalisiert und damit einem großen Publikum zugänglich gemacht hat.

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                    • Stefan Ishii 10.02.2017, 18:37 Geändert 10.02.2017, 18:39

                      Deinen Einleitungssatz könnte ich fast 1:1 übernehmen. Und oft genug sind nach meinen Erfahrungen die kleineren Produktionen die lohnenswerten und überraschenden Filmerlebnisse. Ich wünsche dir viel Spaß!

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                      • Wie lange hast du denn an dieser Liste gesessen? Allein die Recherchearbeit... Unvorstellbar!

                        Schön, dass mein kleines Heimatstädtchen auch dabei ist und mit Angela Winkler natürlich vorzüglich vertreten wird!

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                        • Ist ja wirklich witzig. Wir haben wohl soeben parallel zueinander "Il Posto" gesehen. Und gefallen hat er dir auch. Der Film war ja mein zweiter von Olmi innerhalb der letzten Tage (und auch überhaupt). Und zum zweiten Mal sah ich einen Film, der mich fast restlos begeisterte. Da hab ich wohl einen Regisseur gefunden, der mir wohl in Zukunft noch sehr viel Freude bereiten könnte. Einen Film hab ich von Olmi noch auf DVD hier ("Die Legende vom heiligen Trinker").

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                          • 6 .5

                            "Une viste au Louvre" vom französischen Filmemacherpaar Jean-Marie Straub und Danièle Huillet, welches vor allem für ihre formale Strenge, dem emotionsarmen Einsatz von Laiendarstellern sowie einem inszinatorischen Stil im Sinne eines Bertold Brechts bekannt ist, ist vom Ansatz her eigentlich eine hochinteressante Angelegenheit. Basierend auf einem Buch von Joachim Gasquet, in dem dieser Gespräche mit dem befreundeten Maler Paul Cézanne niederschrieb, entwickelten Straub/Huillet einen dokumentarischen Film, der sich mit Cézannes Meinung zu einigen Strömungen (und expliziten Beispielen) der Malerei auseinandersetzt. Auch wenn dieser Ansatz natürlich zwangsläufig sehr einseitig ist, da gegenläufige Ansichten komplett fehlen, kann es äußerst spannend sein, Cézannes Meinungen zu verfolgen. Straub/Huillet ließen dafür eine Frau namens Julie Koltaï Aussagen von Cézanne auf eine absichtlich künstlich wirkende Weise rezitieren, die dadurch aber eine Verbindung des Gesprochenen mit der Persönlichkeit Cézannes erzeugt, was ich als unglaublich faszinierend erlebt habe. Regisseur Jean-Marie Straub sprach einige Zwischenfragen Gasquets ein. Passend zu dem Gehörten wird dem Zuschauer das jeweils dazugehörige Bild in statischen Einstellungen gezeigt, gefilmt von den Regisseuren im Pariser Louvre. Leider, und das ist für mich der große Knackpunkt des Filmes, komme ich bei einigen Gedanken Cézannes einfach nicht mit. Das liegt zunächst natürlich an einem Mangel an Wissen meinerseits, allerdings ganz oft auch an fehlender Zeit, um sich in die gehörten Aussagen hineindenken zu können. So war "Une visite au Louvre" letztlich ein zwiespältiges Erlebnis für mich. Es blieb bei mir mehr von der Persönlichkeit und (in Ansätzen) der Denkweise des Malers Cézanne hängen als vom Gesagten selbst, was allerdings auch schon mal durchaus lohnenswert ist.

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                            • 7
                              über Der Ort

                              "Poselenie - Der Ort" geht zu Beginn scheinbar in eine ähnliche Richtung wie "Porträt", der ebenfalls von Sergey Loznitsa stammt und im selben Jahr entstand. Dort wecken längere, stille Aufnahmen von Bauern Erinnerungen an eine vergangene Zeit. Auch in "Poselenie" sehen wir Menschen in bäuerlichem Umfeld, aufgenommen in wunderbaren, dunklen und nebelverhangenen Schwarz-Weiß-Bildern, die erneut aus einer anderen Zeit zu stammen scheinen, diesmal jedoch mehr Bewegung und Aktion beinhalten. In diesem Film stehen die gezeigten Personen jedoch nicht einfach in einem festen Rahmen. Sie bewegen sich ungehindert, gehen ihrer Tätigkeit nach, verbringen ihre Zeit zusammen. Irgendwie traumartig, ohne offensichtliche Sorgen oder Nöte. Und erst nach und nach (eher gegen Ende des Filmes) versteht man, dass es sich hier tatsächlich gar nicht um Bauern im eigentlichen Sinne handelt. Das etwas andersartige Verhalten der Menschen, sowie die Präsenz einer Betreuerin in weißem Kittel suggerieren, dass es sich bei der titelgebenden Siedlung um einen Ort für gesellschaftlich ausgegrenzte Menschen mit geistiger Beeinträchtigung handeln dürfte, die in einer ländlichen Umgebung ihrem mehr oder weniger nützlichen Tagwerk nachgehen. Ob man als Zuschauer darin nun eine Kritik an russischen Gesellschaftsidealen sehen möchte, oder gerade der Fakt angesprochen werden soll, dass ausgerechnet die gezeigten Ausgegrenzten diesen Idealen von Arbeitsbereitschaft und Zusammenleben am ehesten entsprechen, bleibt natürlich Spekulation. In jedem Fall bietet "Poselenie - Der Ort" dahingehend viel Raum für eigene Gedanken. Ich muss allerdings leider auch eingestehen, dass mir die Laufzeit von 77 Minuten als etwas zu lang erschien, insbesondere weil mir erst vergleichsweise spät auffiel, worauf Loznitsa mit seinem Film abzielte. Wunderschön anzusehen ist er jedoch allemal.

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                              • 9 .5

                                Es fällt mir tatsächlich etwas schwer, meine Bewunderung für Werke wie "L'albero degli zoccoli - Der Holzschuhbaum" konkret zum Ausdruck zu bringen. Ermanno Olmis Dreistünder ist einfach ein grandioses Werk! Der Film dokumentiert das beschwerliche Leben und die alltäglichen Probleme von Bauern kurz vor der Jahrhundertwende des vorletzten Jahrhunderts. Großgutbesitzer bestimmen rücksichtslos über Schicksale der einfachen Pächter. Diese wiederum kämpfen um alles Erdenkliche; sei es das Leben einer Kuh, die Schulbildung des Sohnes, die Zuneigung einer jungen Frau oder auch nur um das Material für einen neuen Holzschuh. Olmi ging bei der Darstellung seiner Thematik, die ihn wohl auch persönlich sehr betraf, sehr behutsam, langsam und realisch vor. Und so schuf er eine eindringliche Nähe zu seinen Figuren, die ähnlich wie im in vielerlei Hinsicht vergleichbaren Visconti-Film "La Terra trema - Die Erde bebt" von 1948 ausschließlich von Laiendarstellern aus der Region gespielt wurden, um dem Film den nötigen Realismus zu verleihen. Einen roten Handlungsfaden gibt es zwar, aber dieser kommt in dem vor Menschlichkeit und Mitgefühl überbordenden Zeitbild fast nebensächlich daher. Einige Zuschauer mögen dies als langatmig, dröge oder handlungsarm bezeichnen; für mich ist es pure, ehrliche Kinomagie. Doch erst die Details machen den Film so stark. Der Fokus liegt auf dem bäuerlichem Alltag und politische Veränderungen sind nicht viel mehr als eine Randnotiz. Sie werden zwar von den Figuren wahrgenommen, ändern am Leben dieser jedoch nichts. Bei einer politischen Kundgebung beispielsweise werden angestrebte Veränderungen zwar gehört, doch ein Geldstück auf dem Boden bedeutet ihnen ungleich mehr. Natürlich spielt auch der Glaube der Menschen eine gewisse Rolle. Es ist, als wäre die Vorstellung einer besseren Welt einfach zu utopisch. Das eigene Leben mit all den Sorgen und Nöten überlagert alles und man fügt sich in sein ungerechtes Schicksal. Und gerade das auf diese Weise gezeigte Mitgefühl für die einfachen Menschen macht "L'albero degli zoccoli" so großartig.

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                                • Stefan Ishii 17.01.2017, 09:30 Geändert 17.01.2017, 10:16

                                  Sergey Loznitsas Kurzfilm "Porträt" hat hier leider keinen Eintrag in der Filmdatenbank, aber da mir der Film ziemlich gut gefallen hat (7,5er Bewertung), möchte ich hier einen kleinen Kommentar dazu schreiben.

                                  Ich habe nach "Haltepunkt" (2000) nun mit "Porträt" (2002) meinen zweiten Kurzfilm von Sergey Loznitsa gesehen. Ich mag diese Kurzfilme aus den frühen 2000er Jahren sehr gerne. Auch die späteren Spielfilme (z.B. "Mein Glück") von dem durchaus politischen Filmemacher sind sehr interessant. Aber die zwei genannten Kurzfilme haben mich sehr beeindruckt. Ein Hauptgrund dafür liegt in einer gewissen zeitlichen Unbestimmbarkeit. Und trotzdem fühlen sich die Werke an, als wären sie aus der Zeit gefallen. Der Zuschauer weiß nicht so genau, wohin man sie zeitlich einordnen soll, aber man hat den Eindruck, sie stammen aus einer vergangenen und unwiederbringbaren Zeit. Dieses Gefühl erzeugt Loznitsa durch seine Bilder. Sie sind schwarz-weiß, etwas dunkel und unscharf gehalten und wirken als wären sie Jahrzehnte älter als sie es tatsächlich sind.

                                  Nach dem avantgardistischen Kurzfilm "Haltepunkt", der eher eine pessimistische Grundhaltung hat, geht Loznitsa in "Porträt" etwas anders an das aufgegriffene Thema heran. Er zeigt uns in knapp 30 Minuten eine Vielzahl an unkommentierten Aufnahmen von älteren Bauern, die fast unbeweglich vor ihren oftmals heruntergekommenen Häusern, Hütten oder Ställen stehen oder sitzen. Diese Aufnahmen wirken wie Fotos. Dazwischen gibt es auch ein paar landschaftliche Sequenzen, die auf das ländliche Leben im Allgemeinen verweisen. Nach meiner Meinung erzählt der Film hier vom Ende einer Ära: Dem altmodischen, bäuerlichen Leben. Die Tatsache, dass ausschließlich ältere Menschen zu sehen sind, und man das Gefühl einer vergangenen Zeit bekommt, legen diese Vermutung nahe. Aber Loznitsa behandelt dieses Thema ohne Trauer oder Reue. Es ist einfach ein Fakt, dass in einer voranschreitenden Welt bestimmte Lebensweisen ihr Ende finden. Man könnte natürlich darüber diskutieren, ob dies nun gut oder schlecht ist, aber darum geht es in "Porträt" jedenfalls meiner Ansicht nach nicht. Loznita nimmt uns auf künstlerisch wunderbare Weise einfach mit zurück in eine andere Zeit. Mir hat dies sehr gefallen.

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                                  • 7 .5
                                    über Nerven

                                    Ich kann jedem Stummfilminteressierten den Film "Nerven" von Robert Reinert aus dem Jahre 1919 wirklich nur ans Herz legen. Der Film ist vielschichtig, komplex, politisch und emotional. Die Handlung um die Schwester eines Fabrikbesitzers, die eine unerreichbare Liebe verleumdet und alle Beteiligten in schwere Krisen stürzt, bietet auf emotionaler Ebene bereits viel Potential. Wenn man dies jedoch aus dem Blickwinkel einer Nachkriegsgesellschaft im drastischen Wandel betrachtet, wird der Film erst so richtig interessant. Der erste Weltkrieg war noch nicht lange vorbei, die Weimarer Republik war gerade erst im Entstehen begriffen und die Menschen mußten mit den Folgen dessen leben lernen. Die gehobenenen Gesellschaftschichten mußten sich mit dem Niedergang der gelebten Dekadenz abfinden (sowohl auf sexueller, politischer als auch sozialer Ebene) und sich in einer (vermeintlich) zivilisierteren Welt erst zurechtfinden. Die Kinder einer dekadenten Welt sahen sich Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen gegenüber. Robert Reinerts expressionistisch angehauchte, filmische Auseinandersetzung mit den seelischen Belastungen dieser Menschen ist geprägt von Pessimismus, Selbstqual und Orientierungslosigkeit. Lediglich in einem etwas überzeichneten, optimistischen Epilog zeigt Reinerts einen möglichen Ausweg in Form von naturverbundener Mitmenschlichkeit. "Nerven" hat mich schwer beeindruckt. Leider ist vom ursprünglichen Film etwa ein Drittel verloren gegangen, aber das was erhalten geblieben ist, sollte nicht in Vergessenheit geraten.

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                                    • 7 .5
                                      Stefan Ishii 10.01.2017, 20:09 Geändert 10.01.2017, 20:13

                                      "Polustanok - Haltepunkt" ist ein avantgardistischer Kurzfilm vom ukrainischen Filmemacher Sergey Loznitsa. In 25 düsteren Minuten sehen wir nicht viel mehr als schlafende Menschen. Sie befinden sich in einem Bahnhofswartesaal und wir hören sie atmen. Eine Verortung in Raum und Zeit ist nicht möglich. Fast scheint es, die Zeit wäre stehen geblieben. Wären da nicht die deutlichen Geräusche vorbeifahrender Züge. Sie pfeiffen laut und rattern mit scheinbar ungebremster Geschwindigkeit vorbei. Doch die Personen erwachen nicht. Warum sollten sie auch?

                                      Die nächtliche Szenerie wird in fast schon expressionistischen Schwarzweißbildern eingefangen, die den Film viel älter wirken lassen als er tatsächlich ist. "Polustanok" greift damit wohl ein Gefühl von Stillstand und Hoffnungslosigkeit filmisch auf. Einen Anhaltspunkt für eine konkret politisch motivierte Intention gibt es eher nicht zu finden. Es wird viel mehr ein Zustand beschrieben. Ein scheinbar unveränderlicher Zustand. Damit strahlt der Film etwas äußerst pessimistisches aus. Bedrückend!

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                                      • Witzige Idee, BlubberKing.
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                                          Stefan Ishii 04.01.2017, 19:27 Geändert 04.01.2017, 19:42

                                          Der Titel von "Dim dui dim - Dot 2 Dot" spielt auf das bekannte Kinderspiel an, bei dem Punkte in einer festgelegten Reihenfolge miteinander verbunden werden sollen, um ein bestimmten Bild zu erhalten. In Amos Whys Film wird dieses Kinderspiel aufgegriffen: An sämtlichen Hong Konger U-Bahn-Stationen werden solche Punktbilder entdeckt - allerdings ohne Zahlen als Hilfe für die Reihenfolge - und ohne erkennbare Information über Zweck und Verursacher. Was zunächst nach einem spannenden Rätselraten klingt, entwickelt sich dann leider zu nicht viel mehr als einem romantischen Drama mit Komödieneinschlag. Ein Thriller wollte der Film allerdings sowieso nie werden.

                                          Durchaus schön anzuschauen und mit sympathischen Charakteren versehen, entwickelt sich die Suche nach Antworten zu einer Suche nach Liebe. Und fast nebenbei begibt sich der Zuschauer zusammen mit den Figuren auf eine Suche nach der Essenz und Identität der Stadt Hong Kong. Die Geschichte und die eigene Wahrnehmung einer hochinteressanten, sich verändernden Stadt spielen in leider viel zu selten eingestreuten Momenten eine hintergründige Rolle. Ich finde es etwas enttäuschend, dass der Film dabei viel zu sehr auf Massentauglichkeit schielt, jedoch versöhnlicherweise ohne allzu albern oder überdreht zu werden. Komplexität, Vielschichtigkeit oder eine offene Gesellschaftskritik sollte man allerdings nicht erwarten. Muss aber natürlich auch nicht sein. Ich glaube jedoch, dass aus "Dim dui dim" ein wirklich schöner Film hätte werden können, wenn man sich getraut hätte, mehr auf das Interesse an Hong Kong und dessen Geschichte zu setzen.

                                          Ein gewisser Funke von sehnsüchtiger Rückschau auf eine andere Zeit ist allerdings ganz sicher zu spüren. Das sind aber nur leicht angedeutete Zwischentöne. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass die Einwohner Hong Kongs beim Schauen des Filmes ganz sicher noch viel sentimentaler darauf reagiert haben müssen, denn die Stadt hat sich seit 1997 ganz sicher nicht nur zum Positiven entwickelt.

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                                          • 8 .5

                                            Wir können Filme aus vielfältigen Gründen gut finden. Manchmal schafft es ein Film bereits dadurch, dass wir uns besonders stark mit der Hauptfigur identifizieren können. Und ganz selten kann es vorkommen, dass wir durch einen Film etwas über uns selbst lernen oder wir durch ihn Motivation für etwas gewinnen. "Das unbekannte Mädchen" ist solch ein Film für mich. Für einige Zuschauer mag der Aspekt, der mich so sehr bewegte und nachhaltig beschäftigen sollte, wenig spektakulär klingen. Wenn man die Handlung von "Das unbekannte Mädchen" nur mit einem Satz beschreiben soll, so wird der Film bestimmt oft auf seinen Krimiaspekt reduziert: Auf die Suche einer Frau nach der Identität eines toten Mädchens. Als nächstes kommt vielen ganz sicher auch der gesellschaftliche Rahmen der Handlung in den Sinn: Es wird von Immigranten und gesellschaftlich abgeschriebenen oder ausgegrenzten Menschen erzählt, in deren Welt die Kriminalgeschichte eingebettet wurde. Menschen, die nur wenig vom Leben zu erwarten haben. Doch erst der nächste Punkt hat mich so stark für den Film begeistern lassen. Die Hauptfigur und ihre Beweggründe. Eine junge Ärztin mit einer aussichtsreichen Zukunft in einer lukrativen Anstellung entscheidet sich für den wenig gewürdigten und vom Umgang mit armen, unglücklichen, schwierigen oder unangenehmen Menschen geprägten Weg einer eigenen Praxis in den Randbereichen des Gesundheitssystems. Sie übernahm diese Praxis von einem älteren Arzt, der ansonsten krankheitsbedingt hätte schließen müssen. Patienten, um die sich kaum jemand gekümmert hätte, ständen ohne problemlos zugängliche, ärztliche Versorgung da. Der Film berichtet fast beiläufig von Wertesystemen und Problemen innerhalb der Versorgung der Armen und Schwachen. Es geht um Ethik, Verantwortung und Aufopferungsbereitsschaft; selbst wenn es einem nicht gedankt wird. Eigenschaften, die in unserer erfolgsorientierten Gesellschaft wohl oft eher mitleidig belächelt werden. Doch gerade dieser Aspekt des Filmes hat es mir so sehr angetan; wohl vor allem dadurch, weil auch ich mich persönlich mit ähnlichen Gedanken zu meinem künftigen beruflichen Lebensweg beschäftige. Ich wechselte (mehr oder weniger freiwillig) in eine Tätigkeit, die zwar vergleichsweise gut bezahlt wird, aber sich durch Stress, Druck und den Umgang mit gesellschaftlich benachteiligten oder sogar (unfairerweise) sozial aufgegebenen Menschen auszeichnet. Und gerade jetzt kommt "Das unbekannte Mädchen" genau richtig. Ein Film, der mir vor Augen führt, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Warum man in die Menschen stets ein wenig Hoffnung stecken sollte. Warum ich das Richtige tue, auch wenn meine Hilfe noch so klein oder manchmal ungewürdigt oder sogar ohne direkten Nutzen für die Gesellschaft bleibt. Ich danke Jean-Pierre und Luc Dardenne für diesen aufmunternden, motivierenden Film.

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                                            • Ich weiche heute bewußt einwenig von meiner bisherigen Top 10 ab.

                                              1. Die Reise nach Tokio (1953)
                                              2. In The Mood for Love (2000)
                                              3. Der Pate (1972)
                                              4. Samaria (2004)
                                              5. Das Turiner Pferd (2011)
                                              6. 2001 (1968)
                                              7. Deer Hunter (1978)
                                              8. Citizen Kane (1942)
                                              9. Drei Farben: Rot (1994)
                                              10. Der Dialog (1974)

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                                              • Stefan Ishii 15.12.2016, 16:53 Geändert 15.12.2016, 16:55

                                                Die Lebensgeschichte der gesuchten Figur wurde mehrfach verfilmt. Er war ein einfacher Jäger und Waldläufer, der einen großen persönlichen Eindruck auf einen russischen Forschungsreisenden hinterliess.

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                                                • Stell dir vor, dass dein Vater kurz vor Weihnachten ins Krankenhaus muss und du notgedrungen die Leitung des Familienbetriebs übernehmen sollst, obwohl du das nie wolltest, aber deine Geschwister nicht geeignet dafür sind, dann bist du im richtigen Film, auch wenn deine Frauen und zukünftigen Kinder wegen dir unglücklich sind.

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                                                    Stefan Ishii 13.12.2016, 11:17 Geändert 13.12.2016, 11:25

                                                    "Melancholia" von Lav Diaz ist einer dieser Filme, die scheinbar im Verlauf Haken schlagen, die Richtung ändern, aber rückwirkend betrachtet sich dann doch als sinnvoll und in gewissen Sinne geradlinig herausstellen. Aber gerade solche Werke stellen den Zuschauer vor eine Hürde, die es zu überwinden gilt. Er muss dafür allerdings arbeiten und angesichts der Laufzeit ist dies auch sicherlich nicht einfach, gerade weil der Film sich verändert. Gerade wenn man sich beispielsweise nach etwa zwei Stunden an die Figuren und deren Beziehungen zueinander gewöhnt hat, wirft Lav Diaz alles über den Haufen und offenbart uns Zuschauern etwas völlig anderes. Das bisher Gesehene ist vorbei und ein neuer Status Quo muss erst wieder verstanden werden. Der ein oder andere mag zunächst etwas enttäuscht sein; auch mir erging es so. Im Mittelteil des Filmes zweifelte ich an dem Film, aber so geht es mir häufiger. Eine Ausrichtung bleibt lange Zeit eher diffus, obwohl sich die politische Dimension der Thematik bereits relativ schnell andeutet. Doch ist nicht gerade dieses anfängliche Tappen im Dunkeln etwas ungemein wertvolles? Auch wenn man zunächst nicht weiß, wohin der Film mit einem will, ist doch insbesondere diese Undurchschaubarkeit etwas, das den Film am Leben und die Spannung beim Zuschauer aufrecht erhält. Zudem sind Abwechslungsreichtum und eine mehrdeutige Ausrichtung niemals etwas schlechtes, oder? Und wenn man es dann irgendwann bis zum Ende des Filmes geschafft hat, hat sich diese Reise mal wieder mehr als gelohnt.

                                                    Etwas schwierig erschienen mir jedoch einige abstrakte, inhaltlich nicht direkt verknüpfte Szenen zu sein. Ein konkretes Verständnis dieser verbleibt dabei stets auf der künstlerischen Ebene, doch vielmehr vermitteln sie in jedem Falle ein Gefühl für das Innenleben von entsprechenden Figuren. Für Personen, die den Film bisher noch nicht gesehen haben, mag dies etwas schwammig erscheinen, aber ins Detail will ich an dieser Stelle eher nicht gehen. In diesem Kommentar möchte ich in erster Linie meine Gefühle und Gedanken sowie deren Veränderung im Verlauf des Schauens beschreiben.

                                                    Die zuvor erwähnte große Zurückhaltung meinerseits wich erst nach etwa zwei Dritteln des Filmes. Die Wende brachte eine etwa einstündige Passage im verregneten Dschungel, die sowohl den Figuren wie auch dem Zuschauer viel abverlangt, aber letzten Endes die Botschaft des Filmes herausarbeiten läßt. Abgeschlossen wird dieser Teil durch einen inneren Monolog, der meine Gedanken bestätigen sollte, und für mich den Kern von "Melancholia" ausmacht. Ich möchte ihn an dieser Stelle vollständig widergeben, doch wer den Film noch unvoreingenommen sehen möchte, sollte dieses Zitat vielleicht überspringen. Ich finde jedoch, dass dieser Monolog eine gewisse Sicht auf die Thematik des Filmes perfekt zusammenfasst, weshalb ich hier nicht darauf verzichten möchte.

                                                    „I now realized the lyrical madness of this struggle. It is all about sadness. It is about my sadness. It is about the sorrow of my people. I cannot romantizice the futility of it all. Even the majestic beauty of this island couldn’t provide the answer to this hell. There is no cure to this sorrow.”

                                                    Spannenderweise ist diese Sicht lediglich nur eine Seite der Medaille. Und gerade in der Tatsache, dass eine andere Figur im Anschluß genau dieser Sicht widerspricht, darin liegt der Reiz des Filmes. Der eine verliert sich im Angesicht einer großen nationalen Tragödie und eines dramatischen, persönlichen Traumas im Selbstmitleid. Eine erfolglose Suche nach Erlösung fordert seinen Tribut. Es vergeht kein Moment in diesem Werk, der nicht von einem Gefühl der Macht- oder Hilflosigkeit geprägt wäre. Wie leicht kann man da sich aufgaben. Das ist natürlich alles mehr als verständlich und der einzelnen Person überhaupt nicht vorwerfbar. Woher soll die Hoffnung auch kommen? Dem widersprechen und ihm etwas entgegenstellen sollte man jedoch wenn möglich ebenfalls, solange man die Kraft dazu hat. Doch welche Möglichkeiten hat man? Die Hauptfiguren in "Melancholia" versuchen scheinbar eine Form von Therapie. Ob diese Effekte zeigt, bleibt fraglich. Eine andere Möglichkeit, die uns Diaz anbietet, könnte in einer Rückbesinnung auf Traditionen liegen. Ganz so banal ist es sicherlich nicht, aber nach seiner Auffassung kam all der Dreck und all die Traurigkeit in der Welt erst durch die Moderne. Andererseits existiert die Kunst überhaupt nur aufgrund von Traurigkeit.

                                                    Ein detailliertes Vorwissen zu den geschichtlichen Fakten der Philippinen ist für ein Verständnis des Filmes meines Erachtens sicherlich nicht zwingend. Militärdiktaturen, Gräueltaten und linke Widerstandskämpfer gab es in der Geschichte der Welt leider genügend. "Melancholia" ist ein philippinischer Film, der durch die eigene nationale Geschichte geprägt ist, aber das Thema ist leider universell.

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