Stefan Ishii - Kommentare

Alle Kommentare von Stefan Ishii

  • 7 .5

    Mit "O Thiassos - Die Wanderschauspieler" schuf Theodoros Angelopoulos 1975 bereits bei seinem dritten Film eines dieser monumentalen Werke für die er bekannt ist. Monumental in vielerlei Hinsicht: Da wäre zum einen die Länge von 222 Minuten, aber was ich hier mit 'monumental' meine, bezieht sich eher auf die künstlerische Herangehensweise. Er verwendete seine für ihn später so typischen langen Aufnahmen, mal statische Sequenzen, dann wieder komplexe langsame Kamerafahrten. Angelopoulos schrieb hier erstmals das Drehbuch selber und er schuf etwas aus intellektueller Sicht Kolossales und Geniales.

    In diesem zweiten Film seiner "Trilogy of History" erzählt er von der griechischen Geschichte zwischen den Jahren 1939 und 1952. In diesen Jahren ist viel passiert: 1939 war das letzte Jahr der faschistischen Metaxas-Diktatur. Dann kam der Krieg gegen Italien und die Nazi-Okkupation. Nach der Befreiung von den Besatzern brach ein Bürgerkrieg zwischen linken und rechten Kräften ein. Und schließlich mischten sich westliche Mächte (Großbritannien und USA) ein.

    Doch Angelopoulos liefert mit "Die Wanderschauspieler" nicht einfach nur eine Geschichtsabhandlung ab. Er läßt die Geschichte und deren Einfluss am Beispiel einer Wanderschauspielertruppe veranschaulichen, die ein volkstümliches Theaterstück aufführen. Unter den handelnden Figuren lassen sich Charaktere entdecken, die persönlichen Krisen und Kämpfe durchleben, welche wiederum auf antiken Mythen basieren, wie beispielsweise Widerstandskämpfer, Verräter und Prostituierte. Sie tragen bekannte mythologische Namen wie Agamemnon, Clytemnestra, Orestes oder Elektra und helfen, die Rolle gewisser griechischer Strömungen zu veranschaulichen.

    Da ich "Die Wanderschauspieler" nun erstmals sah, war ich zugegenermaßen anfänglich mit diesem Mammutwerk etwas überfordert. Es hat mehr als zwei Stunden gedauert bis ich mich mit der komplexen Erzählweise, den mythologischen, symbolischen und politischen Kontexten und Verknüpfungen halbwegs zurecht gefunden habe. Trotzdem habe ich mich nie gelangweilt, denn von diesem Werk geht eine gewisse Faszination aus. Und ich bin mir sicher, dass ein mehrmaliges Schauen dieses Filmes meine Probleme beim ersten Schauen vergessen lassen kann und ich ihn dann noch mehr wertschätzen werde.

    16
    • 7
      Stefan Ishii 21.03.2016, 13:50 Geändert 21.03.2016, 13:54

      Auch in seinem zweiten Film, "Meres tou '36 - Die Tage von 36", greift Theo Angelopoulos tatsächliche Ereignisse auf, um (bis in die Gegenwart reichende) politische Missstände aufzuzeigen. Es ist wichtig zu wissen, dass Griechenland unter Diktaturen zu leiden hatte: Sowohl zum Zeitpunkt der Handlung (unter Ioannis Metaxas 1936 bis 1941) als auch zu dem der Entstehung des Filmes (Militärdiktatur 1967 bis 1974). Dieser Aspekt und der damit verknüpfte Umstand einer unterdrückten Kulturlandschaft macht das Schauen von "Die Tage von 36" selbstverständlich sehr interessant und erklärt, warum das Geschehen größtenteils außerhalb der sichtbaren Bilder abläuft. Dies macht ein umfassendes Verständnis natürlich auch etwas schwierig, aber in erster Linie zielt Angelopoulos Kritik auf ein System ab, das in einem Klima der Angst und Verunsicherung krampfhaft nach Wegen seines Machterhalts sucht. Inhaltlich ein politische Thriller, dessen Botschaft universeller wohl nicht sein könnte, doch überzeugt "Die Tage von 36" hauptsächlich durch seine unglaublich beeindruckende Kameraarbeit, wenn man die nötige Geduld mitbringt.

      12
      • 7

        Theodoros Angelopoulos' erster Film ist vielschichtiger als man zunächst vermuten könnte. "Anaparastasi - Rekonstruktion" basiert auf einer wahren Geschichte, die der Film aufgreift und mithilfe dieser ein erheblich größeres Thema anschneidet. Der Mord an einem aus Deutschland zurückkehrenden Ehemannes und Familienvaters dient letztes Endes dabei nur als Aufhänger für die Darstellung eines Problemes, dem sich die griechische Gesellschaft gegenüber sah und sieht: Die Menschen aus ländlichen Gegenden verlassen ihre Heimat, um in den Großstädten und im Ausland ihr Glück zu finden. Sie lernen beispielsweise in Deutschland an anderes, vermeintlich einfacheres und finanziell verlockendes Leben kennen. Der Film zeichnet ein trostloses und bedrückendes Bild eines sich im Untergang befindlichen Menschenschlages, das durch den natürlichen gesellschaftlichen Wandel bedroht wird und letztes Endes diesem chanceslos ausgeliefert ist.

        Ich muss zugeben, dass mir die fragmentierte und stellenweise uneindeutige zeitliche Anordnung der Szenen etwas Probleme bereitete, aber ich kann mir gut vorstellen, dass dies lediglich beim erstmaligen Sehen der Fall sein könnte. Insbesondere die letzte Szene hat einen bleibenden Eindruck auf mich hinterlassen. Als viel schwerwiegender erachte ich allerdings eine gewisse Zähigkeit, die sich bei diesem Film leider nicht leugnen läßt. Belohnt wird der Zuschauer jedoch durch die wunderschönen Schwarz-weiß-Bilder, die bereits 1970 andeuteten, zu was Angelopoulos später in der Lage sein sollte. Insgesamt erscheint mir "Rekonstruktion" als ein durchaus beeindruckender Erstlingsfilm, dem man als geneigter Angelopoulos- und Filmfreund durchaus eine Chance geben sollte.

        17
        • 7 .5
          Stefan Ishii 17.03.2016, 22:19 Geändert 17.03.2016, 22:30

          Eigentlich wollte ich "Die Ballade von Narayama" von Keisuke Kinoshita heute im Kino schauen... Ich hatte bereits vor eineinhalb Monaten das Remake von Shôhei Imamura aus dem Jahre 1983 gesehen und freute mich sehr, dass Kinoshitas Verfilmung des Romanes von Shichirô Fukazawa nun so kurze Zeit später in einem Berliner Kino gezeigt werden würde. Doch als ich heute im Kino Arsenal im Saal saß und der Film begann, sollte ich sehr enttäuscht werden. Denn statt wie im Programm angekündigt, wurde nicht das Original von 1958 sondern das Imamura-Remake gezeigt. Da wurde wohl ein Fehler gemacht. Immerhin bekam ich mein Geld zurück, doch etwas enttäuscht mußte ich wieder nach Hause fahren. Nun habe ich mir den Film stattdessen im Internet angeschaut, auch wenn ich dies gerade im Vergleich zu einer Kinovorführung weniger toll finde.

          Kinoshitas Version ist die inhaltlich leichter zugänglichere und verständlichere Verfilmung, obwohl der Film stilistisch an das Kabuki-Theater angelehnt ist. Alles ist äußerst künstlich: Die Bergkulissen, die Gebäude und die Natur. Dazu der typisch japanische Operngesang und eine kräftige Farbgestaltung. Interessanterweise hat mich dies garnicht so sehr gestört, wenngleich ich eine realistische Herangehensweise normalerweise bevorzuge. Insbesondere der Einsatz von Licht und Schatten sowie einige Übergänge sind absolut sehenswert und wirklich beeindruckend.

          Kinoshita konzentrierte sich deutlich mehr auf die zentrale Haupthandlung. Imamura hingegen legte später in seinem Remake den Fokus auf eine realistische Darstellung des harten, rauen und unbarmherzigen Lebens in einem abgelegenen und ärmlichen japanischen Bergdorf während des 19.Jahrhunderts. Was man nun mehr mag ist dann Geschmackssache. Mir persönlich hat das Remake einen kleinen Tick besser gefallen. Doch Kinoshitas Film hat auch einen ganz großen Vorteil: Die wundervolle Kinuyo Tanaka ist hier in der Rolle der siebzigjährigen Mutter Orin zu sehen.

          19
          • 8
            Stefan Ishii 23.02.2016, 14:30 Geändert 23.02.2016, 15:22

            "Théo et Hugo dans le même bateau" war für mich eine wirklich lohnenswerte Filmerfahrung. Der Film vom Regie-Duo Olivier Ducastel und Jacques Martineau, Stars der schwul-lesbischen Filmszene, präsentieren hier einen unglaublich wuchtigen Echtzeitfilm, der mir in dieser Hinsicht sogar besser gefallen hat als beispielsweise "Victoria". Der Film greift dabei absolut starke und interessante Themen auf und zeigt glaubwürdige Gefühle.

            Die ersten 20 Minuten könnten den ein oder anderen Zuschauer jedoch möglicherweise auf eine harte Probe stellen. Théo und Hugo, die Hauptfiguren dieses Filmes, lernen sich in einem schwulen Sexclub kennen und die Regisseure gehen in der sehr stilistisch ansprechenden aber auch äußerst expliziten Darstellung schwulen Geschlechtsverkehrs keineswegs zimperlich mit dem Zuschauer um. Natürlich ist dieser Beginn rückwirkend jedoch unglaublich wichtig für den Film. Die darauf folgenden 75 Minuten zeigen uns die zwei jungen Männer, wie sie durch das nächtliche Paris schweifen und versuchen sich näherzukommen obwohl sie dies in der gegebenen Situation nie erwartet oder für möglich gehalten hätten. Es gibt jedoch noch ein weiteres Problem, das durchaus schwerwiegender erscheint...

            Man kann dem Film eventuell vorwerfen, er packe seine Figuren in eine Philosophie, deren Auffassung von schwuler Liebe eher der der 80er Jahre entspricht (also der der Regisseure?) und damit etwas altmodisch erscheint: Die Liebe ist hier mitunter stark körperlich geprägt. Romantik sucht man hier vergebens. Auch ein gewisses unausgewogenes Machtpotential spielt da ebenfalls mit hinein. Auf der anderen Seite geht der Film mit einer wohltuenden Selbstverständlichkeit mit seinem Thema um und zeigt ebenso einfühlsame wie realitätsnahe Momente.

            16
            • 9 .5
              Stefan Ishii 23.02.2016, 08:20 Geändert 23.02.2016, 08:32

              Je älter man wird beziehungsweise je mehr Filme man gesehen hat, desto seltener werden möglicherweise Filme, die einen zu überraschen oder gar zu überwältigen wissen. "Crosscurrent" (Originaltitel: "Chang jiang tu") von Yang Chao ist jedoch solch ein Film für mich. Ich glaube, derart überwältigende Gefühle hatte ich schon sehr lange nicht mehr im Kino. Dass ich so etwas nochmal erleben durfte, macht mich unglaublich glücklich.

              Nach etwas Eingewöhnung war eine unfassbare Faszination da, die sich mehr und mehr steigerte und schließlich in Euphorie gipfelte. Die letzten 30 Minuten waren pures Kinoglück für mich. Ich ging (wie so oft) völlig unwissend um Handlung oder Stil in diesen Film. Ich wußte lediglich, dass die Kameraarbeit einen Tag zuvor mit einem Berlinale-Bären ausgezeichnet wurde. Doch ich würde "Crosscurrent" keinesfalls auf seine Bilder reduzieren wollen. Yang Chao präsentiert hier eine Reise oder vielmehr eine (Wieder-)Entdeckung, stellvertretend für eine Liebe, einer mitunter flüchtigen, vergessenen oder sich ständig verändernden Liebe, also einer Liebe, die sich im Fluss befindet. Der Film thematisiert dabei fast beiläufig Veränderungen; ähnlich den Filmen eines Jia Zhangke ("Still Life", "Der Bahnsteig"): Veränderungen innerhalb der Gesellschaft, der Kultur oder der Wahrnehmung dieser selbst. Dabei bedient sich der Chinese filmischer Mittel, die nicht wenig an Werke von Theodoros Angelopoulos ("Der Blick des Odysseus") oder meinetwegen sogar von Andrei Tarkowski erinnern. Dabei bleibt der Film stets melancholisch, symbolisch und poetisch. Das mag nicht jedem Zuschauer gefallen, ich war jedoch verzaubert von diesem Film.

              24
              • Dieses Jahr habe ich nur sehr wenige Wettbewerbsfilme gesehen. ("Crosscurrent" werde ich erst morgen schauen. Ich kann mich also zumindest auf tolle Bilder freuen.) Ob dieses Jahr wirklich eher schwach besetzt war, darüber kann man reden, aber trotzdem gehen die Auszeichnungen, soweit ich das einschätzen kann, in Ordnung. Besonders gefreut habe auch mich natürlich für Lav Diaz, auch wenn dies wohl leider nicht zu einer Kinoauswertung hierzulande führen wird. Aber am meisten gejubelt habe ich bei Trine Dyrholm, die schon lange mein Herz erobert hat. Letztes Jahr war sie ja Mitglied der Berlinale-Jury und ich hatte mal kurz die Gelegenheit mit ihr zu sprechen. Tolle Frau! Auch wenn ich "Die Kommune" eher nur mittelmäßig fand, so ist ihre Schauspielleistung absolut hervorzuheben.

                5
                • Sehr schöne Auswahl. Einige von deinen Filmen werde ich ebenfalls schauen. Für "Boris Without Béatrice" und "Die Kommune" habe ich sogar Tickets für die selben Vorstellungen.

                  3
                  • 7

                    Dieser 485 Minuten lange Film von Lav Diaz wird bei der Berlinale 2016 am 18.2. (9:30, Berlinale Palast, Premiere) beziehungsweise am 19.2. (10:00, Haus der Berliner Festspiele) jeweils mit 60 Minuten Pause aufgeführt. So unglaublich gerne ich mir diesen Film anschauen würde, es geht einfach nicht. Wäre es an einem Wochenendtag, ich würde mich ohne Frage dieser monumentalen Aufgabe stellen. Aber so läßt es meine Arbeit nicht zu. Das ist leider eine kleine Enttäuschung. Ich kann mir kaum vorstellen, dass dieser Film überhaupt jemals in reguläre Kinos kommt. Diaz' letzter Film "Norte, The End of History" wurde ja immerher ein paar Mal in deutschen Kinos gezeigt, aber der war mit 250 Minuten ja auch nur halb so lang.

                    Der Film "A Lullaby to the Sorrowful Mystery" beleuchtet übrigens auf mehreren Erzählebenen die historische Person Andrés Bonifacio y de Castro, einem philippinischen Widerstandskämpfer gegen die spanische Kolonialherrschaft.

                    14
                    • 8

                      Lange vor seinen berühmten Werken "Onibaba" oder "Die nackte Insel" und zu einem Zeitpunkt, an dem im japanischen Bewußtsein der Atombombenabwurfs über Hiroshima noch schmerzhaft stark in Erinnerung gewesen sein muß, drehte Kaneto Shindô mit "Die Kinder von Hiroshima" einen Film, der weniger durch seine visuelle Kraft oder küstlerische Gestaltung überzeugt, sondern aufgrund seines Themas von großer Bedeutung ist. Auch wenn der Film eine Handlung hat, so ist es doch sein semidokumentarischer Ansatz, der die schrecklichen Spätfolgen des Atombombenabwurfs so fürchterlich veranschaulicht. Shindô ging es hier nicht um allgemeine Begrifflichkeiten wie Krieg, Schuld oder Zorn. Der Film ist keine Anklage. Er zeigt einfach verschiedene tragische Schicksale. Und stellenweise lassen sich auch wunderbar komponierte Aufnahmen entdecken.

                      14
                      • 7 .5
                        über Medea

                        Wenn sich ein Pier Paolo Pasolini der Verfilmung eines mythologischen Stoffes annimmt, kommt dabei selbstverständlich kein Ray-Harryhausen-Film heraus, keine klassische Mythologieadaption. Auch wenn Medea auf Euripides Tragödie basiert, so schuf Pasolini etwas sehr eigenständiges. Gedreht in karger Landschaft, reduziert auf wenige Dialoge, verdichtet auf das Notwendige, teilweise vielmehr eben aus moderner Sicht reflektiert, ist der äußerst archaisch wirkende Film ist eine Auseinandersetzung mit Pasolinis typischen Themen: Religion, gesellschaftliche Konventionen und das Aufbegehren gegen diese. Er versuchte hier keinesfalls, eine historisch korrekte Darstellung einer Epoche zu erzielen; auch Teile der mythologischen Erzählung wurden gänzlich anders präsentiert. Jason und seine Argonauten beispielsweise wirken bei ihren Suche nach dem goldenen Flies eher lächerlich. Später arbeitet Pasolini hauptsächlich charakterliche Züge bei Medea und Jason heraus, wie sie einem modernen Weltbild entsprechen. Insgesamt finde ich den Film grandios, auch wenn ich mit einigen Passagen besonders in der ersten Hälfte ein paar kleinere Probleme habe, aber das Ende ist aus meiner persönlichen Sicht unfassbar stark. Außerdem mag ich die Shamisen-Musik sehr.

                        16
                        • 7 .5

                          Shôhei Imamura begann seine Filmkarriere als Dokumentarfilmer. Vielleicht wirken seine Filme, und beinhalten sie auch noch so grausame oder fast unmenschliche Geschehnisse, deshalb so nüchtern und distanziert. Mitunter kann man sogar eine Schönheit in ihnen entdecken, die so überhaupt nicht zum Gezeigten passen möchte. Der Japaner verfilmte mit "Narayama bushikô" den gleichnamigen ersten Roman von Shichirô Fukazawa (der englische Titel ist wohl "Men of Tohoku"), der bereits 1958 von Keisuke Kinoshita schon einmal für's Kino adaptiert wurde.

                          Imamura zeigt uns äußerst realistisch die harte, raue und unbarmherzige Seite des Lebens in einem abgelegenen und ärmlichen japanischen Bergdorf während des 19.Jahrhunderts. Dabei sind einige Handlungsdetails teilweise so fürchterlich und abstoßend, dass der Zuschauer sie kaum ertragen kann. Der Kampf ums Überleben, wenn einfach nicht genug Nahrung für alle da ist und der lange entbehrungsreiche Winter vor der Tür steht, führt zu unfassbaren Taten. Die Angst vorm Verhungern prägt die Handlungen und Gedanken aller Dorfbewohner. So gibt es beispielsweise die Sitte, dass sich ältere Menschen mehr oder auch weniger freiwillig auf den heiligen Narayamaberg zurückziehen, um der Familie nicht zur Last zu fallen. Dieser tatsächlich verbreitete Brauch nennt sich Ubasute.

                          "Narayama bushikô" ist in vielerlei Hinsicht geprägt von Härte. Er beinhaltet auch einige Szenen mit sexuellem Inhalt oder vom rauen Leben in der unbarmherzigen Natur. Aber erwähnenswert sind auf jeden Fall dazwischengestellte Bilder aus der heimischen Tierwelt, die keinerlei Zweck im direkten Handlungsverlauf besitzen; vielmehr sind sie ein Spiegel für die Geschnehnisse im Dorf. Dringt zum Beispiel ein Fuchs in den Hühnerkäfig ein, so thematisiert der Film daraufhin das Problem Diebstahl. Oder es werden kopulierende, jagende oder gebährende Tiere gezeigt. Imamura präsentiert uns damit den Menschen als Teil der Natur. Ob man deshalb ihr grausames Handeln hinnehmen muss, bleibt eine andere Frage. Ich sehe dies nicht als Rechtfertigung. Der Film offenbart nur Parallelen.

                          16
                          • 6 .5

                            Zu Themen wie dem in dem dänischen Drama "Eksperimentet" aufgegriffenen würde ich eigentlich viel lieber Dokumentarfilme sehen, auch wenn sie sich scheinbar gut als Stoff für Spielfilme anbieten. Die Aufarbeitung gewisser Schuldfragen hat als Spielfilm dann jedoch auch immer seine Probleme. So auch in diesem Fall. Der Film handelt von einem mehr als fragwürdigen "sozialen Experiment" aus den 1950er Jahren. Dänische Kolonialpolitiker schickten dabei junge grönländische Inuitkinder nach Dänemark, wo sie sehr schnell ihre Sprache und Kultur verloren und tollweise aufgrund der Trennung von ihren Familien unter psychologischen Traumata litten. Ziel sollte es sein, Inuits in die dänische Gesellschaft zu integrieren und sie später nach Grönland zurückzusiedeln. Dieser Ansatz erscheint heute doch mehr wie ein kultureller Völkermord. Dieses Thema will "Eksperimentet" jedenfalls adressieren und schafft dies auch mit Abstrichen.

                            Friedberg entschied sich, dies alles aus Sicht einer dänischen Krankenschwester zu erzählen, die ein Kinderheim für Zurückkehrende in Grönland leitete, womit die Regisseurin aus meiner Sicht leider überhaupt nicht überzeugend genug an die ganze Problematik heran geht. Der Zuschauer darf zwar den armen, leidenden Kindern beiwohnen, doch gleichzeitig ist die Hauptperson des Filmes eine teilweise gutmeinenden doch stets ausführende Person dieses "Experimentes". Ich finde dieses Thema als viel zu wichtig, als dass eine Reduktion auf den inneren Kampf einer Person, die in letzter Konsequenz auch eine gewisse Mitschuld trägt, mir persönlich sinnvoll erscheint. Natürlich ist der Film größtenteils sehr emotional und übermittelt damit seine Botschaft, doch schwingt bei solchen Filmen auch immer ein schlechtes Gewissen mit; dies läßt sich nunmal nicht heraushalten. Deshalb erscheint mir als Aufarbeitung ein emotional zurückgenommener und mehrere Aspekte neutral beleuchtender Dokumentarfilm machmal sinnvoller.

                            Allerdings hat der Film neben seiner Emotionalität auch seine Stärken. Er hat gute Darsteller zu bieten; allen voran die Kinder. Doch auch Ellen Hillingsø als Hauptfigur ist absolut überzeugend. In einer durchaus wichtigen Nebenrolle ist übrigens Morten Grunwald zu sehen, einer der Darsteller der berühmten Olsenbande.

                            12
                            • 5

                              Ich würde "Oyuki, die Jungfrau" nicht als komplett uninteressant bezeichnen. Kenji Mizoguchis zweiter Tonfilm schneidet zwischendurch einige Themen an, die durchaus typisch für den Regisseur oder das japanische Kino der damaligen Zeit waren: Das schwere Leben von Prostituierten oder die Aufopferung der Frau im allgemeinen. Doch darüberhinaus hat der Film leider nicht viel zu bieten. Die Kameraarbeit hat mich eher weniger beeindruckt und das Schauspiel blieb mir auch nicht sonderlich erwähnenswert in Erinnerung. Doch das Hauptproblem von "Oyuki, die Jungfrau" sehe ich im merkwürdig unrunden Handlungsverlauf, der vor dem Hintergrund eines Bürgerkrieges versetzt mit christlichen Bildern die bereits erwähnten Themen aufgreift, nachdem eine dramatische Lage eine Gruppe von verschiedenen Personen aus unterschiedlichen Klassen oder Schichten zusammenbringt. Was zunächst ja noch Hoffnung auf eine interessante Geschichte birgt, wird gegen Ende leider zugunsten einer eher dürftigen Liebesgeschichte aufgegeben.

                              12
                              • Stefan Ishii 14.01.2016, 13:00 Geändert 14.01.2016, 13:00

                                Zu den meisten der hier ausgezeichneten Personen oder Produktionen kann ich mich nicht äußern, da ich einfach zu wenig davon kenne. Aber die Preise für "Bester Sportjournalismus" und "Beste persönliche Leistung Information" sind aus meiner Sicht an die Richtigen gegangen. Was Michel Abdollahi in seiner Reportage "Im Nazidorf" leistet, ist wirklich ganz stark.

                                4
                                • 6
                                  Stefan Ishii 13.01.2016, 13:45 Geändert 13.01.2016, 13:51

                                  Über die allgemein positiven Kommentare zu "The Revenant" muss ich mich schon etwas wundern. Ich habe mit der Regie des bei mir ansonsten sehr hoch angesehenen Alejandro González Iñárritu nach "Birdman" bereits zum zweiten Mal so meine Probleme. Aber auf der anderen Seite kann ich die überschwänglichen Reaktionen jedoch auch etwas nachvollziehen. Endlich gibt es im amerikanischen Kino mal wieder einen Film, der das Gefühl von etwas Großem und Originellem vermittelt. Und dabei ist der Film unglaublich mitreißend und unfassbar körperlich spürbar. Ich glaube jedoch, dass sich dies in Zukunft noch bei einigen Zuschauern etwas relativieren wird, wenn der Film ein zweites Mal gesehen wurde.

                                  Doch warum kommt "The Revenant" bei mir weniger gut an? Das liegt an zwei wichtigen Punkten. Erstens ist die Handlung schlußendlich leider nicht mehr als eine altbekannte Rachegeschichte. Ein Mann tut alles, um seine Rache ausführen zu können. Dass das Ganze in einem Gewand eines Überlebenskampfes verpackt wird macht es nicht besser, denn eigentlich ist das (zugegeben von mir erhoffte) Thema eines Kampfes Mann gegen Natur größtenteils in den Hintergrund gerückt. Die Nebenhandlungen rund um Indianer, Franzosen und Amerikanern mit Eigeninteressen überdecken dieses Thema. Da passiert ständig irgendwas. Man kann sich leider kaum auf die Hauptfigur und dessen Leidenskampf konzentrieren. Und aus diesem Punkt resultierend erscheint mir persönlich, und das ist mein zweiter großer Kritikpunkt, der Film eben nicht von der unnachgiebigen Natur zu erzählen. Vielmehr sind es die Menschen, die aufgrund ihres Egoismus und ihrer Neigung zu kaltblütiger und unbarmherziger Gewalt die Monster und Dämonen unserer Welt und damit der größte Feind des Menschen sind. Dabei kreiert das Drehbuch im Grunde fast ausschließlich nur negativ besetzte Charaktere. Die wenigen Ausnahmen, werden dann auch nur benutzt, um das menschliche Böse stärker herauszuarbeiten. Mir persönlich ist das als Botschaft am Ende des Tages nicht interessant genug und die Körperlichkeit und die (für meinen Geschmack überzeichnete) Gewalt können über die Schwächen des Filmes wirklich nicht hinwegtäuschen. Und überhaupt erscheinen mir viele der Nebenhandlungen oder auch einzelne Sequenzen lediglich gewisse Funktionen zu erfüllen. Was ich ärgerlich finde, weil es so unnötig ist. Alles im Film muss immer zwingend eine handlungsrelevante Funktion haben.

                                  Das fängt bei mir bereits bei der ersten großen Szene an, die unbeschreibliche Enttäuschung in mir auslöste, weil mir sofort klar wurde, dass ich im falschen Film bin. Eine (zugegeben fesselnde und aufregende) Plansequenz von einem Gefecht zwischen Trappern und Indianern mag viele Zuschauer zwar begeistern, mich jedoch leider überhaupt nicht. Die tongebende Gewalt und die bereits beschriebene Unbarmherzigkeit mögen zwar realistisch sein, aber mich stößt die Überstilisierung dieses Kampfes schon fast ab. Und zu allem Überfluß ist diese Plansequenz dann auch noch geschummelt. Im Grunde wiederholt Iñárritu meinen Hauptkritikpunkt aus "Birdman" erneut. Der Sinn einer ungeschnittenen langen Plansequenz liegt nunmal in der Natürlichkeit und Darstellung einer Echtzeit. Doch wenn der Regisseur mit Hilfe von Computeranimationen oder offensichtlichen Kameratricks tatsächliche Schnitte überdeckt, geht da für mich die Faszination verloren.

                                  Und wenn man erstmal ein Haar in der Suppe gefunden hat, kann das für den Rest des Filmes kaum hilfreich sein. So störten mich im Verlauf auch viele Kleinigkeiten, die für sich genommen kaum nennenswert wären, aber in der Summe dann doch ärgerlich sind. Am schlimmsten empfand ich in dieser Hinsicht die Vergewaltigungsszene mit der Indianerstochter. Undd selbst die unfassbar schockierende Szene mit der Bärenmutter, die um ihre Jungen zu schützen, die Hauptfigur attackiert, lößt in mir etwas ambivalente Gefühle aus. The Revenant ist auf Gewalt und Körperlichkeit setzendes Erlebniskino. Auch wenn ich den Film zu keinem Punkt langweilig oder gar unnötig lang finde, ist "The Revenant" leider nicht mehr, und damit die erste große Enttäuschung des noch jungen Jahres.

                                  21
                                  • 8
                                    Stefan Ishii 11.01.2016, 13:11 Geändert 11.01.2016, 13:29

                                    Nina Simone lernte ich etwa im Jahre 1995 - wie so oft - durch einen Film kennen: "Codename: Nina", dem amerikanischen Remake von Luc Bessons "Nikita". Darin verehrt die Hauptfigur, gespielt von Bridget Fonda, die Musik von Nina Simone so sehr, dass sie sich nach ihr benennt. Sie hört des öfteren im Film einige ihrer Lieder. Diese berührten mich sofort. Die einzigartige Stimme und die mitschwingende Melancholie faszinierten mich, obwohl ich eigentlich ganz andere Musik bevorzuge. Ich musste mir kurze Zeit später die Soundtrack-CD zu dem Film kaufen. Doch da darauf nur vier Lieder von Nina Simone waren, besorgte ich mir noch weitere CDs von dieser Frau. Ich höre ihre Musik auch heute noch unglaublich gerne. Ich kann mich auch sehr stark an den Moment erinnern, an dem ich erfuhr, dass Simone gestorben war. Ich war 2003 auf einem Placebo-Konzert und Sänger Brian Molko erklärte, zu Ehren ihres kürzlichen Todes eines ihrer Lieder zu spielen. Ich empfand gleichzeitig Trauer, aber auch merkwürdige Freude oder gar Stolz über diese Ehrung. Dieses Gefühl werde ich nie vergessen.

                                    Erst viel später lernte ich mehr über ihr Leben und ihre Verbindungen zur Familie und den Überzeugungen eines Malcolm X. Sie war eines der Aushängeschilder dessen radikaler Bewegung und zog sogar zeitweise nach Afrika, was ihre Karriere stoppte. Aber noch stärker führten ein familiärer und ganz sicher auch selbstauferlegte Druck später zu Nervenzusammenbrüchen und manisch-depressiven Phasen. All dies hätte sie fast aufgefressen. Der Film "What Happened, Miss Simone?" von Liz Garbus erzählt die durchaus tragische Lebensgeschichte, wenn auch eher konventionell, dieser wunderbaren Musikerin. Er zeigt uns, dass sie eine ebenso geniale Pianospielerin mit unverwechselbarer Stimme war wie auch eine schwierige Person. Sie war vor allem eine leidgeprüfte, zornige Frau, was in ihren politischen Songs besonders spürbar wurde. Doch ihre Stimme und ihre wundervollen Lieder werden immer das sein, woran man sich erinnern wird, wenn man den Namen Nina Simone hört.

                                    14
                                    • 7

                                      "El Bruto, der Starke" ist eher untypisch für Luis Buñuels Mexiko-Phase. Der Film ist aber auch nur wenig surrealistisch und verhältnismäßig leicht verständlich. Vielmehr ist der Film sozialkritisch, dabei jedoch überraschend drastisch und düster. Die unsympathische, simple, titelgebende Figur begeht aus fehlgeleiteten Gründen einen Mord, verhält sich schlecht gegenüber Frauen, muss jedoch aufgrund einer (eigentlich unmöglich erscheinenden) Liebe erkennen, wie falsch seine Taten waren. Irgendwie faszinierend, obwohl die konstruierte Situation etwas überzeichnet erscheint. Gute Darsteller und die wunderbare Kameraarbeit lassen diese Überzeichnung jedoch fast realistisch erscheinen.

                                      11
                                      • 6
                                        über Kinatay

                                        Ich halte Brillante Mendoza für einen wichtigen, ambitionierten Filmemacher mit starken Themen. Nur mit seiner Herangehensweise tue mich mitunter etwas schwer. Zumeist fallen seine Filme kontrovers und ambivalent aus, was zunächst auch nichts Schlechtes ist und ich ihm keinesfalls vorwerfen möchte. Bei "Captive" hatte ich damit auch weniger Probleme. Insbesondere aber "Kinatay" macht es mir wirklich nicht leicht. Natürlich glaube ich, die Aussage des Filmes zu verstehen, und vom Kopf her würde ich ihn wirklich gerne besser bewerten. Auch mußte ich über meine Bewertung erst einmal eine Nacht schlafen.

                                        Das, was der Film zu erzählen hat, ist ohne Zweifel relevant. Der Zuschauer kann sich während des Sehens oder auch anschließend selbst einige wichtige Fragen stellen. Trotzdem gefällt mir hier die Darstellungsform nicht, auch wenn sie noch so richtig für das Thema erscheinen mag. Ich meine damit nicht die langen Kameraeinstellungen, auch nicht der semi-dokumentarische Stil (obwohl ich dies tatsächlich hier weniger mag), ja nicht einmal die unerträglich abstoßenden Folter- und Mordszenen. Nein, ich habe ein Problem damit, dass die Welt als ein widerwärtiger Ort verstanden wird, der aufgrund einer wenn auch realistischen aber letztendlich doch extrem pessimistischen Weltsicht, wenig bis keinen Raum für Hoffnung läßt. Damit gibt man sich letzten Endes einer unvermeidlichen Opferrolle hin. Ich möchte natürlich keine Beschönigung oder Aufweichung der Problematik, aber mit dem extremen Gegenteil tut man sich meines Erachtens auch keinen Gefallen.

                                        13
                                        • 6

                                          Ich war leider von "Kiriku und die Wilden Tiere" etwas enttäuscht. Nach dem großartigen "Kiriku und die Zauberin" hatte ich an den zweiten Film um den kleinen Kiriku hohe Erwartungen, die nicht erfüllt wurden. Der Zeichentrickfilm setzt sich aus mehreren kleinen Kurzgeschichten zusammen, die für sich ja ganz nett sind. Aber als Ganzes fehlt dem Film doch etwas. Er erscheint mir allzu sehr als ideenarme Fortsetzung ohne tiefere Notwendigkeit. Außerdem gibt es keinen wirklichen roten Faden und es fehlt ein Abschluß. Der Film ist einfach irgendwann zu Ende. Ein ähnliches Problem hatte ich auch mit Michel Ocelots späterem Film "Les Contes de la Nuit". Trotzdem hat "Kiriku und die Wilden Tiere" auch seine Stärken: Er ist sehr sympathisch und kindgerecht. Es gibt inzwischen noch einen dritten Film um Kiriku: "Kirikou et les hommes et les femmes". Hoffentlich wiederholte sich Ocelot nicht erneut.

                                          5
                                          • Und hier auch meine kommentierte Liste, die überraschend deutschlastig ausgefallen ist:
                                            http://www.moviepilot.de/liste/das-filmjahr-2015-meine-personliche-top-10-stefan-ishii

                                            Eisenstein in Guanajuato
                                            The Look of Silence
                                            Die getäuschte Frau
                                            Knight of Cups
                                            Diary of a Chambermaid
                                            Polizeiruf 110: Kreise
                                            Victoria
                                            Als wir träumten
                                            Königin der Wüste
                                            Unsere kleine Schwester

                                            9
                                            • Sehr schön. Insgesamt hebt sich dein Artikel wohltuend von den meisten anderen ab. Mal nicht all die gleichen Antworten. Die Antworten zu den Fragen 2, 5 und 6 finde ich besonders schön, obwohl mir bei 5 (und auch Frage 7) etwas mehr Begründung gut gefallen hätte.

                                              3
                                              • Wow, deine Antwort auf Frage 5 finde ich toll. Ein toller Film von zwei hervorragenden Regisseuren. Aber die zwei Brüder haben sogar noch bessere gemacht. Also ran da!

                                                3
                                                • 7
                                                  Stefan Ishii 20.12.2015, 15:34 Geändert 20.12.2015, 15:38

                                                  Tja, wie das manchmal so ist mit der Erwartungshaltung: Man liebt die Filme eines bestimmten Regisseurs und freut sich ungemein auf das neueste Werk in dessen wundervoller Filmographie, man geht hoffnungsvoll ins Kino und ist... etwas enttäuscht. Dabei ist "Umimachi Diary - Unsere kleine Schwester" aber wahrlich kein schlechter Film. Im Gegenteil: Hirokazu Koreedas aktueller Film ist - um es mal mit einem Wort zu umreißen - einfach nur schön.

                                                  Schön im eigentlichen Wortsinne! Herzerwärmend, sympathisch, einfühlsam. Schön eben... Auch wenn es im Kern des Filmes tatsächlich um ein eher bedrückendes Thema geht: Die Sehnsucht nach etwas verloren Gegangenem - der Familie. Im Grunde kommen alle Figuren in "Umimachi Diary" aus nach traditionellen Werten betrachtet zerstörten Familien. Eine glückliche, langanhaltende Ehe sucht man bei ihnen vergebens. Es wurden von Eltern und auch Schwestern allerseits Fehler gemacht. Aber natürlich wünschen sich alle dieses Stabilität und Geborgenheit versprechende Gebilde namens Familie. Natürlich greift Koreeda damit mal wieder das Hauptthema seines (und meines) Lieblingsregisseurs Yasujiro Ozu auf und liefert uns einen modernen Beitrag dazu [manchmal lassen sich sogar Ozu-typische Kameraeinstellungen entdecken]. Dabei wird er wundervoll von seinen Schauspielerinnen unterstützt.

                                                  Jeder hat ja so seine Lieblingscharaktere in Filmen und "Umimachi Diary" bietet uns gleich vier wunderbar interessante Hauptcharaktere (und eine große Fülle an ebenso tollen Nebenfiguren), sodass jeder Zuschauer eigentlich mindestens eine Identifikationsfigur finden können sollte. In meinem Fall ist es die älteste Schwester Sachi, gespielt von Haruka Ayase. Ihr Verantwortungsgefühl, die Freundlichkeit, aber auch Nachdenklichkeit erinnern mich doch stark an Setsuko Haras Noriko aus Ozus "Die Reise nach Tokio".

                                                  Das Haus, in dem die Schwestern wohnen, stellt eine Rückbesinnung auf alte Werte dar. Es ist eines dieser altmodischen, aber wunderschönen, kleinen Holzhäusern mit Reispapierfestern wie man sie aus älteren Filmen kennt. Ein Ort der heilen Familie. Und auch einige Szenen gegen Ende, in denen die jungen Frauen traditionelle Kimonos tragen, greifen diese Rückbesinnungsthematik auf.

                                                  Ein weiterer Aspekt, der "Umimachi Diary" ausmacht, ist die Region in der der Film spielt. Er ist auch eine Liebeserklärung an Kamakura. Allerdings klammert Koreeda dabei bewußt die touristisch bekanntesten Teile einfach aus: Keine Schreine oder Tempel, keine riesige (und von innen begehbare) Buddha-Statue oder dergleichen, die Kamakura berühmt machen. Im Film präsentiert uns der Regisseur die Stadt aus Sicht der Bewohner: Eine schöne, ruhige Hafenstadt. Ich war schon selbst dort und hatte nicht weit von der Stelle, an der das Ende des Filmes stattfindet, meine Füße im Wasser des Pazifiks. Die Atmosphäre, die "Umimachi Diary" verströmt, spiegelt meine eigenen Erfahrungen absolut wieder.

                                                  17
                                                  • 3