Dergestalt - Kommentare

Alle Kommentare von Dergestalt

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    "Was macht denn die Potzkothen hier?"
    Man muss ja jetzt nicht immer nur von aktuellen Filmen reden, es darf auch mal um die gammlige Videokasette gehen, die ich bei meinem nunmehr verstorbenen Opa zwischen alten Zigarettenschachteln und einem feuchtschimmligen Kuschelteddy gefunden habe.
    Da drauf ein ganz junger Helge, der vom Elektriker zum Schlagersänger wird. Drum herum ein gruselig gammliger Kleinbürgerkosmos, engmaschig wie der Pullunder meines Ur-Alten und eingerichtet wie das Wohnzimmer meiner Oma, die schon viel länger tot sein dürfte als besagter Opa. Helge kämpft sich trotzdem durch, mit seinen Kleinbürgerträumen. Aber irgendwas stimmt mit der Kasette auch nicht. Da kommt Andreas Kunze immer wieder, als Johnnys Mutter, als Verkäufer, als Marketingchef, dann wird die gutaussehende Konkurrenz ständig halbnackt gezeigt, es gibt Doppelbelichtungen und Helge schwingt plötzlich dudelnd als Loreley durchs Bild. Und obwohl der Film laut Aufkleber von Opa persönlich nur ein "Spielfilm" sein soll, fühlt er sich wie etwas Schlimmeres an, auf jeden Fall lange, ziellos und zersetzt. Ein Fiebertraum aus Opas Mottenkiste und ich darf feststellen, dass sogar Schlingensief daran beteiligt war, der alte Kadaversauger und Regisseur Werner Nekes ist überhaupt Experimentalfilmer, also gar kein lustiger Komödienschreiber. In der Gammelschublade meines Opas entsteht also die Karriere eines nun allbekannten Komikers, der sich den Bürgerkosmos nimmt, nette Komödie spielt und doch alle gehörig in den muffligen Popo zwickt. Oder: Wer hat nochmal psychoaktive Pilze zum Sonntagsbraten getan?

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    • Dergestalt 15.03.2018, 17:43 Geändert 15.03.2018, 17:43

      Niedlich.
      Wirklich schockierend ist aber der Einblick ins Angebot des amerikanischen Netflix: "Raw", "Teeth", "The Void". Dagegen hängt das lapprige Blockbuster-Remake-Programm des deutschen Portals echt hinterher.

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        Dergestalt 12.03.2018, 01:06 Geändert 12.03.2018, 01:13
        über Hungrig

        Noch so ein hechelnder Fleischklumpen Mensch, noch mehr Zombies. Wenn ich die ganze verrottete Zombiematerie schätze, die ich schon in meinem Leben sehen durfte, komme ich auf eine stattliche Zahl. Und dann noch ein Zombiestreifen, immerhin mal aus Kanada und nicht den USA. Also anderes Land, neuer Blickwinkel? Teils, auf jeden Fall neue Inspiration. Zunächst reduziert "Les Affamés" ganz reizvoll, erspart mir jegliche Kontextualisierung des Grauens und müßige Backgroundstorys der Charaktere. In einer Welt, die vor allem das unmittelbare Überleben kennt, treten Geschichten in den Hintergrund. Dafür tritt die Atmosphäre hervor. Nebel über den Wäldern, sonnenbeschienene Felder, die lebendige Natur angesichts eines gesellschaftlichen Totalaus. Wobei: Was die vermeintliche Nicht-Zivilisation der Zombies letztlich schafft, zu welchen neuen Formen und Verhaltensweisen sie kommt ist auf irritierende Weise interessant. Hier wird "Les Affamés" sogar richtig produktiv. Ansonsten bleibt nicht viel. Gesprochen wird wenig, hauptsächlich eben überlebt. In seiner harschen Kontrastierung von absoluter Ödnis und Verlassenheit und plötzlichen Zombieattacken zeigt sich "Les Affamés" als atmosphärisches Endzeitportrait und zugleich effektiver Schocker. Nur manchmal verliert sich der Film in seiner konsequenten Nichthandlung etwas, hängt sich plötzlich an Figuren und ihren Schicksalen auf, bleibt dabei aber blass. Und manch Zombieangriff wirkt aus der Nähe und mit lautem Gejohle doch wieder albern, mühselig gen Terror gesplattert, in seinen flachen Farben eher amateurhaft. Und ganz getreu dem Horrorkino ist dummes Figurenverhalten auch hier vorhanden. Aufgerieben, irritiert und schockiert war ich trotzdem und bin dankbar, wenn mich Zombiematerie noch an so einen Punkt bringen kann.

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          Dergestalt 10.03.2018, 03:20 Geändert 27.03.2018, 00:44

          Wenn ich Japan einfach mal klischeehaft weird haben will, bieten sich mir viele Möglichkeiten. Da gibt es etwa Takashi Miike mit seinen sprunghaft-düsteren Grotesken, Shin'ya Tsukamoto mit seinen videoclipartig verzerrten Körperlichkeiten oder Shûji Terayama mit seinen bunt-verschrobenen Kunstwelten. Ein Film wie "Funky Forest" bietet sogar alles in einem und noch dazu in löchriger Episodenform. In meinem Kopf sitzt ein Brummen, so etwas wie Realität löst sich von den Augen, Körperlichkeit und Impulse treten vor Logik. Wäre doch mal erleichternd, wenn sich all das auch in ein rundes, philosophisch-humanistisches Portrait verwandeln ließe. Und hier kommt "Survive Style" ins Spiel, holt mich langsam wieder in meinen Kopf zurück und wärmt gleichzeitig Herz und Brust. Die skurrilen Episoden des Films zwischen Voodoo-Ehefights, Dolmetscher-Killeragentur und Familienproblemen pendeln sich schnell ein, bauen flott Bezüge zueinander auf und es dauert nicht lange, da treten einem schon die ersten echten Gefühle, griffigen Metaphoriken vor die Augen. "Survive Style" handelt nicht von einem Ausflug in verzerrte Welten mit eigener Codierung, sondern vom charmant skurrilen Wahnsinn der menschlichen Existenz. Mit klarer Sympathie für Außenseiter türmt der Film seine weihnachtliche Botschaft von Zusammenhalt und Rückhalt und wird am Ende erstaunlich rund. Bis dahin schwebt er irgendwie zwischen eigensinnigen Dialogen, einer farbschrill-detailverliebten Inszenierung und behäbig zurechtgeschliffenen Szenarien. Das alles wirkt stark auf den abwechslungsgeilen Indie-Filmfan und einige erwünschte Emotionen zugeschnitten und bleibt damit weit weniger abgefuckt, als manch einer vielleicht gerne glauben mag. Gut, dass es für mich nach dem Film auch schon ins Bettchen geht, blumig-warm und morgen dann wieder "Tetsuo".

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            Dergestalt 09.03.2018, 01:10 Geändert 09.03.2018, 22:37

            Freie Liebe und Hardcore - warum gerade nicht? Jim Mitchell und Artie Mitchel schufen mit ihrem Porno-Varieté "Behind the Green Door" einen echten Post-Hippie-Pornoklassiker, also einen guten Grund, seinen Spätabend vor der Glotze zu verbringen. Zur Masturbation oder gar Inspiration bieten sich auch gleich viele Szenen - eigentlich ist der Film eine gut einstündige Sexszene in Gruppenfickformat, mühselig durch einen Erzählrahmen in Fassung gehalten. Dazwischen ragen nicht nur Schwänze, sondern vor allem die engelhaft stöhnende, saugende, schlicht genießende Marilyn Chambers. Ihre Whole-Body-Bühnenperformance vor der mysteriösen grünen Tür lässt einen ganzen, nicht minder mysteriösen Sexclub von seinen Besuchersesseln springen und eine angemessen grenzüberschreitende Orgie veranstalten, dazu Exotismen, schwingende Seilkonstruktionen und sogar eine epochal-düster vertonte Slo-Mo-Farbvision ejakulierender Penisse. Laienhaft-funktionale Pornoanlage goes Kunstfilmmontage - nett fürs Auge und für alles andere sorgt der Rest. Wer es 70 Minuten durchhält, hat also spannende Unterhaltung, ansonsten bleibts eben ein überlanger Porno mit Schmankerl. Für den Creative Outburst empfehle ich "Alice in Wonderland: An X-Rated Musical Fantasy" mit der nicht minder engelsgleichen Kristine DeBell und skurriler Comedy. Hinter der grünen Tür wurde mirs hingegen bald öde.

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              Dergestalt 06.03.2018, 23:11 Geändert 10.05.2018, 12:32

              Die heilende Kraft der Hippies. Ich sitze verschlafen vor dem Bildschirm, lasse mich durch einen konfus geschnittenen Gangsterplot ballern, ballern und lande ganz zu Mick Jaggers Füßen. Dort wird es farbig, bunt und lebensfroh. Zusammen mit zwei hübschen Damen residiert der groovy King-of-Self-Awareness in seinem Psychedelic Limbo, ganz zwischen Rockstarvergangenheit und diffuser Schamanenpose. Der Gangster aus der ersten Plothälfte kommt hier etwas an (wenn auch im David-Bowie-Look), der Plot beruhigt sich, holt sich mit ein paar netten Rocknummern, inklusive Performance (!) von Jagger selbst auch viel Endsechziger-Zeitkolorit. Höhepunkt wird besagte Jagger-Performance, die ganz der filmischen Machart treu nochmal Raum und Zeit durcheinanderwirft, die Identitäten sowieso. In der Rockpose wird alles nochmal erlebbar und modizifiert. Präzise geschnitten, inszeniert und trotzdem nervös - "Performance" macht Undenkbares für einen kurzen Abend möglich. Und ich da sitze weggenebelt vor dem Bildschirm, bin vor dröhnenden Sitarscapes und einem Film, der plötzlich zu Ende ist. "Performance" probt bestes Rollenspiel, Möglichkeitstheater und ist damit ganz Experimentalfilm vor bekannten Gangster- und Hippieschablonen. Auch dieser Weg musste mal gegangen werden.

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              • Lass mal hypen. Flacker- und Farbenkönig Noé plant einen neuen Film. Klingt auch beinahe lächerlich genau nach ihm:

                "'Psyché' will center on a group of partygoers who get mysteriously drugged and 'plunge into hell.' The question as to why they were drugged and who drugged them will be a driving force to the story, which will find the group succumbing to neurosis."

                http://www.indiewire.com/2018/02/gaspar-noe-psyche-fifth-film-details-1201932162/

                Jetzt nur noch Benoît Debie dazupacken und es wird definitiv spaßig. Freue mich!

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                • Ich mag diese Random-Fingerzeig-Kommentare ja nicht so, aber dieser vollkommen überdrehte Artikelname muss gepusht werden. Awkward, wie der Amerikaner so schön sagt.

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                    Dergestalt 23.02.2018, 00:25 Geändert 27.11.2019, 16:41

                    Wer "eXistenZ" ohne Zögern mit einer Prä-Milleniums-Dystopie wie "Matrix" vergleicht, vergisst, wen er mit David Cronenberg vor sich hat. Dem Altmeister des freudianischen Bodyhorrors reicht es nicht, ein pointenreiches Spiel mit den Wirklichkeitsebenen zu spielen, ihm geht es auch um die Implikationen eines solchen Spiels. Und die sind keineswegs simpel auf die Geist beschränkt. Entsprechend sind die Eintrittsbereiche zum hiesigen Computerspiel eXistenZ Körperöffnungen direkt im nervenreichen Rückenmark, einer Zone zwischen Hirn/Geist und physischem Bewegungsapparat. Ebenso wie eXistenZ im irrealen Headspace agiert, agiert es im Bereich der Körper. Sonderbare sexuelle Stimmungen, Zweideutigkeiten legen nicht nur die Frage nach den Hintergrundmotivationen der Figuren nahe, sondern überhaupt die Frage nach der körperlichen Transformierbarkeit des Menschen, gerade angesichts der Lust. Seine vermeintlich straighte Verschwörungsstory sabotiert Cronenberg damit früh und lässt unklar, mit welchen Parametern dieser Film überhaupt zu messen ist. Mit Sex liegt man aber sicher nicht falsch. Vor einer äußerst reduzierten Kulisse voller steifer Stereotypen bahnen sich auf Cronenberg-typische klinische Weise immer wieder Vermischungen fleischlicher Substanzen an. Mit detailverliebter Genauigkeit lecken die Figuren Öffnungen, greifen ihre pulsierenden Fleshpods, nehmen Amphibien auseinander oder lassen sich ausbluten. Im Mittelpunkt der neurotisch bis psychotisch übersteigerten Vereinigungslust steht bald die Angst vor einer Infektion. Als Cronenberg Realitätsfragen und diskursive Körperproblematik schließlich endgültig miteinander verschweißt und jede Erwartung an einen storydriven "Mindfuck"-Film Nolanscher Prägung zerfetzt hat, bringt er aber schließlich doch noch ein relativ konventionell-dramatisierendes Ende auf den Weg. Twisty insofern, weil man so bis zum Schluss nicht ganz weiß, was "eXistenZ" eigentlich vom Zuschauer will. Auf dem Höhepunkt seines Schaffens mit Filmen wie "Videodrome" und "Crash" eröffnet Cronenberg auch hier eine schwindelerregend faszinierende Erfahrung.

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                      Dergestalt 21.02.2018, 22:16 Geändert 22.02.2018, 09:51

                      Nikos Nikolaidis' zweiter Langfilm "The Wretches Are Still Singing" ist eine ziemlich müde Angelegenheit. Eigentlich kaum zu glauben, denn der Mann hat schließlich den vollkommen übersteuerten "Singapore Sling" gemacht; auch sein Debüt "Evridiki BA 2037" ging in seiner eigenwilligen Machart gegen jede Zuschauererwartung. Hier bleiben es hingegen nur ein paar verschrobene Gangster, die sich über die großzügige Laufzeit hin in diversen Dialogen an ihre Glanzzeiten erinnern, ein bisschen fantasieren und ein bisschen vögeln. Dass dabei sogar prompte Vergewaltigungen stattfinden, vergisst man schnell, so beiläufig ist der Film inszeniert. Überhaupt bleiben alle Figuren Nikolaidis-typisch ohne Psychologie und damit undurchschaubar und fahl. Die absolute Relativität ihrer Existenz vermengt mit ihrer Handlungslosigkeit bringen so ein merkwürdiges Nichts von Film auf den Weg. Nur manchmal führen irritierende Spiele mit der Realität und ein sprunghafter Retrosoundtrack zu eigenwilligen Stimmungen, die Nikolaidis immerhin zu kreieren versteht. Für einen Film reicht das aber nicht, es bleibt eher bei einem Pläuschchen mit Realität, Imagination und den (uneingelösten) Möglichkeiten des Kinos. Ein eher unbekannter und leider auch vergessenswerter Film.

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                        Dergestalt 21.02.2018, 01:30 Geändert 21.02.2018, 01:42

                        Nach dem S/W-Arthouse-Horrordrama "A Girl Walks Home Alone At Night" darf es bei Ana Lily Amirpour auch mal farbig werden. Ihr unerwarteter Ausflug ins verschrobene Desert-Outlaw-Szenario à la "Mad Max" mischt bunt-skurrile Popart munter mit kargem Zynismus dystopischer Prägung. Viele Worte gibt es nicht, dafür schwarzhumorige Bildtonscheren, wenn zum Bubblegum-90s-Pop von "All That She Wants" Körperteile abgetrennt werden oder kaputte Banditen vor einem riesigen leuchtenden Ghettoblaster ihrem acidreichen Metaphysikkonsum huldigen. Vor allem bleiben aber eine verlassene Wüstenkulisse und schweigsame Typen. Spannend also, welche Welten Amirpour mit ihren spacigen Arrangements, bunten Farben und einem exzellenten Soundtrack zwischen sphärischen Drones, laid-back-Beats und sehnsuchtsvollen Gitarrenklängen vor den minimalistisch-staubigen Sets so schafft. Wohin ihre eigenwillige Sci-Fi-Backwood-Genremischung damit will, wird aber nicht so ganz klar. Die großzügigen zwei Stunden Spielzeit füllt sie lieber mit Impressionen einer kaputten Welt, die in ihrer Schratigkeit mal fasziniert, in ihrer wortkargen bis plumpen Urigkeit mal abweisend in die Leere, Langeweile führt. Denn richtige Figuren bekommt man nicht, eher eine Kiste skurriler Archetypen, die sich in bekannten Macht-, Rache- bis Liebeskonstellationen tummeln: Starke Krieger, mutige Kämpferinnen, skurrile Alte, schmierige Machtmenschen und naiv-engelhafte Mädchen. Als der Film im weiteren Verlauf seinen satirischen Zugriff auf den amerikanischen Traum offenbart, überrascht oder konfrontiert das heutzutage natürlich niemanden mehr. Auch weil "The Bad Batch" doch ein bisschen zu plötzlich nochmal Deepness und Worldbuilding einfordern will. Aber überhaupt geht es hier mehr um Stimmungen, Ideenschnipsel, einen Film, den man sich am besten anspruchslos, stoned und spätnachts mal ansieht, dann vermutlich nach schönen Bildern im Traum auch wieder vergisst.

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                          Dergestalt 19.02.2018, 23:49 Geändert 21.02.2018, 18:19

                          Del Toros süß-sentimentaler Eskapismus trifft auf schematische Gesellschaftskritik, dazwischen fließt etwas Blut, harren die Abgründe und alles ist irgendwie ein Film. Ohne Frage kann del Toro mit gleitender Kamera, feinen Lichtspielen und einem melodiereichen Soundtrack beste Kinobilder schaffen, auch hat er ein Gespür für griffige Metaphern, lange nach "Pan's Labyrinth" klappt es drehbuchtechnisch aber nicht mehr so. Die Liebesgeschichte zwischen Mensch und fantastischem Wesen bleibt eine schnell zusammenmontierte Skizze und mehr behauptet als gelebt, der Antagonist ein langwierig präsentiertes Klischee und einige Szenen mehr funktional als facettenreich. Irgendwie eben ein altbekanntes Märchen, ein Blockbuster, aber leider auch ein behäbiger. Ein bisschen langweilig ist "Shape of Water" auch. Kein dynamisches Spiel mit den Erzählebenen wie in "Pan's Labyrinth" und nicht einmal eine ansatzweise ungreifbare Stimmung wie im bereits mittelmäßigen "Crimson Peak". Ein schlichtes Fantasymelodram in gekonnter Form. Oder um mit den Worten des lahmen Antagonisten zu sprechen: Del Toro hat geliefert. Mehr eben nicht.

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                            Dergestalt 12.02.2018, 00:46 Geändert 12.02.2018, 13:38

                            Gaspar Noé steht nun mal für Erlebniskino. Das muss man auch hier erst einmal akzeptieren und damit alle Erwartungen an tiefe Symboliken, hintersinnige Plots oder interessante Figuren aufgeben. Dann merkt man auch, wo Noés Talent unbestreitbar liegt: in der Verdichtung. So ist sein psychedelisches Reinkarnationsdrama "Enter the Void" dann am stärksten, wenn es Vergangenheit, Gegenwart, kindliche Zuneigung, inszestuöses Begehren, Lust und Angst kühn ineinander verschränkt. Schwach wird der Film, wenn er mit langezogenen Kamerafahrten versucht, seine klischeereiche Liebes- und Verratsgeschichte anhand diverser blasser Figuren zu erzählen. Noé ist eben kein guter Dramaturg oder kluger Charakterportraitist, sondern einer, der die Stimmungen und Möglichkeiten einfacher Gefühle und Situationen auszuloten weiß. Entsprechend überzeugt "Enter the Void" weniger in seinem Verlauf als in einzelnen Szenen. Hinter banalen Durchhaltewünschen und absehbaren Erlösungshoffnungen bieten sich immer wieder Schlupflöcher, Inkonsequenzen, assoziative Motive, die Noé dankenswerterweise mehr mitnimmt als ausgeführt oder erklärt. Wenn "Enter the Void" also bisweilen langweilt, überrascht er auch immer wieder, natürlich vor allem auch durch seine schönen bis visionären Bildideen. Denn nicht zuletzt und überhaupt überzeugt bei Noé die Inszenierung, die mit ihren pulsierenden bis flackernden Farben, dröhnenden Soundscapes und gemorphten Ebenen einige Realitätsparameter verfremdet, wenn nicht gar aufhebt. Ansonsten viel zwischen blanker Esoterik, visionären Annäherungen und natürlich der Noé'schen Lust am körperlichen Exzess.

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                              Dergestalt 11.02.2018, 01:34 Geändert 11.02.2018, 12:32

                              Lange vor der irrealen Odyssee in "Holy Motors" durfte Denis Lavant in Leos Carax' Regiedebüt "Boy Meets Girl" schon einmal orientierungs- und hoffnungslos durch Paris wandeln. Hier begann auch gleich eine produktive Partnerschaft, denn Lavant spielte daraufhin in den meisten Filmen Carax' mit. Eine gute Entscheidung, denn schon hier fügt sich sein verträumt-stures Gesicht ideal in einen eigenwilligen Abgesang der Jugend und ewigen Liebe. Der bekannte Plot um zwei Menschen, denen das Herz gebrochen wurde, die sich in ihrer Trauer dann aber finden, löst Carax durch eine episodische, selten zwingende Reihung einzelner Szenen aus dem Alltag beider Liebender auf. Die prompten Schwarzblenden und einige skurrile Szenen bringen zur melancholischen Grundhaltung des S/W-Noirdramas schnell auch etwas wuchernde Fantastik. Ein Zimmer voller schreiender Babys, eingefrorene Gestalten, eine sonderbare Gummipuppe. Wie eh und je bei Carax also - und auch eine kleine Rettung, denn bisweilen fehlt dem nachtstreunenden Film doch etwas Drive. Davon bekommt man erst gegen Ende etwas, denn da kommt richtig Drama auf, durchaus mit bekannten Schablonen, in seiner Konsequenz aber erschütternd. Man ahnt oder weiß eben schon, dass man mit Carax und Lavant sture Fantasten und Romantiker vor sich hat - irgendwie französisch, auf jeden Fall eine gute, aufregende Mischung.

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                                Dergestalt 08.02.2018, 23:59 Geändert 09.02.2018, 09:23

                                Nikos Nikolaidis ist ein griechischer Undergroundfilmer mit klar surrealistischem Interesse, am ehesten noch bekannt durch den fiesen SM-Fiebertraum "Singapore Sling". Sein deutlich älteres Langfilmdebüt "Evridiki BA 2037" widmet sich scheinbar ganz brav den heimatlichen Mythologien. Nur eigentlich eben nicht. Eurydike steckt hier in keiner eindeutigen Höllenvision, sondern in einem hochabstrakten Endzeitszenario fest, einem verlassenen Haus inmitten einer düsteren, angedeuteten Kriegskulisse. Irgendwo im Niemandsland zwischen Samuel Beckett und "Repulsion" versteckt sich der Mensch mit seinen verstellten Begierden in einem isolierten Raum, wartet auf Rettung, die aber nicht kommt. Zwischen Alltagsroutinen, Vexierspielen mit der Vergangenheit und thrillerhaften Lustängsten angesichts eindringender Personen ergibt das ein seltsam unfokussiertes, impressionisisches Kammerspielportrait einer Frau, die ihren Wünschen nie in wirklich greifbarer Form begegnet. Menschen werden dabei zu Realitätsabzügen, Halbwesen; überhaupt und wie später im weitaus expressiveren "Singapore Sling" gelangen Wünsche, Gelüste mehr zu asozialen Fetischen. Höhepunkt des Films ist auch eine merkwürdige Sexszene mit zwei Spielzeugpuppen - für die Protagonistin ein Moment ekstastischer Erotik. Ansonsten ist der Film leise, kunstvoll montiert, löst Räume und Zeit in wenigen Schnitten und spielt souverän eine eigenständige Filmmusik dagegen. Nicht zuletzt aufgrund der sorgfältig beleuchteten S/W-Optik fühlt man sich an die abstrakten Psychospiele aus "Persona" oder "L'Année dernière à Marienbad" erinnert. Nach Realität und Wahrheit, generell nach Eigentlichem ist nicht zu fragen. Eher geht es um existentielles Befinden jenseits psychologischer, gar hermeneutischer Befunde. Anstrengend, karg, kühn und inspirierend.

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                                • Auswahl geht schon klar. Spannender wird's aber (z.B.) hier:

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                                  - "Shortbus"
                                  - "La Bête"
                                  - "Ilsa, She Wolf of the SS"

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                                    Dergestalt 01.02.2018, 22:34 Geändert 16.10.2019, 22:17

                                    "L'amour braque" - wie oft hört man davon, wie verrückt einen die Liebe doch macht und wie so oft ist das eben eine brave, popkulturelle Phrase. Bei Andrzej Żuławski liegt die Sache naturgegeben etwas anders. Madman Żuławski inszeniert seine grundsätzlich stereotype Crimelovestory über den träumerischen Léon, der sich in die Freundin eines harten Gangsters verliebt, als irrsinnige Rauschfantasie, eine Feier der Liebe als Besessenheit. Wie schon in Żuławskis Undergroundhit "Possession" sind plötzliche Sprünge im Figurenverhalten, Overacting und theaterhaft-hermetische Dialoge vorherrschend, dazwischen rutschen abstruse Begegnungen. Da ziehen sich Räuber quakend Disneymasken über, ein Mensch ruft ekstatisch nach Kafka und seinem Fisch, der bald vollkommen wahnsinnige Léon steht steif als Jesus vor einer Theaterbühne und nicht zuletzt färben sich die Augen der Liebenden zu strahlendem Grün. Den Film mit seinen symbolischen Verweisen, überhaupt seinen Figurenmotivationen vollkommen zu verstehen, erfordert sicher einige weitere, vielleicht gar unendlich viele Sichtungen. Fordernd ist es auf jeden Fall, den sprunghaften Dialogen, versponnenen Exzessen zu folgen, ebenso vergnüglich aber auch. Denn alle Schauspieler sind voll dabei, bringen Körper, Stimme und Waffe in vollster Performancementalität in den Raum, der von der faszinierend dynamischen Kamera stets kunstvoll ausgemessen wird. Die träumerisch schöne Sophie Marceau bringt eine fiebrig erotische Komponente in's Spiel, die von den aufgekratzten männlichen Figuren in ihren Allmachts- und Ohnmachtsfantasien dankbar aufgenommen wird. Sadistische Gewalt und egoistische Liebe bleiben eng verschränkt, beide sind nur in extremer Form zu haben. "L'amour braque" gestaltet sich als nur schwer durchdringbares, aber höchst lebendiges Beziehungskabinett. Weniger irreal als "Possession", dafür aber umso beschleunigter und überladener. So gesehen: Ein bisschen mehr dialogfreier Resonanzraum hätte selbst dieser fiebrigen Fantasie gut getan. Aber was will man den Wahnsinn schon ordnen? Er fällt eben so oder so.

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                                      Dergestalt 31.01.2018, 19:03 Geändert 01.02.2018, 11:15

                                      Super Idee: Das europäische Mondogenre mit seinen gewaltgeilen Exotismen nehmen und aus philippinischer Perspektive neu, böse und vor allem kritisch aufrollen. Mit der erzählerischen Klammer eines Naturunglücks zeigt Experimentalfilmer Khavn diverse Schicksale typischer Loserfiguren, die stellvertretend für die ausgebeutete Losernation der Philippinen stehen. Kleinwüchsige, Krüppel, Schwule und alte Anarchisten sind dabei und geben eine ganz muntere Mischung ab. Dazwischen Popsongs, Hip-Hop, überhaupt eine trashige Musikvideoästhetik, die schnell in krassen Kontrast zu der trostlosen, tatsächlichen Trashumgebung tritt und so natürlich auch passt. Leider bleibt ansonsten nur wenig und Khavn gefällt sich ein bisschen zu sehr mit der vulgären Darstellung einiger skurriler Gesten und Bildeffekte. Erzählt wird nichts bis nichts Besonderes und wirklich krass ist dieses forcierte Durcheinander in filmischer Form auch nie. Es bleibt maximal zynisch und irgendwie nervt es, dass die simplen Aufnahmen eines Naturunglücks noch am ehesten eine emotionale Reaktion triggern. Stärker ist Khavn dann, wenn er sich dem Elend in seiner absoluten, irrationalen Schreckensdimension verschreibt. Daher empfehle ich seinen übersteuerten Psychoterror "The Family That Eats Soil", der mit den gleichen Mitteln deutlich krasser und eben eindrücklicher verfährt.

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                                      • Dergestalt 29.01.2018, 23:58 Geändert 30.01.2018, 00:00

                                        Wer vom SM-Weirdhouse-Hit "Singapore Sling" so angetan war wie ich, möchte ja sicher mehr vom verrückten Griechen Nikos Nikolaidis schauen. Zu meiner absoluten Begeisterung habe ich nun entdeckt, dass eine gnädige Person einige Filme des Regisseurs (so auch "Singapore Sling - Empfehlung!) in guter Qualität OmeU auf Youtube hochgeladen hat.
                                        Ein Festessen!

                                        https://www.youtube.com/user/nikosnikolaidisads39/videos

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                                          Dergestalt 29.01.2018, 01:35 Geändert 29.01.2018, 01:54

                                          Die Tochter David Lynchs verirrt sich Anfang der 90er in der trügerischen Softerotik eines "Blue Velvet", trifft dort auch Audrey Horne und steckt beides in ihren ersten Spielfilm. Ein hoffnungslos verliebter Typ rennt dort seiner hoffnungslos desinteressierten Ex hinterher, glubscht aus einem Baum und zu kitschiger 80er-Mukke in ihr Schlafzimmer, ihr zwischen die Brüste und versucht sie schließlich durch obskure Operationsmethoden für immer an sich zu ketten. Mit leidenschaftlichem Weichzeichner und in unsäglich derben Synthwolken treffen sich klischeereiche Beziehungstragödie und Bodyhorror aus Cronenbergs sanftesten Phasen. Dazwischen ein kleines Kabinettstückchen zu Obzession und Liebe. Während Er dabei durch Julian Sands etwas vertrottelt idealistisch im Overacting hängt, treibt Sherilyn Fenn ihr aus "Twin Peaks" bekanntes kühl-laszives Spiel bis in den schneidendsten Zynismus, woraus sich einige schmetternde Dialoge ergeben. Das macht Freude. Ansonsten ist der Film in seiner dramaturgischen und inszenatorischen Überdrehtheit unmöglich ernst zu nehmen, in seiner unvermittelten, leisen Brutalität aber auch etwas verstörend. Eindrücklich bleiben aber vor allem Sherilyn Fenns schöne Brüste, eine stilvoll übertheatralisierte Sexszene zu fiesestem Mönchstrance und überhaupt der Versuch, verschiedendste Stimmungen in einen unentschiedenen Film zu schmeißen. Auf kuriose Weise wunderbar, aber weitab der Souveränität, mit der Vater Lynch cheesy Pop und Albtraum miteinander vermengt.

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                                            Dergestalt 28.01.2018, 01:25 Geändert 28.01.2018, 01:29

                                            "Opera" ist ein typischer Argento. Audiovisuell eindringlich, motivisch kühn, in Drehbuch und Schauspielerführung krude. Spätestens wenn die sorgfältig vorbereitete Mordszene mit flach bretterndem Heavy-Metal-Sound unterlegt wird, kommen erste Zweifel am ästhetischen Verständnis eines Argento auf, der zuvor noch eindringlich zwischen orchestralem Ton und präzisem Schnitt changierte. Schade auch um den überladenen Schluss, der nach motivisch dichten Imaginations- und Perspektivspielchen plötzlich Gespräch und Abhandlung will. Funktioniert natürlich nicht und führt in ähnlich asynchrone Bereiche wie die willkürliche Musikwahl. Argento ist eben gerade dann gut, wenn er sich von der Logik üblicher Thrillerschablonen löst und seine ganz eigene Fantastik pflegt, motivisch verdichtet, statt sie mit psychologischen Erklärmustern zurechtzuschnippeln. So bleibt das Potential und die dringende Empfehlung, diesen Film anhand seiner inszenatorischen Dynamik zu studieren und es dann schlicht besser zu machen.

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                                            • Dergestalt 27.01.2018, 16:32 Geändert 27.01.2018, 16:42

                                              Gehöre auch zu jenen, die sich ungerne DVDs von Filmen ins Regal stellen, mit denen sie nicht viel anfangen können oder die keine Zweitsichtung fordern. Insofern ist bei mir, gerade auch in letzter Zeit, ständiger Qualitätscheck, wodurch sich Neuzugänge und Abgänge die Waage halten.
                                              Dank meiner Moviepilot-Liste* kann ich auch gleich nachzählen, aktuell sind es um die 170 DVDs.
                                              Würde meine Sammlung auch eher als Liebhabersammlung bezeichnen. Mir ist wichtig, hinter jeder DVD irgendwie stehen zu können und keine unerklärlichen Ausrutscher zu haben. Insofern ist jeder Kitscheintrag auch durch meine positive Haltung zu manchem Kitsch gedeckt. Und einen Sammlungsschwerpunkt habe ich auch: Obskures bis weirdes Kino, denn das reizt mich immer wieder zur Neusichtung.

                                              *https://www.moviepilot.de/liste/dvd-sammlung-dergestalt

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                                                Dergestalt 26.01.2018, 15:30 Geändert 26.01.2018, 15:43

                                                Was Lynch so mit den Genres treibt.
                                                Nicht erst mit "Lost Highway", sondern bereits in "Blue Velvet" und eben "Wild at Heart" widersetzt sich Lynchs sogenannter populärer Surrealismus allen Kunstfilmallüren. Was vielleicht auch seinen Ruhm in sonst weniger arthouseaffinen Kreisen begründet. Statt vollends autonome, abstrakte Kunstwelten zu schaffen, geht es direkt in die Americana, den Folklore mit seinen abgeklärten B-Movie-Typen, konstruiert-diffusen Noirplots und der hemmungslos coolen Ausstellung aller Weirdness. Jeder noch so skurrile Charakter bekommt seinen Scheinwerferplatz in einer ekstastisch-schrulligen Freakshow. Entsprechend ist Lynchs Roadmovie maximal überzogen und sich keinem Klischee, keiner verzerrten Figurenhandlung zu schade. Overacting-Cage ist als plakativ cooler Rockidealist perfekt besetzt, ebenso Gummiface Laura Dern als dauerschmachtende Rockergöre. Der fröhlich durcheinandergeschnittene Rockerkitsch mit mythologischem Unterbau wird, wie immer bei Lynch, dann besonders interessant, wenn er auf die düsteren, durch den Glanz verdrängte Seelenzonen der Outsiderexistenzen trifft. Dann wenn sich Häuserfassaden über düstere Soundscapes mit undefinierbaren Wirklichkeiten füllen oder plötzlich-brutale Übergriffe weit vom Starshine altamerikanischer Gangsterposen wegführen. Im Hintergrund all dessen saugt sich Kotze in den Teppich. Zwischen Glanz und Abgrund wiederum sammeln sich die kruden Momente an: Hände unbedeutender Nebenfiguren werden von Hunden entführt, strahlende Kitschengel verkünden frohe Botschaft und eine Frau mit Albinismus tänzelt durch die Scheinwerfer. Lynchs irrealer Cocktail kocht alle Zutaten popkultureller Prägung auf, verschließt sich aber einem umfassenden Blick. Denn was der Pop aus Amerika gemacht hat, wohin dessen unterschwellige Widersprüche, Psychosen führen, kann unmöglich ausgemacht werden. So bleibt "Wild at Heart" ein atmosphärisch durchwachsener, wirrer Mix, der in seiner Inkonsequenz tatsächlich konsequent ist.

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                                                  Dergestalt 22.01.2018, 11:54 Geändert 16.10.2019, 22:20

                                                  Neben der Neonschrift des Clubs Eden ist ein Würfel zu sehen, eine Anspielung auf den Zufall und die Aleatorik. John Cage komponierte Musikstücke ganz nach dem Zufall, woraus sich faszinierende Zusammentreffen oft disparater Gegenstandsbereiche ergaben, eigentlich auch gleich wieder Surrealismus. Alain Robbe-Grillets experimenteller "L'édan et après" ist diesem Zufall, dem Surrealismus verschrieben. Ein Zerrbild diverser Möglichkeiten von Wirklichkeit. Der Film beginnt im Club Eden, probt dort Rollenspiele seiner Protagonisten, das Spiel mit Identität, Wahrheit und Fiktion. Als dann ein Fremder den Club betritt, den unerfahrenen Studenten dort die eigene Leblosigkeit vor Augen führt, die gleißend sinnliche Atmosphäre Tunesiens dagegenhält, eskalieren die Ereignisse. Nun nimmt der Film nicht nur exotische Kulissen in sich auf, sondern auch die Fata Morgana, die Trugbilder heißer Wüstenlandschaften, Sinnlichkeit und die Ziellosigkeit fiebriger Wunschbilder voller Sex.
                                                  Grillets Film ist von Beginn an ganz nah bei den artifiziellen Wirklichkeitsexperimenten der Nouvelle Vague. Tonspur und Bilder fallen auseinander, Leben und Tod fallen zusammen, spaßige Rollenspiele unter Studenten mischen sich mit lebensgefährlichen Wetten. Die Farben liegen meist im Pastell, vor dem sich Blau und ein knalliges Rot herausschälen, meist ist es Blut. Die karge Atmosphäre des Clubs, der durch Spiegel nochmals kühl gebrochen ist, erhält durch das kahle Wüstensetting Tunesiens oder einer Fabrikhalle nur unwesentlich lebendigere Impulse. Die fiebrige Undifferenziertheit, mit der sich die Orte abwechseln, über welche die Figuren in ihrem Wahn längst keine Kontrolle mehr haben, sorgt für ein Gefühl der Desorientierung. Unterstützt wird das ganze durch pikant eingefügte, surreale SM-Tableaus, in denen sich nackte Frauen in Käfige gesperrt, auf Bretter genagelt oder mit Pistolen im Mund wiederfinden. Über das Frauenbild eines Grillets, vielleicht dann auch generell des 70er-Kinos kann man hier natürlich gerne weitergrübeln. Die Zusammenstellung aus treibender SM-Erotik und fiebriger Erstarrung funktioniert aber exzellent, auch dank der dynamischen Montage, den fein choreografierten Bewegungen der hypnotisierten Figuren und den markanten Soundexperimenten. Eine radikale Entwirklichung für Freunde abstrakt-surrealen Kunstkinos in der Tradition eines "Marienbad" (Drehbuch von Grillet!) und natürlich Godard.

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                                                    Dergestalt 20.01.2018, 23:59 Geändert 16.10.2019, 22:05

                                                    Die Kameras werden kleiner, vielleicht sind sie irgendwann verschwunden. Dann fehlt vielleicht bald der Fixpunkt, was nun Schauspiel und was eben Realität. Leos Carax' visionäres Kunstkino fährt referenzschwer durch alle Genres, elfmal verkörpert durch Gesicht- und Körperchamäleon Monsieur Oscar. Der wird mal zum Kobold, stirbt, tötet einen Doppelgänger, wird zur Filmprojektion oder einfach zu einem Bänker. Kutschiert von einem Holy Motor, einer Limousine, die nicht bloß den Glanz typischer Filmstars widerspiegelt, sondern auch Transportmittel in verschiedene Filmdimensionen ist; zwischen Rückzugsort und Schminkstube, immer mitten im klassisch-filmumtosten Paris. Jede Filmdimension, die Oscar dort betritt, wird absolut, für kurze Zeit real, ist mal französisches Arthouse, mal sentimentales Musical, mal Gangsterdrama, aber immer mit einer deutlichen Schicksalsschwere. Falls der Film nun doch eine surrealistische Verspieltheit wie nach Buñuel erhält, scheint dabei aber auch gleich die surrealistische Gewalttat durch - Finger werden abgebissen, Geschlechtsteile beschossen, Mord gehört auch dazu.
                                                    Der Grund der düsteren Rollenwahl scheint beim leitenden Protagonisten, Schauspieler Oscar zu liegen. Der bleibt routiniert, motorisiert im ewigen Filmbusiness - seine Verzweiflung, seine Sehnsucht nach Ursprünglichkeit zeigt sich in jeder seiner bitteren Darstellungen. Wahrhaftigkeit ist ohne jeden Fixpunkt dessen, was eigentlich Realität und was Spiel ist, aber nicht zu haben. Der Film bleibt gebrochen und seine Figur bricht nicht durch. Letztlich ist "Holy Motors" trotz seiner sprunghaft-fantastischen Genremixtur, ein schweres, trauriges Werk. In seinen unterschiedlichen Filmdynamiken mehr Herausforderung als bunter Spaß für den Zuschauer und nicht immer gleich intensiv, aber entlohnend in seiner genauen Beobachtung des Mediums Film und dessen, was der Mensch über die Kunst erreichen will, vermutlich aber nie kann. Insofern sollte man sich das ewige Gerede über Authentizität sparen und besser "Holy Motors" schauen.

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