lieber_tee - Kommentare

Alle Kommentare von lieber_tee

  • 5 .5

    „Willkommen in den blühenden Landschaften“
    „Freies Land“ will so was wie die ostdeutsche "True Detective"-Variante sein. Das Remake von „La Isla Minima“ (Mörderland) tauscht die Post-Franco-Ära aus und spielt in einem neuen Bundesland der Nachwende-Zeit. Die Serienkiller-Jagd zweier Polizisten, die trotz ihrer Unterschiedlichkeit eine Komplizenschaft eingehen, wird übernommen.
    Christian Alvarts Hauptinteresse ist die Wiedervereinigung möglichst trist und trüb aussehen zu lassen und er möchte die ambivalenten Moralvorstelleingen seiner Protagonisten als Systemvergleich spiegeln. Das wirkt auf den ersten Blick durchaus packend und originell. Allerdings schleichen sich schnell Zweifel an diese Herangehensweise ein. Nicht nur, das es zwiespältig ist spanischen Faschismus deckungsgleich mit DDR-Kommunismus zu vergleichen, auch die holzschnittartige Darstellung von Arbeitslosigkeit und Fabrikschließung aus dem Original als Ausverkauf eines Landes zu übernehmen ist etwas billig. So wird hier die Ex-DDR zu einem Schurkenstaat, wo ein Wende-Cop mit einem Stasi-Gestapo-Cop gemeinsam gegen das Böse kämpfen. Trotz des akribisch genau dargestellten Ost-Settings bleibt der Film immer eine dreiste 1:1-Adaption des Originals. Alvart kopiert ganze Sequenzen und Dialoge, etwas mehr Eigenkreation hätte ich mir da schon gewünscht.
    Diejenigen, die die spanische Vorlage nicht kennen, werden allerdings die monochromen Bilder des Zerfalls als eine stimmungsvolle Augenweide erleben, in einem Thriller der tadellos funktioniert.
    5,5 Zimmer im Hotel Fortschritt buchen.

    20
    • 5 .5
      lieber_tee 11.08.2020, 11:39 Geändert 11.08.2020, 16:09

      Rache als Läuterung.
      Jennifer Kents zweiter Film ist eine ewig lange Arthouse-Meditation über die Folgen von Gewalt und den Preis für Rache, eingebettet in die koloniale bzw. patriarchalische Unterdrückung Australiens im Jahre 1825. Er nutzt das grobe Gerüst des Exploitationkinos um historisches Drama und Rape-and-Revenge-Thriller zu kombinieren, destilliert daraus eine Geschichte über Toleranz und Verständnis. Der Film ist (über-) offensichtlich von großen Absichten geprägt und mit viel Ehrgeiz fachmännisch gemacht. Aber je mehr die Wut der Protagonistin schwindet, je weniger das Genrekino bedient wird, desto mehr schmilzt die Dynamik, die plakativen Übertreibungen kommen zum Vorschein. Die zahllosen Handlungsumkehrungen machen den Film immer träger und lassen ihn in ein krudes Ende trudeln. Trotz der gezeigten Gräueltaten und den guten Absichten hat er mich seltsam kalt gelassen. Und mit weit über 2 Stunden Laufzeit wirkt „Nightingale“ wie eine viel zu lange Geschichtsstunde, wo eine betroffene Lehrerin mit pädagogischen Zeigefinger penetrant doziert.
      5,5 Babys an die Wand klatschen.

      20
      • 5

        „Die Zeit stiehlt alles!“
        Highlander meets Interview mit einem Vampir meets Universal Soldier: Regeneration. Die Geschichte um eine Gruppe von untoten Soldaten, die es langsam ermüdend und frustrierend finden die Menschheit zu erretten, ist eigentlich eine interessante Idee einer Drama-Indie-Film-Regisseurin das Superheldengenre mal nicht nur mit einer gewalttätigen Action-Fantasie zu bestücken. Über den reinen Eskapismus hinaus zu gehen, das Unkaputtbare von Kriegern als eine leidende, einsame Aufgabe zu betrachten ist durchaus beachtenswert. Und so ist hier die Unsterblichkeit eine Qual und der Versuch über den Sinn des Lebens zu philosophieren. Der moralische Diskus, der immer wieder das Tempo des Films aus bremst, bewegt sich leider nur auf Allgemeinschauplätzen. Ebenso der Plot, das generische Gut/Böse-Schema und die handwerkliche Kompetenz bei den Kampfszenen. Dem vom Marvel-Kino vereinheitlichten Superheldenbrei etwas Intelligenz und starke weiblichen Präsenz zuzufügen ist letztlich ein träger Pilotfilm auf Fernseh-Niveau geworden, der die Netflix-Abonnementen bedient, eine klare Regie-Vision aber vermissen lässt. Dazu dudelt die Spotify-Hitliste.
        5 tote Avengers.

        19
        • 5
          lieber_tee 07.08.2020, 00:19 Geändert 07.08.2020, 00:20

          Wenn Mallick "The Witch" dreht.
          Ein moralisch altbackenes Märchen zu einer weiblichen Emanzipationsgeschichte umzufunktionieren ist eine nette Idee. Und Gretel sieht hübsch aus. Das auffällige Produktionsdesign und die beeindruckende Kinematographie haben definitiv was. Auch die Betonung der unbehaglicher Stimmung, anstelle von Schocks, ist beachtenswert. Leider will Filmemacher Oz Perkins aber mehr, er will die große Kunst. So schleppt er den Zuschauer mit einem extrem gemächlichen Tempo durch einen Gruseler, der selten gruselig ist. Stattdessen gibt es geschwollene und sich bedeutungsvoll gebenden Dialoge, sowie einen Off-Kommentar, der alles, aber auch alles Gesehene noch mal penetrant erklärt. Letztlich ist der Film stilvoll, aber nicht sonderlich beängstigend und kaum clever. Am Ende herrscht nur das Gefühl der Leere.
          5 gruselige Küchen.

          18
          • 8
            lieber_tee 06.08.2020, 00:15 Geändert 06.08.2020, 11:06

            Wilde Meditation über Macht und Unschuld.
            Ein so schrecklich-schönes Erlebnis wie „Monos“ ist eine kostbare Perle auf der Leinwand. Filmemacher Alejandro Landes spart bewusst die (politischen) Hintergründe der Geschichte aus, um eine Allgemeingültigkeit zu erreichen. Sein anarchischer, langsam köchelnder Abstieg in die Dunkelheit des zivilisierten Menschen ist eine Tragödie über Kindersoldaten im Krieg, zwischen Naivität und Grausamkeit. Der magisch-realistische Stil erinnert dabei bewusst an Filme wie „Lord of the Flies“ und „Apocalypse Now“. Die abgründige Reise von den kalt-feuchten Bergwelten der Anden in das fiebrig-schwüle Herz des Amazonas-Dschungels ist aufgeladen mit metaphorischen Bilden. Die brachiale Natur, die geschlossenen und weit offenen Räume, spiegeln den Seelenzustand und die Machtdynamik in der jugendlichen Gruppe. Trotz aller Referenzen ist „Monos“ immer originell, weil seine erfinderische Kinematographie und Klanglandschaft eine kraftvolle Symbiose eingehen, sie verleiht dem Film eine bizarre und halluzinatorische Wirkung.
            8 tote Kühe.

            32
            • 4
              über V.F.W.

              "Alte Männer herrschen!"
              Der Film leckt wie ein kaputter Wasserschlauch. Aus jeder porösen Pore spritzt das Blut, aber einen ordentlichen Strahl bekommt er nicht hin. Wenn Junkies wie Zombies eine Bar voller Ex-Soldaten belagern entsteht kein Diskurs über Gewalt als (an-trainiertes) Mittel, sondern lediglich ein reaktionäres Schwärmen von Greisen wie toll sie damals in der Kampfzone waren und wie aufopferungsvoll sie heute sind. Über-offensichtlich als Retro-Exploitation-Film angelegt, möchte der Streifen eine Hommage an vergangene Actionfilme sein und nutzt seine gealterten B-Movie-Helden dafür, das sie noch mal zeigen dürfen wo der extrem blutrünstige Splatter-Hammer hängt. Leider erkennt man aber kaum was, weil alles im Halbdunklen stattfindet und der Rest sich in nerviges Kriegsphrasen-Gelaber im Suff ergießt.
              4 mal Schützengrabengeschwafel lallen.

              16
              • 7
                lieber_tee 15.07.2020, 00:42 Geändert 15.07.2020, 00:45

                Cinema Paradiso trifft auf Kill Bill, irrsinnig von Shion Sono gemixt .
                Abwechselnd berauschend und nervig in seinen wiederholenden Gags, ist dieser bizarre Streifen ein verspottender Overkill, eine Hommage an das Filmemachen, verpackt in eine Groteske auf das japanische Gangsterkino. Der dekadente und infantile Wahnsinn hat einen blutrünstigen Sinn für (Slapstick-) Humor, eingetaucht in literweise Kunstblut und Farbe, von unerbittlicher Desinteresse an narrativer Logik geprägt. Hier ist Übertreibung das Konzept.
                7 Fuck Bombers.

                30
                • 5
                  lieber_tee 14.07.2020, 01:00 Geändert 14.07.2020, 18:01

                  Die Hand Gottes.
                  Der Filmemacher Asif Kapadia beschreibt in seiner Dokumentation den Aufstieg und Fall von Diego Maradona als eine Reise vom Slumkind zur quasi-religiösen Ikone, mit besonderem Schwerpunkt auf seine bekannteste Zeit beim italienischen Außenseiterteam Neapel, bzw. bei der Weltmeisterschaft 1986 in Mexiko.
                  Der Film ist rasant und kurzweilig erzählt, ein starkes technisches Paket, besondere Enthüllungen oder tiefe persönliche Einsichten über den Fußballstar gibt es allerdings wenig. Die Idee, die "Bipolarität" des Charakters zu betonen, also einerseits das öffentliche Genie auf dem Fußballplatz, anderseits ein selbstzerstörerischer und narzisstischer Rebell, bestätigt nur den Mythos der Figur, ergründet diesen aber kaum.
                  Unfassbar, das Kapadia mit einer Fundgrube aus 500 Stunden (privaten) Videomaterial seinen narrativen Fokus nur auf Nostalgie fokussiert, aus den Audio-Zitaten von Maradona nichts tiefsinniges oder psychologisch aufschlussreiches destilliert. Die spätere Phase als Trainer und Manager, seine kruden politischen Äußerungen und umstrittene Freundschaft mit Fidel Castro spart er komplett aus. Die Beziehung zur Camorra, seine Vorliebe für Bordelle und immer mehr Kokain werden angesprochen, aber niemals hinterfragt. Stattdessen ist Maradonas Ruin doch nur Opferverklärung, den (nationalistischen) Sündenbock-Umständen geschuldet, der eigene Anteil wird kaum kritisch angesprochen. Am Ende ist dann nur noch die schuldige Reaktion auf seinen unehelichen Sohn, den er erst 2016 anerkannte, übrig.
                  Zwischen Match, Party und Entgiftung bietet die Doku ein Festmahl für Fußballfans, voller Energie und Prahlerei. Aber Maradonas facettenreiche Lebensgeschichte ist definitiv seltsamer, tiefer und dunkler als seine größten Tor-Hits, davon erzählt der Film aber nur am Rande.
                  5 mal gaaaaaaanz lange traurig bei der Weihnachtsfeier gucken.

                  16
                  • 6
                    über Atlas

                    Väterliche Zwangsräumungen.
                    Die Geschichte eines wortkargen, alternd-verbrauchten Möbelpackers mit gewalttätiger Vergangenheit, der (zu spät) eine Beziehung zu seinem verlorenen Sohn aufbauen will und dadurch in einen Gewissenskonflikt gerät, läuft dramaturgisch nicht immer rund. Sie wirkt, trotz des vielschichtig spielenden Hauptdarstellers Rainer Bock, eher konstruiert. Der Film plätschert eine lange Zeit trostlos vor sich hin, benutzt zwiespältige (um nicht zu sagen latent rassistische Vorurteile) gegenüber arabisch-stämmigen Clan-Strukturen als eindimensionales Spannungs-Motiv, um dann in ein der griechischen Mythologie angelegtes Schuld und Sühne Drama zu enden. Mit bewusst blassen Bilden erzählt, mit viel Liebe für sensibel beobachteten Momentaufnahmen, ist „Atlas“ ein arg sprödes Befindlichkeitsdrama. Die schwere seelische Last auf Schultern, die zu einer Spirale der Gewalt wird, hat mich leider nicht so berührt wie es der Regisseur wollte.
                    6 Männer, die erschöpft auf dem kalten Küchenboden liegen.

                    13
                    • 6

                      Gespenster der Vergangenheit.
                      Unter der blutigen Schicht von #BlackLivesMatter und des Vietnamkrieges ist „Da 5 Bloods“ eine Studie über intime männliche Beziehungen, die im Namen des Krieges ausgenutzt wurden. Ähnlich wie „BlackKklansman“ zeigt hier Spike Lee, das er ein ebenso unberechenbarer wie inkonsistenter Filmemacher ist. Seine Versuche politische Aussagen bzw. tiefgreifende afroamerikanische Themen populär konsumierbar zu machen enden immer wieder im predigen. Gewalttätig, ergreifend, lustig und todernst ist der Film eine provokative Geschichtsstunde, als Abenteuer und Kriegsfilm mit etlichen Klischees verpackt. Immer wieder werden Brandbomben gegen systemischen Rassismus geworfen, die Kriegsmetapher wird zu einem Diskurs über Sklaverei und freiheitlicher schwarzer Geschichte. Um das alles unter einen Helm zu bringen kämpft Lee aber an zu vielen Fronten, die Haupt- und Nebenhandlungen mit den historischen Kontext zu konkretisieren gelingt ihm kaum, weil er letztlich sich in plakativen Regieentscheidungen verliert. Ungeachtet dieser Mängel ist "Da 5 Bloods" aber immer angenehm parteilich und oft kraftvoll.
                      6 Goldbarren.

                      16
                      • 6
                        lieber_tee 26.06.2020, 08:40 Geändert 17.07.2020, 09:45

                        Eine Geschichte über Lügner.
                        „Wasp Network“ besteht aus unterschiedlichen Situationen, Charakteren und Genres, die zu keiner geschlossen Einheit verschmelzen. Optisch reizvoll, elegant gedreht und mit wunderschönen, begabten Schauspielern bevölkert. Nur dieses endlose Hin und Her zwischen viel zu vielen Figuren und (politischen) Zusammenhängen lassen den Zuschauer verzweifeln. Wohlwollend interpretiert ist dieses filmische Chaos eine Widerspiegelung der Situation zwischen den USA und Kuba in den 90ern, zufriedenstellendes Geschichtenerzählen ist es aber nicht. Der Film hätte ein fokussierteres Drehbuch verdient, oder eine Miniserie, so komprimiert bricht er unter seiner Belastung zusammen. Es gibt immer wieder einzelne starke Sequenzen, sowohl schauspielerisch als auch in seinem Spiel mit den verschiedenen Genres, als Spionage-Thriller mit moralische Zwickmühlen, wo niemand weiss wer gut oder böse ist, funktioniert er kaum. Aber, selbst ein schwacher Film von Assayas beeindruckt mehr als was sonst so zu sehen ist.
                        6 teure Uhren bei eBay verkaufen.

                        11
                        • 6
                          lieber_tee 25.06.2020, 20:50 Geändert 25.06.2020, 20:52

                          Mad Max in Südfrankreich.
                          B-Movie mit klarer, flüssiger Kinematographie und anmutig-brutalen Stil. Im Grunde besteht die Hälfte des Films nur aus Auto-Verfolgungsjagden und knochenbrechenden Fights. Das ist nicht so aufwändig wie bei den neueren Fast-Filmen, dafür aber auch nicht so ekelig CGI-verseucht. Hier gibt es hervorragende Stuntarbeit bei den harten MMA-Kämpfen und Fahrzeugverschrottungen zu sehen. Der Held schweigt und grübelt, die Bösewichte sind generisch. Die effektiv-einfache Handlung um kriminelle Drogenkuriere und korrupte Bullen stösst dabei eine beträchtlichen Menge an Genreklischees aus, egal, die Action stimmt.
                          6 Autos als Rammböcke.

                          19
                          • 7 .5
                            lieber_tee 24.06.2020, 20:26 Geändert 24.06.2020, 21:18

                            Bleierne Gewalt.
                            Die erste Hälfte der Show ist überdeutlich von Gareth Evans kreativer Begabung geprägt. Die fünf Folgen sind ein hedonistischer Cocktail aus grossartig-grobkörnigen Action-Versatzstücken. Sie glänzen mit hohem Tempo, erstaunlichen Plansequenzen und dynamischer Kinematografie. Höhepunkt ist Episode 5, unfassbar was da dem Zuschauer für eine choreographierte Orgie aus Suspense und perfider Körperzerstörung präsentiert wird. Sie ebnet den Weg für melodramatische Entwicklungen, wo erklärt wird wer die Fäden zieht. In den letzten vier Folgen verlangsamt sich die Serie wesentlich, wird weitläufiger und schafft es dabei nur bedingt die losen Fäden charmant zu verbinden. Die Machtkämpfe und Allianzen zwischen multikulturellen Banden in einer kriminellen Organisation, die plötzlich durch ein Machtvakuum einstehen, sind bekannte Standartsituationen aus entsprechenden Mobster-Filmen. Dank der faszinierenden Inszenierung fühlt sich das aber nie wie eine billige Kopie an.
                            Trotz deutlichen Schwächen im Abgang, ist diese erste Staffel wohl das Frischeste und Aufregendste was 2020 bislang über den Fernseher in die Haushalte für Fans von knallharter Action und Gangsterfilmen geballert wurde.
                            7,5 Abendessen, um Familien blutig zu vereinen.

                            14
                            • 7

                              Pontypool trifft auf Akte X in den 50ern.
                              Die zurückhaltende Geschichte über unbedeutende Kleinstadt-Menschen, die durch den Kontakt mit grossen und unerklärlichen Geschehnissen unwiderruflich verändert werden, ist offensichtlich extrem günstig produziert. Den Mangel an Geld kompensiert Debütant Andrew Patterson aber äusserst stilvoll und clever. Im Vertrauen einfach nur ein vertrautes B-Movie zu erzählen, ohne Metageschwurbel, entsteht eine hypnotische Spannung, eingebettet in die Faszination und Paranoia des Kalten Krieges. Trotz der (oder gerade deshalb) Kammerspielartigen Gesprächen und Monologen, die ebenso lang wie die Plansequenzen des Films sind, entsteht ein sanfter Sog den sich gerade Freunde des altmodischen SF-Films nicht entziehen können. Da ist das eher banale Ende verzeihbar. Klein aber fein.
                              7 unerklärliche Pieptöne vom Himmel.

                              29
                              • 6 .5

                                Die Fingerabdrücke, die wir im Laufe des Lebens hinterlassen haben...
                                „I Lost My Body“ ist ein „erwachsener“ Film über einen Menschen, der versucht, buchstäblich und im übertragenen Sinne, wieder ganz zu werden. Wunderschön handanimiert und angenehm unprätentiös. Ein existenzielles, nichtlinear erzähltes, urbanes Märchen. Er nimmt den Zuschauer auf eine traumlogische Reise, untergräbt die Erwartungen, fordert heraus. Aber so recht kanalisieren sich die verschiedenen Ebenen, die Selbstfindung des Protagonisten, nicht. Einwanderung, Kindheitstrauma, physischer und emotionaler Verlust, Romanze, makabere Komödie, PTBS-Charakterstudie, in den Film lässt sich viel hinein-interpretieren, es gibt viel zu entdecken, allerdings wirkt das alles etwas nach einer Patchworkarbeit mit zu vielen Ideen.
                                6,5 Hände auf Abwegen.

                                23
                                • 7
                                  lieber_tee 14.06.2020, 00:25 Geändert 15.06.2020, 01:18

                                  Schillerndes Kino.
                                  Wenn zu Beginn in poetischer Zeitlupe Schwerter aufeinander prallen und sich der Regen blutrot färbt, dann wird deutlich, das Filmemacher Teruo Ishii versucht seine surrealistischen Launen mit den Anforderungen einer Studioproduktion zu kombinieren. Er bedient die klassischen Versatzstücke des Yakuza-Kinos, um eine schrille Nummerrevue zu generieren. Die narrative Struktur dient dabei nur als grobes Gerüst, fast schon experimentell schwankt der Film zwischen herzerwärmenden Kitsch, Horror, Softcore-Sex, alberner Komödie und japanischer Folklore. Hier trifft Action auf Butoh-Tanzeinlagen, die in brutal-grafischen Folterszenen enden, halbnackte Frauen wabern durch Opiumhöhlen, Kämpfe finden unter einem theatralischen Himmel aus spiralförmigen Wolken statt. „Blind Woman's Curse“ ist eine ungleichmässige Erfahrung, da sich die Segmente selten zusammenfügen oder eine zusammenhängende Geschichte aufzubauen. Der Film ist mit Nebencharakteren gefüllt, die für die Haupthandlung irrelevant sind und manch platter Humor wirkt seltsam unpassend. Aber genau diese krude, groteske und ausufernde Mischung macht den Reiz aus.
                                  7 Clan-Bosse mit beeindruckenden stinkenden Fähigkeiten.

                                  16
                                  • 6

                                    Eine Bärin beschützt ihre Jungen...
                                    Die emanzipatorische Geschichte einer kämpferischen Mama, die ihr Kind um jeden Preis beschützt, ist stilvoll-launisch als Mischung aus sozialen Realismus im Ken Loach-Stil und weiblicher Rachefantasie konzipiert. Das ist nicht ohne Mängel, denn der heikle Spagat zwischen urbaner Wirklichkeitsnähe und ausbeuterischer Fiktion funktioniert nicht immer, bzw. findet keine richtige Einheit. Dank der fantastischen Lead-Performance von Sarah Bolger sind aber die systemische Marginalisierung von alleinerziehende Frauen und die verzweifelte Wut gegenüber einer hässlichen Männerwelt in dieser Coming-of-Mother-Story spürbar.
                                    6 mal Mütterlichkeit mit tiefen Respekt betrachten.

                                    22
                                    • 7 .5
                                      lieber_tee 31.05.2020, 00:50 Geändert 14.06.2020, 21:26
                                      über Ava

                                      „Der beste Sommer aller Zeiten.“
                                      Die junge französische Regisseurin Léa Mysius kombiniert den taffen Kampf einer 13-Jährigen gegen das Erblinden mit einem kunstvollen Aussenseiter-Jugendporträt. Der erstaunlich präzise, farbenfrohe, vielleicht etwas zu geleckte, Bildersturm komponiert die Sonne in die Dunkelheit. Dabei wird die wunderschöne Ferien-Kulisse zu einer apokalyptischen (Seelen-) Landschaft. Berauschend, oft surreal und manchmal verstörend, erforscht die Filmemacherin die erste Liebe wie einen Wirbelwind aus Anarcho-Kriminalität, aufkeimender Sexualität und Suche nach idealer Schönheit. Das rebellische Erwachen eines Mädchens pendelt zwischen hedonistischen Übermut, Welpen-Naivität und mürrischer Frustration. Ohne um jeden Preis originell zu sein, zwischen dem Wilden und dem Künstlichen, mit ausserordentlicher Leichtigkeit schwere Themen anpackend, ist „Ava“ ein ungemein starkes Debüt.
                                      7,5 mal die anderen Sinne schärfen.

                                      21
                                      • 4
                                        lieber_tee 29.05.2020, 23:47 Geändert 29.05.2020, 23:54

                                        SHINING 2.0
                                        Puh, teilweise kaum zu ertragenes Geschwurbel um Seelenvampire, Lebensstream und telepathischen Unsinn. Mike Flanagans Fortsetzung von „Shining“ ist eine auf weit über 2 Stunden elend lang aufgeblasene Vision eines Filmemachers, der versucht seine eigenen Welten mit King und Kubrick zu vereinen. Da verschmilzt leider aber nix, der Film wirkt seltsam schizophren. Trotz einiger grosser visueller Momente bleibt „Sleep“ ein ungeschickter Hybrid, der sich zwischen dem Erzählen einer autarken Fantasie-Geschichte und Originalfilm-Fan-Service nicht entscheiden kann. Die ursprünglich irreale Simulation von (alkoholisierten) Wahnsinn, wo das Hotel die Seelenlandschaft einer traumatisierten Psyche ist, wird zu einer lächerlich-trashigen X-Men-Geschichte um gute Wesen mit Superkräften, die Angriffe von bösen Wesen mit Superkräften abwehren.
                                        4 nackte alte Damen.

                                        22
                                        • 6

                                          Driftendes Körperkino.
                                          Ohne Frage ist „Beach Rats“ ein ansprechendes Seherlebnis. Der hautnahe (weibliche) Blick auf den gemeißelten Körper eines jungen Mannes ist immer auf der Suche nach einer weichen Seele darunter. Das Finden bzw. Nicht-Finden der eigenen (sexuellen) Identität wird hier mit impressionistischen 16-mm-Bildern eindringlich beobachtet, bleibt aber inhaltlich eher eine dünne Charakterstudie. Immer dem vorhersehbaren Modus Operandi von Coming-of-Age-Indie-Dramen verhaftet, will die Dringlichkeit seines Protagonisten, seine toxische Unentschlossenheit, nicht so recht brennen. Am Ende bleibt nur lakonische, monotone, statische Leere. Der Film geht langsam ins Nirgendwo dahin.
                                          6 beschnittene Schamhaare.

                                          18
                                          • 4
                                            lieber_tee 28.05.2020, 01:56 Geändert 28.05.2020, 15:31
                                            über Vetala

                                            Bekloppte Monster-Show mit glühend-roten Augen.
                                            Auf dem Drehbuchpapier ist dieses Wiedererwachen einer Armee britischer Zombiesoldaten vielleicht ein lohnenden Genre-Ausflug. „Vetala“ bietet tatsächlich einige interessante Zutaten im sonst oft aufgewärmten Untoten Eintopf. Der Ansatz gesellschaftspolitischen Hindi-Horror zu generieren, wo Unternehmensgier, blinder Militärgehorsam, ethnische Säuberung und Neokolonialismus auf Dämonen mit Musketen, Flüche und Besessenheit treffen, ist nicht unspannend.
                                            Leider lässt die Ausführung zu wünschen übrig. Das Problem ist, dass die Show, trotz hohen Action-Anteil, wie billiger Trash wirkt. Teilweise echt gruselig schlecht gespielt, haben die Figuren wenig Tiefe, die sozialkritischen Themen werden nur für bekannte Blaupausen des Zombiefilms benutzt. Selten blitzt technische Finesse auf, das klaustrophobische Belagerungs-Setup dehnt sich viel zu lang, einzelne Elemente wiederholen sich ständig, um dann in ein gestelzt-pathetisches Finale zu münden.
                                            4 verfluchte Tunnel.

                                            13
                                            • 7

                                              Niemand verlässt seine Heimat ohne triftigen Grund.
                                              Ein ergreifender, wunderbar gespielter Blick auf Immigration und ihren Platz in der modernen Gesellschaft. Wangs bescheidene Familiengeschichte ist voller Wärme und kraftvoller Ehrlichkeit, manchmal seicht und seifig, aber immer dem Thema Einwanderung als diverse und intime Erfahrung verhaftet. Kulturelle Identität ist hier von Trauer (und Humor) geprägt, ist etwas, das im Prozess des Bestehens zwischen den Welten verloren geht. Es gibt keine Twists, keine spektakulären Enthüllungen, dafür ist der Film zu sanft, voller Zuneigung für seine bodenständigen Charaktere. Er folgt den verschiedene Aspekte von Auswanderung, betrachtet die Unterschiede zwischen denen die gegangen und denen die zurückgeblieben sind. Das ist empathisch und klug erzählt, mischt geschickt Komödie und Tragödie, ohne verlogen zu sein.
                                              7 herzerwärmende Abschiede.

                                              25
                                              • 7
                                                lieber_tee 25.05.2020, 20:38 Geändert 25.05.2020, 20:39
                                                über Aniara

                                                Lange Strecken des Nichts...
                                                Die (unfreiwillige) Expansion zu den Sternen bedeutet keinen zivilisatorischen Fortschritt.
                                                Irgendwo zwischen Douglas Trumbulls „Silent Running“ und Ben Wheatleys „High-Rise“ ist „Aniara" ein allegorischer Film. In dieser von entmutigendem Ehrgeiz getriebenen Weltraumoper wird philosophisches Nachdenken erwartet, das Konsumieren von spektakulärer SF-Action funktioniert hier nicht. Das macht diesen Zeitlupen-Katastrophenfilm sperrig und spröde. Die nihilistische Odyssee, dieser brutale Fatalismus, dieses Nichtwissen, ist von trostlose Schönheit. „Aniara“ unterläuft die Erwartungshaltung von Blockbuster-Zuschauern enorm, weil Themen wie Spiritualität, fragile menschliche Emotionen, selbstzerstörerische Depressionen und die Verweigerung von Katharsis kaum mehr im modernen Kino erzählt werden. Obwohl wenig davon neu ist, seine Sicht auf die Menschheit ist schwärzer als die Tiefen des Weltraums. Allerdings kann man dem Film vorwerfen, wegen seiner episodischen und sprunghaften Unnahbarkeit, das er seine Ideen nicht zu einer einfühlsamen Erzählung zusammenschmelzen lässt, das er zäh wirkt. Das Ende mag nicht ganz zufriedenstellend sein, aber es ist kein Betrug an dem Zuschauer.
                                                Klug, aber trostlos.
                                                7 galaktische Einkaufszentren.

                                                18
                                                • 5
                                                  lieber_tee 25.05.2020, 14:05 Geändert 26.05.2020, 22:32
                                                  über Freaks

                                                  SPOILER!
                                                  Stephen King trifft auf "X-Men“.
                                                  Die Neugierde der Kindheit trifft in dieser Science-Fiction-Dystopie auf die Ausgrenzung von Randgruppen bzw. den Wunsch ein Teil einer Gemeinschaft zu sein.
                                                  Die erste Hälfte ist klasse. Eine angespannte und klaustrophobische Übung in Paranoia. „Freaks“ will die Erwartungen des Publikums spielerisch und emotional untergraben, ist mit seinen etwas willkürlich wirkenden Wendungen im zweiten Teil aber bei weitem nicht so originell wie er zunächst erscheint. Die anfänglich aufgeworfenen Fragen sind erheblich faszinierender als die folgenden Antworten. So interessant hier auch eine herzliche Familiengeschichte mit elterlicher Überwachung kombiniert wird, die Angst vor dem Unbekannten, die kindliche Perspektive auf eine unverständliche Welt, ist nur die bekannte Variation des allegorischen X-Men-Themas. Die zunächst entstehende Spannung aus dem Rätsel, ob die Gefahr ausserhalb der familiären Mauern überhaupt real, oder eine Art von väterlichem Helikopter-verhalten gegenüber seiner expandierenden Tochter ist, entwickelt sich zu einer kleinen Superheldengeschichte, die überdeutlich deren (actiongeladenen) Tropen bedient. Der erste Anschein ein unpoliertes Indie-Filmchen zu sehen täuscht, letztlich bleiben die Filmemacher Stein & Lipovsky nur dem aufgeblähten Marvel-Muster treu.
                                                  5 Warnungen vor den Gefahren „da draussen“.

                                                  21
                                                  • 5
                                                    lieber_tee 24.05.2020, 13:25 Geändert 26.05.2020, 01:41

                                                    Mit Musik geht alles besser...
                                                    Die Geschichte einer schottischen alleinerziehenden Mutter, die von Country-Musik als Erfüllung träumt, wird auf dem vertrauten Boden der Tropen einer Underdog-Story getanzt. „Wild Rose“ ist ein schwungvolles Indie-Drama, wo die rauen Kanten der bitter-harten Realität abgeschmirgelt werden, zu Gunsten einer fröhlich-polierten Feelgood-Oberfläche. Jessie Buckley ist eine Wucht. Ihre kämpferischer Ausstrahlung und musikalische Darbietungen retten den Film. Aber ihr differenziertes Spiel kann die konservative Erkenntnis des Films Träume aufgeben zum Wohle der Familie, das Emanzipation seine Grenzen hat, nicht ausgleichen. Der ganze Film bleibt immer im glatten und konformistischen Rahmen.
                                                    5 Stiefel aus Schlangenhaut.

                                                    13