lieber_tee - Kommentare

Alle Kommentare von lieber_tee

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    lieber_tee 05.04.2020, 13:20 Geändert 07.04.2020, 02:00

    Das Unschuldige trifft auf das Unerbittliche.
    Überraschenderweise wurde ich von diesem unausgegorenen Streifen berührt. Nicht intellektuell, aber in meinem Herzen. Auch wenn er dafür manipulative Techniken benutzt, seine Figuren sind gut geschrieben, hervorragend gespielt und haben mich abgeholt. Der Film macht spürbar wie Kinder auf Herrschaftsideologien hereinfallen, sich aber durch Einfühlungsvermögen daraus lösen können.
    Von Taika Waititi als "Anti-Hass-Satire" bezeichnet, ist „Jojo“ eine Coming-of-Age-Erfahrung, wo sich das hasserfüllte Weltbild seines Protagonisten Angesichts des realen Schreckens langsam auflöst. Zwischen berührenden und doofen Momenten versucht der Filmemacher Faschismus aus kindlicher Perspektive zu betrachten. Mit den Mitteln einer schwarzen Komödie, Slapstick und surrealen Momenten liebäugelt er dabei mal treffend, mal unpassend mit Geschmacklosigkeiten und findet dabei Zärtlichkeit. Subtil ist er dabei nie, aber in seinem Humanismus ergreifend. Der Spagat zwischen Ernsthaftigkeit und Unersthaftigkeit, zwischen naiver Niedlichkeit und bitterer Grausamkeit gelingt nicht immer. Oftmals bleibt „Jojo“ in seiner wohlfühlenden Süßlichkeit stecken, wo mehr unangenehme Scheußlichkeit angemessen gewesen wäre. Die faschistischen Schergen sind immer lächerlich, nie bedrohlich. Aber der Film hat halt auch diesen sympathischen Ansatz Humor, Empathie und Menschlichkeit inmitten des Grauens zu zeigen, zu erforschen und einzufordern.
    6 mal über Nazis lachen.

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    • 6 .5

      Puzzle-Film.
      „I See You“ ist ein verdrehungslastiger Krimi, der möglicherweise keinen Sinn ergibt, wenn man zu viel über ihn nachdenkt. Was zunächst wie eine übernatürliche Geschichte aussieht, steuert kurvenreich in mehrere Richtungen. Dem Filmemacher liegt daran seinen Plot mit Perspektivwechsel und überraschenden Wendungen zu kaschieren, unterlegt mit einem großartigen Sounddesign. Das Problem ist, dass der Film dabei fast keine Anstrengungen unternimmt die Charaktere der Familie zu etablieren. Dafür funktioniert er aber als fein ausgearbeitete Spannungs-Übung, die mit Horror- und Noir-Elementen gewürzt ist. Das ist nicht wirklich schlau, aber wirksam straff. Für Fans von Twist-Thrillern.
      6,5 affige Masken
      P.S. Himmel, was hat Helent Hunt mit ihrem (Botox-) Gesicht gemacht... gruselig.

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      • 7
        lieber_tee 04.04.2020, 11:06 Geändert 04.04.2020, 20:26

        # MeToo-Horror
        Der alte Universal-Monster-Brei wird hier überraschend frisch als beängstigende Studie über giftiger Männlichkeit und die Befreiung daraus serviert. Das Motiv des „Unsichtbaren“ versinnbildlicht den Missbrauch und psychologischen Terror gegenüber Frauen als puren Horror. Whannells Fähigkeit Thrill geradlinig zu konstruieren und ihn mit einem (aktuellen) Subtext zu unterlegen ist vielleicht eine halbe Stunde zu lang geraten und läuft letztlich auch recht vorhersehbar ab, aber wie er sein Thema erforscht, wie er Stille, den leeren Räumen eine unangenehme Intimität gibt, ist ebenso packend wie clever.
        7 optische Täuschungen.

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        • 7

          Magentafarbene Besucher aus dem Weltraum.
          Basierend auf eine (mehrfach) verfilmte HP Lovecraft-Geschichte, ist „Color Out of Space" eine halluzinogene Kopf- und Bilderreise, die Regisseur Richard Stanley als altmodischen B-Movie-Body-Horrorfilm mit trashigen Humor erzählt. Je irrer die psychedelischen Farbspiele wabern, je weiter der Abstieg in die Verrücktheit voranschreitet, desto mehr entfremdet sich die Familie voneinander, bis grobe Kreatureffekte alle traditionellen US-Werte aufgefressen. Nic Cages selbst-parodistische Ein-Mann-Show strahlt dabei wie ultraviolettes Fernlicht über den Film, sie transzendiert dabei den hysterischen Irrsinn in eine andere Welt. Nicht immer konsequent oder narrativ klar, an den Rändern etwas aufgebläht, hat der Streifen aber diese skurrile Energie, die ihn so zu einem beunruhigend-schönen Erlebnis macht.
          7 Alpakas melken.

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          • 6 .5
            lieber_tee 02.04.2020, 11:15 Geändert 02.04.2020, 11:16

            „Pretty Little Lies“ trifft „Fargo" mit Harpune.
            Subtil-weibliche Rache- und Empowerment-Geschichte. "Blow the Man Down" verbirgt nur wenige Geheimnisse, recht schnell sind etwaige mysteriöse Verwicklungen ausformuliert. Dadurch verliert diese Mischung aus schwarze Komödie, trauriges Drama und feministischer Kleinstadtkrimi seine Dringlichkeit, plätschert stimmungsvoll-lakonisch vor sich hin. So schrullig sein Fischerdorf mit seinen widerspenstigen (weiblichen) Bewohnern auch ist, so liebevoll er zwischen seinen einzelnen Genre-Elementen wechselt, die Skurrilität und Originalität hält sich letztlich in Grenzen. Große Ambitionen hat der Debütfilm der beiden Filmemacherinnen dabei nicht, das macht ihn aber gerade dadurch sympathisch. Klein aber fein.
            6,5 Seemanns-Shanty-Chöre.

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            • 6 .5
              lieber_tee 01.04.2020, 12:16 Geändert 02.04.2020, 16:17

              Das Verlangen nach Selbsterhaltung.
              Der menschlichen Gesellschaft zu entkommen, sich vor Krieg, Epidemie oder dem allgemeinen Zusammenbruch zu schützen ist eine Sache, sich dann aber gegenseitig zu überleben eine andere. Ein Prepper -Bootcamp in einer „Temporären autonomen Zone“ im kanadischen Wald ist die Spielwiese für aufgeklärte Bürger, die dann gar nicht so aufgeklärt sind. „Bis zum Untergang“ ist ein geradliniger und grimmiger Survival-Flick im Utilitarismus - Modus, der als knarziger Genre-Flim mit seinen gesellschaftlichen Themen flirtet, mit plausiblen (wenn auch nicht besonders tiefen) Charaktere aufwartet und überraschend grantig mit ihnen umgeht. Irgendwelches Neuland betritt dieser effizient-bescheidene Film aber nie.
              6,5 Bomben basteln.

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              • 7

                Sonne, Sex und Vergnügen.
                Mit dem Flair von Luca Guadagnino und Éric Rohmer erzählte Coming-of-Age-Geschichte für die heranwachsende Teenagergeneration in einer # MeToo-Welt. Mit entspannten Blick auf die Geschlechterbilder fängt der Film das frivole Spiel zwischen ungeniert mächtigen Alpha-Männern und jüngeren, selbstbewussten Frauen ein. Weibliche Objektivierung und sanfter Feminismus gehen Hand in Hand durch das mondäne Cannes. So entsteht eine Emanzipationsgeschichte, die mehr beobachtend als verurteilend ist und mit unseren Vorurteilen spielt.
                7 sehr knappe Bikini-Tangas.

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                  lieber_tee 30.03.2020, 15:08 Geändert 24.04.2022, 22:54

                  Sich verkleiden, Spaß haben, feiern und ein bisschen gruseln...
                  Ein faszinierendes Spukhaus mit Holzlatten gesäumten Hallen, wo enge Tunnel in dunkle Räumen führen, wo unsichtbare Gefahren lauern... Ach, wenn die eigentliche Geschichte ebenso erfinderisch wäre wie das Bühnenbild. „Haunt“ ist ein altmodischer, garantiert meta-freier Halloween-Slasher, etwas besser gemacht als die meisten anderen. Aber er ist in keiner Weise auffallend, dafür bietet seine spannungsfreie Geschichte, um uninteressante Teenager, die im SAW-Modus abgeschlachtet werden, keinen Mehrwert. Ohne Innovationen wird hier (wieder einmal) Gore mit Grusel verwechselt.
                  5 Schrotflinten.

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                    lieber_tee 29.03.2020, 19:09 Geändert 30.03.2020, 15:17

                    Harry Potter trifft Indiana Jones als Dungeons & Dragons-Rollenspiel mit Fabelwesen.
                    Der Film funktioniert gerade genug, um passabel zu sein. Alles, aber auch alles, fühlt sich vertraut an, das besondere Etwas fehlt. „Onward“ ist mechanisch-fröhlicher Dienst nach Wohlfühl-Vorschrift. Die Magie, die er ständig einfordert, fehlt ihm. Leicht amüsant plätschert der Streifen so vor sich hin, mit den typischen, pädagogisch wertvollen Anmerkungen über Selbstvertrauen und Verlust bzw. Bedeutung der Familie. Das ist nicht schlecht, teilweise sympathisch, aber entspricht nicht mehr den hohen Standards von Pixar, ist nur noch unternehmerische Unterwürfigkeit gegenüber dem Mäusekonzern.
                    5 im Müll wühlende Einhörner.

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                    • 4
                      über Primal

                      Alamstufe Rot mit weißer Raubkatze.
                      Die krude Idee, einen irren Großwildjäger-Cage, matschigen Albino-CGI-Jaguar und psychopathischen Massenmörder mit einer gruselig Botox-verseuchten Famke Janssen auf einen rostigen Kahn einzusperren und zu schauen was passiert, ist herrlich dämliches B-Movie-Futter. Was als erfreulicher Unsinn funktioniert hätte, ist letztlich aber nur ein müder Rohrkrepierer, weil er sich einfach weigert in seine Verrücktheit einzutauchen. Das klaustrophobische Raubtier vs. Mensch-Spiel findet nicht statt, die Fellnase läuft wie Falschgeld durch die Kombüse. Leider ist "Primal" selbst nach den entspannten Maßstäben des Trash-Kinos entmutigend zahm, bleibt ein Flickenteppich aus anderen Genrefilmen, unbeholfen zusammen-gewebt.
                      Als Cagesploitation aber ok.
                      4 mal ins Blasrohr pusten.

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                      • 3
                        lieber_tee 28.03.2020, 12:55 Geändert 28.03.2020, 15:45

                        „Ich werde dir im Eilverfahren den Arsch fisten!“
                        Prolls, Porsche und Pistolen. Wer die menschenverachtenden Originale kennt, mit ihrer vulgären Männlichkeit, wer Michael Bays nationalistische, rassistische und frauenfeindliche Auswürfe „schätzt“, der bekommt hier einen müden Abklatsch für Rentner mit Farbfilter. Ohne eigene Handschrift, ohne hyperbolischen Stil. „Bad Boys For Life“ ist die flach nacherzählte Version der Vorgänger, atmet das 90er Jahre Verfallsdatum. Ein außer Kontrolle geratenes Ego von Bay's früheren Einträgen fehlt (und das ist auch gut so). Nur ohne solche exzessiven Actiongewitter wird offensichtlich wie banal das ganze Konzept der Reihe ist. Das tonale Durcheinander aus mäßig-lustigen Einzeiler für Einzeller und zynischer Gewalt wirkt wie eine auf einen nostalgischen Rollator gespannte Telenovela, die ungelenk das intellektuelle Niveau von Amöben befriedigt.
                        3 Beulen am Kopf.

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                        • 4
                          lieber_tee 28.03.2020, 02:34 Geändert 28.03.2020, 02:37

                          Dummer Spaß für Jungens mit Dieselantrieb.
                          In "Bloodshot" verprügeln sich Supersoldaten gegenseitig mit ihrer Nano- und Prothesen-Technologie. Der Cyberpunk-Standardformel (irgendwo zwischen Universal Soldier 2.0 und Punisher) folgend, inszeniert hier ein offensichtlicher Visual effects – Künstler die Comic-Vorlage wie ein Videospiel. Explosive Versatzstücke, blöde Witze und Handlungslöcher werden mit dem ständigen Blick auf den Arsch der einzigen Frau im Film ergänzt. Die erste halbe Stunde hat dabei durchaus den kruden Charme eines B-Movies. Aus dem interessanten Twist macht der Film aber nix. „Bloodshot“ untergräbt niemals die Erwartungen des Publikums oder wird zu einem intelligenten Actionfilm. Er ist so originell wie ein umgekippter Sack Mehl in einer Bäckerei.
                          4 mal Unterwasser Yoga üben.

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                          • 7
                            über Intrige

                            Lügen sind nie Wahrheiten.
                            Roman Polanskis historischer Politthriller um die Dreyfus-Affäre ist altmodisch. Seine Themen um politischen Machtmissbrauch, Korruption, manipulative Medien, Judenfeindlichkeit und Sündenbockterror sind es allerdings nicht. Nüchtern und präzise erzählt der Filmemacher die komplizierte Geschichte aus Spionage, Fake-Beweisen und Zeugenabsprachen als sanft fliessender Krimi für die Gerechtigkeit. Ob der Film letztlich auch die verzerrte Justiz-Opferdarstellung eines Regisseurs ist, der seinen sexuellen Missbrauchs rein waschen will, kann jeder für sich selbst entscheiden, auch wenn einige Aussagen in Interviews von ihm dazu mehr als unglücklich sind. Losgelöst von dieser Sichtweise ist „Intrige“ allerdings eine professionelle Handarbeit. Wie ein schweres viktorianisches Möbelstück, das faszinierend anzuschauen ist und beim Hochheben kann man aktuellen braunen Staub entdecken.
                            7 geprüfte Handschriften.

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                            • 6

                              Hereditary On Ice.
                              Eine Frau und zwei Kinder, allein in einem abgelegenen Haus, diese Anordnung haben das Regieduo Franz & Fialla bereits in ihrem Debüt durchgespielt. Hier gibt es die Wintervariante. Die beiden wissen wie man einen künstlerisch strengen, quälend langsamen Slow Burner in Szene setzt und mit eisigen Schocks garniert, bis zum bitteren Ende. Teilweise 1:1 kopieren sie ihren Vorgänger (aseptisches Haus-Setting, statische Kameraeinstellungen, rüde Familiendekonstruktion usw.) und ergänzen sie mit Motiven aus Hereditary (Puppenhaus, Todestrauma usw.). Gekonnt wird ein frostiges Gefühl des Unbehagens erzeugt, durch Perspektivwechsel Angst und Klaustrophobie generiert. Die Kamera durchstreift das Haus wie ein Dämon in einer dysfunktionalen Familie, um in eine Pietà religiöser Manie zu enden.
                              Leider werden im Film immer und immer wieder die gleichen ereignisarmen Standardsituationen des Genres ausgespielt, die Aufmerksamkeitspanne wird ebenso gedehnt wie die Spannungsbögen, bis beiden die eisige Luft ausgehen. Das in diesem Konzept der emotionalen Zugang, die Sympathie zu den unterkühlten Figuren verloren geht ist ein weiterer Nachteil, mitgefiebert habe ich mit niemanden hier.
                              6 Puppenbewohner.

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                              • 7 .5

                                Die vergiftete Welt der Männer und Frauen in Strumpfhosen.
                                Eigentlich leide ich an Superheldenermüdung. Marvel bringt mich nur noch zum Gähnen. Die erste Staffel von „The Boys“ hat aber mein Blut wieder zum pumpen gebracht. Hier wird sich im Dreck aus Gier und Ehrgeiz gesuhlt, hier wird deutlich das Superman & Co.eigentlich Soziopathen sind. Die Serie ist eine messerscharfe Satire auf Superhelden-Tropen, gepaart mit einem dunklen Blick auf eine korrodierte (US-) Gesellschaft, wo institutionelle Macht, sei sie staatlich, religiös oder der Disney-Unternehmenskapitalismus, zynisch angeprangert wird.
                                Die Show ist nicht das Splatterfest wie oft geschrieben wird, ist auch kein wirklich subversiver Mittelfinger gen Marvel und DC, aber sie hinterfragt die kopflose Fan-Verehrung von Superhelden und den manipulativen Werte-Charakter der Firmen die sie erschaffen. Auf den ersten Blick wirkt der obszöne Brachialhumor eher platt, doch zunehmend finden sich kluge, zeitweise sogar subtile Töne von Menschlichkeit und Empathie im Drehbuch. Dies ist das Fundament, damit die Jungs uns dann, mit absurder und rücksichtsloser Gewalt, die Obsessionen der Heldenverehrung um die Ohren hauen können.
                                7,5 mal im Todesstrahlengemetzel sterben.

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                                • 7 .5
                                  lieber_tee 04.03.2020, 00:08 Geändert 04.03.2020, 01:32

                                  Die Zuschauer in Detektive verwandeln.
                                  „Knives Out“ ist ein angenehmer Beleg dafür, dass Risikobereitschaft doch ein Schlüsselfaktor für kommerziellen Erfolg sein kann. Denn wer hätte gedacht, das eine Brettspielverfilmung von Cluedo so gut ankommt. Mit Sinn für trockenen Humor und Spannung schüttelt das Feindbild aller chronisch unzufriedenen Star-Wars-Fans Rian Johnson einen bekömmlich-eleganten Agatha Christie-Whodunit aus seinem selbstbewussten Ärmel, ebenso smart wie frisch wie modern. Davon kann sich Disney- Lakai Kenneth Branagh (siehe seine selbstgefällige Mord im Orient-Express-Verfilmung) eine fette Scheibe Esprit abschneiden.
                                  7,5 mal über knarrende Treppenstufen stolpern.

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                                    lieber_tee 03.03.2020, 00:03 Geändert 03.03.2020, 00:13

                                    Staffel 2
                                    Schwarze Lederjacken und Hoodies im 24. Jahrhundert.
                                    Puh, durch diese Staffel habe ich mich gequält...
                                    Die allgemeine Prämisse über existenzielle Fragen zu Identität und Menschlichkeit wird fortgesetzt, offensichtlich mit weniger Budget und Gestaltungswillen, mit weniger Sex & Crime. Der neue Hauptdarsteller wird ausgetauscht, weil der Vorherige nicht beim Publikum ankam. Leider ist Anthony Mackie mindestens ebenso uncharismatisch und ebenso wenig geeignet als emotionaler Kern der Geschichte wie sein Vorgänger, denn ein mürrischer Gesichtsausdruck für 8 Folgen reicht einfach nicht. Die Romanvorlagen werden zu einem breiigen Cyberpunk-Hokuspokus destilliert. Da hilft nicht das Gender- und Ethnieübergreifende Casting. Altered Carbon 2.0 ist etwas geradliniger als die stotternd erzählte erste Staffel, dehnt seine eigentlich recht dünne Geschichte aber mit Plotblocking aus. Stattdessen gibt es viele banale Wendungen, die aus dem Hut gezaubert werden, mit unmotivierten John Wick-Einlagen garniert, die Pappmaché-Kulissen albern zertrümmern müssen. Hier trifft Anti-Helden-Coolness auf pathetische Seifenoper-Melodramatik, teilweise kaum in seiner Aufgesetzheit zu ertragen.
                                    4 glitzernde Bäume.

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                                    • 6

                                      Staffel 1
                                      In Wolkenkratzerstädten, hoch über der Erdoberfläche, kämpfen und ficken...
                                      Netflix's dystopische Cyberpunk-Show ist genauso erzählt wie sie Körper austauscht und zerstückelt. Grob einer Neo-Noir-Detektiv-Story folgend, wird menschliches Fleisch durch die pervertierten Machtstrukturen des Kapitalismus kommerzialisiert, zweckentfremdet und entmenschlicht. Unerbittlich und brutal ist diese Form von Body-Horror, angereichert mit reichlich Sadismus, Sex, blutiger Gewalt und coolen Slo-Mo-Actionszenen vor atemberaubend designten Kulissen. Die Schau-Lust ist garantiert. Aber der Versuch ein anständiges, futuristisches World-Building zu erschaffen und die düstere Hauptfigur emotional zu grundieren geht in einer chaotischen Rückblenden-Struktur, geisterhaften Monologen und unzähligen Neben-Plots verloren.
                                      Jede Folge ist überladen. Die Serie entwickelt nie einen wirklichen Flow, findet bis zum Ende hin nicht ihren Rhythmus. Sie rumpelt durch Bilder voller grausamer Schönheit und einem Sammelsurium an phantastischen Ideen aus dem Cyberpunk-Universum. Die Fülle an Informationen erschlägt den Zuschauer. Selten wird den Mythologien, den Technologien und Dopplungen, wirklich mal Raum gegeben. Sie bleiben immer irgendwie vage, angerissen, nie zu Ende formuliert. Hauptdarsteller Joel Kinnaman ist dabei keine große Hilfe. Als nackter, muskulöser Wandschrank fehlt ihm das Charisma um den mürrisch-zynischen Hardboiled-Helden Tiefe zu geben und die Serie emotional zusammen zu halten.
                                      Allerdings schludrig ist dieses Prestige-Projekt von Netflix auf keinen Fall. Vielleicht einfach zu ambitioniert im Versuch eine Alleinstellungsrolle in der gesättigten Serien-Landschaft zu sein. Und so ist ein Augenschmaus aus Schmerz, Gewalt und Sex in einer bombastischen Flut aus irren Momenten und Bildern entstanden, der seinen erzählerischen Anspruch nicht selbst aufrechterhalten kann. Denn letztlich behandelt die Show das Leben, den Körper doch zu sehr wie eine austauschbare Hülle.
                                      6 Folterkammern in der virtuellen Realität.

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                                        Im Darm der Geldgier abgleiten.
                                        Die 134-minütige Panikattacke der Safdie-Brüder ist ein als flirrender Fiebertraum getarnter Film, der brillant-anstrengend die unerbittliche Natur der Geschichte präsentiert. Der nervöses Nervenkitzel und die Verzweiflung des Spielsüchtigen sind nahe zu körperlich für den Zuschauer spürbar. Mit grosser Lust werden die quälenden Daumenschrauben angesetzt. Wie der zwanghafte, mit Gold behangener, Adam Sandler seinem eigenen Untergang entgegen tänzelt, ähnelt dem Irrsinn eines Martin Scorsese oder Abel Ferrara. Unflätig und egoistisch, aber im Kern doch liebenswert, sehen wir einer armen Sau zu wie sie sich selbst degeneriert. Ob der Film als fetischistische Kapitalismuskritik gedacht ist, mag ich aber zu bezweifeln.
                                        7 magische Edelsteine.

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                                          „Spreng was in die Luft, oder erschiesse jemanden. Nichts verschafft dir die Aufmerksamkeit eines Typen so sehr wie Gewalt.“
                                          Die Ex vom Joker kompensiert ihren Verlust als bemüht anti-bürgerliches Modepüppchen. Als Glitter-Pippi Langstrumpf und 80er Jahre Nina Hagen, definiert sie ihre Unabhängigkeit gegen das Patriarch damit, das sie den toxischen Arschloch-Männern (und das sind alle) mit einem Lustgefühl den feministischen Baseballschläger um die Ohren haut. Um dieses Konfetti-Empowerment zu verstärken, gründet sie eine Selbsthilfegruppe prügelnder Power-Pussies.
                                          Die knallbunte Comic-Klopperei ist dann immer gut, wenn sie wie ein schillernder Fiebertraum und irres Kampfballett in Szene gesetzt ist. Wenn Chaos und Witz zu Zuckerwatte verschmelzen. Die Handlung, sowie die Psychologie der Figuren, bleibt dabei recht überschaubar, sind halt alle irgendwie geisteskrank. Auf die Dauer nervt der Film allerdings in seinem selbstironischen Popkultur-Bewusstsein im Deadpool-Modus. Sprunghaft und seltsam unmotiviert hampelt er herum und will flach-witzig das kommerzielle Bedürfnis frauenzentrierter Comicfilme bedienen. Die penetrante Aufgesetztheit, der Sinn für ständige Übertreibung, ist letztlich nur eine falsch verstandene, pubertäre Phantasie von weiblicher Ermächtigung, bleibt eine simple Plattitüde von widerspenstiger Frauenpower.
                                          "Birds of Prey" will hoch fliegen, fällt aber tief.
                                          5 Plastikgeschosse der Emanzipation.

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                                          • 7

                                            Kiffe, Kloppe und Kanonen.
                                            Schön, das der Meister des ironischen Retro-Gangsterkinos seinen hochstilisierten Stil aus dem Korsett des Disneylands befreien durfte und hier die Komfortzone seiner Fans bedient. Entstanden ist ein cool-flotter Guy Ritchie-Groove. Das ist nix Neues, aber mit viel Energie, Vulgarität, blitzschnellen Stakkato-Dialogen, frechen Meta-Selbstbewusstsein und Tarantino-Ehrungen werden raubtierartige Macker-Prahlereien abgefeiert und dekonstruiert. Dabei wirken die ausgefallenen Schnörkel des Films wichtiger als die irrelevante Handlung aus Gangster-Stereotypen. Auch wenn einige der Wendungen bei weitem nicht so kurvig sind wie sie erscheinen, die charismatisch-unerzogene Besetzung kompensiert etwaigen Leerlauf mit viel knisternden Zynismus.
                                            7 Lawinen von Obszönitäten

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                                            • lieber_tee 21.02.2020, 19:22 Geändert 21.02.2020, 19:22

                                              Leider wird bei diesem Hintergrundartikel und auch bei dem Film, der offensichtlich ein kritikloses Denkmal für Menschlichkeit und Mut sein will, der anschliessende Teil der Helden-Geschichte (Mobbing, Verweigerung von Versicherungszahlungen) nicht erwähnt... https://www.stern.de/kultur/film/-no-way-out---gegen-die-flammen---die-haessliche-wahrheit-hinter-dem-feuerdrama-von-yarnell-7968358.html

                                              6
                                              • 6 .5
                                                lieber_tee 16.02.2020, 00:55 Geändert 16.02.2020, 01:26

                                                Arthouse Noir.
                                                Hier wird mit drolligen Ton sozialer Realismus als cineastisches Artefakt-Kino erzählt. Die kuriosen Archetypen des Polizei-/Gangsterfilms sind Vorlagen für eine Neo-Noir-Geschichte um Betrug und Gier. Das hat reichlich Stil, aber nicht so viel Substanz wie viele Kritiker dem Film einreden wollen, denn das Thema von politischer und bürokratischer Korruption ist oftmals nur heiße Luft. „La Gomera“ ist immer dann interessant, wenn er wie eine ironische Stilübung über vergessenes Genrekino wirkt. Die Figuren sind dabei (absichtlich?) emotional mangelhaft, die Story (absichtlich?) verworren, das Komödiantische sanft absurd, um dann überraschend geradlinig (zum Ende hin) die Krimikonventionen zu bedienen. Ob dieses Vexier-Spiel nur wirklich als ein gesellschaftliches Spiegelbild gedacht ist zweifle ich etwas an, denn nur weil Regisseur Corneliu Porumboiu zur rumänischen Neuen Welle gehört muss er nicht gleich sozialkritische Befindlichkeiten erzählen wollen.
                                                6,5 mal dem Vogelgezwitscher lauschen.

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                                                • 6
                                                  lieber_tee 15.02.2020, 01:20 Geändert 15.02.2020, 03:24

                                                  „Mord ist Mord, egal wer du bist!“
                                                  Passabler, urbaner Cops-Ploitation-Ausflug, der zwar ziemlich vorhersehbar ist, trotzdem eine straffe Dringlichkeit entwickelt und seinen moderaten Thrill mit angemessenen Realismus in die harten Realitäten von Rassismus und weißer Vormachtstellung verordnet. Als sozialen Kommentar über Polizei-Korruption und Entfremdung von Minderheiten, ist der Streifen voller formelhafter Plattitüden, aber als ordentliches B-Movie völlig ok, gerade weil Naomie Harris als emotionales Zentrum großartig ist und dem klobigen Material mehr Tiefe gibt als erwartet. Wer allerdings einen weitaus intensiveren Film mit dieser fast identischen Thematik sehen will, sollte sich (aktuell) „Die Wütenden – Les Misérables“ anschauen.
                                                  6 mal die Polizeiweste tauschen.

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                                                  • 1 .5
                                                    lieber_tee 14.02.2020, 00:23 Geändert 14.02.2020, 00:27

                                                    „Der rechtmässige Platz in der zweiten Reihe.“
                                                    Ohne Frage brauchen wir mehr weibliches Genrekino. Der Versuch eine Mischung aus Horror und Statement zur Vergewaltigungskultur in der # MeToo-Ära zu wagen, ist im Prinzip eine spannende Idee. Aber leider ist Black Christmas 3.0 ein schlampiger Film. Hier wurde Gore einfach mit Pseudo-Feminismus ersetzt. Das ist so, als ob man statt einem blutigen Steak gedünstetes Gemüse mümmelt. Saft- und kraftlos. Regisseurin Sophia Takal will das Original-Material in einen sozialen Kommentar über Unterdrückung der Frauen durch die Männer umwandeln, behandelt diese gesellschaftliche Thematik aber flach und herablassend dumm. Besonders im dritten Akt, wegen seiner lächerlich-übernatürliche Entwicklungen, verkackt der Film in allen Belangen. Die palliative Katharsis gegenüber dominierende Macho-Arschlöchern, wird als feministischer Weihnachtspunsch serviert, der so aber einfach nur fade schmeckt und den gesamten Empowerment-Ansatz in kontraproduktive Idiotie verwandelt.
                                                    1,5 Ameisen.

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