Patrick Reinbott - Kommentare

Alle Kommentare von Patrick Reinbott

  • 4

    Mit "It: Chapter Two" ist Andy Muschietti endgültig der Michael Bay des Horrorfilms geworden. Schon der Vorgänger, der die parallelen Zeitlinien aus Stephen Kings Romanvorlage aufbrach und ausschließlich den Handlungsstrang der Protagonisten als Kinder erzählte, war ein zutiefst schizophrener Film. Einerseits gelang es Muschietti, die im Jahr 1989 angesiedelte Geschichte nie zur bloßen Aneinanderreihung nostalgischer Referenzen verkommen zu lassen. Stattdessen war "It" in den besten Szenen eine Geschichte über die lebensrettende Notwendigkeit von Freundschaft und Zusammenhalt, die sich aufgrund der tollen Chemie zwischen den Kinderdarstellern als stellenweise berührender Coming-of-Age-Film entfaltete.
    Andererseits versagte der erste Teil als Horrorfilm beinahe auf ganzer Linie. Abgesehen von einer beängstigenden Auftaktszene und gelegentlichen visuell einfallsreichen Setpieces verkam Kings Roman, in dem der Autor den Horror als metaphorische Manifestierung innerster Urängste und schmerzlicher Traumata begriff, zur tosenden Geisterbahnfahrt voller generischer Jumpscares und Effekte, die einem mit ohrenbetäubender Lautstärke und mitunter grässlichen CGI-Effekten entgegenstürzten.
    In der Fortsetzung "It: Chapter Two" sind nun 27 Jahre vergangen, nach denen das pure Böse erneut die fiktive US-Kleinstadt Derry heimsucht. Die Freunde des Clubs der Verlierer sind längst zu Erwachsenen geworden, die getrennt voneinander eigene Lebenswege verfolgt haben. Nur Mike hat Derry nie verlassen. Der Bibliothekar ist sofort in Alarmbereitschaft, als die Stadt erneut von einer Mordserie erschüttert wird, die er umgehend mit dem zurückgekehrten Bösen in Gestalt von Pennywise in Verbindung gebracht. Nach und nach versammelt er den Club der Verlierer, die ihre Erinnerungen nach dem damaligen Triumph über Pennywise weitestgehend verloren haben, um gemeinsam erneut den Kampf gegen das Böse anzutreten.
    Für viele Fans der Romanvorlage gilt die zweite Hälfte des Buchs als auffällig schwächerer Teil, weshalb bereits im Voraus Bedenken aufkamen, wie Muschietti die gewaltige Geschichte weiterführen und vor allem zu einem zufriedenstellenden Abschluss bringen will. Über auslaugende 169 Minuten hinweg entpuppt sich "It: Chapter Two" dabei als faszinierend gescheiterter Film, der Kings Roman endgültig zerfleddert und sich in losen Erzählfäden verheddert. Trotz des erneut hervorragend ausgesuchten Ensembles, in dem hochkarätige Darsteller wie Jessica Chastain, James McAvoy, Bill Hader und James Ransone ihre kindlichen Gegenparts aufgreifen und deren Verhalten im Erwachsenenalter oftmals hervorragend widerspiegeln, ist "It: Chapter Two" ein gehetztes Horror-Blockbuster-Spektakel im Hochglanzformat, das über charakterliche Vertiefungen brachial hinwegrast.
    Anstelle der strikten Trennung zwischen den beiden Zeitlinien wie noch in Teil 1 klammert sich das Sequel zudem fast schon verzweifelt an regelmäßig eingestreute Rückblenden, in denen der Kinder-Cast erneut auftritt. Dadurch begeht Muschietti genau den Fehler, den er im Vorgänger noch vermieden hatte, und ergibt sich einer Form von nostalgischem Schwelgen, das die in der heutigen Gegenwart verortete Geschichte ständig aus ihrem ernüchternden Kontext reißt. Dabei wird Nostalgie noch stärker zum treibenden Motor der Geschichte, wenn sich der erwachsene Club der Verlierer in Derry auf eine Spurensuche nach bestimmten Gegenständen aus ihrer Vergangenheit begeben muss, um Pennywise in einem speziellen Ritual endgültig bezwingen zu können.
    Während sich "It: Chapter Two" im ersten Drittel noch als vielversprechende Fortsetzung gestaltet, in der alte Narben wieder aufgerissen werden und sich ein vergangener Schrecken der Kindheit immer wieder in den gezeichneten Gesichtern der gegenwärtigen Erwachsenen abzeichnet, zerfällt das Sequel zunehmend in episodenhafte, redundante Einzelteile. Die Trennung der wiedervereinigten Hauptfiguren zugunsten der Suche nach den Artefakten folgt erneut dem exakt gleichen Schema des Vorgängers, bei dem das Böse wie eine polternde Zirkusattraktion oder als Geisterbahn-Springteufel entfesselt wird. Teil 2 folgt hier zusätzlich dem Steigerungsprinzip und setzt dem exzessiven Gestaltungswillen des Regisseurs (leider) keine Grenzen. Wenn Muschietti das eigentlich irrationale Böse in den vielfältigsten Kreaturen-Erscheinungen heraufbeschwört, fühlt sich "It: Chapter Two" in Verbindung mit dem aufdringlichen Jumpscare-Konzept der Szenen tatsächlich immer wieder so an, als hätte Michael Bay einen "Conjuring"-Film gedreht. Jegliche Anflüge von wirklichem Grusel oder subtilem Horror werden unentwegt von humorvollen One-Linern aufgebrochen, während die Figuren mehr und mehr in ihre eindimensionalen, von Anfang an vorgezeichneten Charaktereigenschaften gepresst werden, um die gleichzeitig überfüllte und unterentwickelte Handlung voranzutreiben. Auch Bill Skarsgårds Darstellung als Pennywise wird, bis auf eine gelungene Szene mit einem kleinen Mädchen unter der Tribüne eines Baseballspiels, meistens bis zur Unkenntlichkeit mit grotesken CGI-Effekten überdeckt.
    Spätestens im unnötig langgezogenen Finalakt überschlägt sich der Film schließlich mit monströsen Purzelbäumen ununterbrochen selbst, um die Geschichte so aufbrausend wie möglich zu beenden. "It: Chapter Two" ist hier längst zu einem frustrierenden Horror-Blockbuster-Kuriosum verkommen, das sich dem Publikum mit überlauten Jumpscare- und Monsterexzessen, nostalgischen Rückblenden, skurrilen Cameos (Peter Bogdanovich!), unbeholfenen Charaktermomenten und notdürftig konstruierten, übereilten Entwicklungen so penetrant vor die Füße wirft, dass man fast Mitleid bekommt.

    29
    • 6
      über Crawl

      Zuletzt kamen durchaus berechtigt Sorgen um Alexandre Aja auf. Mit Filmen wie dem ungestümen Genre-Mix "Horns" und vor allem der kruden Vermischung von Mystery-Thriller und Melodram "The 9th Life of Louis Drax" entfernte sich der französische Genre-Filmemacher immer stärker von seinen Wurzeln. Dabei war Aja als Name ab 2003 jedem Horror-Fan ein Begriff, als er mit dem beeindruckend inszenierten Terror-Feuerwerk "High Tension" schlagartig zu den eindrucksvollsten Vertretern der Neuen französischen Härte zählte. Auch anschließend wirbelte Aja die Horrorlandschaft mit seinem knüppelharten Remake von Wes Cravens "The Hills Have Eyes" weiter auf.
      Mit "Crawl" wollte sich der Regisseur laut eigener Aussage wieder zurück zu diesen Anfangszeiten seiner Karriere bewegen, in denen todernste Härte und intensive Terror-Spannung das Publikum im Klammergriff gefangen hielten. Auch wenn Aja das Tierhorror-Genre mit "Piranha 3D" selbst schon einmal bediente, fehlt seinem neuesten Werk vollständig jener augenzwinkernd-überzogene Partyfaktor, der den Film von 2010 zu einem lockeren Vergnügen voller blutiger Späße machte. Auch die Beteiligung von Produzent Sam Raimi, dessen Horrorfilme wie die "Evil Dead"-Reihe oder "Drag Me to Hell" stets dem Over-the-Top-Exzess verschrieben sind, fällt spürbar unauffällig aus.
      In "Crawl" regiert stattdessen eine vollkommen unironische Ernsthaftigkeit, die Aja mit seinem handwerklichen Können zu einem geradlinigen Horror-Reißer verbindet. Dabei offenbart sich der Film über weite Strecken als dichtes Kammerspiel, das der Regisseur mit einem Rahmen des globalen Schreckens versieht. Ein Hurrikan der Kategorie 5 wütet über Florida, wo die Protagonistin Haley inmitten des Unwetters auf der Suche nach ihrem Vater Dave ist. Fündig wird sie im alten Familienhaus, das Dave aufgrund der Scheidung von seiner Frau schon vor Jahren verkaufen wollte. Im Keller findet die Tochter den Vater schließlich bewusstlos und mit schweren Bisswunden, während der Keller aufgrund des stetig ansteigenden Wasserspiegels sowie der Anwesenheit tödlicher Alligatoren zum Gefängnis für Vater und Tochter wird.
      Wie präzise und beklemmend Aja die begrenzten Räumlichkeiten des einengenden Kellergewölbes mit der Kamera von Maxime Alexandre auslotet, verleiht seinem Film eine bedrohliche Eindringlichkeit, die weit über die regelmäßig eingestreuten Attacken der Alligatoren hinausgeht. Auch wenn "Crawl" offensichtlich als universelle Warnung vor der drohenden Klimakatastrophe aufgefasst werden kann, entfalten sich die stärksten Qualitäten von Ajas Streifen durch die konzentrierte Reduzierung auf pures Spannungs- und Terrorkino, das der Franzose noch immer bemerkenswert beherrscht. Kurze Schockmomente, die in plumper Jumpscare-Manier vor allem über die laute Tonspur erzeugt werden, sind glücklicherweise eher die Seltenheit. Stattdessen dominiert der ebenso genüsslich wie konsequent kompromisslos in die Länge gezogene Überlebenskampf von Vater und Tochter, den Aja immer wieder mit derben Splatter-Spitzen garniert.
      Zwischen den brutalen Momenten, in denen die schablonenhaften Nebenfiguren ihr blutiges Ende erleben und Körper in Stücke gerissen werden, und den mitreißenden Momenten, in denen Haley im Wasser den Wettkampf gegen die Alligatoren antreten muss, haben die Drehbuchautoren Michael und Shawn Rasmussen ihr Skript jedoch zusätzlich mit einem Vater-Tochter-Konflikt rund um Schuld und Wiedergutmachung aufgeladen. Schon die ersten Szenen des Films, die als Rückblenden angelegt sind, zeigen Haley in ihrer Kindheit als Wettbewerbsschwimmerin, die von Dave zu unentwegtem Erfolg gedrillt wurde. Direkt zu Beginn sind es langgezogene, kontrollierte Bewegungen, die die Hauptfigur über die lange Bahn im Schwimmbad hinlegt, welche später hektischen, unkontrollierten Impulsen weichen. Auch wenn das geschädigte Verhältnis zwischen Vater und Tochter im Verlauf des Films überdeutlich wiederholt ausgesprochen wird, gelingt es Aja, entscheidende Konflikte auf die Körper und in die Bewegungen seiner Figuren zu projizieren.
      Aufklaffende Logiklücken und fragwürdige Entscheidungen kaschiert der Regisseur zudem spätestens im letzten Akt des Films, wenn sich "Crawl" aus dem klaustrophobischen Kammerspiel mitten ins Herz des Hurrikan-Schreckens begibt. Trotz des vergleichsweise niedrigen Budgets von 13,5 Millionen Dollar, mit dem auch die animierten Alligatoren erstaunlich effektiv in Szene gesetzt wurden, bricht Ajas Film spätestens hier als apokalyptisches Doomsday-Szenario über den Betrachter herein. Letztlich sind es weniger die Krokodile als vielmehr ein von Menschen geschaffenes Unheil, das in "Crawl" durch innere Traumata an die Oberfläche gedrungen ist und mit unaufhaltsamen Wassermassen alle Kammern und Nischen der ungelösten Schuldgefühle überflutet.

      20
      • 8

        Über den Verlauf seiner bisherigen Karriere hat sich Alex Ross Perry in der amerikanischen Independent-Szene als verlässlicher Schöpfer herausfordernder Charakterporträts am Rande der Erträglichkeit etabliert. Filme wie "The Color Wheel", "Listen Up Philip", "Queen of Earth" und "Golden Exits" wurden dabei stets von Figuren bevölkert, die mit exzentrischem Egoismus, herablassendem Narzissmus oder vollends psychotischem Wahnsinn um sich selbst kreisten. So dialoglastig Perry seine Werke auch anlegt, was ihn durchaus in die Nähe vergleichbarer Regisseure wie Woody Allen und Noah Baumbach rückt, so scheitern seine Charaktere meist an der mangelnden Kommunikation miteinander. Oftmals sind es vielmehr die unausgesprochenen Gesten und vielsagenden Blicke im Schaffen des Regisseurs, denen die stärkste Bedeutung zuzuschreiben ist.
        Wirkte "Golden Exits" nach der kräftezehrenden Intensität von "Queen of Earth" noch wie ein zurückgenommeneres Werk, das sich bei näherer Betrachtung nichtsdestotrotz als einer von Perrys komplexesten Filme offenbarte, kommt "Her Smell" von Anfang an einem wüsten Frontalangriff gleich. Im allgemein unbequemen Schaffen des Regisseurs nimmt sein neuester Streifen noch einmal eine Sonderstellung als kaum erträgliches Drama ein, das direkt in der Hölle beginnt. Diese Hölle formt der Regisseur aus Einstellungen, die zu Beginn den hektischen Backstage-Bereich eines Konzert-Veranstaltungsortes ausloten. Hier hat die Hauptfigur Becky Something anfangs einen Auftritt mit ihrer komplett weiblich besetzten Punkrock-Band Something She. Nachdem sich die Musikerinnen auf der Bühne sichtlich verausgaben, beginnt der wahre Wahnsinn von Perrys Film jedoch erst hinter den Kulissen.
        Unnachgiebig bewegt sich die Kamera von Sean Price Williams durch die Flure und Räume im Backstage-Bereich, der so als schummrig-schmutziges Labyrinth gestaltet wird. Durch dieses bewegt sich die Protagonistin nicht etwa als tickende Zeitbombe, sondern als unentwegt explodierende Atombombe, die alles um sich herum mit sich in den Abgrund zu reißen droht. Elisabeth Moss, die durch wiederholte Zusammenarbeiten mit Perry in der Vergangenheit mittlerweile als Stammschauspielerin des Regisseurs bezeichnet werden darf, legt ihre abgestürzte Punkrock-Diva als deutliches Courtney Love-Pendant an. Trotzdem erhebt "Her Smell" dadurch nie Ansprüche eines Biopics. Moss verleiht ihrer Figur stattdessen auf großartige Weise eine ganz eigene Aura zwischen energiegeladener Überdrehtheit, rasender Verzweiflung und hysterischem Kokain-Rausch. Wenn die Musik des Bühnenbereichs im einleitenden Abschnitt des Films dumpf durch die Wände dröhnt und jede Szene eine unaufhörliche Abfolge rastloser Bewegungen darstellt, erinnert "Her Smell" gar an die beklemmende Thriller-Atmosphäre von Jeremy Saulniers "Green Room", in dem eine Punk-Band nach einem Konzert im Backstage-Bereich gegen Neonazis ums Überleben kämpfen muss.
        Auch in "Her Smell" geht es für die Hauptfigur ums Überleben, wobei Becky inmitten ihrer zugedröhnten Betäubtheit nicht realisiert, dass ihr schlimmster Feind sie selbst ist. Die Menschen um sie herum, ihr Manager Howard, ihr Ex-Mann Danny, ihre im Laufe des Films wechselnden Band-Kolleginnen und ihre Familienmitglieder, prallen allesamt an ihrem aggressiv-selbstzerstörerischen Temperament ab und werden zu Außenstehenden degradiert.
        Im Mittelpunkt der ersten, nahezu unerträglichen Hälfte von "Her Smell" steht ganz alleine Becky, die durch ihre Szenen tobt und schreit, sich übergibt und am Boden kauert, ihr laut schreiendes Baby ignoriert und zusätzlich einen Schamanen damit beauftragt, sie mit weiteren Substanzen in Form beunruhigender Rituale zu versorgen. In Nahaufnahmen ruht die Kamera zudem immer wieder im Gesicht der Protagonistin, das von einem überzogen freundlichen Grinsen sowie einer täuschenden Gelassenheit innerhalb von Sekunden in lautstarken Hass umschlägt. Perrys Film wütet derweil als filmgewordene Psychose am Nervenkostüm des Zuschauers und transportiert den schwer geschädigten Geisteszustand der Hauptfigur als ungefilterte Seherfahrung.
        Ein großer Unterschied zu Perrys bisherigen Filmen besteht bei "Her Smell" jedoch darin, dass sich der Regisseur erstmals für eine optimistische Form von Katharsis öffnet. Entgegen der üblichen Rise-and-Fall-Dramaturgie vergleichbarer Filme wie zuletzt die "A Star is Born"-Neuverfilmung mit Lady Gaga und Bradley Cooper hat Perry seinen Film in umgekehrter Reihenfolge angelegt. Die Geschichte, die der Regisseur über einen Zeitraum von 10 Jahren hinweg erzählt und anhand von fünf längeren Situationen ausbreitet, die sich jeweils in Echtzeit entfalten, bewegt sich von der puren Dunkelheit weg immer weiter in Richtung Licht. Irgendwann ist Beckys neugeborene Tochter längst ein junges Mädchen, während sich ihre Mutter als sichtbar sortiertere und doch immer noch stark unter sich selbst leidende Frau mühsam zurück ins Leben kämpfen will. In berührenden Momenten fehlen Becky die gesprochenen Worte, die sie stattdessen in gesungener Form sowie mithilfe von Coverversionen zum Ausdruck bringt. Ganz zum Schluss, und ein solcher Moment ist im Kino von Perry eine Seltenheit, ist es trotzdem erst das Bild des aufrichtig akzeptierten Zusammenhalts, das erstmals eine Art positive Zukunft verspricht. Damit wird "Her Smell" auf kuriose Weise zum gleichermaßen unerträglichsten wie versöhnlchsten Film des Regisseurs.

        17
        • 7 .5

          Mit seinem Spielfilmdebüt "Hereditary" wurde Ari Aster schlagartig zum neuen Horror-Hype im amerikanischen Indie-Sektor, der vom Verleih A24 durch Filme wie "Under the Skin", "The Witch" oder "It Comes at Night" regelmäßig abgedeckt wird. Asters brüchiges Familienporträt, in dem sich Traumata und zwischenmenschliche Spannungen zum beängstigenden Okkult-Schocker zwischen grotesker Komik und blankem Grauen hochschaukelten, stieß dabei auch den Diskurs an, inwieweit sich der Film als tiefschürfendes Drama überhaupt noch dem Horror-Genre zuordnen ließ. Asters Nachfolgewerk "Midsommar" trägt nun ebenfalls wieder die unverkennbare Handschrift des Regisseurs und könnte doch kaum einen radikaleren Bruch mit der Erwartungshaltung des Publikums nach "Hereditary" markieren.
          Was den neuen Film mit seinem Vorgänger verbindet, ist Asters genereller Genre-Ansatz, bei dem der Horror weniger als unerklärliche Präsenz von außerhalb angreift, sondern ein tief im Menschen verwurzeltes Grauen darstellt. Wer "Hereditary" gesehen hat, wird eine ganz bestimmte Sequenz daraus, die einen Unfall und die unmittelbaren Folgen davon beinhaltet, womöglich nie wieder vergessen können. Eine ähnlich schonungslose Form des emotionalen Terrors entfesselt Aster auch in "Midsommar" erneut an einer Stelle des Films, um den unvorbereiteten Zuschauer ebenso virtuos wie mit fast schon genussvollem Sadismus schwer zu traumatisieren.
          Ansonsten könnte sich "Midsommar" jedoch kaum stärker von "Hereditary" unterscheiden. Im Mittelpunkt steht das junge Pärchen Dani und Christian, die gemeinsam mit einer Gruppe von Freunden zu einer Reise nach Schweden aufbricht. Pelle, einer der Freunde, hat dort seine Familie und will die ganze Gruppe zu einem speziellen Fest der Sommersonnenwende in sein schwedisches Heimatdorf einladen, wo die festlichen Zeremonien alle 90 Jahre gefeiert werden. Dabei wird Dani von vornherein als klarer Störfaktor in der Männergruppe behandelt, die sich am liebsten untereinander den Verlockungen von Drogen und Frauen hingeben wollen.
          Von Anfang an macht Aster nicht nur klar, dass die Dinge hier nicht mit rechten Dingen zugehen, sondern auch, dass die Figuren selbst erneut ihre ganz eigenen Dämonen mit sich bringen. Im Gegensatz zur oftmals vorherrschenden Dunkelheit von "Hereditary" ist "Midsommar" dabei zum Großteil im gleißenden Tageslicht angesiedelt. Da die Sonne hier in Schweden niemals wirklich untergeht, befinden sich die Figuren zusammen mit dem Zuschauer des Films schnell in einem nicht enden wollenden Delirium, das sich aufgrund der bewusst überlangen Laufzeit von 147 Minuten (ein 25 Minuten längerer Director's Cut ist schon angekündigt) nach und nach wie ein viel zu langer Tag in der prallen Sonne anfühlt.
          Der Regisseur beobachtet die Rituale und Bräuche der kultisch anmutenden Dorfgemeinde ebenso ausschweifend wie die zwischenmenschlichen Dynamiken der angereisten Amerikaner, von denen sich Dani und Christian im Zentrum der Ereignisse befinden. Ihre Beziehung wird von Aster gleich zu Beginn als offene Wunde geschildert, in die der Regisseur wiederholt den Finger legt. Während sich Christian seiner Freundin gegenüber desinteressiert, unaufmerksam und bisweilen abweisend verhält, ist Dani in "Midsommar" einem inneren Trauma ausgeliefert, durch das sie persönlich sowie in ihrer Beziehung dazu verdammt ist, auf der Stelle zu verharren. Immer wieder treibt Aster die dysfunktionale Beziehung der beiden durch ebenso unangenehme wie mitunter schreiend komische Beobachtungen und Einlagen auf die Spitze.
          Wenn Christian Danis Geburtstag vergisst, ist beispielsweise sie es, die sich dafür entschuldigt, dass sie ihn nicht an ihr Geburtsdatum erinnert hat. Der Moment kurz darauf, wenn er ihr notdürftig improvisiert ein Stück Kuchen mitsamt Geburtstagskerze überreichen will, ihr ein Lied vorsingt und die Kerze nicht angezündet bekommt, ist kaum weniger von purem Fremdscham geprägt.
          Fast vergisst man als Zuschauer in solchen Szenen, dass "Midsommar" eigentlich ein Horrorfilm sein soll, was der vollen Absicht des Regisseurs entspricht. Zuletzt äußerte Aster selbst, dass er in Zukunft gerne reine Komödien komplett fernab des Horror-Genres drehen würde, was sich hier bereits deutlich bemerkbar macht. Dass der Film dabei nie in sich zusammenstürzt und die Figuren ernst nimmt, anstatt sie dem reinen comic relief zu opfern, liegt auch am Cast. Florence Pugh zeigt als Dani eine ihrer besten schauspielerischen Leistungen überhaupt und legt ihre komplexe Figur vielschichtig zwischen qualvoll traumatisiert, neugierig naiv und verzweifelt überfordert an. Im Gegenzug gelingt es Jack Reynor, dass sein Christian keinesfalls als einseitiges Übel dasteht. Im Kern ist seine Figur derjenige, der die Beziehung schon lange beenden will und genau daran scheitert, wodurch er einen Fehler nach dem anderen begeht.
          Tatsächlich funktioniert "Midsommar" in vielen Szenen bestens als reine Komödie, die durch Nebenfiguren wie den von Will Poulter gespielten, notgeilen Amerikaner Mark den ganzen Kinosaal in helles Gelächter versetzt. Dass Aster nach einer witzigen Szene aber doch wieder in spürbares Unbehagen und offen zur Schau gestellte Skurrilität umzuschwenken vermag, stellt sein unbestreitbares Können als Filmemacher unter Beweis. Zwischen unbequem betroffen stimmendem Beziehungsdrama, (schwarzer) Komödie und groteskem Fiebertraum macht es sich der Regisseur in allen drei Stilrichtungen gleichzeitig gemütlich, während sein in strahlenden Bildkompositionen gestaltetes Folk-Horror-Delirium mit fast schon perversem Genuss im eigenen Stilbewusstsein badet. Die schwedische Kommune offenbart dabei ein alternatives Gesellschaftsmodell, das mit grausamer Gewissheit sowohl abstößt als auch die Figuren fasziniert gefangen hält.
          Gelegentlich garniert Aster seinen Film, der ältere Vorbilder wie Robin Hardys "The Wicker Man" ebenso in Erinnerung ruft wie neuere Vergleichswerke wie Ti Wests "The Sacrament", mit haarsträubend expliziten Gewaltspitzen, während andere drastische Momente im Off stattfinden und erst nachträglich in fatalem Ausmaß sichtbar werden. Was innerhalb dieser mehr als schrägen schwedischen Kommune wirklich vor sich geht, dürfte jeden halbwegs geschulten Horrorfilm-Fan kaum überraschen. Vielmehr beeindrucken neben Asters handwerklichem Talent der Blick auf Details im Verhalten der Figuren und offen zur Schau gestellte Genre-Versatzstücke von Liebeszauber bis Inzest, die regelrecht zelebriert oder verdreht werden. Schlussendlich werden erst wieder Erinnerungen an "Hereditary" im Finale wach, in dem das bizarre Wesen des Szenarios ebenso amüsant zum Exzess übersteigert wird wie die Beziehung zwischen Dani und Christian ihre konsequente Konklusion erfährt. Ein surreal-hypnotisierender Albtraum, urkomisch und befremdlich, überlang sowie bisweilen zerfasert und doch ganz und gar die eigenwillige Vision eines stilsicheren (Horror-)Virtuosen.

          28
          • 9

            In letzter Zeit wird in Bezug auf Quentin Tarantino neben seinem aktuellen 9. Film vor allem wieder vermehrt über das selbst verkündete Karriereende des Regisseurs berichtet. 10 Filme wolle er insgesamt machen, dann soll Schluss sein, bevor er seinen Zenit ungewollt überschreitet und sich in enttäuschenden Alterswerken verliert. Dass bei Tarantino mittlerweile beinahe sämtliche Zeichen auf Abschied stehen, macht sich passenderweise auch in seinem neuen Film "Once Upon a Time ... in Hollywood" als übergreifendes Stimmungsbild bemerkbar.
            Der Film ist, wie es der Titel schon verrät, ein Märchen, für das der Regisseur fiktive Figuren und historische, reale Persönlichkeiten in einem Los Angeles des Jahres 1969 vereint, das voll und ganz nach Tarantinos nostalgischen Kindheitserinnerungen geformt ist. Der Kultregisseur, der gewissermaßen im Kino aufgewachsen ist, später fast 10 Jahre lang in einer Videothek jobbte und schließlich eine Karriere als Filmemacher einschlug, in der er sich als wandelnde Film-Enzyklopädie kreuz und quer durch die Filmgeschichte zitierte, widmet sich in "Once Upon a Time ... in Hollywood" wenig überraschend ebenfalls der Filmlandschaft.
            Im Mittelpunkt von Tarantinos 9. Film stehen der Schauspielstar Rick Dalton, dessen Erfolgssträhne langsam, aber sich versiegt, sowie sein bester Freund sowie Stunt-Double und gleichzeitig eine Art Mädchen für alles Cliff Booth. Ebenso in die Tiefe wie in die Breite lotet der Regisseur die Beziehung zwischen diesen beiden Protagonisten aus, die sich nach und nach wie Mosaiksteinchen in Tarantinos melancholisch leuchtendes und gleichzeitig vor popkulturellen Details übersprudelndes Hollywood einfügen. Während Ricks Karriere immer mehr ins Fernsehen führt, wo er als Westernschauspieler in TV-Serien auftritt, und später auch in billigen Italowestern außerhalb Amerikas mitspielen soll, scheint sich Cliff mit der Rolle des fürsorgenden, lässigen Freundes längst abgefunden zu haben. Als Rick jedoch mehr und mehr dem Alkohol verfällt, seine Dialogzeilen am Set vergisst und wiederholt in Tränen zusammenbricht, merkt auch sein bester Freund, dass sie zusammen gegen die Zeit ankämpfen müssen, die sich gegen sie verschworen zu haben scheint.
            Schon nach kurzer Zeit fallen die Parallelen zu Tarantino selbst auf, der sich nach wie vor eisern gegen moderne Trends stemmt, dem analogen Filmemachen niemals abschwört und auf eine Form von Kino vertraut, das trotz der zahlreichen Zitate und geradezu altmodischen Rückbezüge niemals aus der Zeit gefallen wirkt. Mit "Once Upon a Time ... in Hollywood" hat er jetzt seinen zurückgenommensten, wehmütigsten und wärmsten Film seit "Jackie Brown" gedreht. Auch wenn die Figuren zuletzt in "The Hateful Eight" auch schon maßgeblich den Ton über die vertrauten Tarantino-Stilmittel hinaus angegeben haben, könnte dieser 9. Film im Schaffen des Regisseurs bereits als entspanntes, überwiegend leichtfüßiges Abschiedswerk durchgehen.
            Anstelle eines durchgängigen Handlungsbogens zerfällt der herausragend gefilmte "Once Upon a Time ... in Hollywood" wieder noch stärker als die letzten Tarantino-Filme in Einzelszenen und Erzählstränge, die bisweilen episodisch anmuten. Seine Liebe für das Hollywood seiner Kindheit lebt der Regisseur auf eine verspielte Weise aus, die ihn erneut in Höchstform zeigt. Tarantino vermischt seine Filmfiguren mit der realen Filmhistorie, montiert den fiktiven Rick in echte Szenen tatsächliche Klassiker, lässt Damian Lewis auf einer Party in der Playboy-Mansion eine kurze Anekdote zum Besten geben, während Mike Moh als fiktiver Bruce Lee dem realen Vorbild erschreckend ähnlich sieht.
            Abseits dieser inszenatorischen Ausgelassenheit ist "Once Upon a Time ... in Hollywood" aber vor allem ein Film, in dem sich der Zuschauer über die 160 Minuten hinweg möglichst treiben lassen soll. Einzelne Momente kostet Tarantino noch länger aus als ohnehin schon von ihm gewohnt, während er seinen Schauspielern mit großer Geduld und Freude dabei zusieht, wie diese teilweise wiederum Schauspieler spielen. Dazu lässt der Regisseur ein vergangenes Los Angeles wieder aufleben, in dem die Figuren minutenlang bei Tag durch die Stadt fahren und den Songs aus dem Radio lauschen, während bei Einbruch der Dunkelheit eine verlockende Neonreklame nach der anderen aufleuchtet und neue aufregende Erlebnisse verspricht.
            Nichts ist jedoch so aufregend wie der Film selbst, in dem Tarantino seine Figuren trotz zahlreicher komödiantischer Einschübe wieder aufrichtig als echte Menschen begreift, denen er auf ihrem Weg durch ihre persönlichen Schicksale und Probleme folgt. Das freundschaftliche Verhältnis zwischen Rick und Cliff nimmt hierbei eine ebenso entscheidende Bedeutung ein wie der Umgang mit Sharon Tate, die in der Geschichte von "Once Upon a Time ... in Hollywood" Ricks Nachbarin in den Hollywood Hills ist. Kurz nach der Uraufführung des Werks bei den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes wurde bei der anschließenden Pressekonferenz der Vorwurf geäußert, dass Margot Robbie als Sharon Tate zu wenig Dialogzeilen in dem Film hätte. Dabei ist Tarantinos Umgang mit der Schauspielerin als Figur von vornherein ein gänzlich anderer. Im Gegensatz zu ihrem wahren tragischen Schicksal trägt der Regisseur Sharon als unschuldige, lebensfreudige Ikone auf Händen. Ohne viele Worte feiert er die junge Frau als glanzvolle Erscheinung, die in den meisten ihrer Szenen verträumt oder euphorisch zu verschiedenen Songs tanzt und wie ein Engel durch die Stadt der Engel schwebt.
            Unvergesslich ist hierbei vor allem eine Passage, in der sich Sharon einen ihrer Filme im Kino ansieht. Dabei zeigt Tarantino neben den Szenen mit der echten Schauspielerin auf der Leinwand vor allem immer wieder Sharons Gesicht, das in Freude erstrahlt, sobald die anderen Kinobesucher um sie herum begeistert auf den Film reagieren. Eine wundervolle Hommage an den Menschen und das Kino zugleich, wie sie so nur von Tarantino stammen kann.
            Das betrifft auch die letzte halbe Stunde des Films, in der die zuvor über zwei Tage verteilte Handlung auf den 09. August 1969 springt, an dem die berüchtigten Morde der Manson-Family stattfanden. Diesmal befinden wir uns jedoch im Tarantino-Universum dieses Kino-Märchens, das mit einer der warmherzigsten Szenen im Schaffen des Regisseurs endet. Ein Schlussbild, das ebenso gut aus der Karriere des Regisseurs führen könnte.

            38
            • 8
              • 3 .5
                über Anna

                In Luc Bessons Action-Thriller "Anna" wird der Zuschauer ähnlich übereilt in die Handlung geschleudert wie die titelgebende Protagonistin in ihr neues Berufsleben als Model. Während Anna zu Beginn des Films noch Matrjoschka-Puppen auf einem Moskauer Markt verkauft, ist sie kurz darauf bereits gleißendem Blitzlichtgewitter der Kameras verschiedener Fotografen ausgesetzt. Von einem Scout wird die junge Frau dazu überredet, eine Karriere als Nachwuchsmodel in Paris einzuschlagen, wo sie ihre unübersehbare Attraktivität auf nützliche Weise einsetzen könnte.
                Inszenatorisch lässt Besson seinen Film schon in den Anfangsszenen zur reinen Oberfläche verkommen. Annas rasant montierter Aufstieg von der ärmlich wirkenden Verkäuferin hin zum aufstrebenden Topmodel erweckt den Anschein eines edel produzierten Hochglanz-Werbespots, in dem die Hauptfigur kaum mehr als ein schimmerndes Objekt ist. Es dauert jedoch nicht lange, bis der Regisseur einen ersten Twist enthüllt, der "Anna" eine neue Richtung verleiht. In Wahrheit handelt es sich bei der schüchternen, unsicher auftretenden jungen Frau um eine Auftragskillerin, die in den späten 1980ern für den KGB mordet. Fortan präsentiert sich Bessons Film als, für den Regisseur typische, Mischung aus fiebriger Femme Fatale-Fantasie und konventionellem Spionage-Thriller, in dem die Protagonistin neben ihrer Tätigkeit für den KGB auch noch in die Fänge der CIA gerät.
                Der absichtlich wirr gehaltenen, im Kern dagegen überaus schlicht und weitestgehend altbacken konstruierten Geschichte verpasst Besson dabei einen frustrierenden Erzählrhythmus, der jeden halbwegs intelligenten Zuschauer wiederholt für dumm verkaufen will. Immer wieder springen die Geschehnisse nach einem bestimmten Moment um Monate in der Zeit zurück, um die Entwicklungen bis dahin in einem neuen, möglichst ausgeklügelten Licht zu präsentieren. Das Resultat bewegt sich dadurch jedoch oft am Rande der Selbstparodie, wenn der Regisseur sein Konzept mit fast schon provokativer Redundanz ausreizt. Die Doppelbödigkeit der gezeigten Bilder ist speziell im Spionagefilm ein grundsätzlich reizvolles Element, doch Besson verwickelt sein Publikum die meiste Zeit der ohnehin viel zu lang geratenen 2 Stunden des Films in Thriller-Klischees, auf die der Franzose selbst im Laufe seiner Karriere regelmäßig zurückgegriffen hat.
                In seinem Schaffen, das gutaussehende Frauenfiguren mit meist tiefen persönlichen Abgründen regelmäßig zu schlagkräftigen Heldinnen stilisierte, drehte Besson mit "Lucy" 2014 zuletzt einen vergleichbaren Film wie "Anna". In dem Action-Thriller mit Scarlett Johansson in der Hauptrolle gelang es dem Regisseur allerdings noch, die von vornherein absurde Prämisse einer Droge, durch die die Hauptfigur nach und nach 100% der Leistungsfähigkeit ihres Gehirns freischalten kann, in immer haarsträubendere und grandios überzogenere Bahnen zu lenken.
                "Anna" wirkt als Quasi-Remake von Bessons "Nikita" von 1990 jedoch wie ein aus der Zeit gefallenes Relikt, in dem sich der Franzose überwiegend reinen Fetisch-Verlockungen hingibt. Schauspiel-Newcomerin Sasha Luss, eigentlich ein russisches Model, wird für Besson zur idealen Action-Barbiepuppe, die der Regisseur über die Handlung des Films hinweg in verschiedenste aufreizende Kleidungsstücke steckt und mit ständig wechselnden Perücken ausstattet, um sich in vornehmlich lüsternen Posen zu verlieren. Auch wenn "Anna" davon handelt, dass eine junge Frau, die unweigerlich alle Blicke auf sich zieht, am liebsten unauffällig unter dem Radar verschwinden würde und sich aus dem Klammergriff überwiegend patriarchaler Strukturen befreien will, ist Anna als Figur kaum mehr als ein hübsches Ausstellungsstück des Regisseurs.
                Eine ähnlich schmale Gratwanderung beschritt erst letztes Jahr Francis Lawrence in seinem Agenten-Thriller "Red Sparrow", in dem Jennifer Lawrence als Hauptfigur zwischen dem offensiven Einsatz ihrer körperlichen Reize und der schockierenden Entfremdung von ihrer eigenen Persönlichkeit in ein unmenschliches System geriet. Besson scheitert daran, seiner Erzählung von der ebenso schönen wie tödlichen Killerin mehr Tiefe über seine plumpen Oberflächenreize und öden Twist-Abfolgen hinaus zu verleihen. In 2-3 ebenso eindrucksvoll choreografierten wie erstaunlich brutalen Action-Setpieces stellt der Franzose nach wie vor unter Beweis, dass ihm in dieser Hinsicht niemand so schnell etwas vormacht. In Erinnerung bleibt von "Anna" am Ende trotzdem lediglich der oberflächliche, unreflektierte Blick eines Regisseurs, der sich vor lauter kreativem Unvermögen nur noch in selbstreferenziellen, lange überholten Erzählstrukturen verrannt hat.

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                • 7 .5

                  RP Kahls abseits gängiger deutscher Filmförderungen gedrehtes Experimental-Drama "A Thought of Ecstasy" zeigt ein menschenleeres Amerika der Nicht-Orte, das sich aus verschiedensten künstlerischen Einflüssen zusammensetzt. Der Film, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des von Kahl selbst gespielten Protagonisten ineinander zerfließen, folgt der Hauptfigur Frank auf einem surrealen Road-Trip, der schlussendlich im Nichts enden wird. Seine Reise führt den Deutschen durch die Wüstenlandschaften Kaliforniens bei Tag und in merkwürdige Räumlichkeiten bei Nacht, zwischen voyeuristischen sowie persönlichen Abgründen und der Suche nach dem Selbst inmitten der apokalyptischen Zersetzung.
                  Franks Versicherung seiner Motive ist ein Roman mit dem Titel "Desert LA" des Autors Ross Sinclair, hinter dem er seine ehemalige Geliebte Marie vermutet. Zu sehr erinnert ihn die Geschichte des weiblichen Ich-Erzählers über eine schmerzhafte Trennung an seine eigene Vergangenheit mit der Frau, die vor 20 Jahren aus seinem Leben verschwunden ist.
                  An konventionellem Geschichtenerzählen zeigt Kahl als Regisseur kaum Interesse. Wie in seinen bisherigen Werken wie "Angel Express" oder "Bedways" verfolgt er eine surreal-hypnotische Filmsprache, die sich hier auf konkrete Vorbilder bezieht. Neben den Filmen von Michelangelo Antonioni, der die Entfremdung und Isolation des Individuums in der Gesellschaft immer wieder als Kernmotiv aufgriff, lassen sich in "A Thought of Ecstasy" weitere Einflüsse erkennen.
                  So erinnert das monotone Treiben durch die Wüstenlandschaften Kaliforniens unweigerlich an Bruno Dumonts pessimistische Beziehungsstudie "Twentynine Palms" sowie an Vincent Gallos ebenfalls 2003 erschienenen "The Brown Bunny". Eine Einstellung in "A Thought of Ecstasy", in der Frank und Marie in einer Traumsequenz nackt umschlungen auf dem Wüstenboden liegen, zitiert Dumonts Skandalfilm dabei ganz direkt. Trotzdem verbindet den Film mehr mit Gallos ebenfalls zum Skandal hochgejazzten Werk. Ähnlich wie der von Gallo selbst gespielte Drifter Bud, der von den Erinnerungen an seine Ex-Freundin Daisy geplagt wird und auf dem Höhepunkt seiner Einsamkeit eine ebenso schockierende wie tragische Realisierung erfährt, ist auch der von Kahl gespielte Frank oftmals eher ein Gefäß voller rätselhafter Fragen. Über Off-Monologe lässt der Regisseur den Zuschauer an den Gedanken der Hauptfigur teilhaben, doch oftmals bleibt diese ungreifbar und eher abstoßend. Nicht ohne Grund bezeichnet sich Frank an einer Stelle des Films selbst als Fremder in seiner eigenen Geschichte.
                  In "A Thought of Ecstasy" sind es vielmehr die Schauplätze dieses speziellen Teils der USA, die mit ihren weitläufigen, ausgestorbenen Wüstenpanoramen, seltsam verschlungenen Highways und den Neonreklamen verruchter Stripclubs mitten in der Einöde wie Seelenlandschaften in Szene gesetzt sind. Kahls Perspektive auf Amerika als Ausländer ist dadurch auch mit dem Blick von Nicolas Winding Refn auf Amerika als Ausländer zu vergleichen. In seiner radikalen Amazon-Serie "Too Old To Die Young" inszenierte der Däne Los Angeles zuletzt als höllenartige Zwischenwelt, in der die Figuren nur noch oberflächlich richtigen Menschen entsprachen. "A Thought of Ecstasy" strahlt eine ähnliche Atmosphäre des mythologisch Entrückten aus, auch wenn Kahl durch seinen manchmal prätentiösen und (bewusst?) hölzernen Stil immer wieder die Grenze zum selbstverliebten Arthouse-Porno streift.
                  Die Frauen im Film sind für Frank überwiegend mit Begegnungen verbunden, die den Protagonisten mal aktiv, mal passiv in sexuelle Machtspiele und kühle BDSM-Fantasien verwickeln. Dabei betont Kahl jedoch stets den imaginären Fantasie-Charakter dieser expliziten Sex-Szenen, in denen die Frauen auch immer Projektionen des Verlangens der Hauptfigur sind, bis sie zu Gefahren werden, denen er nicht gewachsen ist. Neben der rein audiovisuellen Sogwirkung des Films, die von den betörenden Aufnahmen und der Musik, die von Klassik bis hin zu den Klängen der Berliner Electro-Gruppe Moderat reicht, kann "A Thought of Ecstasy" auch als selbstreflexive Auseinandersetzung von Kahl mit seiner Rolle als Filmemacher verstanden werden.
                  Die bekannte Vorstellung vom Regisseur, der durch die Kamera blickt wie ein heimlicher Beobachter durch das Schlüsselloch einer Tür, scheint auch in "A Thought of Ecstasy" in Einstellungen durch, in denen Frank hinter Glasscheiben seinen Blick vom meist freizügigen Geschehen vor ihm nicht abwenden kann. Dass die Rolle der Hauptfigur von Kahl selbst gespielt wird, eröffnet eine zusätzliche Sichtweise auf den Regisseur. Der inszeniert sich hier in letzter Konsequenz als getriebenen Verzweifelten, verloren in seinen eigenen sexuellen und gewalttätigen Obsessionen, bis ihm nur noch die endgültige Auflösung eine Form von Erlösung bieten kann.

                  9
                  • 4

                    Ein globaler Stromausfall sorgt in "Yesterday" dafür, dass sich die ganze Welt innerhalb weniger Sekunden nicht mehr an die Beatles erinnert. Zumindest jeder bis auf den Musiker Jack Malik, für den der bizarre Umstand zum Glücksfall wird. Der Protagonist in Danny Boyles neuestem Film bleibt als Singer-Songwriter in England ohne Erfolg. Bei seinen Auftritten in örtlichen Pubs nimmt ihn kaum jemand wahr, während er sich seinen eigentlichen Lebensunterhalt als gelangweilter Lagerarbeiter verdient. Unterstützung bekommt er hauptsächlich von seiner Jugendfreundin Ellie, die für ihn neben ihrem Job als Mathelehrerin gleichzeitig als Managerin arbeitet.
                    Durch den Stromausfall verliert Jack bei einem Fahrradunfall ein paar Zähne, doch dafür gewinnt er nach und nach die alleinige Kontrolle über die nach wie vor unwiderstehliche Ausstrahlungskraft der Beatles-Hits. Mühsam erinnert er sich wieder an Songtexte der Band, spielt die Stücke zunächst Freunden und Familienmitgliedern bevor, bis schließlich sogar Ed Sheeran (der echte!) auf ihn aufmerksam wird und Jack zum schlagartigen Star macht. Der ahnt oder will es währendessen nicht wahrhaben, dass Ellie all die Jahre schon in ihn verliebt ist.
                    Wer sich "Yesterday" ansieht, wird schnell feststellen, dass man hier weniger einen Danny-Boyle-Film als vielmehr einen Richard-Curtis-Film vorgesetzt bekommt. Der Autor, der unter anderem für die Drehbücher von Streifen wie "Four Weddings and a Funeral", "Notting Hill", "Bridget Jones' Diary" und "Love Actually" verantwortlich ist, nimmt die ebenso skurrile wie originelle Ausgangslage von "Yesterday" ebenfalls nur als Grundgerüst für eine seiner typischen romantischen Komödien. Auch wenn der Film mit seinem Titel einen ähnlich musikalischen Bezug wie zuletzt Biopics wie "Bohemian Rhapsody" und "Rocketman" vermuten lassen könnte, sind die Songs der Beatles in "Yesterday" lediglich Beiwerk.
                    Boyle legt den Fokus von Curtis' Drehbuch viel deutlicher auf die Beziehung zwischen Jack und Ellie sowie auf einen Einblick in die Musikindustrie als stereotypisch Talente verschlingende Profitmaschine. Überdeutlich wird diese Aussage vor allem von Kate McKinnons Figur der raffgierigen Managerin verkörpert, die sich in ihrer bissig-aggressiven Art nach wenigen Szenen unentwegt wiederholen muss, um dem Publikum die Botschaft einzuhämmern. Der eigentliche Zwiespalt der Geschichte, dass Jack fremde Kunst als seine eigene ausgibt und damit massive Erfolge feiert, kommt dagegen viel zu kurz.
                    Auch der grundlegend reizvolle Aspekt, die großen Hits der Beatles in einen völlig neuen Kontext zu setzen und außerhalb des Tests der Zeitlosigkeit einem modernen Prüfstand zu unterziehen, kommt nur in einer gelungenen Szene voll zur Geltung. Wenn Jack eigentlich bekannte Beatles-Elemente wie das Cover des "White Albums" oder den Albumnamen "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band" bei seiner Plattenfirma vorschlägt, werden diese vom Chef spöttisch vom Tisch gewischt. So wird sie für einen kurzen Moment tatsächlich sogar verständlich, eine Welt ohne Beatles unter modernen Bedingungen der Industrie.
                    Weitestgehend begnügt sich "Yesterday" jedoch als liebenswert-unkomplizierte Feel-Good-Produktion, die mit genügend Situationskomik in gefühlt jeder zweiten Szene aufwartet, um das Publikum unbedingt vor eventuell tiefgründigeren Gedankengängen abzuschirmen. Dabei macht es einem der Film sogar recht leicht, ihn zu mögen, denn die Chemie zwischen Hauptdarsteller Himesh Patel, der hier sein Spielfilmdebüt als Schauspieler gibt, und Lily James ist durchaus hinreißend. Trotzdem verläuft "Yesterday" erzählerisch derart konventionell gestrickt und vorhersehbar, dass die wenigen überzeugenden Ansätze schnell im zuckersüßen Keim erstickt werden.
                    Während Boyle sichtlich darum bemüht ist, in die überwiegend dröge Inszenierung zumindest eine Handvoll Szenen mit seinen gewohnten handwerklichen Spielereien unterzubringen, hinterlässt "Yesterday" nur durch einige kurze Szenen Eindruck. Dazu gehört eine Begegnung, die unter realistischen Bedingungen unmöglich wäre und das historisch Vergangene mit leiser Emotion neu anordnet. Und auch der Blick der Kamera auf vereinzelte Gesichter bleibt noch Momente danach im Kopf des Zuschauers hängen. Ein Ed Sheeran zum Beispiel, dessen Mimik angesichts eines größeren Talents betroffen erstarrt oder die Augen von Lily James, die dem Zuschauer durch eine Leinwand in der Leinwand alle Gefühle vermitteln, die in diesem Moment spürbar sind. Viel spürbar ist in "Yesterday" ansonsten nicht.

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                    • 6 .5

                      "Ich bin unglücklich, damit Leute wie du glücklich sein können."

                      Die Suche der jungen Frau nach einem Schlafplatz für die Nacht (oder einem Platz in dieser Welt) in der modernen Großstadt gerät in Susanne Heinrichs Debütfilm "Das melancholische Mädchen" zur feministischen Zerlegung des Mediums. Ähnlich wie beispielsweise die späteren Essayfilme eines Jean-Luc Godard, der sich noch radikaler als zuvor von konventionellen Inszenierungs- und Erzählstrukturen abwendete, ist auch Heinrichs Werk so weit von einer herkömmlichen Handlung entfernt wie nur möglich.
                      Unterteilt in 15 Kapitel, die jeweils mit eigenen Titeleinblendungen voneinander getrennt werden, ergründet die Regisseurin das Wesen unserer gegenwärtigen Gesellschaftsstrukturen mithilfe von abstrakten Dialogen, surrealen Situationen und anderen speziellen Stilmitteln, die "Das melancholische Mädchen" in einem ganz eigenen, fremdartigen Filmuniversum verorten, das nichtsdestotrotz unentwegt auf die reale Welt verweist. Ursprünglich war das Werk als Abschlussarbeit an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin geplant und sollte als 30-minütiger Kurzfilm entstehen. Heinrich und ihre Crew arbeiteten in den Drehpausen des offiziellen Projektes jedoch weiter und weiteten "Das melancholische Mädchen" so zu einem Spielfilm aus, der mit einem extra langen Abspann die vorgegebene Mindestlaufzeit von 79 Minuten erfüllt.
                      In den Feuilletons wurde der Film mittlerweile geradezu als innovative Revolution sowie geglückter Befreiungsschlag für ein deutsches Kino angepriesen, das völlig neue Räume für sich erschließt. Und tatsächlich lässt sich "Das melancholische Mädchen" als eigenwilliges, sonderbares Experiment mit kaum einem anderen deutschen Film der letzten Zeit vergleichen.
                      Mit der kreativen Unterstützung ihrer Kamerafrau Agnesh Pakozdi hat Heinrich die einzelnen Episoden in symmetrisch-statischen Pastellfarben wie aus einem knalligen Werbespot oder hippen Designer-Magazin gestaltet. Dieser poppige Eindruck täuscht als Oberfläche allerdings nur kurzfristig darüber hinweg, dass der Film selbst einem extrem gewöhnungsbedürftigen, sperrigen Stil unterliegt, der manchmal durchaus frustriert und an den Nerven zerrt. Indem sie sich für die Dialoge und Figuren am Brechtschen Theater orientiert, wird "Das melancholische Mädchen" von einem bizarren Verfremdungseffekt geprägt, der Dialoge zwischen philosophischen One-Linern, humorvollen Brechungen und literarischen sowie filmischen Zitaten zersplittert und die Figuren als von der Realität und sich selbst entfremdete, roboterhafte Wesen darstellt.
                      Die Reise des melancholischen Mädchens, das ohne jegliche Charakterisierung lediglich eine Hülle bleibt, durch Bars, Kunstgalerien, Yogastudios, Therapie-Behandlungszimmer und spärlich eingerichtete Wohnungen gleicht vielmehr einem Streifzug durch die Absurditäten sowie die Rolle der Frau in einer postmodernen Welt, in der vorgegaukelte Individualität und angesagte Trends längst zu einer Aneinanderreihung leerer, bedeutungsloser popkultureller Codes und Zitate geworden sind. Heinrich, die genauso wie ihre namenlose Hauptfigur eigentlich Schriftstellerin war und unter einer Schreibblockade litt, bezieht sich für die Aussage ihres Films immer wieder auf den Neoliberalismus einer Gesellschaft, die sich scheinfrei einem Kapitalismus unterordnet, der alles in sich verschlingt.
                      Konsequenterweise bezeichnet die Regisseurin ihren Film daher in erster Linie als Komödie. Ein Genre, dem sich "Das melancholische Mädchen" unter gewöhnlichen Merkmalen jedoch nur widerwillig zuordnen lässt. Humorvoll und unterhaltsam wird der Film aber gerade durch seine eloquent vorgetragene Wut, mit der Heinrich intellektuelle Phrasen und bildungsbürgerliche Gesten ebenso ungeniert bedient wie ab absurdum führt. Auch wenn Heinrichs Werk ein intelligenter Film ist, der kunstvolle Referenzen und Querverweise lustvoll bis zur Prätention ausstellt und den typisch männlichen Blick vergnügt umkehrt, lässt er sich als schrille Satire auf ein von sich selbst besessenes Künstlermilieu erst so richtig genießen.
                      Ihre depressive, ausdruckslose Hauptfigur lässt Heinrich an artifiziellen Nicht-Orten, die jederzeit als Filmkulisse zu erkennen sind, auf überwiegend männliche Personen treffen, die durch Bezeichnungen wie der Existenzialist, der Prinz, der Typ an der Bushaltestelle oder der Philosoph nie mehr als bloße Figuren sind. Nachdem das melancholische Mädchen bei dem Existenzialisten landet, der früher einmal viel Sex hatte und diesen mittlerweile nur noch als langweilige Abfolge einstudierter Bewegungen bezeichnet, mit dem nackten Bauarbeiter in dessen Wohnung ebenfalls unbekleidet Pasta mit nichts isst oder schließlich selbst Sex als unerotische Abfolge mechanischer Bewegungen hat, endet "Das melancholische Mädchen" schlussendlich in der konsequenten Zerstörung des Mediums. Kratzer und Aussetzer auf der Tonspur sowie Pixelstörungen im Bild kündigen vom Untergang des Films, während das melancholische Mädchen unbeeindruckt immer weiter läuft und tanzt und fast fünf Minuten lang an ihrem Eis schleckt.

                      10
                      • 7

                        Völlig wortlos entfaltet sich die Eröffnung von Yann Gonzalez' "Messer im Herz" vor den Augen des Betrachters. Mit lasziven, neugierigen Blicken bewegt sich die Kamera durch eine Mischung aus Untergrund-Nachtclub und Darkroom, in dem sich die Körper junger Männer erwartungsvollen Bewegungen hingeben oder schon längst ineinander verschlungen sind. Parallele Montagen im stark körnigen 16mm-Format, die taghelle Aufnahmen aus einem idyllischen Schwulenporno zeigen, kündigen derweil an, dass dieser Film zweifelsfrei in der Vergangenheit spielt. Doch ehe sich die dunklen, unersättlichen Bilder aus dem Nachtclub und die Szenen aus dem Porno zu einem gemeinsamen Höhepunkt steigern können, vollführt der Regisseur in seinem Film eine Art Coitus interruptus am Zuschauer.
                        Das langsam gesteigerte Lustspiel zwischen dem Mann, der sowohl Protagonist der Nachtclub- als auch Pornoszene ist, und dem unbekannten Verführer endet in blutiger Ekstase, als aus dem Dildo des Maskierten plötzlich eine Klinge springt, die mit mehreren Stichen zum Tod des gefesselten Opfers führt. Mit diesem hypnotischen und zugleich abgründigen Auftakt legt Gonzalez wiederum bereits mehrere Motive seines Films offen. Der maskierte Täter mit seinen schwarzen Lederhandschuhen und einer Vorliebe für Stichwaffen scheint direkt einem Giallo der 70er Jahre entsprungen zu sein, während die Verortung in einem homosexuellen Milieu der ausgelebten Exzesse unweigerlich William Friedkins "Cruising" in Erinnerung ruft.
                        Trotz der offensichtlichen Einflüsse, zu denen auch noch Regisseure wie Brian De Palma gehören, ist "Messer im Herz" aber auch ein Werk, das einer eigenen Handschrift folgt, die Gonzalez mit seinem vorherigen Spielfilmdebüt "Begegnungen nach Mitternacht" etabliert hat. Darin breitete der Regisseur ein Kaleidoskop verlorener Seelen aus, die sich in der Nacht zu einer Sex-Orgie in dem Apartment eines Pärchens und deren transsexuellem Hausdiener treffen. Durch die Inszenierung, die zwischen sinnlich-surrealen Fantasie-Sequenzen und Erinnerungssplittern sowie prätentiöser Arthouse-Provokation pendelte, offenbarte Gonzalez inmitten all der erotischen Intermezzi jedoch auch tragische Schicksale und gebrochene Existenzen.
                        "Messer im Herz" knüpft an diesen Stil an und erweitert die bevorzugten Motive des Filmemachers um eine spielerische Vorliebe für Genre-Versatzstücke sowie eine Reflexion über das Verhältnis zwischen Schöpfer, Werk und Zuschauer. Hauptfigur der im Paris des Jahres 1979 angesiedelten Geschichte ist die Schwulenporno-Produzentin Anne, die sich auf unterhaltsame Produktionen mit betont albernen Rahmenhandlungen spezialisiert hat. So gleichen ihre Filmsets bei den Dreharbeiten in der Regel einer Spielwiese, auf der sich die überwiegend jungen und attraktiven Darsteller nach Lust und Laune austoben dürfen. Trotzdem ziehen über den Produktionen zunehmend finstere Wolken auf. Die bevorstehende AIDS-Krise der 80er Jahre und die damit verbundene Krise der Pornoindustrie materialisieren sich in Gonzalez' Film in Form des bedrohlichen Serienkillers, der einen Pornodarsteller aus Annes Produktionen nach dem anderen ermordet.
                        Einen Schlüssel zu den Vorfällen scheint aber auch Anne selbst darzustellen, die viel von ihrer eigenen Persönlichkeit in die Drehbücher der Pornofilme einfließen lässt. 10 Jahre lang hielt die Beziehung zu ihrer Cutterin Lois, die schließlich mit ihr Schluss machte und trotzdem weiterhin für Anne arbeitet. Vanessa Paradis spielt ihre Protagonistin als zerrissene Alkoholikerin, die rastlos durch das nächtliche Paris streift, während sie am Set nach wie vor die ungebändigte Dompteurin vorspielt. Auch Gonzalez tänzelt in seinem Film die meiste Zeit über zwischen verschiedenen Gefühlszuständen, wenn er sich sowohl der rauschhaften Nachstellung des damaligen Pornobetriebs hingibt als auch den verruchten Thrills brutaler Genre-Vorbilder nachspürt und ein bedrückendes Psychogramm der obsessiven, gebrochenen Hauptfigur zeichnet. Neben den traumähnlich überstilisierten Bildern vertraut der Regisseur, wie auch schon zuvor bei "Begegnungen nach Mitternacht", auf den Score der französischen Electro-/Dreampop-Band M83, in der sein Bruder Anthony Gonzalez Mitglied ist. Die Musik in "Messer im Herz" gibt dabei oftmals den entscheidenden Ton vor, wenn die Kompositionen zwischen süßlichen Melodien und unheilvollen Synthesizern ein ganz eigenes Gleichgewicht suchen.
                        Aus der Balance kippt der Film nur einmal im letzten Drittel, wenn das Drehbuch zu sehr mit einer konventionellen Auflösung liebäugelt und Anne auf einen Ausflug aufs französische Land schickt, wo sich das Motiv des Serienkillers in allzu psychologischer Klarheit offenbart. Seinen finalen Höhepunkt findet "Messer im Herz" aber dann doch noch folgerichtig im Kino, wo das lustvolle Hinsehen und das qualvolle Wegsehen vom Betrachter auf die Figuren projiziert und von der Leinwand wieder auf das Publikum zurückgeworfen wird. In letzter Konsequenz wird der Film zwischen Giallo und Melodram, Hommage und Originalität, Perversion und Penetration, Kitsch und Klischees sowie Schuld und Unschuld endgültig zum fiebrigen Spektakel im Kinosessel, das sich in den letzten Einstellungen zur weiß strahlenden, himmlischen Erlösungsfantasie wandelt.

                        9
                        • 8 .5

                          "Now it's all falling apart. Soon our cities will be washed away by floods. Buried in sand. Burned to the ground."

                          "Violence will become erotic, torture euphoric...Faith will be reduced to venomous platitudes, the morphine infested enslavement of thought. Perversity will be dignified. Incest, molestation and pedophilia will all be praised. Rape will be rewarded. The few will have everything. And most will have nothing."

                          9
                          • 6

                            In Paul Feigs "A Simple Favor" gibt es eine Szene, in der Blake Livelys Figur Anna Kendricks Figur erklärt, wie man den perfekten Martini mixt. Aus dem Kühlfach holt sie vereisten Gin und ein vereistes Glas. Darin schüttelt sie kurz ein Stück Wermut, das sie anschließend auf den Boden schleudert. Zum Schluss presst sie ein Stück Zitronenrinde nach außen über dem Glas aus, um danach den Gin mit der Zitronenrinde einzuschenken. Den Martini trinkt sie schließlich mit einem Schluck leer. So vergnüglich die kurze Szene auch ist, so stellvertretend steht sie gleichzeitig für das gesamte Konzept dieses Films, der auf einen ausführlichen, langsamen Aufbau setzt und gegen Ende alles krachend in sich zusammenstürzen lässt.
                            Mit "A Simple Favor" nimmt sich der durch Komödien wie "Bridesmaids", "The Heat", "Spy" oder das weibliche "Ghostbusters"-Reboot bekannte Regisseur einer überaus klassischen Thriller-Geschichte an, die er über weite Strecken unerwartet ernsthaft ausbreitet. Die Adaption des gleichnamigen Romans von Darcey Bell führt den Zuschauer in das unspektakuläre Alltagsleben der alleinerziehenden Mutter Stephanie, die ihren Mann durch einen Autounfall verloren hat. Seitdem lebt sie von der Lebensversicherung des Verstorbenen und vertreibt sich die Zeit mit Vlogs, in denen sie anderen Hausfrauen praktische Tipps oder Rezepte an die Hand gibt. Eines Tages macht Stephanie die Bekanntschaft der wohlhabenden PR-Beraterin Emily, deren Mann Sean vor Jahren durch einen Bestseller zu viel Geld gekommen ist.
                            Aufgrund ihrer beiden Söhne, die von nun an regelmäßig Zeit miteinander verbringen, während Stephanie in Abwesenheit von Emily auf die Kinder aufpasst, entwickelt sich ein freundschaftliches Verhältnis zwischen den Frauen. Als Emily wenig später spurlos verschwindet, findet sich Stephanie in einer seltsamen Rätselsuche wieder, bei der abgründige Geheimnisse nicht lange auf sich warten lassen, während sie Emilys Mann Sean immer näher kommt. Was rein theoretisch wie ein typischer Thriller nach Schema F klingt, ist lange Zeit tatsächlich nicht viel mehr als das. Feig und seine Drehbuchautorin Jessica Sharzer verlassen sich voll und ganz auf die Starpower ihrer beiden Hauptdarstellerinnen Anna Kendrick und Blake Lively, um den konventionellen Mystery-Thriller-Plot mit dem nötigen Leben zu füllen.
                            Aufgelockert wird die Handlung des Films lediglich durch regelmäßige humorvolle Dialogspitzen von Kendricks Stephanie, durch die nie klar wird, ob Feig seinen Film nicht vielleicht doch von Anfang an als Satire angelegt hat. Wirklich genießen lässt sich "A Simple Favor" deshalb vor allem als ausgelassenes Schelmenstück, für das der Regisseur altmodische Suspense-Anleihen des Kinos von Alfred Hitchcock, überspitzte Vorstadt-Karikaturen á la "Desperate Housewives" und seichte Krimi-Elemente wie aus der Lieblingskrimi-Abendserie miteinander kombiniert.
                            In verschiedenen Rezensionen wird "A Simple Favor" immer wieder mit "Gone Girl" verglichen, doch Paul Feig ist kein David Fincher. Mit der angeblichen Tiefe, die er dem Zuschauer in Form von dunklen Charaktergeheimnissen an manchen Stellen vorgaukelt, sollte man sich nicht allzu lange aufhalten. "A Simple Favor" bezirzt vielmehr durch seine puren Oberflächenreize, durch die der Film mit seinen teuren Outfits und den schicken Hochglanzbildern dem Blättern durch das neueste Lifestyle-Magazin in der Zahnarztpraxis ähnelt.
                            Als Gratis-Heftbeilage gibt es bei Feig jedoch auch noch Blake Lively dazu, die den Film neben der bodenständig-amüsanten Performance von Anna Kendrick glücklicherweise regelmäßig abheben lässt. Auch wenn Livelys Auftritte aufgrund des Verschwindens ihrer Figur beschränkt sind, hat die Schauspielerin in jeder ihrer Szenen offensichtlich den Spaß ihres Lebens. Mit glamouröser und zugleich raffzahniger Finesse spielt die Amerikanerin ihre rätselhafte Figur im Stil alter Hollywood-Diven passenderweise wie eine Hitchcock-Blondine. Mit dem Unterschied, dass Emily, die in einer Schlüsselszene des Films mit einem Totenkopf-Spazierstock über den Friedhof stolziert und Martinis auf einem Grabstein mixt, den Master of Suspense am Set lebendig verspeisen würde.
                            Im letzten Drittel des gut 15 bis 20 Minuten zu lang geratenen Films rettet der Regisseur seinen Film zudem vor der zu befürchtenden Belanglosigkeit, indem er das absurde Potenzial der Geschichte nicht nur bei der Wurzel packt, sondern in absurdeste Ausmaße übersteigert. Plötzlich schlägt "A Simple Favor" Haken auf Haken und schleudert dem Zuschauer derart viele Twists um die Ohren, dass bis ganz zum richtigen Schluss wirklich alles möglich scheint. Als betrunken durch die Tür torkelnder Zwilling von "Gone Girl" passt der Vergleich dann doch wieder.

                            15
                            • 7

                              Nach "Personal Shopper" wirkt Olivier Assayas' neuestes Werk "Zwischen den Zeilen" auf den ersten Blick wie eine lockere Verschnaufpause. Sein vorheriger Film hatte das Potenzial, Zuschauer selbst Wochen und Monate nach der Sichtung noch zu beschäftigen. Virtuos und faszinierend jonglierte Assayas darin mit Versatzstücken verschiedenster Genres und Stilrichtungen. Dabei bot "Personal Shopper" zwischen übersinnlicher Paranormalität und zerbrechlicher Arthouse-Sensibilität sowohl Ektoplasma kotzende Geistererscheinungen, ein Stalking-Katz-und-Maus-Spiel per iPhone-Nachrichten sowie eine elektrisierende Kristen Stewart in der Hauptrolle, die den Weg von Trauer zu innerem Frieden über unsere moderne Technologie als Spiegel un(ter)bewusster Ängste und Erfahrungen beschreiten musste.
                              Dagegen erscheint "Zwischen den Zeilen" an der Oberfläche wie eine spontane Fingerübung, die der Regisseur zwischen zwei wesentlich größeren Projekten nebenbei realisiert hat. Wie so oft bei Assayas verhalten sich die Dinge jedoch auch hier anders, als es zunächst den Anschein hat. Während die Marketingabteilung offensichtlich alle Hände voll zu tun hatte, "Zwischen den Zeilen" als möglichst bekömmliche französische Feel-Good-Komödie an den Rotwein- und "Monsieur Claude"-verwöhnten Programmkino-Gänger zu bringen, nimmt Assayas' Film eben jenes Zielpublikum selbst aufs Korn.
                              Angesiedelt ist die Geschichte von "Zwischen den Zeilen" im Pariser Intellektuellen-Milieu, wo die Figuren die meiste Zeit über hauptsächlich damit beschäftigt sind, hitzig miteinander zu diskutieren und sich in Affären untereinander zu hintergehen. Im Mittelpunkt der Handlung stehen der Verleger Alain, seine Frau und Schauspielerin Selena, der Schriftsteller Léonard, dessen Freundin Valérie sowie Alains neue Digital Content Managerin Laure, die den Verlag in die digitale Zukunft führen soll. Überhaupt ist Digitalität ein großes Stichwort in "Zwischen den Zeilen", das über die Zukunft der einzelnen Figuren sowie der Gesellschaft an sich bestimmt.
                              In den zahlreichen ausufernden Dialogpassagen, aus denen sich der gesamte Film zusammensetzt, diskutieren die Figuren innerhalb dieses literarischen Milieus über die Zukunft des Buches. Über gedruckte Bücher vs. eBooks, über soziale Medien wie Twitter und wie dort renommierte Autoren ihre kurzen Texte als Fortführung ihres eigenen Werks betrachten. Über Blogs und ob die Inhalte darin bereits als Literatur gelten können sowie die veränderten Aufgaben von Verlagen und der Literaturkritik im Angesicht von automatisierten Empfehlungen durch Algorithmen. Unweigerlich spannt Assayas hierdurch auch einen Bogen zum Kino. Jede Diskussion rund um den von der digitalen Revolution betroffenen Literaturbetrieb lässt sich ohne Weiteres auch als Kommentar zur gegenwärtigen Filmindustrie zwischen Kino und Streaming auffassen. Ironischerweise stemmt sich "Zwischen den Zeilen" schon alleine formal durch die auf Super-16mm-Film gedrehten Bilder gegen modernde Trends, während Assayas die Figuren außerhalb der digitalen Diskurse regelmäßiges auf ihr analoges Selbst zurückwirft.
                              Wenn Selena Alain seit vielen Jahren mit Léonard betrügt, während dieser die Affäre in seinen Romanen als gefährlich realitätsnahe Autofiktion verarbeitet, und Alain Léonards neuestes Buch nicht mehr herausbringen will, während er selbst mit Laure schläft, ist "Zwischen den Zeilen" fernab der geistreichen Diskussionsansätze ein sehr vergnügliches Geflecht aus narzisstischen Charakteren, die letztendlich am meisten um ihr eigenes Wohl bemüht sind. Durch die ebenso pointierten wie bisweilen ermüdenden Dialogkaskaden erinnert Assayas' Film oft an die Werke von Woody Allen. Der Franzose verankert seine Figuren jedoch wesentlich stärker im Hier und Jetzt als Allen, der selbst in seinem Spätwerk am liebsten Jahrzehnte zurückliegenden Traditionen des Kinos nachhängt.
                              Dabei positioniert sich Assayas selbst weder als strikter Verweigerer der digitalen Revolution noch heißt er sie mit offenen Armen willkommen. Das Internet nutzt der Regisseur stattdessen viel lieber als Antrieb, um seine Figuren wie beispielsweise Léonard, der einen Shitstorm im Netz konsequent ignoriert und sich dann öffentlich in der Realität dafür rechtfertigen muss, immer wieder amüsant ins offene Messer laufen zu lassen. Die Klinge dieses Messers erweist sich in "Zwischen den Zeilen" aber nie als allzu scharf, denn Assayas balanciert den durchaus vorhandenen Kulturpessimismus seines Films mit einem hohen Anteil an selbstentlarvendem Humor und charakterlicher Ambivalenz aus.
                              "Wenn alles bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern." zitiert der Regisseur an einer Stelle des Films aus Luchino Viscontis "Der Leopard". "Zwischen den Zeilen" ist glücklicherweise ein Werk, das sich weder deutlich auf die eine noch auf die andere Seite schlägt. Veränderungen und Umbrüche begreift Assayas als Zustand des Wandels, zu dem man sich auf jeden Fall verhalten muss. Auf seine ganz eigene intellektuell stimulierende und herausfordernde sowie zugleich ungemein komische Art zeigt der Regisseur aber vor allem auf, dass sich manche Dinge eben nie ändern werden.

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                                über Roads

                                Das Kino von Sebastian Schipper ist im Kern vor allem ein Kino der melancholischen Bewegungsströme. Schon "Absolute Giganten", der Debütfilm des deutschen Regisseurs, beobachtete die letzte Nacht einer Gruppe Hamburger Freunde, die am darauffolgenden Morgen auseinanderdriften werden, über deren Bewegungen. Wie Schippers Figuren in "Absolute Giganten" durch den Zauber des Nachtlebens taumeln, sich der Musik und dem wilden Treiben in Bars und Clubs hingeben, während ihre Körper gleichzeitig die ganze Zeit von der unabwendbaren Gewissheit des Abschieds durchströmt werden, strahlt als Lebensgefühl ebenso durch Schippers anderes großes Werk "Victoria".
                                Auch dieser atemlose One-Take-Kraftakt besteht aus lauter unvergesslichen Momentaufnahmen, die erneut vor allem durch die Bewegungen der Figuren vor den Augen des Betrachters entstehen. In beiden Filmen konzentriert sich Schipper auf das Erleben einer einzigen Nacht, als würde sich in ihr ein ganzes Leben im Zeitraffer entfalten. Viele dieser wundervollen Momente, die man mittlerweile schon als Schipper-Momente bezeichnen möchte, finden sich auch in seinem neuesten Film "Roads" wieder.
                                Darin treffen der junge Engländer Gyllen und der junge afrikanische Flüchtling William zufällig in Marokko aufeinander. Ihre Blicke treffen sich, erste Worte werden gewechselt und William hilft Gyllen dabei, das gestrandete Wohnmobil des Engländers wieder zum Fahren zu bringen. Bereits nach wenigen Minuten ist die Begegnung vorbei und beide Wege trennen sich, doch natürlich nicht auf Dauer. Immer wieder werden sich die Wege von William und Gyllen trennen und wieder kreuzen, auch das ist ein besonderes Merkmal von Schippers Filmen. Orientierungslosigkeit ist bei ihm nie mit Stillstand verbunden, sondern mit der oftmals frustrierenden und doch aufrichtigen Tatsache, dass seine Figuren auch gemeinsam in der stetigen Fortbewegung noch einsam und verloren sein können.
                                Zur vertrauten Struktur des Roadmovies, dem "Roads" deutlich verschrieben ist, passen die melancholischen Kreise, die sich durch die Werke des Regisseurs ziehen, daher umso besser. Auch wenn Schipper diesmal nicht nur einer einzelnen Nacht folgt und nach "Victoria" wieder die Montage in seinem Schaffen begrüßt, bewegen sich die Hauptfiguren dieses Films im gewohnt entschleunigt-hypnotisierenden Rhythmus durch die eigentliche Geschichte.
                                Die ist wiederum, ganz Roadmovie-typisch, von flüchtigen Begegnungen, (skurrilen) Nebenfiguren und rasch an einem vorüberziehenden Orten geprägt, während der Regisseur das Innenleben seiner beiden Protagonisten langsam entblättert.
                                Dass "Roads" auch ein bewusst politischer Film ist, in dem Schipper mithilfe der Lebensgeschichten von William und Gyllen einem europäischen Befinden zwischen hilfsbereiten Flüchtlingslagern, rassistischen Situationen, zerrissenen Familien und unwahrscheinlichen Freundschaften nachspürt, verkommt aufgrund der markanten Inszenierung leicht zum sanften Hintergrundrauschen. In einem Interview spricht der Regisseur darüber, dass die Deutschen entweder gehirnamputierte, antiintellektuelle Klamaukkomödien oder bürokratisch intellektuellen Arthouse drehen würden.
                                Schippers eigenes Kino stemmt sich in beinahe jeder Szene gegen diese Formen der harschen Genre-Zugehörigkeit und begreift sich vielmehr als eindringliches Stimmungskino. In "Roads", der durch die reduzierte Musikuntermalung der deutschen Indie-Band The Notwist eine sensible Traurigkeit gewinnt, sind Umarmungen in der vollkommenen Dunkelheit entweder gar nicht sichtbar, sondern nur fühlbar, oder müssen in der Helligkeit des Tages genau 20 Sekunden andauern, damit die dadurch ausgeschütteten Endorphine die schmerzliche Gewissheit des Abschieds überlagern können.

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                                  Bilder der puren Beklemmung brechen in "Godzilla: King of the Monsters" in den ersten Momenten über den Zuschauer herein. Völlig neu sind diese nicht, denn ähnlich wie Zack Snyder bei "Batman v Superman: Dawn of Justice" greift Michael Dougherty das Finale von Gareth Edwards' vorherigem "Godzilla" noch einmal auf. In der Fortsetzung erhält der Kampf zwischen Godzilla und den beiden M.U.T.O. getauften Monstern jedoch eine veränderte Perspektive. Während die gigantischen Bestien ganze Stadtteile innerhalb von Sekunden in Schutt und Asche zerlegen, steht zu Beginn von "Godzilla: King of the Monsters" der Verlust eines Menschenlebens im Vordergrund.
                                  Durch den Tod ihres Sohnes bleiben die MONARCH-Wissenschaftlerin Emma, ihr Ehemann Mark und die gemeinsame Tochter Madison als zerrissene Familie zurück. Nach einem Zeitsprung von fünf Jahren sind Mutter und Tochter weiterhin daran interessiert, die unbändigen Titanen aufzuspüren und zu erforschen, während sich Mark von Emma und Madison entfremdet hat. Nachdem die beiden von dem Öko-Terroristen Alan Jonah entführt werden, der die Monster für seine Zwecke kontrollieren will, tritt die Geheimorganisation MONARCH wieder an Mark heran und ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.
                                  Dabei entwickelt sich "Godzilla: King of the Monsters" schnell zu einem überaus zwiegespaltenen Blockbuster-Erlebnis, das gleichzeitig als Fortführung sowie Gegenentwurf zum Vorgänger von 2014 angelegt ist. Damals näherte sich Edwards dem Godzilla-Mythos mit einer provokanten Zurückhaltung, die die titelgebende Riesenechse als geheimnisvolle Bedrohung in der Dunkelheit auffasste. Nur rund 10 Minuten war Godzilla in seinem eigenen Film überhaupt zu sehen. Edwards, der zuvor den bemerkenswerten Indie-Film "Monsters" drehte, brachte den Kreaturen in diesem Film aber erneut eine staunende Ehrfurcht entgegen, die auf faszinierende Weise mit der mythologischen Urgewalt der Atmosphäre verschmolz.
                                  Am Ende von "Godzilla" jubelte die Menschheit dem Monster als ihr Retter zu. "Godzilla: King of the Monsters" stellt den Vertrauensvorschuss auf eine schwere Probe. Im Angesicht der Bedrohung durch mehrere neue Titanen konzentriert Doughertys Sequel die Ohnmacht des Menschen gegenüber einer höheren Gewalt und die Frage nach dem Ausweg, wenn sich die Natur gegen ihn wendet. Die eindringlichsten Einstellungen des Blockbusters zeigen die menschlichen Figuren so klein wie möglich, während die gewählten Bildausschnitte selbst in üppigen Totalen kaum dazu in der Lage sind, das gesamte Ausmaß der Monster einzufangen.
                                  "Godzilla: King of the Monsters" ist immer dann am besten, wenn sich der Film vollständig als erschlagendes Blockbuster-Spektakel gibt, das den Betrachter vor der größtmöglichen Leinwand im positiven Sinne ausgelaugt zurücklässt. Sämtliche Impressionen, in denen sich die Kreaturen des Sequels bedrohlich sowie unaufhaltsam erheben, zum Angriff übergehen und aufeinanderprallen, gleichen vielmehr apokalyptischen Gemälden. Als viszerale Erfahrung gibt Doughertys Film dem überrumpelten Zuschauer die Ehrfurcht vor dem Kino zurück, während sich die eigentliche Erzählung ständig unnötig selbst ausbremst.
                                  Zu viel Zeit verschwendet "Godzilla: King of the Monsters" bedauerlicherweise auf Augenhöhe mit den zahlreichen menschlichen Figuren. Abseits der zwischenmenschlichen Dynamiken und emotionalen Fallstricke dienen diese überwiegend dazu, gerade stattfindende Ereignisse nochmals ausführlich zu erklären, die unbegreifliche Erhabenheit der Titanen irgendwie in Worte zu fassen und die nächsten Handlungsschritte unentwegt auszudiskutieren. Schauspieler wie Vera Farmiga, Kyle Chandler oder gar Sally Hawkins bleiben trotz ihrer dauerhaft überforderten Charaktere chronisch unterfordert. Dabei hilft es, dass sich Dougherty mit seinen vorherigen Werken wie "Trick 'r Treat" und "Krampus" bereits deutlich zu seiner Liebe gegenüber monströsen Stoffen bekannt hat. Den vermehrt frustrierenden Momenten in "Godzilla: King of the Monsters" setzt der Regisseur so stets einen Moment des Staunens entgegen, wenn sich die Kamera von Lawrence Sher ein weiteres Mal in der betäubenden Unübersichtlichkeit des Getöses verliert, während die aus alten und neuen Tönen schöpfende Klangkulisse von Bear McCreary den Terror der Unterlegenheit orchestriert. Ein gleichermaßen faszinierender, überfordernder wie frustrierender Koloss.

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                                    [...] Beide Zeitebenen inszeniert Harron in bleichen, entsättigten Farben, die dem Film automatisch den Eindruck verblassender Erinnerungen verleihen. Auch wenn die Momente, bevor das Hippie-Paradies zwischen freier Liebe, Drogen und Sex brutal in Flammen aufgeht, schon zuvor immer wieder von bedrohlichen Einschüben der Unruhe, Anspannung und Eskalation durchzogen sind, verschreibt sich die Regisseurin in diesen Passagen zusätzlich einer verstärkt träumerischen Ästhetik. Fast so, als wären sämtliche Erlebnisse vor der Inhaftierung der jungen Frauen nur eine Mischung aus Traum und Alptraum gewesen, die nie passiert sind. Diesem Stil einer hin und wieder hypnotisierenden Ästhetik wird Charlie Says auf der inhaltlichen Ebene dagegen nie gerecht. Schon die ersten Szenen verdeutlichen, dass Harron Manson in seiner dargestellten Kombination aus zersaustem Verführer und teuflischem Zeremonienmeister in den Hintergrund zu drängen versucht, um sich auf psychologische Weise mit den Frauen zu beschäftigen, die für ihn am Ende mit dem Messer zugestochen haben. Charlie Says erweist sich jedoch als oberflächliches Stückwerk, das kaum in den Abgrund zwischen uneingeschränkter Faszination und abscheulicher Grausamkeit vordringt. Viel zu oft erliegt die Regisseurin dem reinen Nachstellen überlieferter Ereignisse der Manson-Ära, als dass die Figuren zu mehr werden können als eindimensionale Skizzen. [...] Anders als beispielsweise die US-Autorin Emma Cline, die mit ihrem Buch The Girls das wohl beste Werk über Manson der jüngeren Vergangenheit vorlegte, ohne diesen überhaupt beim Namen zu nennen, scheitern Harron und ihre Drehbuchautorin Guinevere Turner daran, Mansons faszinierende Ausstrahlung als purer Mythos zu überkommen. Dabei besitzt jeder noch so kleine Schnipsel an Archivaufnahmen des realen Manson mehr beunruhigende und zugleich einnehmende Strahlkraft als das unpassend aufgesetzte Schauspiel von Manson-Darsteller Matt Smith (Doctor Who), der sich als glatte Fehlbesetzung entpuppt. The Girls dachte den Manson-Kult zur verhängnisvollen Coming-of-Age-Erzählung um und schilderte den langsamen Abstieg einer jungen Frau von der begeisterten Anhängerin hin zur ohnmächtigen Komplizin gleichermaßen fesselnd, einfühlsam und tragisch. Eine Parallele zu Clines hervorragendem Buch findet sich in Charlie Says erst ganz zum Schluss, wenn die Kamera in den letzten Momenten noch einmal bei den inhaftierten, verloren wirkenden Frauen innerhalb der Gefängnismauern verweilt. Für einen kurzen Augenblick wird hier in einer Nahaufnahme von Leslies Gesicht sichtbar, wie ein ganzes Menschenleben in wenigen Sekunden der reinen Selbsterkenntnis für immer in Scherben zerbricht und die Illusion endgültig verdrängt wird. [...]

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                                      über Greta

                                      Grob zusammengefasst folgt Neil Jordans neuer Film "Greta" dem üblichen Handlungsmuster gewöhnlicher Psycho-Thriller, wie sie über lange Zeit hinweg vor allem in Form von B-Movie-Videothekenware verschleudert wurden. In der U-Bahn findet Frances, die als junge Frau erst vor Kurzem von Boston nach New York gezogen ist, eine Handtasche. Mithilfe des Personalausweises darin macht sie die Besitzerin ausfindig. Mit der dankbaren älteren Witwe Greta freundet sie sich schnell an, bis das Verhältnis eine abrupte Wendung erfährt.
                                      Schon das Marketing machte kein großes Geheimnis daraus, dass sich hinter Greta eine psychopathische Stalkerin verbirgt. Auch Jordans Film selbst präsentiert dem Zuschauer diese Enthüllung nach gut einem Drittel des altmodisch-elegant konstruierten Thrillers. Von nun an sind es vielmehr die erzählerischen Haken, die der Regisseur genüsslich schlägt, die feinen Details der Geschichte, ein Sinn für betörende Ästhetik sowie die hervorragenden Schauspielleistungen, die "Greta" über die kompakten 98 Minuten hinweg zu einem regelrechten Hochgenuss machen.
                                      Da ist beispielsweise von Anfang an diese Atmosphäre der Trauer und Einsamkeit, die neben dem Gefühl der langsam anschwellenden Bedrohung über nahezu jeder Einstellung des Films schwebt. Ihr Umzug in die pulsierende Millionenmetropole scheint Frances' Situation keineswegs verbessert zu haben. Früh erfährt der Zuschauer, dass die junge Frau ihre geliebte Mutter an Krebs verloren hat und zu ihrem ununterbrochen arbeitenden Vater nicht den nötigen Kontakt hat. Auch wenn sich die Protagonistin ein schickes Apartment in Tribeca mit ihrer Freundin Erica teilt, das von deren Vater bezahlt wurde, und in einem Edelrestaurant jobbt, wirkt sie die meiste Zeit über verloren.
                                      Eine fantastische Szene zeigt Frances und Erica zusammen im Kino, wo die Gesichter der beiden von den schwarzen 3D-Brillen verdeckt werden. Als Frances davon erzählt, dass sie diese Tradition des gemeinsamen Kinogangs sonst immer mit ihrer verstorbenen Mutter teilte, fängt die wundervolle Kameraführung von Seamus McGarvey in dem Moment eine Träne im Gesicht der Protagonistin ein, die langsam über das Gesicht von Frances läuft. Kurz darauf erklärt sich die gewollte Nähe von Frances zu Greta deshalb wie von selbst. In der einsamen Witwe mit dem französischen Akzent und der Tochter irgendwo in Paris spiegelt sich die einsame Isolation von Frances ebenso wider wie eine Art Mutterfigur.
                                      Jordan, der sich mit seinen bisherigen Filmen wie "The Crying Game", "Interview with the Vampire: The Vampire Chronicles" oder "Byzantium" ebenfalls bevorzugt auf einen schmalen Grat zwischen einfühlsamen Charakterdrama und purem Genre-Exzess begab, knüpft mit "Greta" nahtlos an diese Tradition an. Mit dem pulpigen B-Movie-Wesen des Drehbuchs flirtet der Regisseur ebenso innig wie mit dem sinnlichen Delirium auf der inszenatorischen Ebene. Wie ein verträumtes Echo hallt in einer Szene das hypnotische "Paint the black hole blacker" aus St. Vincents "The Strangers" durch einen Traum im Traum, während sich später versteckte Kinderzimmer in Gefängnisse verwandeln und Finger beim Plätzchenbacken blutig abgetrennt werden. Den Thrill als aufregendes Spektakel versteht Jordan in "Greta" dabei ebenso mit reiner Genre-Virtuosität wie etwa ein Brian De Palma oder Paul Verhoeven.
                                      Einer Schauspielerin wie Isabelle Huppert ist Chloë Grace Moretz im direkten Duell wiederum zwangsläufig unterlegen. Wenn die Grand Dame des französischen Kinos ihrer diabolischen Seite freien Lauf lässt, undurchsichtig zwischen sanfter Wärme, rätselhafter Kälte und beängstigender Härte pendelt, wie ein Geist durch das moderne Spektrum digitaler Einengung spukt oder ihrem überrumpelten Opfer einen Kaugummi in die Haare spuckt, legt Moretz ihre Figur dagegen auf ebenso passende Weise mit naiver Unsicherheit an, die immer genau zum richtigen Zeitpunkt in offensive Konfrontation umschwenkt.
                                      Inhaltlich mag sich "Greta" mitunter zu wenig gegen vorhersehbare Genre-Konventionen stemmen, doch wie Schauspiel, Ästhetik und der Blick auf entscheidende Details in Jordans Melange aus Melancholie, Grauen und fesselnder Spannung ineinander übergehen, ist die positivste Überraschung der letzten Zeit.

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                                        "So what are you gonna do now? - Make a million."

                                        Die Großstadt und damit irgendwie auch die ganze Welt steht Brian Flanagan offen, als der junge Mann nach seinem Armee-Dienst nach New York zurückkehrt. Im Amerika Ende der 80er umweht Brian eine ansteckende Aura des puren Hedonismus, die ihn sofort dazu antreibt, sich ins Finanzgeschäft an der Wall Street zu stürzen. Viele beschämende Ablehnungen später findet sich Brian gewissermaßen in einem Doppelleben wieder. Tagsüber ist er der brave, übermüdete Wirtschaftsstudent, der sich die nötigen Referenzen fürs Geschäft beschaffen will, während er im Nachtleben bei seinem Nebenjob als Barkeeper zum großen Talent mutiert.
                                        In der ersten Hälfte wird Roger Donaldsons "Cocktail" seinem Titel mehr als gerecht. Wenn der Regisseur in ausufernden Montagen schwelgt, die den Beruf des Barkeepers gleichzeitig zum amüsanten Popstar und unwiderstehlichen Sexsymbol überhöhen, wirkt der Film beim Zuschauer selbst wie der eiskalte Mojito in einer lauen Sommernacht. Einen entscheidenden Anteil daran, dass "Cocktail" nicht schon früh in seinem eigenen hedonistischen Exzess ertrinkt, trägt dabei Tom Cruise.
                                        Der große Durchbruch gelang dem Schauspieler schon zwei Jahre vor Donaldsons Film mit "Top Gun", doch "Cocktail" erscheint in vielen Szenen wie der gefestigte Siegeszug eines absoluten Weltstars, der endgültig allen zeigt, was in ihm steckt. Wie Cruise mit leuchtenden Augen und strahlendem Lächeln hinterm Tresen zu den Pophits der Stunde singt und tanzt und seiner Kundschaft mit fast schon akrobatischer Virtuosität die Drinks mixt, zeigt im selben Moment auch einen kaum zu bremsenden Schauspiel-Meteoriten, der vor den Augen des Kinopublikums auf der Leinwand einschlägt, so dass es ihm einfach zu Füßen liegen muss.
                                        "Cocktail" auf dieser Ebene von Anfang bis Ende auszukosten gestaltet sich jedoch als schwierig, denn Donaldsons anfängliches Werk zwischen Drama und Komödie ist der unbekümmerte Rausch, der den ungewünschten Kater gleich mitliefert. Spätestens ab der zweiten Hälfte, wenn sich Brian in einem der seltenen dramatischen Momente mit seinem Mentor und Partner zerstritten hat und alleine auf Jamaika eine Strandbar betreibt, wo er sich in die hübsche Jordan Mooney verliebt, kippt "Cocktail" immer stärker in eine gewöhnliche, überwiegend lustbefreite Romanze, die den schwungvollen Hedonismus davor schnell vermissen lässt.
                                        Auch Cruise, dem das Charisma vor allem als glühendes Star-Symbol aus jeder Pore seines Körpers zu tropfen scheint, erweist sich in dieser frühen Phase seiner Karriere als sichtlich überforderer Schauspieler für tiefschürfende oder gar tragische Momente. Die Unentschlossenheit zwischen zwei Frauen als unwiderstehlicher, Gigolo-ähnlicher Jüngling auf der einen sowie braver All-American Boyfriend auf der anderen Seite ist Cruise als zu verkörpernder Zwiespalt deutlich anzumerken. In diesen Szenen wird immer wieder klar, dass "Cocktail" genauso wie sein betörender Hauptdarsteller nur als flüchtige Fantasie existieren kann, die sich von einem rauschhaften Moment zum nächsten hangelt. Erst ganz zum Schluss erstrahlt Donaldsons Streifen nach mehreren moralischen Zurechtweisungen im Finale endlich wieder als hedonistisches, zusätzlich kitschig weichgezeichnetes Märchen, das voll und ganz dem Zeitgeist der auslaufenden 80er und angehenden 90er verschrieben ist. Einen passenderen Namen als "Cocktails & Dreams" könnte der allerletzte Schauplatz in diesem Film nicht tragen.

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                                          Neo-Noir- und Mystery-Thriller-Eindrücke verschwimmen in "Serenity" früh zu einem faszinierenden Rätsel. So richtig greifbar ist Steven Knights Film schon von Anfang nicht, wenn Matthew McConaughey als manisch-obsessiver Fischerboot-Kapitän Baker Dill eingeführt wird, der auf der Jagd nach einem riesigen Thunfisch ist. Was an die Geschichte von Moby Dick und Kapitän Ahab erinnert, entwickelt sich jedoch recht schnell noch stärker in Richtung einer halluzinatorischen Irrfahrt. Auslöser dafür ist die klassische Femme Fatale Karen, eine schöne Frau aus Bakers Vergangenheit, die auf einmal wieder in sein Leben tritt.
                                          Sie enthüllt nicht nur, dass Baker Dill in Wahrheit offenbar John heißt, sondern will ihren Ex-Mann außerdem zum Mord an ihrem derzeitigen Ehemann Frank anstiften, der sie regelmäßig brutal misshandelt. 10 Millionen Dollar soll er dafür von Karen erhalten, dass er Frank auf einen Bootstrip mitnimmt und über Bord gehen lässt. Seine Vergangenheit drängt sich erneut in Bakers Leben, obwohl er diese so gut wie möglich hinter sich lassen wollte. Auf der kleinen Insel Plymouth hat er sich eingenistet, hier, wo jeder jeden kennt und der Kriegsveteran neben ständigen Angel-Fahrten betrunken von dem vielen Rum regelmäßig bei derselben Frau im Bett landet.
                                          Die Kamera von Jess Hall ist in "Serenity" dabei ebenso besessen von McConaughey wie kürzlich Benoît Debies Kamera in "Beach Bum". Die hypnotische Sogwirkung von Harmony Korines Film, in dem der Darsteller eine seiner entfesseltsten Performances überhaupt hinlegt, erreicht Knights Film dabei jedoch nie. Trotzdem ist McConaughey in "Serenity" erneut ein Ereignis für sich. Torkelnd, fiebrig, unentwegt verschwitzt oder durchnässt sowie mit muskulöser Anziehungskraft bewegt sich der Texaner gewohnt vernuschelt durch eine Geschichte, die immer absurdere Ausmaße annimmt. Betörende Geheimnisse, laszive Erotik und düstere Abgründigkeit, immer am Rande der trashigen Überhöhung, tauscht der Regisseur und Drehbuchautor aber schließlich gegen eine Wendung ein, die alles auf den Kopf stellt.
                                          "Serenity" zu diskutieren bedeutet automatisch, über den großen Twist des Films zu diskutieren, der sich gnädig ausgedrückt als gewagt und realistisch ausgedrückt als misslungen bezeichnen lässt. Gut eine halbe Stunde vor Ende des Films wird dem Zuschauer die zentrale Enthüllung präsentiert, die nicht gerade subtil vorbereitet wird und sich dann mit hirnrissiger Entschlossenheit in die restliche Handlung einfräst. Was im Kontext der zuvor gezeigten Geschehnisse und besonders ästhetischen Eigenarten durchaus Sinn ergibt, wirkt sich trotzdem fatal auf den entscheidenden Verlauf von "Serenity" aus. Aus dem ausgelassenen Neo-Thunfisch-Noir wird ein Film mit erzwungener Tiefe, moralischer Botschaft und falschen Emotionen, bei dem sich der Zuschauer im letzten Drittel einen volltrunkenen Matthew McConaughey zurückwünscht, der skurrilen Illusionen nachjagt und nackt von Klippen springt.

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                                            Ein malerisches Urlaubsparadies geht in Sven Taddickens "Das schönste Paar" innerhalb weniger Minuten in Flammen auf. Noch bevor die erste Szene einsetzt, verbildlicht ein Stöhnen und schweres Atmen auf der Tonspur die innige Zweisamkeit, der sich das titelgebende Paar Liv und Malte auf Mallorca hingibt. In der Eröffnungsszene des Films hatten beide gerade Sex in einer abgelegenen Meeresbucht und ergreifen eilig die Flucht, nachdem sie von drei amüsierten Jugendlichen erwischt wurden.
                                            Stunden später blickt das Pärchen erneut in die Gesichter dieser Jugendlichen, nachdem sich das Trio am Abend ungefragt Eintritt in das Apartment der Urlauber verschafft hat. Der Zuschauer ist in diesem Moment genauso unvorbereitet wie Liv und Malte, als in einem gewalttätigen Rausch plötzlich die Hölle losbricht. Einige schier unerträgliche Momente später, die Malte verletzt und Liv vergewaltigt hinterlassen, rückt der Regisseur seine Protagonisten in eine ähnlich innige Position wie zu Beginn des Films. Die Beziehung zwischen dem Paar wird danach jedoch nicht mehr wie davor sein.
                                            Nach einem Zeitsprung sind die beiden wieder in das gemeinsame Leben in Köln zurückgekehrt, als Paar sowie Lehrer an derselben Schule. Zwei Jahre sind vergangen, die Taddicken elliptisch ausspart, um sich den sichtbaren und unsichtbaren Folgen zu widmen, die das folgenschwere Ereignis bei Malte und Liv hinterlassen hat. Während sie eine Therapie abgeschlossen hat und ausgeglichen sowie mit sich selbst im Reinen zu sein scheint, wirkt die Tat sichtbar in Malte nach. Das Boxtraining, an dem er mittlerweile regelmäßig teilnimmt, ist offensichtlich ein Katalysator für das körperliche Versagen von damals, als er seine Freundin nicht beschützen konnte.
                                            In knappen Momentaufnahmen und präzisen Alltagsbeobachtungen spürt der Regisseur den Auswirkungen des Traumas nach, das die Beziehung von Liv und Malte wie ein Virus befallen hat. Dabei geht Taddicken in "Das schönste Paar" vor allem der Frage nach, wie ein Leben nach dem Unvorstellbaren möglich ist, das gemeinsam unaufhaltsam durchgestanden werden musste. Als eine Schülerin von Malte im Unterricht einen Song auf seine inhaltliche Bedeutung analysiert und ein genervter Mitschüler vor allem die eingängige Ohrwurm-Qualität dieses Songs beklagt, richtet Malte die entscheidende Frage an seine Klasse: Wie kann es sein, dass uns etwas so sehr im Kopf bleibt, obwohl wir es so fürchterlich finden?
                                            Auch wenn Malte und Liv jeweils unterschiedliche Wege einschlagen, um das gemeinsam Erlebte vergessen zu können, schildert Taddicken ein langsames Auseinandertreiben des Paares. Die Zerreißprobe erreicht ihren Höhepunkt, als Malte eines Abends dem Jugendlichen wiederbegegnet, der für Livs Vergewaltigung auf Mallorca verantwortlich ist. Wie besessen folgt er dem Jungen, der mittlerweile selbst eine Freundin hat, und wartet stundenlang an der S-Bahn-Station, an dem ihm der Täter vor seinen Augen entwischt ist. Schließlich gelingt es ihm, dem Jugendlichen bis nach Hause zu folgen, bevor es danach zu einer erneuten Konfrontation zwischen beiden kommt.
                                            "Das schönste Paar" ähnelt in seiner Erzählstruktur hierbei längst dem üblichen Handlungsmuster des Rape-and-Revenge-Films. Genauso wie in diesem Subgenre des Exploitationfilms zeigt Taddicken in seinem Drama, das sich immer mehr in Richtung Thriller entwickelt, die Vergewaltigung, den Versuch eines Lebens danach sowie das Aufkeimen eines Gedankens, der im Rape-and-Revenge-Film für gewöhnlich in einem Akt kathartischer Rache mündet.
                                            Zu diesem recht plumpen Schema lässt sich der Regisseur aber nicht hinreißen. Obwohl "Das schönste Paar" intensive Momente der Gewalt enthält, die kurzen Passagen mitreißender Spannung folgen, bleibt Taddickens Film im Kern ein stilles Drama voller roher Intimität, die von den Hauptdarstellern Luise Heyer und Maximilian Brückner herausragend gespielt wird. Anstelle eines Kampfs gegen den Täter, den das Paar nach und nach gemeinsam ins Visier nimmt, handelt der Film vielmehr vom Kampf zwischen Liv und Malte, die durch Ohnmacht, Trauma, Überforderung und Verzweiflung wieder zueinander finden müssen. Ganz am Ende zeigt Taddicken, dass dieser Kampf durchaus zu einer Form von Zerstörung führt, der aber gleichzeitig eine befreiende Schönheit innewohnen kann.

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                                              Über "River's Edge" lässt sich kaum schreiben, ohne auch über "Twin Peaks" zu schreiben. 1990 revolutionierten David Lynch und Mark Frost die Fernsehlandschaft, als sie ihre Mischung aus leicht bekömmlicher Soap Opera, abgründigem Drama und surrealem Mysterium auf ein unvorbereitetes Serien-Publikum losließen. Ein unvergessliches Bild unter vielen lieferte "Twin Peaks" dabei gleich zu Beginn in der ersten Episode. Es war die Aufnahme der toten Highschool-Ballkönigin Laura Palmer, deren Leiche in Plastik eingewickelt am Flussufer der titelgebenden Kleinstadt aufgefunden wird.
                                              4 Jahre zuvor bietet "River's Edge" von Tim Hunter einen ganz ähnlichen Anblick, den der Betrachter nur noch schwer aus dem Kopf bekommen wird. Zu Beginn des Films hat der Teenager Samson seine Freundin nach einem Streit getötet. Mit bloßen Händen hat er das Mädchen erwürgt, das von der Kamera im Nachhinein als nackter, bläulich angelaufener sowie mit bleichen, weit offenen Augen eingefangen wird. Immer wieder kehrt "River's Edge" zu diesem Bild des Anfangs zurück, um die Leiche als unauslöschliches Symbol einer Kleinstadt darzustellen, die von verlorenen Teenagern auf dem Weg in eine noch hoffnungslosere Zukunft bevölkert wird. Hier irgendwo in Nordkalifornien porträtiert Hunter eine Gruppe Jugendlicher, denen auch der Täter Samson angehört. Anstelle von Schuldgefühlen strahlt dieser allerdings eine verstörende Gelassenheit und auch einen gewissen Stolz aus. Nach und nach führt er seine Freunde sogar zu dem Leichnam, der weiterhin tagelang in der Nähe eines Flusses im Gras liegt.
                                              Die Reaktionen auf die grausame Tötung fallen innerhalb der Gruppe gespalten aus. Während der rebellische, aber eher sensible Matt geschockt reagiert und recht bald den Entschluss fasst, sich mit seinem Wissen an die Polizei zu wenden, setzt der extrovertierte, dauerhaft aufgekratzte Layne alles daran, den mörderischen Vorfall zu vertuschen. Schnell ergeben sich innerhalb der jugendlichen Gruppierung verschiedene Dynamiken, die allesamt das Bild einer überwiegend abgestumpften, leer vor sich hin treibenden Jugendkultur vermitteln. Inspiriert wurde das Drehbuch zu "River's Edge" von mindestens zwei realen Mordfällen, die sich Anfang der 80er in den USA ereigneten. Beiden Taten lag der Mord an einem jungen Mädchen durch den eigenen Freund zugrunde, wobei ein Fall besonders durch das Verhalten des Täters geprägt wurde, der mit dem Verbrechen vor seinen Freunden angab und die Leiche mehreren Personen zeigte.
                                              Das beklemmende Detail, das sich auch als auffälliges Merkmal durch Hunters Film zieht, ist die Tatsache, dass die Tötung zwei Tage lang nicht zur Anzeige gebracht wurde. Der Regisseur nutzt diesen Umstand, um sein Drama zu einer Beobachtung adoleszenter Befindlichkeiten zu formen, die einen harten Bruch im Vergleich zum gewohnten Jugendfilm der damaligen Ära markiert. Für "River's Edge" arbeitete Hunter, der später auch noch drei Episoden der 2. Staffel "Twin Peaks" inszenierte, mit Lynch-Kameramann Frederick Elmes zusammen, der noch im selben Jahr für die Bilder von "Blue Velvet" verantwortlich war. Ähnlich wie Lynchs meisterhafter Blick hinter die strahlende Fassade der amerikanischen Vorstadt besitzt auch Hunters Film eine ganz ähnliche Atmosphäre, die trotz der wesentlich realitätsnäheren Ausrichtung einen pechschwarzen Alptraum hinter vermeintlich naiver Unschuld erkennen lässt.
                                              Erwachsene sind in "River's Edge" dabei weitestgehend abwesend, während die dargestellte Jugendkultur zwischen Slayer im Auto, sanftem Sex unter freiem Himmel, gelegentlichem Drogenkonsum und brutalen Ausfällen in einem betäubten Nihilismus zu versinken droht, der sich kaum erklären lässt. Hunter bietet bis zum Ende keine klaren Motive an, sondern zeigt vielmehr erschreckende Einzelszenen inmitten des konventionellen Coming-of-Age-Korsetts. Wie auch in "Blue Velvet" ist in "River's Edge" ebenfalls ein entfesselter Dennis Hopper zu sehen, der als vereinsamter Drogendealer mit Beinprothese und einer Sexpuppe als Partnerin wie eine beängstigende Zukunftsvision der heranwachsenden Protagonisten wirkt, während selbst die Kleinsten in diesem Drama im Finale mit einer Pistole in der Hand zu sehen sind, bereit dazu, Schreckliches anzurichten.
                                              Am Ende versammelt der Regisseur die wichtigsten Figuren noch einmal vor dem Leichnam des Mädchens, das nun in einem Sarg aufgebahrt vor ihnen liegt. Zum ersten Mal zeichnen sich dabei in einigen Gesichtern erkennbare Emotionen wie Reue, Trauer und Mitgefühl ab. Ein stummes Zeichen in Richtung einer Zukunft, die vielleicht doch noch nicht endgültig in Hoffnungslosigkeit und Zerstörung führt.

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                                                Zu Beginn wirkt "War of the Worlds" noch auf altmodischste Weise wie ein Steven Spielberg-Film. Untermauert wird der Eindruck einer typischen Familiengeschichte, die von offensichtlichen Problemen in Form eines zu oft abwesenden Vaters geprägt ist, zusätzlich durch Hauptdarsteller Tom Cruise. Das strahlende Lächeln des Stars, förmlich eingemeißelt in dessen attraktives Gesicht, lenkt den Zuschauer zunächst immer wieder von der Tatsache ab, dass dieser Ray ein überforderter und zugleich ignoranter Vater ist, von dem sich die Kinder verständlicherweise merklich distanziert haben.
                                                Das starke Grinsen des Vaters, der von seiner Frau in Trennung lebt und nur unregelmäßig Kontakt zu seinem jugendlichen Sohn Robbie und seiner kleinen Tochter Rachel hat, wird Minuten später hingegen fast für immer aus dem Film verschwinden. Ausdrucksstarke Gesichter in Nahaufnahme bleiben auch weiterhin ein beliebtes Motiv des Regisseurs in "War of the Worlds", doch sind es in der H.G. Wells-Adaption Gesichter voller Verzweiflung, Ratlosigkeit, Schock und Furcht, die Spielberg seinem Publikum präsentiert. Nach einer ungewohnt aggressiven Serie von Blitzeinschlägen reißt der Boden unter den Füßen der Menschen auf, die sich auf den Straßen versammelt haben. Nicht aus dem Himmel, sondern aus der Erde direkt unter ihnen erheben sich fremdartig anmutende Maschinen über die Köpfe dieser Menschen. Kurz darauf lässt Spielberg ein beklemmendes Szenario über die Figuren und den Zuschauer hereinbrechen, in dem Menschen panisch schreiend die Flucht ergreifen, während sie von hellen Strahlen in Sekunden pulverisiert werden.
                                                Apokalyptische Bilder, mit denen der Regisseur die erst vier Jahre zuvor durch die Terroranschläge auf das World Trade Center traumatisierte Post-9/11-Nation der USA adressiert, bestimmen die Szenen von "War of the Worlds", in dem sich Stilmittel des Science-Fiction- und Horrorfilms zu einer Vision des ebenso virtuos wie betäubend orchestrierten Schreckens verformen. In der späteren Karriere von Spielberg wirkt der Blockbuster nach wie vor wie ein Fremdkörper, der einer radikalen Höllenfahrt gleicht. Großen Anteil an der atmosphärisch wuchtigen und bisweilen sogar erschlagenden Wirkung des Films hat dabei vor allem Spielberg-Stammkameramann Janusz Kaminski. In seinen Aufnahmen verkommt die außerirdische Invasion der Geschichte zur Aneinanderreihung mitunter unvergesslicher Impressionen, in denen Leichen vor den Augen eines kleinen Mädchens über den Fluss treiben und ein Rettungsschiff in Stücke zerrissen wird, während das unerklärliche Terror-Szenario von unübersichtlicher Massenpanik später auch zu einem intimen Kammerspiel in einem klaustrophobischen Keller schrumpft.
                                                Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 dauerte es nicht lange, bis eine Reflexion der Ereignisse auch ihren Weg in Filme und Serien fand. "South Park" behandelte die Thematik gewohnt satirisch, während neue Staffeln von "24" wie eine aggressive Antwort auf potenziell terroristische Bedrohungen erschienen. Michael Moore begab sich mit seiner Dokumentation "Fahrenheit 9/11" auf die Suche nach Antworten in der US-Politik von George W. Bush, während Spike Lee in seinem Drama "25th Hour" die brüchige Psyche eines zur Haft verurteilten Drogendealers mit eingestreuten Blicken direkt auf Ground Zero anreicherte.
                                                Kein Werk spiegelte die chaotische Panik und tiefe Angst im kollektiven Unterbewusstsein der amerikanischen Bevölkerung jedoch so furchtlos als hoch budgetierter Katastrophen-Blockbuster wider wie Spielbergs "War of the Worlds". Rückblickend erscheint somit auch das unpassend harmonische Ende, in dem Morgan Freeman den Film als Off-Erzähler wie auch schon am Anfang endgültig als überhöhtes Märchen umrahmt, wie der Versuch eines Lichtblicks in unaufhörlich dunklen Zeiten. Hoffnung können, wie sollte es bei Spielberg auch anders sein, in diesen Zeiten nur die Familie und der gemeinsame Zusammenhalt als solche bieten. Eine naive und doch irgendwie beruhigende Fantasievorstellung.

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                                                  Nicht mit einem erwartbaren Knall, sondern mit einem schlichten Fingerschnipsen breitete sich in "Avengers: Infinity War" vor fast genau einem Jahr die Apokalypse aus. Am Ende des von vornherein auf zwei Filme ausgelegten Events, das den krönenden Höhepunkt von Phase 3 des Marvel Cinematic Universe markieren soll, ist es Thanos tatsächlich gelungen, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Nach der obligatorischen Massenschlacht im Finale endete der 21. MCU-Film mit überraschenden Impressionen von tragischer Stille, in denen verlorene Leben von Helden in perplexer Schockstarre betrauert wurden, während der tragisch triumphierende Bösewicht in surrealer Abgeschiedenheit dem Sonnenuntergang entgegenblickte.
                                                  "Avengers: Endgame" markiert nun nicht nur zweifelsohne schon jetzt das Ereignis des Jahres für die breite Masse an Kinogängern, sondern knüpft zunächst vor allem konsequent an die deprimierende Atmosphäre aus den finalen Szenen des Vorgängers an. Joe und Anthony Russo balancieren die Last des Verlustes auf den Schultern ihrer Hauptfiguren, suhlen sich geradezu in Close-ups niedergeschlagener Gesichter und zeigen Menschen, die hinter den Superhelden gegen die allgegenwärtige Trauer ankämpfen.
                                                  Bereits durch die vorab veröffentlichten Trailer und Clips hallten Sätze wie "Whatever it takes" und "I know I said no more surprises, but I was really hoping to pull off one last one" als eindringliche Versicherung von Endgültigkeit über einzelne Momente. Dass in dieser zwei Filme umspannenden Kulmination eines insgesamt 22 Filme umspannenden Comicfilm-Universums Leben ernsthaft auf dem Spiel stehen und ein schützender Ausweg keine Selbstverständlichkeit ist, machte schon "Avengers: Infinity War" in einigen Szenen deutlich. Trotz des regelmäßig eingestreuten Humors, ein unverzichtbares Markenzeichen des MCU, schwebte über jedem Augenblick des Vorgängers ein Gefühl des Bedrohlichen, ausgelöst durch die sichtbare oder unsichtbare Präsenz von Thanos, der sich als faszinierender Antagonist dieses schließlich besten MCU-Beitrags entpuppte. "Avengers: Infinity War" beförderte das Franchise in neue Höhen, indem die Russos das mittlerweile kaum mehr zu überblickende Geflecht aus eingeführten und entwickelten Superhelden mehr als gewichtigen Mythos denn als seichtes Multiplex-Vergnügen begriffen. Ein Mythos, der in "Avengers: Endgame" vermehrt ins Wanken gerät. Als Zusammenführung zahlreicher Hintergrundgeschichten, Einzelschicksale und kollektiver Entwicklungen geben sich die Regisseure und Drehbuchautoren einem Ausmaß an Fanservice hin, unter dem die Handlung zwischen erzwungen-unpassender Auflockerung, selbstreferenzieller Rückschau und dem Knirschen der Plot-Zahnräder taumelt.
                                                  Aus einem langsamen, depressiven Drama geht plötzlich ein überdimensionales Blockbuster-Spektakel hervor, das 11 Jahre MCU-Geschichte im Eilverfahren Revue passieren lassen muss. Eher pflichtschuldig anstatt ambitioniert wandelt sich "Avengers: Endgame" zum tosenden Best-of und Remix des eigenen Mythos, der sich noch einmal in sämtliche erdenklichen Richtungen ausdehnt. Mindestens drei verschiedene Filme stecken dabei in diesem Crossover-Endspurt, der selbstironischen Humor neben drastische Dramatik, Charakterentwicklung neben temporeiche Set-Pieces und überraschende Wendungen neben vorhersehbare Enthüllungen rückt, als müssten die Russos jede Minute ihres Films am Maximum inszenieren.
                                                  Erst spät, nachdem das eigentliche, ebenso am Maximum inszenierte Finale am Zuschauer vorübergezogen ist, kehrt "Avengers: Endgame" im entscheidenden Moment noch einmal zu jener introspektiven Melancholie zurück, die durch große Teile von "Avengers: Infinity War" und die ersten 20 Minuten dieses Films wehte. In den letzten Minuten, auf dem vorläufigen Höhepunkt des MCU, sind es schlussendlich wieder anhaltende Blicke, stille Gesten und kurze oder längere Berührungen, die sich ähnlich wie Thanos' Fingerschnipsen in Popkultur und Erinnerung einbrennen dürften.

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                                                    [...] Inszeniert ist Extremely Wicked, Shockingly Evil and Vile vielmehr wie ein konventionelles True-Crime-Thriller-Drama, das Bundy als wiederholten Tatverdächtigen porträtiert, der sich bis zuletzt gegen die schweren Vorwürfe gegen ihn wehrt. [...] Selbst nach der ersten von mehreren Verhaftungen, bei denen Bundy mit dem Verschwinden und der Bedrohung mehrerer junger Frauen in Verbindung gebracht, umhüllt der Film den fraglichen Täter mit einer Aura des Ungewissen, so als würde Berlinger die meiste Zeit über ebenfalls noch an die Unschuld von Bundy glauben. Was vom Publikum wahlweise als mutiger oder verheerender Schachzug aufgefasst werden kann, stellt vielmehr die streng subjektive Sichtweise von Liz dar, auf deren Lebensgeschichte der Film nach wie vor beruht. Auch wenn viele Szenen Bundy als alleinigen Protagonisten der jeweiligen Szene zeigen, ist es oftmals Liz, die ratlos und überfordert vor dem Fernseher sitzt und mitansehen muss, wie das traumhafte Leben, das sie sich einmal ausgemalt hatte, zu Trümmern zerfällt. In ihrer Rolle als Liz verleiht Lily Collins (To the Bone) dem Film außerdem immer wieder die nötige Sensibilität und Nachdenklichkeit. Daneben spielt Zac Efron (Bad Neighbors) Bundy als durchtrainierten Charmeur und anziehenden Womanizer, der gegenüber dem Justizsystem, dem er sich als Jurastudent selbst verschrieben hatte, mit fortschreitender Laufzeit regelrecht überheblich und arrogant auftritt. Nur selten droht Extremely Wicked, Shockingly Evil and Vile dadurch gar in eine ausgelassene One-Man-Show zu kippen, die dem unentwegten Kreislauf neuer Inhaftierungen, Verfahren und Gerichtsprozesse gegen Bundy mit seichtem Humor begegnet. Von einer Verharmlosung oder Glorifizierung des Serienmörders ist der Film trotzdem weit entfernt. Wenn ein Staatsanwalt im finalen Prozess die scheußlichen Taten Bundys schildert und im Kopfkino des Zuschauers aufflackern lässt, wirken die eingangs erwähnten Tränen im Gesicht dieses Mannes nur noch wie eine rätselhafte Fassade kurz vor dem Einsturz. So ist es konsequenterweise auch Liz, der das Ende dieses Films gehört. Ein letztes Mal bittet die gebrochene Frau Bundy darum, sie endlich zu befreien, bevor die Worte verstummen und eine letzte Geste Blicke erstarren und das Blut in den Adern gefrieren lässt. [...]

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