Patrick Reinbott - Kommentare

Alle Kommentare von Patrick Reinbott

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    Die beste Slasher-Schlusseinstellung aller Zeiten?

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    • 4

      [...] Der Großteil des Films besteht aus Archivmaterial und bekannten Filmszenen, die der Franzose wiederum für eigene Thesen zum derzeitigen, sehr pessimistisch geschilderten Zustand der Menschheit verknüpft. Kohärenz im eigentlich Sinne stellt sich in Godards Werk bewusst zu keinem Zeitpunkt ein, vielmehr gleicht die aggressiv verzerrte Collage aus Bildfetzen, Klängen und Off-Kommentaren in unterschiedlichsten Sprachen einem Bewusstseinsstrom, der The Image Book zugleich eigensinnig und höchst angreifbar gestaltet. In fünf Kapitel gliedert sich Godards Werk, die mitunter Titel wie Remakes tragen. In diesen entwirft der Regisseur seine ganz eigene Vorstellung einer Wiederkehr bekannter Klassiker wie Vertigo - Aus dem Reicht der Toten, Shanghai Express oder Freaks, um die Bilder aus dem kollektiven Gedächtnis in eine deutlich verzerrten Position zu rücken und sie ihrem eigentlichen Kontext zu entreißen. Die Botschaften hinter all diesen Szenen, die oftmals ebenso abrupt abbrechen wie sie begonnen haben, von unterschiedlichsten, teilweise absichtlich nicht untertitelten Sprachfetzen begleitet werden und schließlich fiktiv inszenierte Passagen aus dem Skandalfilm Die 120 Tage von Sodom realen Folteraufnahmen aus ISIS-Videos oder von schrecklichen Anschlägen gegenüberstellen, bleiben hingegen durchwegs diffus. Godard zerrt derart widerspenstig und trotzig an den Ecken seines filmischen Fundaments, dass The Image Book lediglich für ein intellektuell-interpretierfreudiges Publikum den passenden Nährboden darstellen dürfte. Stünde der Name des Regisseurs nicht hinter diesem Werk, würden sich die meisten Zuschauer hingegen zurecht wundern, welcher montage- sowie zitierwürdige Filmstudent oder zur Demenz neigende Urgroßvater hier soeben ein neues Schnittprogramm für sich entdeckt hat. [...]

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      • 9

        Als womöglich letztes Werk in einer langen Karriere von Filmen, mit denen sich der dänische Regisseur mehr und mehr den Ruf eines bloßen Provokateurs einhandelte, lässt Lars von Triers "The House That Jack Built" diverse Beschreibungen zu. Auch wenn er keineswegs ankündigte, dass es sich bei seinem neuesten Film um seinen letzten handeln würde, werden die Berichterstattungen über das Enfant terrible in den vergangenen Jahren von überwiegend besorgniserregenden Vorfällen und Einsichten dominiert, die diesen Schluss zulassen. Gemeint ist damit nicht einmal die übliche Empörung, bei der beispielsweise gut 100 Zuschauer während der Weltpremiere von "The House That Jack Built" bei den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes den Kinosaal verließen. Auch nicht die bekannteste dieser Kontroversen, bei der sich von Trier, ebenfalls in Cannes, 2011 als Sympathisant von Adolf Hitler und vermeintlicher Nazi äußerte.
        Vielmehr entspinnt sich die große Sorge um den Regisseur aus dessen wesentlich offeneren, intimeren Aussagen, bei denen von Trier längst zugab, dass das Filmemachen für ihn zuletzt ein kaum durchzustehender Kraftakt war. Starke Phasen der Depression setzten ihm in Verbindung mit einer starken Alkoholsucht und der hohen Dosierung von Medikamenten so sehr zu, dass ihn die Dreharbeiten zum schier monumentalen Gesamtwerk "Nymphomaniac" und seinem aktuellen Werk offensichtlich gebrochen haben. "The House That Jack Built" wirkt nun wie das große Vermächtnis des Regisseurs, der ausgelaugt auf sein Schaffen und seine eigene Persona zurückblickt, während er gleichzeitig mit ungefesselter, gewohnt provokativer Aggression in die vielleicht finale Offensive geht.
        An der reinen Oberfläche hat von Trier einen Film über den Serienkiller Jack inszeniert, der einem lange Zeit gesichtslosen Gesprächspartner namens Verge willkürlich von fünf seiner Taten in einem Zeitraum von 12 Jahren erzählt. Der regelmäßig über den Bildern hängende Dialog zwischen beiden dient wie auch schon in "Nymphomaniac" als strukturierende Verbindung zwischen diesen Vorfällen, die "The House That Jack Built", der in einem frühen Stadium der Entwicklung als Serie geplant war, zugleich einen losen, episodenhaften Charakter verleihen. Mit einer nervösen Handkamera, die von Triers Dogma 95-Wurzeln ebenso wiederspiegelt wie das starke Zittern seiner eigenen Hände, das in neueren Interviews mit dem Regisseur nicht zu übersehen ist, beginnt der erste Vorfall des Films gewissermaßen mit der Geburt des Protagonisten als Serienkiller.
        Eine von Uma Thurman bewusst nervtötend gespielte Anhalterin irgendwo in Washington Anfang der 1970er-Jahre ist der ausschlaggebende Punkt für Jack, zum Wagenheber zu greifen und der Frau den Schädel zu zertrümmern. Es ist ein ebenso irritierender wie unbehaglicher Auftakt, der "The House That Jack Built" noch auf trügerische Weise als beinahe konventionellen Genre-Film ausweist, der sich zugleich als finstere Charakterstudie in den kranken Kopf eines von jeglicher Empathie befreiten Serienkillers zu verstehen gibt. Bereits mit dem zweiten Vorfall ändert von Triers Werk jedoch radikal den Erzählton und wirft die Erwartungshaltung des Zuschauers über den Haufen, wenn dieser plötzlich vermehrt schwarzhumorigen Einfällen ausgesetzt wird.
        Wenn Jack an der Haustür seines nächsten potenziellen Opfers um eine falsche Identität ringt und später wieder und wieder an den Tatort zurückkehren muss, da ihm sein Ordnungs- und Reinigungszwang keine Ruhe lässt, wirkt "The House That Jack Built" über die erste Stunde hinweg gar wie von Triers "American Psycho". Mit trockenem Dialoghumor und slapstickhaften Einschüben stellt sich der Film aber bereits hier als schonungslose Selbstreflexion seines Regisseurs heraus, der persönliche Neurosen ebenso in den Ticks von Jack verankert wie er sich wieder und wieder selbst fragt, wie der Serienkiller mit all diesen Taten (es sind über 60, bis er gestellt wurde) ungeschoren davonkommen konnte. Als Antwort auf eine dieser vielen Fragen genügt von Trier dabei schon mal der einsetzende Regen, der eine verheerende Blutspur einfach davon spült.
        Noch offensiver und damit auch schwer erträglicher entwickelt sich "The House That Jack Built" mit dem Erreichen des dritten Vorfalls. Das bitterböse Lachen nimmt von Trier seinem Publikum, wenn ein Jagdausflug von Jack mit einer Mutter und deren kleinen Söhnen in grenzüberschreitende Grausamkeit und groteske Taxidermie ausartet, während der vierte Vorfall mit nahezu unerträglicher Anspannung Torture Porn-Dimensionen streift. All die Vorwürfe im Laufe seines Schaffens, er würde lediglich zum Selbstzweck schockieren und Frauenfiguren, die von Trier in Wirklichkeit wahrhaftig liebt und so aufrichtig ergründet hat wie nur wenige andere Regisseure neben ihm, mit misogyner Abscheu foltern und umbringen, potenziert der Filmemacher speziell in diesen beiden Vorfällen in ein überspitztes Grauen im verstörenden Horror-Deckmantel.
        Jacks von Riley Keough gespielte Freundin Jacqueline, die dieser nur Simple nennt und die er in ein Wechselspiel aus ruhiger Zuneigung und scheußlicher Erniedrigung verwickelt, ist der ultimative Ausdruck dieses Frauenbildes, das Kritiker dem Dänen schon lange vorwerfen, während sich dieser noch dazu durch die direkten Worte des Serienkillers darüber aufregt, dass Männer in der Gesellschaft automatisch von Schuld behaftet sein müssen. Mit beklemmender Konsequenz formt von Trier "The House That Jack Built" in diesen Momenten zu einem schwindelerregend brutalen Exorzismus, mit dem sich der Regisseur aggressiv von den Dämonen lossprechen will, die seine Persönlichkeit und seine Karriere nun schon seit so langer Zeit verfolgen.
        Dabei fällt von Trier wie auch schon in "Nymphomaniac" immer wieder auf die Kunst selbst zurück, wenn er in essayistischer Manier zwischen den eigentlichen Taten des Serienkillers zahlreiche Diskurse aufwirft. Das Verhältnis zwischen dem Verfaulen von Trauben für unterschiedliche Sorten von Wein und dem Verfaulen von Leichen arbeitet er hierbei ebenso heraus wie er so verschiedene Persönlichkeiten wie den Pianisten Glenn Gould, den NS-Architekten Albert Speer oder Adolf Hitler höchstpersönlich betrachtet, um über historische Ereignisse wie die Konstruktion des Sturzkampfbombers oder den Holocaust nach dem zutiefst fragwürdigen Zusammenhang zwischen Kunst und Mord zu forschen.
        Ohne Liebe sei wahre Kunst niemals möglich, hält ihm die ansatzweise moralische Instanz Verge vor, während der als Architekt gescheiterte Ingenieur Jack, der von einem herausragenden Matt Dillon in einer der elektrisierendsten Schauspielperformances dieses Kinojahres zwischen absurdem Clown und furchteinflößendem Massenmörder verkörpert wird, wieder und wieder Entwürfe seines geplanten Hauses zerschmettert. Vielleicht liegt die entscheidende Erkenntnis von "The House That Jack Built", der als Vermächtnis, Abschiedsbrief, verzweifelte Selbstreflexion sowie Abrechnung und ironische Brechung mit dem eigenen Schaffen gesehen werden kann, genau in dieser einsamen Erkenntnis. Auf dem abschließenden Pfad in die Hölle lässt von Trier die bemüht kunstvoll aufgetürmten Leichen seines Schaffens, das den Künstler als Mörder und den Mörder als Künstler verhandelt, über sich zusammenbrechen, da jegliche Form von Liebe keinen Zugang mehr zu ihm finden kann.

        "Some people claim that the atrocities we commit in our fiction are those inner desires which we cannot commit in our controlled civilization, so they're expressed instead through our art. I don't agree. I believe Heaven and Hell are one and the same. The soul belongs to Heaven and the body to Hell."

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        • 8

          [...] Mit pechschwarzer Dunkelheit lässt sich zudem der allgemeine Erzählton von Denis' Film beschreiben, der sich fortan als nonlinear inszeniertes Kammerspiel entfaltet, in dem die klaustropobische Stagnation an Bord des Raumschiffs mit den tiefen Abgründen der menschlichen Besatzung kollidiert. Auch wenn High Life zugleich den ersten komplett englischsprachigen sowie explizit dem Science-Fiction-Genre zuordenbaren Film der Französin markiert, fügen sich die Motive der Geschichte trotzdem nahtlos in deren bisherige Werke ein. Ähnlich wie Denis' damaliger Skandalfilm Trouble Every Day, in dem sie die Isolation und Einsamkeit ihrer Figuren in eine Abfolge blutiger sowie animalischer Eskalationen überführte, ist auch High Life die Studie eines Mikrokosmos, in dem das unterdrückte Begehren und die natürlichen Triebe der Figuren nach und nach überhandnehmen. Dabei zeigt sich die Regisseurin neben den fiebrigen Bildern und Montagen vor allem an den ständigen Kontrasten interessiert, die sich aus der Schlucht zwischen dem sterilen Setting und dessen Gegensatz des rein Menschlichen ergibt. Mit unheilvoller Gelassenheit schwebt die Kamera von Yorick Le Saux durch die stillen Korridore des Raumschiffs, blickt um Ecken und in geheimnisvolle Räume, die mitunter sexuelle Stimulation versprechen, bis die unterschiedlichen Körper in diesem Film wiederholt in den Mittelpunkt der Szenen rücken. Als Gegenreaktion auf die klinisch reinen Schauplätze studiert Denis ihre Figuren in diesem Film regelmäßig über deren Körperflüssigkeiten. All die angestauten Emotionen und das unterdrückte Verlangen, das in der zur zwischenmenschlichen Keuschheit verdammten Crew brodelt, entlädt die Regisseurin mit einem neugierigen Blick auf fließendes Blut, leicht sichtbaren Schweiß auf der Haut, Muttermilch, die aus Brüsten gedrückt wird, oder Sperma, das den experimentellen Forschungszwecken der einzigen Ärztin an Bord dient. [...] Nur einige wenige Rückblenden, die extra in Polen gedreht wurden und durch ihre starke Grobkörnigkeit sowie poetische Zerbrechlichkeit direkt aus einem Werk des großen Andrei Tarkovsky (Solaris) stammen könnten, lassen als lose Erinnerungssplitter für den Betrachter noch einen Kontakt zur Erde zu. Ansonsten gestaltet sich High Life als apokalyptisch-fragmentierte Reise zwischen Raum und Zeit zum Rand des Universums, die gleichzeitig eine introvertierte Reise in den Zerfall der Menschlichkeit bedeutet. In der elliptisch verschlossenen Erzählung lässt Denis wenig Hoffnung für den Fortbestand der Zivilisation aufkommen, sobald die hypnotischen Sequenzen in der zweiten Hälfte des Films mehr und mehr von mörderischer Gewalt durchzogen werden. Doch selbst inmitten des nahezu alles überschattenden Pessimismus, der dieses latent verstörende Science-Fiction-Poem in Richtung des unvermeidlichen Untergangs drängt, lässt die Regisseurin ein Gesicht schlussendlich hell aufleuchten, das in Anbetracht der nahenden, irrationalen Endgültigkeit mit den Sternen des Kosmos verschwimmt. [...]

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          • 10
            über Burning

            [...] Burning von Lee Chang-dong (Poetry) ist ein Film der rätselhaften Einschübe, der seine kleinen und großen Mysterien wie Brotkrumen auf dem Pfad in die Unerklärlichkeit des Lebens verteilt. [...] Und dann steht Hae-mi auf, gibt sich der Musik von Miles Davis hin und bewegt ihren Körper zu den Trompeten-Klängen der Jazz-Legende, bis sie oberkörperfrei mit der untergehenden Sonne zu verschmelzen scheint. Irgendwann schweift die Kamera von Hong Kyung-pyo ab, vom Körper und den Bewegungen der jungen Frau hin zu den Details der Naturkulisse, die das erneute Treffen dieser drei Figuren rahmt. Spätestens ab dieser unvergesslichen Schlüsselszene entwickelt sich Burning zu einem unaufhörlichen Fluss an charakterlichen Nuancen, bei denen ein müdes Gähnen, auf das ein mildes Lächeln folgt, ebenso große Bände spricht wie die weiterhin dezent surrealen Details dieser Geschichte, die Lee Chang-dong aus einer knapp 20-seitigen Kurzgeschichte von Haruki Murakami zu einem zweieinhalbstündigen Film adaptiert hat. Dabei wirkt keine Sekunde dieses Werks fehl am Platz, wenn sich die herausragend ausgearbeiteten Figuren unter den vagen Einflüssen zwischen Liebesdreieck, Charakterdrama, Mystery-Thriller und Gesellschaftsstudie verändern oder verschwinden. Burning selbst erweist sich hierbei als Geschichte über Geschichten selbst. Nach seinem Studium des kreativen Schreibens will Jong-soo Autor werden, ohne bislang das erste Wort eines Romans hervorgebracht zu haben, während die anderen Figuren Geschichten erzählen, die sich als fragwürdig oder wahrhaftig herausstellen. Ein seltsamer Vorfall aus dem Mund von Hae-mi, die angeblich früher einmal in einen stillgelegten Brunnen gefallen ist und von Jong-soo gerettet wurde, deckt sich nicht mit dessen Erinnerungen, und die Worte von Ben, der in seiner Freizeit gerne alle paar Monate ein Gewächshaus anzündet, werden in Lee Chang-dongs Meisterwerk zur flammenden Wirklichkeit der wachsenden Verunsicherung, die schließlich im irritierenden Chaos enden muss. [...]

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            • 7
              über Widows

              Bilder zwischen zärtlicher Romantik und brutaler Eskalation bestimmen den Auftakt von "Widows". Im gleichen Moment, in dem das von Viola Davis und Liam Neeson gespielte Ehepaar im Bett liegt und sich leidenschaftlich küsst, wird das gemeinsame Liebesglück durch Impressionen eines offensichtlich nicht nach Plan verlaufenen Verbrechens zerstört. Hierbei geht Neesons Figur des kriminellen Anführers Harry Rawlings zusammen mit dem Rest der Gangsterbande nach dem Beschuss durch Polizisten in dem Fluchtfahrzeug in Flammen auf.
              Hervorragend veranschaulichen diese ersten Szenen des neuen Films von Steve McQueen, in welchen Zwiespalt sich der britische Regisseur mit "Widows" ganz bewusst begeben hat. Der zusammen mit Co-Autorin Gillian Flynn geschriebene Streifen stellt den ersten richtigen Genre-Film des Regisseurs dar. Für McQueen eine denkbar ungewöhnliche Entscheidung, waren die vorherigen Werke des Regisseurs stets intensive, bisweilen kaum erträgliche Dramen, in denen er sich mit den Auswirkungen von extremen Maßnahmen, krankhaften Zwängen und unmenschlichem Leiden auf den menschlichen Körper und die Psyche auseinandersetzte.
              In "Widows" stellt dieses übergeordnete Motiv nun der Schmerz des Verlusts dar, denn mehrere Frauen in der Geschichte erfahren und durchleben müssen, als ihre Ehemänner bei dem anfangs gezeigten Überfall mit anschließend gescheitertem Fluchtversuch ums Leben kamen. Dabei entpuppt sich McQueens 4. Spielfilm frühzeitig als zwiegespaltenes Werk, aus dem mindestens drei verschiedene Erzählebenen hervorgehen, die der Brite gleichermaßen ambitioniert, überladen und souverän jongliert. Nach dem verheerenden Überfall, der die Handlung des Films in Gang setzt, bleibt Harrys Witwe Veronica mit 2 Millionen Dollar Schulden zurück.
              Es ist das Geld, das die Gangster dem örtlichen Politiker und zugleich Gangster-Boss Jamal Manning gestohlen haben, der die hohe Summe umgehend wieder haben will, um seinen Wahlkampf gegen den mächtigen Konkurrenten Jack Mulligan zu finanzieren, dessen Vater schon seit Jahrzehnten die wichtigsten politischen Beziehungen des Bezirks in Chicago verwaltete. Als Veronica, die seit jeher in die kriminellen Geschäfte ihres Mannes eingeweiht, aber nie involviert war, Harrys Notizbuch entdeckt, in dem dieser jeden Raubzug minutiös genau geplant hatte, beschließt sie den nächsten, nie vollendeten Überfall mit Aussicht auf 5 Millionen Dollar selbst durchzuziehen, nachdem sie vor Jamal und dessen brutalen Bruder sowie Geldeintreiber Jatemme um ihr Leben fürchten muss. Unterstützung ersucht sie dabei bei den anderen Witwen.
              Nicht nur theoretisch mutet "Windows" somit tatsächlich wie ein formelhafter B-Movie-Thriller an, den der Regisseur hingegen mit inszenatorischen und schauspielerischen Qualitäten wie aus einer A-Liga-Produktion veredelt. Lange Zeit pendelt die Gewissheit des anstehenden Heists, auf den die Handlung des Films ebenso geradlinig wie unvermeidlich zusteuert, langsam im Hintergrund, wobei McQueen dem Stoff des Drehbuchs mit seiner nach wie vor vorhandenen Arthouse-Sensibilität eine spürbare Tiefe abzugewinnen versucht. Neben dem beeindruckenden Cast wird der Regisseur dabei wie in all seinen bisherigen Filmen von dem herausragenden Kameramann Sean Bobbitt unterstützt, der "Widows" mit elaboriert eingestreuten Plansequenzen, stilvollen Kamerafahrten und durchdachten Einstellungen immer wieder zu einem Film werden lässt, in dem das Seelenleben der jede auf ihre Weise tief verletzten Witwen in der Inneneinrichtung glatter Wohnungen oder in den Spiegelungen von Fassaden gefangen zu sein scheint. Nebenbei inszeniert der Regisseur das Umfeld der Figuren, den Handlungsort Chicago, als von Korruption, Kriminalität und anderen Missständen zerfressenen Ort, der dem stetigen Verfall kaum mehr etwas entgegenzusetzen hat.
              Dass "Widows" auf einer gleichnamigen Mini-Serie aus den 1980er-Jahren basiert, macht sich in den aufgeworfenen Handlungssträngen dagegen über den Verlauf des knapp 130-minütigen Films deutlich bemerkbar. Zu nebensächlich bleibt das Porträt des Zusammenhangs zwischen der politischen und kriminellen Ebene, das McQueen anhand der Figuren von Colin Farrell, Robert Duvall und Brian Tyree Henry entwirft. Der Film des Briten entfaltet immer dann seine intensivsten Stärken, wenn sich die Geschichte auf die schmerzhaften Leerstellen im Leben der drei zentralen Witwen konzentriert, die Verlust, Schmerz, Zukunftsangst und weitere Abgründe enthüllen, während sich McQueen in der beinahe beiläufigen Konstruktion des Heist-Thriller-Plots als effizienter Spannungsregisseur behauptet, der selbst holprige, konstruierte Entwicklungen der Geschichte ab der zweiten Hälfte mit einem eindringlichen Finalakt überbrückt. In diesem finden die Handlungsstränge zwar nicht allesamt stimmig zusammen, jedoch finden die schizophren wirkenden Kernmotive des Films, das zerbrechlich Intime und das wüste Offensive, noch einmal im bewegenden Einklang zueinander.

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              • 4 .5
                über BuyBust

                In seiner entschlackten Direktheit erinnert der philippinische Action-Thriller "BuyBust" von Erik Matti lange Zeit an den indonesischen Klassenprimus "The Raid" von Gareth Evans. In beiden Filmen erscheint die Handlung als auf ein Mindestmaß reduziertes Konstrukt, in dem von Anfang an ein festes Ziel vorgegeben wird, das es unter extremen Strapazen unter Einsatz des eigenen Lebens zu erreichen gilt. In Mattis Film handelt es sich hierbei um eine Spezialeinheit, in der sich die ebenso schlagkräftige wie mürrische Polizistin Nina Manigan als Protagonistin herauskristallisiert. Wie sich herausstellt, ist ihre alte Einheit bei einem vorherigen Einsatz ums Leben gekommen, wofür sie sich immer noch die Schuld zuschreibt.
                Viel Zeit bleibt ihr nicht, um sich ohne große Widersprüche in das neue Team einzugliedern, denn schon nach wenigen Minuten des Films, in denen die gemeinsame Trainingsmaßnahme der Gruppenmitglieder als straffer Militär-Drill geschildert wird, steht das Einsatzziel fest. Die beiden Vorgesetzten haben mithilfe eines Maulwurfs den Standort des mächtigen Drogenbosses Biggie Chen ausfindig gemacht, der die Einheit tief in die von Spannungen durchzogenen Slums von Manila führt. Hier präsentiert sich der zentrale Schauplatz von "BuyBust" als drastisch verschlungenes, von Dunkelheit und Regen eingehülltes Labyrinth, in dem länger nicht klar wird, wer gerade wen umzingelt hat. Dabei inszeniert der Regisseur seinen Film als dramaturgisch zerfahrenes Katz- und Mausspiel, in dem die Anspannung inmitten der schier endlos ineinander verlaufenden Häusergassen nur noch von der Gewissheit der unnötig hinausgezögerten Konfrontationen überschattet wird.
                Tatsächlich lässt sich Matti gut 45 Minuten Zeit, bis die überwiegend schablonenhaft gezeichneten Figuren in Stellung gebracht und schleichend in den Alarmzustand versetzt wurden, ehe "BuyBust" in eine ausgiebige Aneinanderreihung erwartbarer Action-Setpieces und Mixed-Martial-Arts-Einlagen zerfällt. Auch hier bietet sich erneut der Vergleich zu "The Raid" oder zu dem wesentlich brutaleren, ebenfalls erst kürzlich auf Netflix veröffentlichten "The Night Comes for Us" an, wenngleich Mattis Film rein handwerklich bedeutend kruder und schlechter daherkommt als die beiden anderen Werke. Stattdessen erweist sich "BuyBust" aufgrund der unübersichtlich-hektischen Kameraführung, die zusätzlich mit wirren Schnitten kombiniert wird, als bisweilen gar dilettantische Action-Dauerbefeuerung, in der die rohen Choreographien in Verbindung mit den zahlreichen unerfahrenen Darstellern recht bald wie unbeholfenes Laientheater wirken. Anstelle der angestrebten Intensität stellt sich in Mattis Film sehr bald Ermüdung ein, zumal sich der Regisseur nie so recht zwischen ernster Abneigung gegenüber plötzlich aus Menschen hervorbrechender Gewalt und im Gegenzug maßlos zelebrierten Tötungseinlagen entscheiden kann.
                Neben Hauptdarstellerin Anne Curtis, die nach anfänglicher Charakterisierung bald nur noch auf ihre pure Physis reduziert wird, spielt sich in diesem Zusammenhang immer wieder ihr Schauspielkollege Brandon Vera in den Mittelpunkt, dessen hünenhafter Rico Yatco vom Regisseur wie eine Art philippinischer Dave Bautista in Szenen eingesetzt wird, die teilweise Comic Relief-Charakter ausstrahlen. Passend dazu ist auch der Soundtrack des Films ein unentschlossenes Potpourri, in dem harte, treibende Punk-Rock-Klänge stellenweise innerhalb weniger Minuten von langsamer Mundharmonika-Musik abgelöst werden.
                Erst im Finale, dem eine ungemein gekünstelte Plansequenz vorausgeht, scheint der Regisseur plötzlich noch Kritik gegen die philippinische Regierung einstreuen zu wollen. Zu spät kommt der ungelenk über die kaum vorhandene Handlung gestülpte Ansatz, all die zuvor zerstochenen Gliedmaßen, gebrochenen Knochen und das vergossene Blut mit einer bitteren Enthüllung rechtfertigen zu wollen, die lediglich von einer apokalyptisch anmutenden Kamerafahrt über die Blechdächer des Slums nachdrücklich eingerahmt wird. Längst hat der dramaturgisch fehlgeschlagene, oftmals dilettantisch inszenierte und vor allem in seinen Action-Momenten stark ermüdende "BuyBust" in dieser abschließenden Sequenz hingegen jegliche Wirkung verloren.

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                • 9

                  Wenn alles endgültig verloren scheint und die Welt nur noch in einem grauen Schleier existiert, der sämtliche menschlichen Existenzen in deprimierter Hoffnungslosigkeit einhüllt, setzt "An Elephant Sitting Still" von Hu Bo ein. Das Nordchina in dem Langfilmdebüt des Regisseurs scheint von den Strahlen der Sonne schon längst nicht mehr berührt zu werden. Zu trist und blass wirken die Bilder in diesem Werk, das zugleich Hu Bos beeindruckender Triumph und tragisches Testament ist. Mit gerade einmal 29 Jahren schrieb, drehte und schnitt der Regisseur diesen 4 Stunden langen Kraftakt von einem Drama. Die Premiere seines eigenen Films sollte er jedoch nicht mehr miterleben. Im Anschluss an die Vollendung von "An Elephant Sitting Still", dem auch noch ein Streit zwischen dem Künstler und den Produzenten folgte, denen der Film entschieden zu lang war, erhängte sich Hu Bo in einem Treppenhaus.
                  Auch die Kamera von Fan Chao begibt sich in diesem Film immer wieder in Treppenhäuser, durch die sich Menschen bewegen, auf der Flucht sind oder auf eine unausweichliche Konfrontation zusteuern. Individuen, die im normalen Alltag unbemerkt oder nahezu unsichtbar durch ihre Leben wandeln, auf der Suche nach einem Grund, um weiterzumachen oder nach einer Erklärung, die ihrem chaotischen Dasein noch einen Sinn verleiht. Einer von ihnen ist Yu Cheng, der zu Beginn des Films eben erst mit einer Frau geschlafen hat, die eigentlich mit einem seiner Freunde verheiratet ist. Noch bevor er die Wohnung unbemerkt verlassen kann, wird er von jenem Freund auf frischer Tat ertappt. Der erwartbare Konflikt bleibt aus, denn anstelle einer lautstarken Eskalation wählt der Freund stattdessen den leisen, abrupten Sprung aus dem Fenster.
                  Eine andere Figur, die in "An Elephant Sitting Still" von Hu Bo in den Mittelpunkt gerückt wird, ist der in die Jahre gekommene Rentner Wang. Da sein Schwiegersohn mit seiner Tochter und der kleinen Enkelin in eine neue, teurere Wohnung in einer angeseheneren Gegend ziehen will, reicht der Platz nicht mehr ihn. Wang soll in ein Altenheim verfrachtet werden. Auch die jüngere Generation behält der Regisseur parallel zu diesen beiden Erzählsträngen im Blick. Während der introvertierte Bu zu Hause von seinem Vater gedemütigt wird, begeht er kurze Zeit später in der Handlung versehentlich eine Tat, deren Schuld ihn auf ewig verfolgen wird. Ein ganzes ähnliches Problem plagt auch seine Mitschülerin Ling, die sich mehr um ihre Mutter kümmern muss als umgekehrt. Um ihrer privaten Misere zu entfliehen, hat sie sich auf eine Affäre mit dem Konrektor der Schule eingelassen.
                  Mit der präzisen Gelassenheit eines alteingesessenen Virtuosen entfaltet Hu Bo die vier verschiedenen Handlungsstränge seines Dramas über den Verlauf eines einzigen Tages hinweg, wobei sich die inhaltlichen Fäden der Geschichte regelmäßig ineinander verknoten, zwischenzeitlich gelockert werden und sich schließlich doch wieder verbinden. Es verwundert keineswegs, dass der Regisseur vor seinem Langfilmdebüt zunächst zwei große Romane geschrieben hat. Auch "An Elephant Sitting Still" wird neben der zutiefst filmischen Erfahrbarkeit von einer literarischen Struktur geprägt, in der jede einzelne Minute des knapp 4-stündigen Films mit einer unersetzlichen Bedeutung für den Blick auf das große Ganze versehen ist.
                  Nahezu mühelos und mit einer tonnenschweren Atmosphäre des Tieftraurigen, Depressiven durchzogen, wirft Hu Bo den Blick auf seine Protagonisten sowie ihr nahes Umfeld, um ein bestürzendes Gegenwartsporträt des Landes, seines Landes zu entwerfen, das den Regisseur an seinem persönlichen Tiefpunkt aus dem eigenen Leben drängte. Ein Land, in dem Schulen geschlossen werden, nachdem den Jugendlichen ohnehin ständig gesagt wird, dass sie es später einmal sowieso nur zu Street-Food-Verkäufern bringen werden. Ein Land, in dem die gebrochenen Alten mit Verachtung auf die verkommene Jugend blicken, während diese in den gescheiterten Älteren ein Spiegelbild ihrer Zukunft zu erkennen scheinen.
                  Auch Hu Bos Figuren scheinen ganz genau dem Weltbild des Regisseurs entsprungen zu sein und offenbaren von Anfang an zutiefst pessimistische Charakterzüge, bei denen jeder von ihnen den eigenen Abgrund offenbar schon lange überschritten hat.
                  Ebenso hypnotisierend wie niederschmetternd verwendet der Regisseur die meisterhaft geführte Handkamera von Fan Chaos als entfesselten Taktstock, wenn diese den Figuren oftmals über viele Minuten hinweg ohne Schnitte folgt, durch Nahaufnahmen in Gesichtern verweilt, die in ihren zurückgenommenen Ausdrücken oftmals wie erstarrt wirken, und mithilfe von permanenten Unschärfen sowie bewusst eingeschränkten Blickwinkeln auf die verlorene Gesellschaft Nordchinas ein schmerzliches Porträt von Isolation, Einsamkeit, Trauer, Wut und Schmerz zeichnet. Oftmals werden vereinzelte Momente in diesem Film zudem von spärlich eingesetzter Musik begleitet, die wie intensive Gitarrensoli auf dem Höhepunkt eines nie enden wollenden Prog-Rock-Songs klingt und das Seelenleben der Protagonisten für den Betrachter vollends zum bitteren Schimmern bringt.
                  Und doch sollte "An Elephant Sitting Still" nicht einfach als überlanger Abschiedsbrief seines Regisseurs aufgefasst werden, der sich ohne jegliche Kompromisse in purem Nihilismus und menschlicher Leidensfähigkeit suhlt. Vielmehr ist der Film, auch aufgrund seines direkten Titels, eine Reise auf dem Weg zu einem Hoffnungsschimmer, der tatsächlich in erreichbarer Nähe auf die Figuren warten könnte. Alle haben sie von der Geschichte des Elefanten gehört, der in der nordchinesischen Stadt Manzhouli in einem Zoo den ganzen Tag einfach nur regungslos auf dem Boden sitzt. Es ist jene Art von Geschichte, die in Hu Bos Film eine junge Frau zum Lachen bringt, bevor diese fragt, was denn an ihr überhaupt so lustig sei. Für die Hauptfiguren in "An Elephant Sitting Still" bedeutet das Verhalten des Tieres hingegen einen erhellenden Umgang mit dem Bewusstsein über das eigene Dasein. Während sie unentwegt auf der Suche nach diesem sind, hat es der Elefant schon gefunden. Am Ende, wenn die Kamera zum ersten Mal weit entfernt von den Figuren auf Distanz bleibt und sich ein Moment unschuldiger Gemeinschaftlichkeit ausgiebig entfalten darf, ist es das Tröten des Elefanten, das zuletzt alle Sphären des uns Bekannten durchdringt und hoffnungsvoll überwindet.

                  25
                  • 4 .5

                    Der Tod zog sich schon immer wie eine verlässliche Konstante durch das Schaffenswerk der Coen-Brüder. Ob in ihren großen Komödien wie "The Big Lebowski", grimmigen Thriller-Dramen wie "No Country for Old Men" oder Werken dazwischen wie "A Serious Man", stets begleitete das plötzliche oder erwartbare Ableben einzelner Figuren die Geschichten des Regie-Duos auf mal lauteren und mal leiseren Schritten. Mit ihrem neuesten Netflix-Film "The Ballad of Buster Scruggs" haben die Brüder nun eine Western-Anthologie gedreht, in der jede der 6 Episoden erneut von dem Tod als feste Pointe geprägt wird.
                    Anfangs kam es vor der Veröffentlichung des Films zu Meldungen, dass die Coens für den Streaming-Dienst ihre erste Serie drehen würden, die mit 6 langen Folgen eine Mini-Serie darstellen sollte. Erst kurz vor der Weltpremiere beim Filmfestival Venedig kam dann die durchaus überraschende Enthüllung, dass die Brüder aus der geplanten Serie einen 132-minütigen Film angefertigt haben. In einem kürzlichen Interview revidierten die Regisseure derartige Aussagen der Presse, indem sie angaben, dass "The Ballad of Buster Scruggs" von vornherein ein festes Drehbuch zugrundelag, welches das Werk schon immer als zusammenhängenden Film vorsah. Vielmehr besteht die Western-Anthologie aus Geschichten, die die Coens mitunter über Jahrzehnte hinweg schon geschrieben hatten und lediglich erst vor Kurzem durch das Schreiben der finalen 6. Episode verknüpften und vollendeten.
                    Bei der Betrachtung von "The Ballad of Buster Scruggs" fallen all diese Argumente jedoch schnell in sich zusammen. Tatsächlich wirkt der Film in beinahe jeder der einzelnen Episoden so, als hätten die Coens an einem bestimmten Punkt bemerkt, dass die jeweiligen Geschichten schlichtweg nicht für ein noch längeres Serienepisoden-Format taugen würden. Daher haben sie die Episoden auf ein wesentlich kürzeres, durchschnittlich zwischen 15 und 20 Minuten langes Handlungskorsett reduziert, dem die übliche erzählerische Raffinesse, ein unvorhersehbares Changieren zwischen bitterbösem Humor, tiefer Tragik und mitreißender Dynamik sowie die üblicherweise herausragende Handschrift der Brüder beinahe vollständig fehlt.
                    Dabei zeigen sich die beiden Regisseure mit der ersten Episode, die zugleich den Titel des Films trägt, eigentlich in Höchstform. Mit galligem Witz und zugleich brutaler Zielstrebigkeit verkörpert Tim Blake Nelson in dieser den Revolverhelden Buster Scruggs, der sich seinen Weg stets mit einem Lied auf den Lippen wie ein sadistischer Lucky Luke durch den Wilden Westen bahnt. Während die Coens die Konfrontationen des Protagonisten mit vereinzelten Kontrahenten in slapstickhafter Manier mit fast schon comicähnlichen Gewalteinlagen inszenieren, erweist sich die erste Episode des Films als ebenso kurzweiliger wie genüsslich überzogener Einstieg, der nach einer zynischen Wendung seltsam berührend endet.
                    Damit hat "The Ballad of Buster Scruggs" den eigenen Zenith nach knapp 15 Minuten hingegen praktisch bereits überschritten. Schon die 2. Episode "Near Algodones", in der James Franco als Bankräuber dem Strick entkommt, um ihm dann wohl doch nicht zu entkommen, entpuppt sich als ebenso mühsam in die Länge gezogene Pointe wie die 3. Episode, in der Liam Neeson als Impresario mit Harry Melling als Künstler ohne Arme und Beine von Stadt zu Stadt reist, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Noch bevor der Zuschauer die Möglichkeit erhält, eine emotionale Verbindung zu den von meist tollen Charakterdarstellern gespielten Figuren zu erhalten, findet die jeweilige Episode zu einem gleichermaßen vorhersehbar pessimistischen wie abrupten Abschluss, bevor die nächste schon in den Startlöchern steht.
                    Dem unbestreitbaren Talent der Regisseure ist es zu verdanken, dass eine ebenfalls recht dünn geschriebene, unnötig gestreckte Episode wie "All Gold Canyon" mit einem an Sisyphus erinnernden Goldgräber aufgrund der extra strahlenden Farben und einem großartigen Tom Waits in der Hauptrolle nicht auch zu einem langen, bösen Scherz verkommt. Währenddessen offenbart die 5. und gleichzeitig längste Episode des Films erstmals einen spürbar humanistischen Kern, wenn Zoe Kazan nach dem Tod des Bruders ihrer Figur in "The Gal Who Got Rattled" in einer trostlosen Welt ohne Zukunft neuen Lebensmut schöpft und unerwartet Hoffnung in der Liebe findet. Umso ärgerlicher stößt jedoch auch hier der Umstand auf, dass den Coens auch in dieser Geschichte, für die sie sich bewusst am meisten Zeit lassen, nichts anderes als ein geradezu nihilistischer Ausgang eingefallen ist.
                    Ebenso überflüssig wie fragwürdig gestaltet sich zuletzt auch die finale Episode "The Mortal Remains", in der die ohnehin auffällig hässliche Digital-Optik von Kameramann Bruno Delbonnel noch einmal besonders unschön zur Geltung kommt und die Western-Anthologie in einem bemühten Gothic-Kammerspiel beschließt, das genauso nebensächlich am Betrachter vorüberkutschiert wie dieser in die Geschichte geworfen wurde.
                    Dass die Coens nach Filmen wie "Barton Fink", Fargo", "Inside Llewyn Davis" und vielen weiteren niemandem mehr etwas beweisen müssen, haben sie längst deutlich gemacht. Dass sie nach der ebenfalls missratenen Nummernrevue "Hail, Caesar!" und dem halbgaren, mit vorhersehbaren Pointen und losen Skizzen zusammengestückelten "The Ballad of Buster Scruggs" offenbar niemandem mehr etwas beweisen wollen, leider ebenfalls.

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                    • 3

                      "Fifty Shades Freed", das große Finale der Film-Trilogie, setzt da an, wo sich die großen Gefühle gängiger Romanzen erst ganz zum Schluss hinwagen. In verliebter Zweisamkeit stehen Christian Grey und seine Anastasie Steele vor dem Traualtar, wo sie endgültig zu Mr. und Mrs. Grey werden. Das BDSM-Verhältnis zwischen beiden, das schon in den beiden vorangegangenen Teilen eher sanfter Erotik mit gelegentlichen Handschellen entsprach, gehört bis auf kleinere Ausnahmen in diesem letzten Film der "Fifty Shades"-Trilogie der Vergangenheit an. Neben vereinzelten Momenten, in denen Mr. Grey doch noch einmal die Handschellen klicken lässt, gehört beim gemeinsamen Liebesspiel in "Fifty Shades Freed" zum Höchsten der Gefühle stattdessen eine Packung Eiscreme, die Christian auf dem Bein seiner Liebsten verstreicht und zärtlich verkostet.
                      Dabei ist es fast schon überraschend und angenehm zugleich, dass der 3. Teil der Trilogie noch konventioneller und zahmer daherkommt als die beiden Vorgänger. "Fifty Shades Freed" versetzt die beiden Protagonisten am liebsten in ein gewöhnliches Eheverhältnis, bei dem die Frischvermählten ganz bieder darüber diskutieren dürfen, wie die gemeinsame Zukunft denn nun eigentlich verlaufen soll. Dass sie beide in ein möglichst luxuriöses Haus ziehen wollen, das ihr Gatte wie gewohnt mit einem Fingerschnipsen kaufen kann, ist da schon eindeutiger als der einseitige Kinderwunsch von Ana, der später im Film aufgrund einer Wendung für das erste große Drama sorgt. Während Christian grundsätzlich erstmals seine sanfteste Seite offenbaren darf, wenn er in einer Szene plötzlich am Klavier sitzt und für seine Geschwister sowie Ana singt, entdeckt Mrs. Grey ihre wildere, widerspenstige Seite, sobald sie in "The Fast and the Furious"-Manier im edlen Audi über die Straßen brettert, um unliebsame Verfolger des Pärchens abzuschütteln.
                      Ernst nehmen lässt sich "Fifty Shades Freed" wenig überraschend erneut in so gut wie keiner einzigen Szene, doch im 3. Teil hat es tatsächlich hin und wieder den Anschein, als würde Regisseur James Foley das voll und ganz hanebüchene Drehbuch von Niall Leonard mit offenen Armen begrüßen und sich gemeinsam mit den beiden Hauptdarstellern Dakota Johnson und Jamie Dornan in die Absurdität der jeweiligen Handlungsentwicklung lehnen. Wieder ist dieses Finale der Trilogie als glatte Hochglanz-Soap-Opera inszeniert, in der jede große Emotion umgehend lautstark von einem passenden Pop-Song unterlegt ist, doch über den Verlauf der diesmal insgesamt glücklicherweise nur gut 110 Minuten hinweg darf die ganz große Dramatik zum Ende hin ebenfalls nicht ausbleiben.
                      Plötzlich wandelt sich "Fifty Shades Freed" in den letzten 20 Minuten noch zum waschechten Thriller, in dem Leben auf dem Spiel stehen und Ana im Alleingang ein drastisches Geiselnahme-Szenario bewältigen muss. Waren die ersten beiden Teile der Reihe schlichtweg zu öde und uninteressant geschrieben sowie unnötig in die Länge gezogen, so entpuppt sich zumindest dieser letzte Film als bisweilen charmant überzogenes Gaga-Fest, das den unterhaltsamen Trash-Appeal der Filmreihe zum ersten Mal sichtbar werden lässt. Zum großen Abschluss endet die "Fifty Shades"-Trilogie also gewissermaßen doch noch mit einem echten Höhepunkt.

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                      • 5 .5
                        über Sunset

                        Für sein Langfilmdebüt "Son of Saul" ging der ungarische Regisseur Laszlo Nemes alles andere als den einfachen Weg. Nach einigen anfänglichen Kurzfilmen schlug sein 107-minütiges Werk über einen KZ-Häftling plötzlich wie ein Brocken bei der Premiere während der damaligen Filmfestspiele von Cannes ein und zog auch anschließend durch eine breite Veröffentlichung noch hohe Wellen nach sich. Erneut entfachte "Son of Saul" die berechtigte Diskussion darüber, inwiefern sich der Holocaust, ein Kapitel der Menschheitsgeschichte von unvorstellbarer und für viele folglich auch undarstellbarer Grausamkeit, filmisch erfassen lässt. Aller Skepsis zum Trotz bewies Nemes bei seinem Film das nötige inszenatorische Feingefühl und den dringenden Funken Menschlichkeit, der "Son of Saul" hell erleuchtete. Während die Kamera den Zuschauer im 4:3-Format in jede Einstellung presste und die maschinellen Laute sowie ständigen Schreie der Opfer aus der Perspektive des Protagonisten in den unscharf verzerrten Hintergrund verbannte, entpuppte sich der Film letztlich als verzweifeltes Plädoyer an die Menschlichkeit in Zeiten der völligen Abszenz eben dieser.
                        In seinem Nachfolgewerk "Sunset" erzählt der ungarische Regisseur die Geschichte der jungen Iris Leiter, die im Jahr 1913 nach Budapest reist. Hier, wo der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum Greifen nahe ist und als konstante Anspannung wie ein unausweichliches Vorzeichen in der Luft liegt, bemüht sich Iris um einen Job in dem Hutmachergeschäft, das ihren eigenen Nachnamen trägt. Einst gehörte dieser ihren Eltern, die starben, als sie gerade einmal zwei Jahre alt war. Zurück an dem Ort, der für Iris zugleich Heimat und Fremde bedeutet, wird sie von dem derzeitigen Ladenbesitzer Oskar Brill jedoch abgelehnt. Nur alleine ihr Nachname und damit ihre familiäre Herkunft sowie Verbindung zu dem Geschäft macht die junge Frau hier nicht zu etwas Besonderem.
                        Dafür sorgt vielmehr ein kurzer Gesprächsfetzen, den Iris aufschnappt und der ihr nahelegt, dass sich offenbar auch ein Mann mit dem Nachnamen Leiter in der Stadt befinden soll. Während Iris niemals etwas über einen Bruder wusste, beginnt sie langsam an der Geschichte ihrer Familie zu zweifeln und begibt sich auf eine Spurensuche nach dieser ominösen Person, die anscheinend den Namen Kalman Leiter trägt. An einer stringenten Erzählung dieses Plots zeigt Nemes hingegen wenig Interesse. Stattdessen inszeniert der Regisseur "Sunset" wie auch schon "Son of Saul" als möglichst immersive Seherfahrung, bei der die Kamera von Mátyás Erdély die meiste Zeit über hinter dem Rücken von Iris oder direkt vor ihrem Gesicht schwebt, während die Einstellungen des Films oftmals lange Tracking Shots ohne Schnitte darstellen. Dabei entfaltet sich Nemes' zweiter Langfilm als stilistisch ebenso betörendes wie inhaltlich kryptisch frustrierendes Werk, in dem sich Iris auf ihrem Weg durch Budapest in ein Labyrinth aus falschen Fährten und düsteren Entwicklungen verirrt.
                        Ein weiteres Mal rückt der Regisseur Gesprächspartner seiner Protagonistin in den äußeren Unschärfebereich des Bildausschnitts oder darüber hinaus, wobei Gesichter und Wörter zu einem unklaren Strom der Eindrücke verschwimmen, aus dem sich nie ein konkretes Bild formen lässt. Wo dieser Ansatz in "Son of Saul" noch für die nötige Distanz zum grauenvollen Geschehen sorgte, um den Betrachter erst recht emotional involvieren zu können, sorgt Nemes' Stil in "Sunset" hingegen für den gegenteiligen Effekt. Auch wenn die Kamera unentwegt die größtmögliche Nähe zu Iris sucht und ihr nicht mehr von der Seite weicht, könnte der Zuschauer in diesen Momenten kaum eine größere Distanz zu den Ereignissen einnehmen.
                        Während sich "Sunset" von der ersten Einstellung an als ungemein aufwändig durchkomponiertes, opulent ausgestattetes Werk präsentiert, bleiben die Figuren des Films artifizielle Konstrukte, die der Regisseur innerhalb des betont sperrigen Handlungsverlaufs niemals zu wirklichen Charakteren formen kann. Laut eigener Aussage wollte Nemes mit diesem Werk einen Film über eine Frau drehen, die allein und verloren in ihrer Welt ist, sowie einen Film über eine ganze Zivilisation, die sich an einem Scheideweg befindet. Tatsächlich stellt sich "Sunset" passend zu seinem Titel die meiste Zeit über eher als ein frustriertes Tappen im Dunkeln heraus, bei dem die filmisch konzentrierte Form von Nemes diesmal kaum eine Einheit mit dem ebenso verkopften wie unzugänglichen Inhalt bildet. Bei diesem soll ein vager Abgesang auf monarchische Strukturen ebenso heraufbeschwören werden wie die Entwicklung einer zunächst unschuldig wirkenden jungen Frau zu etwas völlig anderem, abgründigerem. "Sunset" verweilt unterdessen vielmehr an der reinen Oberfläche und verschließt sich dem Betrachter, der schlussendlich noch frustrierter durch diesen Film irren muss als seine Protagonistin.

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                        • 2

                          Unvermeidbar wird alles düsterer werden in der Verfilmung des 2. Romans aus der "Shades of Grey"-Trilogie von E. L. James, die anfangs als Fan-Fiction zu Stephenie Meyers' "Twilight"-Saga entstand. Beschrieb der Vorgänger noch "Fifty Shades of Grey", soll der Nachfolger nun schon "Fifty Shades Darker" sein, während der deutsche Filmtitel gar eine gefährliche Liebe als Zusatz verliehen bekommen hat. Wirklich gefährlich oder düster wird die Fortsetzung von James Foley aber wenig überraschend natürlich zu keinem Zeitpunkt. Stattdessen entpuppt sich "Fifty Shades Darker" wie auch schon Teil 1 als völlig verkorkstes Drama zwischen peinlich geschriebener Soap Opera, oberflächlich glattpoliertem Parfüm-Werbespot und bemühter Anstößigkeit durch einen gelegentlichen Klaps auf den Po.
                          Nachdem sie am Ende von "Fifty Shades of Grey" die Beziehung zu dem Billionär Christian Grey beenden musste, da die Literaturstudentin Anastasia Steele zu tief in dessen Welt der vermeintlichen BDSM-Obsessionen gezogen wurde, versucht sie im Nachfolger ein Leben ohne den durchtrainierten Liebhaber zu leben, der ihr weiterhin Blumen vor die Haustür schickt. Lange dauert es jedoch nicht, bis sich Ana aufgrund der permanenten Aufdringlichkeit des Playboys doch noch einmal auf ein Abendessen mit Christian einlässt. Ein weiteres Mal legt der schauspielerisch sichtlich limitierte Jamie Dornan seine Figur als unangenehmen Psychopathen an, der sich Ana durch luxuriöse Gesten wie ein neues iPhone kurzerhand zurückkauft, bevor er später gar den ganzen Buchverlag kauft, nachdem sich Ana seiner Meinung nach zu sehr in die Arbeit stürzt. Trotzdem soll diesmal alles anders werden, denn die Beziehung, auf die sie sich mit Christian doch noch einlässt, darf keine Regeln, Bestrafungen oder Geheimnisse mehr enthalten. An dem Ausloten einer ernstzunehmenden, realitätsnahen BDSM-Beziehung ist "Fifty Shades Darker" dabei weiterhin niemals interessiert. Erneut verwechseln die Verantwortlichen hinter dem Film, ob Romanautorin E. L. James oder Filmdrehbuchautor Niall Leonard, die sexuelle Praktik des Sadomasochismus mit einer psychischen Störung, die in peinlichst küchenpsychologischen Motiven zerlegt wird. Frauen will Christian nur erniedrigen oder quälen, weil er sich von ihnen an seine drogenabhängige Mutter erinnert fühlen, die starb, als er vier Jahre alt war, während der Billionär weiterhin als unangenehme Verkörperung des ultimativen Kapitalismus porträtiert wird, der sich alles mit Geld kaufen kann, was er begehrt, während er nach einem Absturz mit seinem Helikopter kurz darauf unversehrt in den Raum gelaufen kommt.
                          Überhaupt ist "Fifty Shades Darker" voll von solchen inhaltlichen Ungereimtheiten, die selbst von den unbeholfen-hölzern geschriebenen Dialogen kaum überdeckt werden können. Nebenhandlungsstränge wie Anas Chef im Buchverlag, der die attraktive Mitarbeiterin natürlich ebenfalls begehrt, werden ebenso unvermittelt fallen gelassen und viel später nebenbei kurz noch einmal aufgegriffen wie zwei Frauen aus Christians Vergangenheit, die mit seiner dunklen Seite in Verbindung stehen. Wirkliches Mitleid erregt hierbei lediglich weiterhin Hauptdarstellerin Dakota Johnson, die längst bewiesen hat, dass eine wesentlich bessere Schauspielerin in ihr steckt und die auch hier zumindest in einigen Szenen eine verspielte Freude im Umgang mit dem miserablen Ausgangsmaterial an den Tag legt. Neben Johnson sind es daher wie auch schon bei "Fifty Shades of Grey" erneut nur vereinzelte Songs des stimmig ausgesuchten Pop-Soundtracks, die dem Betrachter kurzweilig als Ohrwurm im Kopf bleiben können, wenn sie nicht gerade überdeutlich oder aufdringlich als atmosphärischer Kleister auf diesen verfaulten Apfel von Film gestrichen werden.

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                          • 8

                            "It's beautiful without knowing anything" sagt die erst 20-jährige Französin Jeanne zu dem über doppelt so alten Amerikaner Paul, als beide nackt und eng umschlossenen auf dem Fußboden einer Wohnung in Paris sitzen. Hier, wo nur einige wenige Einrichtungsgegenstände überhaupt so etwas wie eine Identität vermitteln, lassen Jeanne und Paul genau diese bewusst hinter sich. Nachdem sie bei der gleichzeitigen Wohnungsbesichtigung erstmals geradezu animalisch übereinander hergefallen sind, einigen sich beide auf ein Verhältnis, bei dem zwischen ihnen völlige Anonymität gelten soll. Jegliche Ansätze einer Vergangenheit, die er ihr verrät, enttarnt Paul im nächsten Moment bereits als mögliche Lügengeschichten, während er von Jeanne ausdrücklich verlangt, dass beide nicht einmal die Namen voneinander kennen.
                            Der Zuschauer von Bernado Bertoluccis "Ultimo tango a Parigi" ist in diesen Szenen beiden Protagonisten bereits jeweils einen Schritt voraus. Einstellungen einer blutverschmierten Wohnung, die Paul sonst bewohnt hat, offenbaren den Suizid von dessen Ehefrau Rose. Behutsam zeichnet der Regisseur ein Bild des in Paris lebenden Amerikaners, der sich gleich zu Beginn des Films genervt die Ohren zuhält, als die Metro auf den Schienen über ihm über seinen Kopf hinweg rast, während sich Paul nach und nach als einsamer, ebenso verbitterter wie zerbrechlicher Mensch entpuppt. Da er den Selbstmord seiner Frau wohl niemals verstehen wird, da diese keinen Abschiedsbrief hinterließ und keinerlei Motivation zu erkennen gab, will Paul gar nicht erst versuchen, die junge Französin zu verstehen, mit der er sich auf eine rein körperliche Beziehung des gegenseitigen Erkundens, Abtastens und vor allem Ausloten der persönlichen Grenzen einlässt.
                            Jeanne wird dem Betrachter von Bertolucci als das genaue Gegenteil von Paul nähergebracht. Wo bei dem Amerikaner jegliche Lebenslust längst einer deprimierten Resignation gewichen ist, die dieser nur im körperlichen Austausch mit der jungen Französin zumindest für kurze Zeit überkommen kann, wird die 20-Jährige von den vielen Möglichkeiten ihres Lebens förmlich verschlungen. Während sie von Paul vollkommen auf ihren Körper sowie ihr Dasein im Hier und Jetzt reduziert wird, ist Jeannes eigentlicher Verlobter Tom, ein aufstrebender Filmemacher, daran interessiert, seine Partnerin für ein Projekt von sich in den ständigen Kontext ihrer Vergangenheit zu rücken sowie ihre liebevollen Gesten zugunsten einer konstruierten Dramaturgie zu fiktionalisieren.
                            Mit melancholischer Dramatik, die der Regisseur ebenso durch die wundervoll komponierten Einstellungen von Kameramann Vittorio Storaro sowie die wehmütige Musikuntermalung von Gato Barbieri erzeugt, schildert Bertolucci den Versuch einer zwischenmenschlichen Beziehung, in der Sex und reine Körperlichkeit als vollständiger Ersatz für eine tiefergehende Liebe dienen sollen. Hierbei wird die Pariser Wohnung, die Paul und Jeanne als von der Außenwelt völlig unbeeinflussten Schutzraum nutzen, gleichermaßen zum Schauplatz unschuldiger Zärtlichkeit sowie gefährlicher Destruktivität. Im Gegensatz zum titelgebenden Tanz, der von klaren Regeln und Schritten geprägt ist, gleicht "Ultimo tango a Parigi" vielmehr einer unkontrollierten Abfolge von Bewegungen, die von wilder Ekstase über impulsive Neigungen bis hin zu fatalen Grenzüberschreitungen verschiedenste Gefühlswelten durchdringen. Konsequent findet Bertoluccis gefährliches Spiel der lustvollen Abhängigkeit im Finale seinen tragischen Höhepunkt, wenn die Außenwelt doch noch Einzug in den unberührten Rückzugsort hält und wahrhaftige Charakterzüge in die unausweichliche Zerstörung der vermeintlich sicheren Intimität führen.

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                            • 8
                              über Mandy

                              Zu den Klängen von "Starless" der Prog-Rocker King Crimson beginnt Panos Cosmatos' neuer Film "Mandy" unmittelbar im Delirium. Den anfänglichen Bildern, die Protagonist Red bei seiner Arbeit als Holzfäller im Wald zeigen, haftet eine Atmosphäre der surrealen Überhöhung und zugleich Entschleunigung an. Ein Rhythmus, von dem sich der Regisseur den gesamten Rest seines Werks über nicht mehr wegbewegen wird. So archaisch und ungebändigt das Handwerk des von Nicolas Cage gespielten Red in diesen Szenen wie von einem anderen Planeten auch wirkt, täuscht der in blutroten Farbfiltern dargebotene Ersteindruck von "Mandy" zunächst.
                              Cosmatos nimmt den Titel des Films beim Wort und inszeniert die erste Hälfte als Liebesrausch in Zeitlupe, bei dem das zärtliche Flimmern zwischen Red und seiner titelgebenden Frau Mandy in hypnotisierendem Einklang mit den bedrohlich eingeflochtenen Untertönen steht. Während der Zuschauer dem Paar dabei zusieht, wie beide im gemeinsamen abgelegenen Holzhaus irgendwo im Wald ein harmonisches Leben führen, das meistens nicht vieler Worte bedarf und stattdessen von stillen Gesten und Blicken geprägt wird, lässt der Regisseur im Gegenzug keine Sekunde lang einen Zweifel daran, dass der pure Horror noch in diesen unscheinbar-idyllischen Garten Eden in den Shadow Mountains von Kalifornien einbrechen wird.
                              Auch wenn die meisten Songs des Scores aus den letzten Kompositionen des begnadeten Komponisten Jóhann Jóhannsson bestehen, der Anfang des Jahres verstarb und dem dieser Film zuletzt gewidmet ist, wird der Betrachter nichtsdestrotz immer wieder an den Auftaktsong von King Crimson erinnert. "Mandy" selbst gleicht einem bewusst in die Länge gezogenen Progressive-Rock-Stück, das über den Verlauf einer bekannten Melodie hinweg ständig mit leichten Verschiebungen aufwartet und gelegentlich verwandte Genres wie Doom- oder Heavy-Metal streift. Wer mit Cosmatos' Debütwerk "Beyond The Black Rainbow" vertraut ist, den erwartet auch in seinem zweiten Film speziell in der ersten Hälfte ein kunstvoll überstilisierter Gang durch die dunkelsten Ecken und Winkel eines Waldes, in dem die Präsenz seltsamer Sektenmitglieder an einem bestimmten Punkt kaum noch von der kokonhaft verpuppten Liebesbeziehung zwischen Red und Mandy überstrahlt werden kann.
                              Wie eine Kreuzung aus der tranceartigen, mit lichtdurchfluteten Räumen angereicherten Langsamkeit von Nicolas Winding Refns "Only God Forgives", dem schrill entfesselten Horror zwischen Arthouse und Grindhouse aus Rob Zombies "The Lords of Salem" und dem höllenhaften Design von Clive Barkers "Hellraiser" mutet dieser filmische LSD-Trip an. Dabei ziehen die Stimmen aus den Dialogen oftmals ein dumpfes, verzerrtes Echo nach sich, während schrille Gitarren und lähmende Synthesizer des Scores die farblich übersättigten Einstellungen bisweilen zu zerreißen drohen. Mit ebenso unvermeidlicher Gnadenlosigkeit steuert Cosmatos' Film auf die ganz große Tragödie zu, als Mandy in die Gefangenschaft der Hippie-Sekte gerät, von denen sie schließlich vor Reds Augen bei lebendigem Leib verbrannt wird. Es ist die patzige Reaktion auf eine Demütigung, die der Anführer der Sekte, ein gekränkter Musiker mit Gottkomplex, gegenüber Mandy über sich ergehen lassen musste.
                              Während Red schwer verletzt und mit Stacheldraht gefesselt für seinen sicheren Tod zurückgelassen wird, findet dieser doch noch einmal ins Leben zurück. Gleichzeitig steht der Befreiungsschlag des Protagonisten für den endgültigen Ausbruch seines Hauptdarstellers, wenn Cosmatos Cage, der zuvor überraschend zurückgenommen und beherrscht spielte, mithilfe seines üppig zusammengestellten Waffenarsenals in einen entfesselten Blutrausch verfällt. Gespickt mit stilistischen sowie inhaltlichen Referenzen an das Horror-Genre der 70er und 80er, in dem dämonische Okkultisten, stoische Hauptfiguren und wüste Splattereinlagen aufeinandertrafen, wandelt sich auch "Mandy" zu einem ebenso geradlinigen wie schnörkellosen Rache-Inferno.
                              Im Kampf gegen die menschlichen Jesus-Freaks und dämonisch deformierten Mitglieder einer Biker-Gang mutiert Cage endgültig zum auf die Erde gestürzten Todesengel, der keifend, schreiend und stöhnend durch das hin und wieder deutlich schwarzhumorige Sterbeballett des Regisseurs wütet. In den besten Momenten, die sich in "Mandy" geschätzt im Sekundentakt verbergen, erreicht die Kombination aus Cages wahnhaft übersteigertem Schauspiel, der zerknirschenden Symbiose aus kunstvollen Bildcollagen und berauschenden Tonkompositionen sowie einer Atmosphäre zwischen hypnotischer Trance und blutigsten Gewalteskalationen ein förmlich transzendentales Niveau. Schlagartig ist Panos Cosmatos einer der aufregendsten Filmemacher des gegenwärtigen Kinos der radikal-intensiven Grenzerfahrungen.

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                              • 7

                                Dass über 30 Jahre nach dessen Tod ein neuer Film von Orson Welles erschienen ist, der zudem auch noch im Programm von Netflix auftaucht, grenzt bereits an ein erstaunliches Kuriosum. Bereits 1970 begann der Regisseur die Arbeit an "The Other Side of the Wind", drehte über den Verlauf der folgenden Jahre gut 100 Stunden an Filmmaterial, bevor die Produktion aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten 1974 unterbrochen werden musste. Während Welles anschließend weiterhin versuchte, den Film fertig zu stellen, traten neue rechtliche Probleme auf, die den Film nach Welles' Tod 1985 unvollendet zurückließen. Erst durch eine rechtliche Einigung und die finanzielle Unterstützung von Netflix ist es im Filmjahr 2018 schließlich soweit und der womöglich letzte Film von Welles steht für Abonnenten des Streaming-Dienstes zum Abruf bereit.
                                Dabei kommt "The Other Side of the Wind" als nun fertiggestelltes Werk nur einer vagen Versuchsanordnung gleich, die vorhandenen Szenen mit Schnittvorgaben sowie Vorstellungen aus Dokumenten des Regisseurs zusammenzubringen. Das Resultat lässt sich nur schwer greifen und präsentiert sich als essayistisches, formal verspieltes Filmexperiment, in dem Welles autobiografische Bezüge ebenso in die Struktur einer Mockumentary verwebt wie satirische Spitzen gegen die Filmindustrie in Zeiten der damals erst neu entstehenden New Hollywood-Bewegung. Am ehesten erinnert "The Other Side of the Wind" innerhalb der Filmografie des Regisseurs an dessen ebenfalls äußerst essayistisch angelegtes Spiel um Wahrheit und Fiktion "F for Fake". Auch hier gibt sich Welles als Jongleur verschiedener Darstellungs- und Erzählformen, wenn er die Geschichte des Hollywood-Regisseurs Jake Hannaford als von stetigen Schnitten, Farbwechseln, sich überlappenden Dialogen und von Freejazz-Musik unterlegtes Delirium inszeniert. Kurz vor seinem 70. Geburtstag kehrt Hannaford mit einem Arthouse-Film nach Hollywood zurück, den er noch nicht fertigstellen konnte. Im Rahmen seiner Geburtstagsfeier, zu der Cineasten, Journalisten, Regisseure, Produzenten und andere Weggefährten des Regisseurs eingeladen sind, will Hannaford den bisherigen Fortschritt seines Films vorführen und neue Geldgeber von dem Projekt überzeugen.
                                Hannafords Film, der ebenfalls den Titel "The Other Side of the Wind" trägt, streut Welles als fiebrige Fragmente eines typisch europäischen Arthouse-Films der 1960er- oder 1970er-Jahre in die Handlung ein. Immer wieder wird die parallel verlaufende Geschichte rund um Hannaford, der sich schon bald als verbitterte, frustrierte Persönlichkeit herausstellt, von Szenen aus dem Film im Film unterbrochen, in denen der Hauptdarsteller einer Frau begegnet, die ihn in ein erotisches Spiel verwickelt. Dabei erinnern die, im Kontrast zu den grobkörnigen Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Hannafords Party, in knalligen Farben gehaltenen Szenen des komplett wortlosen Werks beispielsweise an die Filme des radikalen französischen Regisseurs Alain Robbe-Grillet wie "Eden and After". Auch Hannafords "The Other Side of the Wind" beschränkt sich auf ein rätselhaftes Katz- und Mausspiel zwischen den beiden Hauptfiguren, wobei insbesondere Oja Kodar, die mit Welles auch am Drehbuch arbeitete, die meiste Zeit über völlig nackt als pures Fetischobjekt für eine Auseinandersetzung mit der Darstellung des männlichen Blickwinkels im Kino fungiert.
                                Wirkliche Kohärenz stellt sich bei der Betrachtung von Welles' Werk nie ein. Stattdessen offenbaren die wild zwischen den Erzähl- und Metaebenen umher wirbelnden Einzelteile eher lose Erkenntnisse, die den Regisseur weiterhin als kühnen Visionär auszeichnen. So lässt sich "The Other Side of the Wind" nicht nur als bittere Selbstreflexion betrachten, sondern vor allem als Abrechnung mit den abgründigen Mechanismen einer ganzen Industrie. Diese versah Welles schon vor über 40 Jahren mit Themen, die gerade im Umgang mit dem Zwiespalt zwischen Kunst und Unterhaltung, den prätentiösen Eigenarten der Industrie-Persönlichkeiten und dem Verhältnis zwischen Männern und Frauen innerhalb des Filmgeschäfts in unserer Gegenwart kaum zeitgemäßer sein könnten.
                                Auch wenn sich "The Other Side of the Wind" als Gesamtwerk hierdurch eher als intellektuell stimulierendes Erlebnis erweist, das sich über die knapp angedeuteten zwischenmenschlichen Konflikte hinaus allem voran durch seine ständigen Meta-Verweise und formal kaum greifbare Verwegenheit definiert, gelangt Welles' vermutlich finales veröffentlichtes Werk zu einer beklemmenden Schlusseinstellung, wenn die Leinwand inmitten einer gespenstisch verlassenen Umgebung zuletzt nur noch eine weiße, leere Fläche zeigt.
                                ""Who knows? Maybe you can stare too hard at something, huh? Drain out the virtue, suck out the living juice. You shoot the great places and the pretty people, all those girls and boys - shoot 'em dead."

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                                • 7 .5

                                  Nur völlig losgelöst von der Zeit lässt sich die Gegenwart für den Menschen auch als solche empfinden. Jegliche Beeinflussung durch die Vergangenheit und Zukunft, der wir beinahe ununterbrochen in unserem Handeln ausgesetzt sind, bedeutet zugleich eine Verzerrung der Gegenwart, die wiederum das genaue Gegenteil von Zeit ist. In seinem neuen Film "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot" greift Regisseur Philip Gröning diese These der Philosophen Heidegger und Augustinus auf und verwebt sie als erzählerisches wie ästhetisches Prinzip in die Handlung. Darin begeben sich die Zwillingsgeschwister Elena und Robert irgendwo in Süddeutschland für den Zeitraum eines Wochenendes in ein Kornfeld im Grünen. Hier, wo die Natur zusätzlich ein Waldstück und einen See offenbart, zeugt lediglich eine Tankstelle direkt gegenüber von dem zentralen Kornfeld von erkennbaren Überresten einer Zivilisation.
                                  Dass diesem ruhigen, verlassenen Ort der Abgeschiedenheit in Grönings Werk von Anfang an etwas Apokalyptisches anhaftet, liegt auch an der Ausgangssituation, die der Regisseur zu Beginn ausbreitet. Das Wochenende wollen Elena und Robert in dem Kornfeld gemeinsam verbringen, damit die 19-Jährige für ihre mündliche Abiturprüfung in Philosophie am darauffolgenden Montag lernen kann. Robert soll ihr dabei behilflich sein, wofür das Mädchen ihrem Bruder das ganze Wochenende über mit Bier von der Tankstelle gegenüber versorgt. Früh verdeutlicht der Regisseur in seinem Film, dass die 48 Stunden, in denen sich die Handlung von "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot" ereignet, auch so etwas wie ein unaufhaltsamer Countdown sind, nach dem die zu Beginn noch diffus dargestellte Beziehung der Geschwister nicht mehr dieselbe wie vorher sein kann.
                                  Während Elena nach dem Abitur studieren will und den Ort, an dem sie beide leben, verlässt, wird Robert die Klasse nicht schaffen und zurückbleiben. Neben den philosophischen Thesen und Dialogen, in denen sich die Geschwister zutiefst theoretisch mit diesen beschäftigen, stellt Grönings Film ebenso eine Art Coming-of-Age-Beobachtung dar. In dieser wollen die zwei Hauptfiguren an der Schwelle zum Erwachsenwerden in den absoluten Stillstand flüchten, um sich vor der bedeutungslos hinter ihnen liegenden Vergangenheit und der bedrohlich auf sie zukommenden Zukunft in einer Schutzkapsel des Stillstandes einzuschließen. Diesen Stillstand macht der Regisseur für den Betrachter persönlich erlebbar, indem er sich nahezu für die gesamte Dauer des fast 3 Stunden langen Films einer entschleunigten Poesie verschreibt, die den Details innerhalb der Ruhe sowie der Ruhe innerhalb der komplex verstrickten Gefühlszustände nachspürt.
                                  Wie auch schon in Grönings vorherigem Werk "Die Frau des Polizisten", das aufgrund der nicht chronologisch angeordneten Szenen wesentlich nonlinearer inszeniert war, brechen in den wesentlich geradlinigeren Handlungsverlauf von "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot" immer wieder Szenen ein, die sich trotz ihrer mikroskopischen Unscheinbarkeit schier überlebensgroß vor der Kamera des Regisseurs aufbäumen. Überreste eines Apfelbutzen, über den die Bienen bereits herfallen, sind für Gröning ebenso bedeutsame Bausteine seiner Erzählung über das Verhältnis zwischen Zeit und Gegenwart, Leben und Tod, Streit und Versöhnung sowie Liebe und Zärtlichkeit wie die wiederholten Aufnahmen einer Grille, welche die Geschwister in einer leeren Zigarettenschachtel aufbewahren und die später an der Oberfläche des Sees wie in Zeitlupe ums Überleben kämpft.
                                  Wie ein Kampf hinter den Bildern mutet auch das Verhältnis zwischen Elena und Robert an, das Gröning über gut zwei Drittel der Laufzeit hinweg mithilfe von Betrachtungen des Zwischenmenschlichen auslotet. Wiederholt streiten und vertragen sich die Geschwister, wobei insbesondere Elena als impulsives Enigma erstrahlt, das die Romanautorin Julia Zange in ihrer ersten Filmrolle überhaupt mit einer ständig wechselnden Präsenz zwischen kindlicher Naivität und reifer Überlegenheit darstellt. Wenn sie mit ihrem Bruder eine Wette darüber abschließt, dass sie noch vor ihrer Abiturprüfung mit jemandem an diesem Wochenende Sex hat, wird "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot" aufgrund der intimen Zutraulichkeit zwischen den Geschwistern, die sich immer wieder explosionsartig entlädt, von einer abgründigen Vorahnung geprägt, die Gröning keinesfalls als großes Geheimnis versteht.
                                  Stattdessen hat sich der Regisseur für seinen Film viel lieber an der Struktur klassischer Dramen orientiert, in denen der Ausgang der Geschichte für das Publikum schon sehr früh feststeht, während es von nun an mehr darauf ankommt, wie es zu jener sicheren Auflösung kommt. Gröning nutzt die letzte Stunde seines Films schließlich, um der apokalyptischen Endgültigkeit seiner Erzählung eine Bühne zu bereiten. Nachdem das Tageslicht in "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot" von der flirrenden Wärme des Sommers aufgeladen und die Dunkelheit der Nachtszenen vom rot strahlenden Neonlicht der Tankstelle durchflutet war, steuern Elena und Robert in der Tankstelle, die sich im Verlauf des Films als Zufluchtsort seit ihrer frühesten Kindheit entpuppt, auf ihren angestrebten Zustand der absoluten Gegenwart zu.
                                  Der zentrale Leitsatz "Die Zeit zerstört alles" aus Gaspar Noés Meisterwerk "Irreversible" kommt einem unweigerlich in den Sinn, wenn sich das unsichtbare Band zwischen den Geschwistern so eng zusammenzieht wie nie zuvor und in einem Ausbruch von Sex und Gewalt durchtrennt wird, nach dem die Realisierung der Gegenwart sofort wieder von der destruktiven Unaufhaltsamkeit der Zeit durchbrochen wird. Für mindestens einen Moment in diesem gleichermaßen hypnotisierenden wie auslaugenden Kraftakt von Film wird der Zuschauer ebenfalls zum unmittelbaren Zeugen dieses Prozesses.

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                                    7 Jahre sind vergangen, seit David Fincher mit "The Girl with the Dragon Tattoo" seine ganz eigene US-Interpretation des ersten Romans aus der Millenium-Trilogie von Stieg Larsson in die Kinos brachte. 7 Jahre, in denen das Verlangen des Publikums, das sich nach Fortsetzungen dieses Auftakts sehnte, schwindend geringer wurde, nachdem an einem gewissen Punkt feststand, dass weder Fincher noch die beiden Hauptdarsteller Daniel Craig und Rooney Mara für weitere Filme dieser US-Neuauflage zurückkehren werden. Unter der Regie von Fede Alvarez ist es nun aber doch noch dazu gekommen, dass mit "The Girl in the Spider's Web" die nächste US-Verfilmung der Lisbeth Salander-Bücher ins Kino kommt. Geschrieben wurde die Vorlage dabei nicht mehr von Larsson, der 2004 verstarb, sondern von David Lagercrantz.
                                    Die Geschichte, die sich als Stand-alone-Stoff bezeichnen lässt und kaum Vorkenntnisse aus den anderen Büchern oder Finchers Verfilmung voraussetzt, stellt jedoch recht bald unter Beweis, dass Sony die Filmreihe nach dem herausragenden "The Girl with the Dragon Tattoo" 2011 wohl besser bereits begraben hätte. So ist es nun "The Girl in the Spider's Web" selbst, der als Sargnargel für das Franchise herhält.
                                    Mit unmissverständlicher Symbolik (eine Spinne krabbelt durch die Dielen eines Hauses) beginnt der Film von Alvarez mit einer Rückblende in Lisbeths Kindheit, wo die spätere Hackerin sowie Kämpferin für das Wohl missbrauchter Frauen als kleines Mädchen mit ihrer Schwester Camilla unter einem bösartigen Vater aufwächst, der einer Verbrecherorganisation angehört. Hier kommt es schließlich zum Bruch, als Lisbeth lieber den Sprung aus dem Fenster wählt, anstatt ihrem Vater weiterhin blinden Gehorsam zu leisten. Die emotionale Katharsis, die sich aus diesem einschneidenden Ereignis für Lisbeth und eine andere entscheidende Figur in Alvarezs Film ergibt, greifen der Regisseur und die beiden anderen Drehbuchautoren Steven Knight und Jay Basu erst wieder im Finale auf, wenn "The Girl in the Spider's Web" längst in seine ärgerlichen Einzelteile zerfallen ist.
                                    Stattdessen erzählen Alvarez, Knight und Basu nach der Romanvorlage von Lagercrantz, von der sie für ihr Drehbuch an einigen Stellen abgewichen sind, viel lieber eine generische Thriller-Geschichte, die von derart konstruierten und mitunter hanebüchenen Entwicklungen vorangetrieben wird, als hätte es die letzten 20-25 Jahre in der Filmgeschichte nie gegeben. Auf unangenehme Weise erinnert "The Girl in the Spider's Web" oftmals an einen James Bond-Film der späten Brosnan-Ära, in dem eine gefährliche Software, mit der sich alle Nuklearraketen auf diesem Planeten steuern lassen, wenig überraschend in die falschen Hände gerät. Schuld daran trägt Lisbeth, die das Programm für den NSA-Entwickler Frans Balder beschaffen sollte und in ihrer eigenen Wohnung durch einen Überfall beinahe ums Leben kommt, bei dem die Eindringlinge die Software stehlen.
                                    Bei der Jagd nach den Tätern sowie der Software verkommt Alvarezs Film durchwegs zu einer oberflächlichen Thriller-Hatz, die derart uninspiriert von einem Punkt der Handlung zum nächsten springt, dass "The Girl in the Spider's Web" stellenweise fast schon unfreiwillig komische Züge annimmt. Während die Figur der Lisbeth Salander von einer gebrochenen, traumatisierten Hackerin im Schatten zu einer nahezu übermächtigen Kämpferin mutiert, die ihre Narben auf der Seele nur noch in einigen wenigen Szenen nach außen trägt, wenn sie mit Zigarette im Mundwinkel durch einen verruchten Nachtclub wandert, verkommt der Enthüllungsjournalist Mikael Blomkvist zur notdürftig eingeschobenen Nebenfigur, mit der Alvarez und seine Autoren rein gar nichts anzufangen wissen.
                                    Überhaupt ist "The Girl in the Spider's Web" in erster Linie ein überaus unbeholfenes Werk geworden, in dem sich der Regisseur und die Autoren in ihren eigenen abgegriffenen, dramaturgisch zerfaserten sowie klischeehaft zusammengeschusterten Plotstrukturen verheddern wie das titelgebende Mädchen im Netz der Spinne. Gelang es Michael Mann mit seinem Actionthriller "Blackhat" 2015 beispielsweise noch ganz hervorragend, die terroristischen Strukturen einer digitalen, kaum fassbaren Bedrohung mit der Lebensrealität der Figuren erzählerisch wie ästhetisch spektakulär in Einklang zu bringen, so ist von der Handschrift des "Evil Dead"- und "Don't Breathe"-Regisseurs Alvarez hier kaum noch etwas zu bemerken. Nur in einigen wenigen Momenten erinnert "The Girl in the Spider's Web" bestenfalls an die kalte Rätselhaftigkeit von Finchers Film, in dem der Krimi-Pot zum Puzzle-Labyrinth verkam, das hinter neuen Erkenntnissen auch stets neue Abgründe der Figuren zum Vorschein brachte.
                                    An Abgründigkeit oder gar irgendeiner schlüssigen Form von Charakterbezogenheit fehlt es Alvarezs Streifen hingegen völlig. Während zumindest Hauptdarstellerin Claire Foy sichtlich darum bemüht ist, ihrer Version von Lisbeth Salander einen eigenen Stempel aufzudrücken, kommt auch sie nicht gegen das katastrophale Drehbuch an, das die sonst so faszinierende Figur teilweise buchstäblich im Dunkeln tappen lässt und sie zur eindimensionalen Action-Heldin umfunktioniert, die sich Schießereien, physische Auseinandersetzungen und Verfolgungsjagden mit Widersachern liefert. Das angedeutete Potenzial einer tieferen psychologischen Auseinandersetzung weist "The Girl in the Spider's Web" nur in Bruchteilen seiner Laufzeit auf, wenn sich zwei Figuren, die einmal stark verbunden waren und nun getrennt sind, in gläsernen Aufzügen gegenüberstehen oder wenn im verschneiten Finale auf einem Felsvorsprung unterdrückte Dämonen und verschwiegene Schuldzuweisungen eine familiäre Tragödie nach sich ziehen. Der Rest dieses Films ist kaum mehr als ein misslungenes Netflix-Original, das nichts im Kino verloren hat, sondern viel lieber so schnell wie möglich im Katalog des Streaming-Anbieters übersehen, untergehen und vergessen werden sollte.

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                                      Julius Averys "Overlord" beginnt mit Impressionen mitten aus der Hölle des Zweiten Weltkriegs, die der Zuschauer zunächst fast mit Christopher Nolans "Dunkirk" verwechseln könnte. Eingezwängt in das Innere eines Flugzeugs, in dem sich ein Trupp amerikanischer Soldaten über Frankreich befindet, nimmt die Kamera den Blickwinkel eines weiteren, unsichtbaren Protagonisten ein, der zugleich als Ersatz für die Augen des Betrachters dient. Hier bricht das unübersichtliche Chaos des Krieges über die Männer herein, als das Flugzeug von Schüssen durchsiebt wird und Sprengkörper für eine Bruchlandung sorgen, die einige Soldaten an Bord schon gar nicht mehr betrifft. Nur eine Handvoll dieser Soldaten sind nach den ersten Minuten des Films überhaupt noch am Leben. Ihren Weg müssen sie sich weiterhin durch ein Waldstück bahnen, in dem die Silhouetten verunglückter Fallschirmspringer in den Baumwipfeln hängen, während Flammen das ganze Areal zu verschlingen drohen.
                                      Wäre der nachfolgende Rest von "Overlord" von einer ähnlich atmosphärischen Dichte und unbequemen Intensität, hätte Avery einen wahren Überraschungstreffer geschaffen. Selbst die berechtigten Zweifel aus dem Vorfeld, es würde sich bei dem Streifen aus der J.J. Abrams-Produktionsschmiede Bad Robot am Ende um ein weiteres Werk handeln, das schlimmstenfalls nachträglich ins "Cloverfield"-Universum eingegliedert wurde, stellen sich bei Averys Film als unbegründet heraus. "Overlord" steht vollkommen für sich und scheitert vielmehr als eigenständiger Film, der nach dem imposanten Auftakt in eine Durststrecke der kreativen Dürre verfällt, aus der der Regisseur und seine beiden Drehbuchautoren Billy Ray und Mark L. Smith nicht mehr herausfinden.
                                      Da der Film aufgrund des Marketings bereits vorab als Nazi-Zombie-Spektakel beworben wurde, erzeugt "Overlord" bei seinem Publikum von Anfang eine bestimmte Erwartungshaltung, der die Verantwortlichen lange Zeit fast schon provokativ aus dem Weg gehen. Stattdessen hält die Handlung weiterhin an der Mission der übriggebliebenen Soldaten fest, die einen feindlichen Radarturm irgendwo in einem kleinen französischen Dorf zerstören sollen, damit die eingekesselten Kameraden am Strand die dringend benötigte Luftunterstützung erhalten können. Hierbei folgen Avery und seine Autoren einer geradlinigen Dramaturgie, die Züge eines simplen Weltkriegs-Computerspiels trägt. Das Ziel ist vorgegeben und nun gilt es für die Figuren, die in ihren Charakterzügen nach schnell durchschaubaren Stereotypen angelegt wurden, dieses so unbemerkt und vor allem unbeschadet wie möglich zu erreichen.
                                      Während der kleine Trupp Unterschlupf bei einer jungen Frau aus dem französischen Dorf findet, die in dem Haus mit ihrem kleinen Bruder sowie ihrer schwerkranken Großmutter lebt, machen sich in der Geschichte nur langsam Risse bemerkbar. Erst spät, als sich der vergleichsweise sensible Soldat Boyce im Alleingang auf eine gefährliche Erkundungstour in die Kellergewölbe begibt, die sich unter dem Radarturm hinter feindlichen Linien befinden, macht er die beunruhigende Entdeckung, dass die Nazis Experimente an Menschen durchführen.
                                      Bis dahin entpuppt sich "Overlord" als ebenso schlichtes wie unaufregendes Kino, das sein Weltkriegsszenario lediglich für kurzweilige Spannungsimpulse ausschlachtet, wenn sich der Feind in Form von primitiven Nazis dem Versteck der Amerikaner nähert. Die verschiedenen Facetten des Kriegsfilms als Genre beschränkt Avery daher lediglich auf kammerspielartig breitgetretene Redundanz, die das eigentliche Potenzial des Szenarios, von einigen wuchtigen Action-Set-Pieces abgesehen, konsequent unterwandert.
                                      Noch stärker wird Averys Film allerdings erst seine zweite Hälfte zum Verhängnis, wenn sich "Overlord" endgültig als unausgegorener Hybrid aus bierernstem Weltkriegs-Actionfilm und trashig angehauchter Nazi-Zombie-Fantasie präsentiert. Sobald die Soldaten im letzten Drittel der Handlung schließlich in die Kellergewölbe vordringen, wo neben ihrem Ziel zur Missionserfüllung auch jenes abgründig angekündigte Höllenreich wartet, dessen Erkundung in erster Linie der Zuschauer die meiste Zeit über entgegenfieberte, sind Avery und sein Team zu handzahm und auf seriösen Anspruch gebürstet, als dass "Overlord" tatsächlich zu dem wird, was er hätte sein können. An dem Ort, wo die Nazis tausendjährige Soldaten für ein tausendjähriges Reich heranzüchten wollen, verkommt Averys weiterhin ansehnlich inszenierter und mit noch ansehnlicheren Effekten realisierter Film zu einem lustlosen Schlagabtausch und Kräftemessen lediglich einiger weniger Figuren. Die erwartete - von einigen vielleicht auch befürchtete - Trash-Granate bleibt aus, wenn sich "Overlord" selbst viel zu sehr darin gefällt, kompromisslose Action und Spannung mit einem Hauch von Absurdität zu kreuzen, den bloß jeder ernst nehmen soll. Wenn es der Zuschauer schon nicht kann, dann zumindest der Film.

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                                        über Upgrade

                                        In der nicht näher bestimmten Zukunft von Leigh Whannells "Upgrade" hält der Automechaniker Grey von den fortgeschrittenen Technologien seiner Gegenwart in der Regel Abstand. Während sich seine Frau Asha längst von einem der vorhandenen selbstfahrenden Autos zur Arbeit und wieder nach Hause transportieren lässt, wo sie sogleich von der Stimme ihres Smart Homes mit der passenden Musik einer Feierabend-Playlist begrüßt wird, zieht Grey lieber einen altmodischeren Lebensstil vor. Ein Alltag, der zum Großteil nur noch von digitalen Algorithmen und künstlicher Intelligenz bestimmt wird, stellt für den Protagonisten von Whannells Film einen sichtlichen Albtraum dar, bis dieser Albtraum schließlich zu Greys Realität wird.
                                        Nachdem er ein repariertes Auto bei einem seiner Klienten abgeliefert hat und sich mit seiner Frau in einem selbstfahrenden Vehikel auf dem Nachhauseweg befindet, geraten beide aufgrund einer technischen Fehlfunktion im System in einen Unfall. Zu ihrem Unglück bleibt es jedoch nicht dabei. Schwer verletzt werden sie noch am Unfallort zu Opfern einer Gangsterbande, die Greys Frau erschießen und ihn ebenfalls dem vermeintlichen Tod überlassen. Als er im Krankenhaus wieder erwacht, ist er vom Hals abwärts gelähmt und fortan auf einen Rollstuhl angewiesen. Da taucht plötzlich sein Klient wieder auf, der Tech-Milliardär Eron Keen, und stellt Grey einen revolutionären Heilungsprozess in Aussicht. Mithilfe der Implantierung eines neuartigen Computerchips, der STEM genannt wird, soll Grey die volle Kontrolle über seinen Körper wiedererlangen.
                                        Auch wenn sich dieses Wunder ungeahnter technologischer Möglichkeiten für den Protagonisten kurz darauf tatsächlich erfüllt und Grey wieder laufen sowie seine Arme und Hände bewegen kann, nähert sich Whannells Werk gleichzeitig einer Mischung aus düsterem Science-Fiction-Thriller und B-Movie-Rachegeschichte, die der Australier mit beeindruckenden Schauwerten realisiert hat. Gerade einmal 5 Millionen Dollar standen Whannell zur Verfügung und doch hat der Autor bekannter James Wan-Horrorfilme wie "Saw" und "Insidious" einen Film gedreht, der mindestens vier Mal so teuer aussieht. Hierfür beschränkt sich Whannell oftmals auf Szenen, die sich in begrenzten Schauplätzen ereignen und die Dunkelheit dem Tageslicht vorziehen, wobei die Welt von "Upgrade" trotz lediglich angedeuteter Ausmaße sowie kleinerer Details als ebenso interessantes wie schlüssig konzipiertes Setting erscheint. Hier gerät Grey schließlich mit seinem eigenen Körper in Konflikt, nachdem STEM als Stimme in seinem Kopf mit ihm zu sprechen beginnt und ihm immer wieder anbietet, die alleinige Kontrolle über Greys Handlungen zu übernehmen.
                                        Diese Handlungen führen schon bald in ein blutiges Chaos, als sich Grey zuallerst auf die Suche nach den Verbrechern begibt, die das Leben seiner Frau auf dem Gewissen haben, um gnadenlos Rache zu üben. Als hätte Whannell für sein Drehbuch die Science-Fiction-Vision von Paul Verhoevens "RoboCop" mit befremdlichen Body-Horror-Anleihen eines David Cronenberg sowie der geradlinigen Prämisse aus dem ersten "Death Wish" mit Charles Bronson gekreuzt, entwickelt "Upgrade" trotz der nicht immer einwandfrei harmonierenden Versatzstücke und Genre-Auswüchse ein bisweilen betörendes Eigenleben.
                                        Durch die Stimme in seinem Kopf, die wie das männliche Pendant zu Apples Siri wirkt und Grey in entscheidenden Momenten zur unaufhaltsamen Killermaschine umfunktioniert, entfaltet Whannells Film in Kombination mit einigen ausgefeilten Kamerabewegungen gerade in den Actionszenen einen fast schon anarchischen Charakter. Bei diesem gehen wüste Splatter-Momente mit vereinzelt absurden Einstellungen Hand in Hand, sobald Hauptdarsteller Logan Marshall-Green seine überraschten oder widerspenstigen Gesichtsausdrücke mit den völlig unkontrollierten Bewegungen seines Körpers in ein Duell schickt, das durchaus slapstickhafte Züge ausstrahlt.
                                        "Upgrade" funktioniert als erzählerisch gewissermaßen ebenfalls mit sich selbst in Konflikt stehendes Gesamtwerk allerdings nur so gut, weil Whannell die Schnörkellosigkeit von Greys Rachefeldzug, das tiefere Potenzial dieser mit genetischen Modifikationen und wendungsreichen Entwicklungen gespickten Science-Fiction-Vision sowie die absurde Tragikomik hinter dem Dilemma des zwiegespaltenen Protagonisten als Einheit denkt. Damit löst "Upgrade" die Prämisse zahlreicher Netflix-Streifen ein, die diese meist nicht einmal selbst erfüllen. Ein kleiner, ungeschliffener Rohdiamant voller Ecken und Kanten, der B-Movie-Strukturen und A-Liga-Talent vereint und aufgrund des niedrigen Budgets, das dem Film nie anzusehen ist, weniger in den Kinos stattfinden wird, wo er nichtsdestotrotz eigentlich hingehört.

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                                        • 5 .5

                                          [...] Einer der interessantesten Aspekte an Galveston war daher im Vorfeld, wie stark Laurent die betont französische Einfühlsamkeit ihres filmischen Stils mit Pizzolattos Vorlage vereinbaren kann, die ohne philosophisch ausartende Dialoge wie in True Detective trotzdem ebenfalls der typisch dunklen, pessmistischen Neo-Noir-Handschrift des Autors entspricht. So gegensätzlich diese beiden Stilrichtungen bereits in der Theorie ausfallen, so zwiegespalten entpuppt sich auch Galveston selbst als Filmresultat. [...] Trotz dieser vielversprechenden Figurenkonstellation, die neben Foster vor allem durch die gewohnt ungezügelte, rohe Energie von Elle Fanning (Jahrhundertfrauen) als Rocky aufgewertet wird, verweilt die Handlung von Galveston zu lange in der klischeehaften, langsamen Erzählung über den Kriminellen, der sich in Gestalt der traumatisierten jungen Frau in Not womöglich eine Form von Katharsis erhofft, während das Call-Girl ihr ganz eigenes, finsteres Geheimnis offenbaren wird. Nur in einigen wenigen Szenen schimmern die persönlichen Bemühungen der Regisseurin durch, der Geschichte mitsamt stereotyp konstruierter Figuren, die nichtsdestotrotz Ansätze der Vielschichtigkeit erahnen lassen, zu besonderen Momenten zu verhelfen. Wenn Rocky Tiffany beispielsweise mit an den Strand nimmt, wo das kleine Mädchen zum allersten Mal die Wellen des Meeres auf der Haut spürt und im Sand spielt, oder Roy und Rocky in einer Szene kurz vor dem drastischen Finale als jeweils verloren wirkende Seelen im gemeinsamen Tanz aufleuchten, strahlt Galveston zumindest vorübergehend stärker als die bewusst extrem dunkel gehaltenen Einzelteile des bedauerlicherweise in zu vorhersehbarem Pessimismus verlaufenden Gesamtwerks. [...]

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                                          • 6 .5

                                            Kaum ein Teil des menschlichen Körpers bleibt unversehrt in Timo Tjahjanto neuestem Martial-Arts-Splatter-Feuerwerk "The Night Comes for Us". Schon 2016 stellte der Regisseur mit "Headshot" unter Beweis, dass drastisch choreografierte sowie exzellent inszenierte Kampfsequenzen aus Indonesien keineswegs nur noch exklusiv unter der Regie von Gareth Evans stattfinden, der mit "The Raid" und "The Raid 2" diesbezüglich so etwas wie die neue Masslatte dieser Art von Filmen schuf. Zusammen mit Kimo Stamboel bildete Tjahjanto für "Headshot" noch das Duo "The Mo Brothers", wobei beide Filmemacher zuvor vornehmlich im Horror-Genre tätig waren. Dieser Grenzgang zwischen Action und Horror war es schließlich auch, der "Headshot" eine zusätzliche Faszination verlieh. Hier konnte der Zuschauer zwei Regisseuren dabei zusehen, wie sie schweißtreibende, atemlose Martial-Arts-Set-Pieces mit einem bisweilen schwindelerregenden Hang zum Body-Horror umsetzten, der mit brutalsten Eskalationen den verschiedensten Varianten der vollständigen Deformation und Zerlegung von Körpern nachspürte.
                                            Ohne Stamboel, aber dafür mit einem noch größeren Hang zu ausufernden Gewaltexzessen, hat Tjahjanto nun "The Night Comes for Us" inszeniert. Kurze Texttafeln führen direkt zu Beginn in ein Südostasien, das von Triaden beherrscht wird. Um kriminelle Geschäfte wie den Drogenschmuggel gegen kleinere Konkurrenten abzusichern, verlassen sich die Triaden auf eine eigens abgestellte, erbarmungslose Elite-Einheit namens Six Seas, die auf Wunsch alles und jeden ohne große Umschweife aus dem Weg räumen. Einer von ihnen war längere Zeit auch Ito, der sich am Anfang von Tjahjantos Film nach einem Massaker in einem kleinen Dorf weigert, zuletzt auch noch das kleine Mädchen Reina zu töten. Dieser Bruch des Kodex führt dazu, dass Ito zusammen mit Reina von nun an ganz oben auf der Abschussliste der Triaden steht.
                                            Über die ersten gut 20 Minuten hinweg reduziert der Regisseur die Handlung von "The Night Comes for Us" auf ein zu vernachlässigendes Mindestmaß, das augenscheinlich nur dazu dient, um eine schier unaufhörliche Kettenreaktion an brutalsten Konfrontationen in Gang zu setzen. Während Ito rasch einige Verbündete seiner Gang versammelt, um mit neuen Identitäten für sich und Reina unterzutauchen, lassen die gegnerischen Wellen an Triaden-Schergen ebenfalls nicht lange auf sich warten. Schnell verwischt Tjahjantos Film die Grenzen dessen, wer gerade aus welchem Grund auf wessen Seite steht. Stattdessen reiht der Regisseur gerade in der erste Stunde des Films ein Action-Set-Piece an das nächste, manchmal auch mehrere parallel, wobei sich "The Night Comes for Us" in diesen Szenen neben den druckvoll und gleichzeitig übersichtlich gehaltenen Martial-Arts-Choreografien durch eine geradezu sadistische Lust am Aufwirbeln der jeweiligen Sets sowie deren Figuren auszeichnet.
                                            Neben typischen Schusswaffen wie Pistolen und Schrotflinten, die hier Einschusslöcher unterschiedlichster Anzahl und Größe in den Körpern hinterlassen, und Stichwaffen wie Macheten, mit denen Körper wiederum förmlich filetiert werden, schien es für Tjahjanto bei der Konstruktion der Set-Pieces keinen Gegenstand gegeben zu haben, der sich nicht als todbringendes Instrument zweckentfremden ließ. Abgesehen von den messerscharfen Bewegungsabläufen, die der Regisseur gekonnt einfängt, ist "The Night Comes for Us" im Kern vor allem eine Parade der Möglichkeiten, mit denen Knochen gebrochen und Gliedmaßen aufgeschlitzt, zerstochen, zerschmettert sowie durchlöchert werden können.
                                            Mit einem Cast, der unter anderem aus Joe Taslim als Hauptfigur Ito, Iko Uwais als Itos ehemaliger Freund und nun zwiesgespaltener Feind Arian sowie Julie Estelle als mysteriöse Killerin zwischen den Fronten besteht, erinnert Tjahjantos Werk durchaus an ein Klassentreffen einiger bekannter Gesichter aus "The Raid" und "The Raid 2". Trotzdem ist "The Night Comes for Us" auch ein Streifen, in dem die Kombination der erzählerischen Ansätze von Evans' Filmen sichtlich an seine Grenzen stößt. Während Tjahjanto in zahlreichen Momenten ähnlich wie in "The Raid" eine pure Abfolge ununterbrochener Actionszenen kreieren will, unterbricht er die notdürftig zusammengeschusterte Handlung speziell in der zweiten Hälfte zunehmend mit Ruhepausen und Rückblenden, die den zentralen Figuren ein emotionales Gewicht verleihen soll, das der Regisseur im Gegenzug nie einzulösen vermag.
                                            Trotz der wirren Verstrickungen zwischen den Hauptfiguren, mit denen Tjahjanto zusätzlich von moralisch hin und hergerissenen ehemaligen Freunden erzählen will, die in den Mahlstrom der kriminellen Anziehungskraft geraten sind, bleiben Ito, Arian und andere Nebenfiguren für den Regisseur letztlich kaum mehr als bloße Körper, die es in dicht inszenierten Extremsituationen unter höchster Belastung zu schinden gilt. Ein Konzept, das über die insgesamt 2 Stunden Laufzeit hinweg zugleich erstaunt wie ermüdet. In diesen 2 Stunden begibt sich der Regisseur stellenweise buchstäblich in sein selbstgeschaffenes Schlachthaus des überraschend hochkarätig inszenierten B-Movie-Action-Horrors, das literweise Blutfontänen und vernichtete Leiber mit einer erzählerischen Unbeholfenheit vereint, die vom Betrachter erst wieder ausgeblendet werden kann, sobald "The Night Comes for Us" spätestens mit den finalen beiden großen Kampfszenen im hypnotisierenden Ballett der Schläge, Tritte, Schmerzen und surreal strapazierten Leidensfähigkeit nochmals verschwimmt.

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                                              Mit "22 July" von Paul Greengrass erscheint in diesem Jahr nun schon der zweite Film, der das Unbegreifliche, Abscheuliche in Bilder zu fassen versucht. Ihm voran ging der noch gar nicht lang zurückliegende "Utøya 22. Juli" von Erik Poppe, der eine gleichermaßen ambitionierte wie diskussionswürdige Variante der filmischen Inszenierung der grauenvollen Attentate durch den rechtsextremistischen Terroristen Anders Behring Breivik darbot. Gut 70 der 90 Minuten von Poppes Film laufen in Echtzeit ohne erkennbare Schnitte ab, um die Dauer des Anschlags auf der norwegischen Insel Utøya dem realen Empfinden der Opfer anzugleichen. Dabei wurde Breivik selbst als beinahe ausschließlich unsichtbares Phantom in den Hintergrund des Films verbannt und nur die Klangkulisse aus unaufhörlich abgefeuerten Schüssen und panischen Hilferufen zeichnete ein Bild davon, wie explizit sich die unbeschreibliche Brutalität des Attentäters auf die Jugendlichen ausgewirkt haben muss, die die Geschehnisse überlebten.
                                              Im Gegensatz zu Poppes Version, die bewusst den Rand der Konsumierbarkeit streifte und sich durch gnadenlose Immersion in den Kopf des Zuschauers einbrannte, wählt Greengrass in seinem Werk einen anderen Ansatz. In "22 July" nimmt die Tat von Breivik nur gut ein Viertel der Laufzeit ein, während sich der Regisseur anschließend auf die Konsequenzen fokussiert, die das ganze Land auf mehreren privaten sowie politischen Ebenen in Schockstarre und Überforderung versetzt. Nichtsdestotrotz scheint die erste halbe Stunde des Dramas voll und ganz Breivik zu gehören, wenn sich die gewohnt dokumentarisch anmutende Wackelkamera in Greengrass' Film voll und ganz den Taten des Attentäters widmet. Auch wenn diese Passage erwartungsgemäß ebenfalls einem Schlag in die Magengrube gleicht, vergreift sich der Regisseur bereits hier im inszenatorischen Tonfall, indem er dem von Anders Danielsen Lie gespielten Breivik eine zu deutliche Präsenz inmitten der auf fast schon konventionellen Spannungsaufbau gebürsteten Tötungsszenen verleiht.
                                              Wo Poppe für "Utøya 22. Juli", abgesehen von den eher überflüssigen Texteinblendungen ganz zum Schluss, von einer Auseinandersetzung mit der Person Anders Behring Breivik konsequent Abstand hielt, wagt Greengrass den Versuch einer psychologischen Annäherung. Hierbei begeht der Engländer, der sich bereits in ähnlich gelagerten Filmen wie "United 93", "Green Zone" und "Captain Phillips" an einer Mischung aus chronologischem Tatsachenbericht und fiktiven Anleihen übte, den schwerwiegenden Fehler, Breivik als eine Art abgründigen Mythos zu begreifen, dem er in seinem Film mit fast schon fragwürdiger Faszination in zu vielen Szenen eine Bühne bereitet.
                                              Wenn Breivik im Mittelteil von "22 July" über weite Strecken aus dem Film verschwindet, sobald sich der Regisseur Verantwortlichen auf Regierungsebene, Breiviks Strafverteidiger sowie den Überlebenden widmet, sind es trotzdem unentwegt die Worte und das eisige Gesicht des Attentäters, an die Greengrass offenbar ausgiebig erinnern will. Doch auch in der Betrachtung der gesellschaftlichen Auswirkungen sowie als Einblick in die geschundene Seele eines Landes, das seine Narben aufgrund des Attentäters bis heute sowie auf unbestimmte Zeit weiterhin mit sich herumtragen muss, scheitert Greengrass' Film als Querschnitt durch oberflächliche Allgemeinplätze.
                                              Speziell im Umgang mit dem Jugendlichen Viljar, der bei dem Anschlag auf Utøya von fünf Kugeln getroffen und auf ewig gezeichnet wurde, versinkt "22 July" in notdürftig konstruierten Momenten, die Greengrass, der das Skript auf Basis des Buchs "Einer von uns: Die Geschichte eines Massenmörders" auch selbst schrieb, für simples Erbauungskino nutzt. Über die Tränen von Viljar und dessen Eltern greift der Regisseur nach den großen Emotionen, während er die Handlung seines Films nach einem klar dramaturgischen Konzept auf das große Wiedersehen zwischen Täter und Opfer zusteuern lässt. In der Gerichtsverhandlung ist es dann auch Viljar, dem die ebenso pathetisch wie hoffnungsvoll erscheinenden finalen Worte des Films zu gehören scheinen, bis Greengrass Breivik erneut die finale Aufmerksamkeit schenkt. Den letzten Worten des geisteskranken Rechtsextremisten folgend ist "22 July" - gewollt oder ungewollt - ein Manifest Breiviks, das Greengrass hier in filmische Form gegossen hat.

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                                                Luca Guadagninos "Suspiria" beginnt, wie schon Dario Argentos "Suspiria", mit prasselndem Regen. Neben dem Umstand, dass auch die Neuauflage des italienischen Horror-Meisterwerks von 1977 die junge Amerikanerin Susie Bannion in eine mysteriöse Tanzakademie führen wird, erschöpfen sich die Parallelen zwischen diesen beiden Versionen aber bereits hier sichtlich. In Guadagninos "Suspiria" ist Argentos Freiburg im Brensgau, das in den kräftigsten, strahlenden Farben an ein geheimnisvolles Märchenwunderland erinnerte, einem Berlin des Jahres 1977 gewichen, das vor allem von entsättigten, blassen Grau- und Brauntönen beherrscht wird.
                                                In diesem noch geteilten Berlin, das zum Zeitpunkt der Handlung von verschiedensten Konflikten geprägt ist, findet sich jedoch auch umgehend jenes Gefühl von spürbarer Bedrohung wieder, das sich kaum erklären, sondern vielmehr nur erfahren lässt. Neben der formstrengen Untergliederung, mit der Guadagnino sein Werk durch eine anfängliche Ankündigung in 6 Kapitel sowie einen Epilog einteilt, wird dieser "Suspiria" des Italieners zugleich von einer Zersplitterung geprägt, die kaum noch mit Argentos Ansatz der weitestgehend linearen, audiovisuellen Überwältigung vergleichbar ist. Auch Guadagnino übt sich über die umfangreichen 152 Minuten seines Films hinweg in Überwältigung, doch wo Argentos Vision noch einem nie enden wollenden LSD-Fiebertraum in etwas über 90 Minuten entsprach, ist dieser "Suspiria" lähmendes Opium voller verkopfter, kunstvoller Verästelungen, das tatsächlich niemals zu enden scheint.
                                                Frühzeitig irritiert und berauscht "Suspiria" dadurch, dass der Regisseur den Film nicht nur in den 1970er-Jahren angesiedelt, sondern außerdem wie ein Werk aus der dazugehörigen filmischen Epoche inszeniert hat. Sobald sich die panische, ängstliche Tanzschülerin Patricia im Auftakt in der Wohnung des Psychotherapeuten Dr. Josef Klemperer einfindet und diesem von dunklen Mächten durch Hexen erzählt, die die Tanzakademie angeblich kontrollieren, fallen sofort die unruhigen Schnitte und abrupten Zooms auf, die dem Geschehen inmitten der grundsätzlich eleganten Einstellungen eine Art von nervösem Chaos verleihen. Ein Chaos, dem hingegen lange Zeit jener pure Terror abhandenkommt, mit dem Argento-vetraute Zuschauer in einem Remake von "Suspiria" sicherlich gerechnet hatten.
                                                Stattdessen spannt Guadagnino einen wesentlich umfassenderen Bogen und erzählt nach dem Drehbuch von David Kajganich nicht nur von übernatürlichen Kräften, die in Form der Hexen schon frühzeitig in diesem Film klar benannt werden. Viel lieber widmet sich der Regisseur den Auswirkungen dieses Horrors, der diffus durch gesellschaftliche Entwicklungen, persönliche Verbindungen und körperliche Zusammenhänge gestreut wird. Wie ein beiläufiges Hintergrundrauschen verwebt Guadagnino den Schrecken des Deutschen Herbstes in die DNA von Argentos mystischer Ausgangslage, indem die terroristischen Anschläge der RAF über vereinzelte TV-Nachrichtenausschnitte und Radioberichte über den Bildern wabern und die Atmosphäre zwischen realhistorischem Horror und okkultem Surrealismus verorten.
                                                Dabei entfaltet sich dieser "Suspiria" in einem sonderbaren Setting, das Vergangenheit und Gegenwart nicht trennt, sondern immer wieder aufeinandertreffen lässt. Neben der von Dakota Johnson gespielten Hauptfigur Susie, die sich als frisches Talent in der Berliner Tanzakademie sowohl dem körperlich (über)forderndem Ausdruckstanz als auch den beunruhigend wirkenden Kräften einer höheren Macht hingibt, erweist sich vor allem Dr. Josef Klemperer als Schlüsselfigur. Lange Zeit dient der alte Mann, der damals während des Nationalsozialismus bei der Flucht von seiner Frau getrennt wurde und diese nie wieder sah, wie ein Ersatz für die skeptischen Augen des Zuschauers, wenn Josef das Geheimnis der Tanzakademie mit einer langsamen Spurensuche zu ergründen versucht. Erst ganz spät, wenn "Suspiria" nach einem unbeschreiblichen, orgiastischen Finale im 6. Akt längst den Epilog erreicht hat, wird sich das Schicksal dieses alten Mannes auf ebenso bittere wie zutiefst rührende Weise in die Geschichte des Films einfügen.
                                                Guadagnino, der mit Filmen wie "I Am Love", "A Bigger Splash" und dem diesjährigen Höhepunkt "Call Me by Your Name" stets Geschichten über ungezügelte Leidenschaft, hemmungslose Sinnlichkeit sowie die Liebe selbst in extremsten Ausprägungen erzählte, bleibt sich auch mit diesem Werk, das sich nur noch der Einfachheit halber als Horrorfilm bezeichnen lässt, als Regisseur purer Körperlichkeit treu. Sein "Suspiria" ist der verzerrte (Alb)Traum von Argentos "Suspiria", in dem die spärlich eingesetzten, sehr brutalen Gewaltmomente auch immer Ausdruck einer physischen Einheit sind, bei der sich Gliedmaßen unter lautesten Schmerzensschreien verbiegen und Knochen auf unansehnlichste Weise gebrochen werden, während ein anderer Körper im gleichen Moment den Takt der schwarzen Magie aufrechtzuerhalten versucht.
                                                Mit einem deutlich feministischen Anstrich erzählt Guadagnino zudem von unterschiedlichen Müttern und Töchtern, die sich von den Fesseln eines vererbten Verderbens losreißen wollen, indem Empfindungen wie Schuld und Scham im Angesicht eines vergangenen Traumas akzeptiert werden müssen, um zukünftige Generation vor dem sicheren Untergang bewahren zu können. Dabei wirken selbst die mit Falsett gesungenen Passagen des fantastischen Scores auffällig feminin, wenn sich die Klänge von Radiohead-Sänger sowie Komponist Thom Yorke mit einer vergänglichen Süßlichkeit über die grausamsten Szenen von "Suspiria" legen, der als verkopfter Kunstfilm, entfesselte Horror-Fantasie, brisante Allegorie, bizarrer Trash und sinnliches Gefühlsbad beinahe sämtliche Reaktionen vom Betrachter abverlangt, die ein Film hervorrufen kann. Abschütteln wird man diese Erfahrung anschließend lange nicht.

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                                                  über Apostle

                                                  Mit seinen beiden indonesischen Actionfilmen "The Raid" und "The Raid 2" schuf der walisische Regisseur Gareth Evans zwei Werke, die das Potenzial in sich tragen, rückwirkend irgendwann als Klassiker des Genres betrachtet zu werden. Mithilfe der indonesischen Kampfkunst Pencak Silat, die Evans vor allem durch die Unterstützung von Hauptdarsteller Iko Uwais in den Mittelpunkt der brachial inszenierten Kampfszenen rückte, beschwörte der Regisseur eine in dieser Form nur selten gesehene Virtuosität herauf, an die kein vergleichbarer Actionfilm aus Hollywood auch nur annähernd heranreichen konnte. Neben der schweißtreibenden Intensität strahlten die atemlosen Choreografien und Set-Pieces in "The Raid" und "The Raid 2" zudem eine dezente Genre-Verwandtheit zum Horrorfilm aus. Oftmals ausgeführt auf engstem Raum, innerhalb schmaler Gänge oder Wohnungen, die wie Verließe wirkten, war den erbarmungslosen Todeskämpfen sowie dem unnachgiebigem Malträtieren und Zerstören von Körpern eine unpolierte Scheußlichkeit eingeschrieben, die Evans' Hang zum Horror aufzeigte.
                                                  Während der Regisseur mit seinem Segment "Safe Haven" für den Anthologie-Horror "V/H/S2" 2013 bereits einen reinen Horror-Kurzfilm ablieferte, ist sein neuer Netflix-Film "Apostle" nun ebenfalls eine Abkehr vom Actionfilm. Darin wird der seltsam verschlossene sowie offensichtlich innerlich brodelnde Thomas im Jahr 1905 von seinem wohlhabenden Vater mit dem Auftrag versehen, seine Schwester Jennifer zu retten. Anscheinend ist diese in die Fänge einer mysteriösen Sekte geraten, die sich auf einer abgelegenen Insel irgendwo in Wales formiert hat und dort unter der Leitung des Propheten Malcolm ganz eigene Rituale befolgt. Um Jennifer zu befreien, für deren Wohlbefinden die Sekte eine hohe Summe Lösegeld erpresst, will Thomas die Inselgemeinschaft unbemerkt infiltieren, indem er sich als gläubiger Neuankömmling ausgibt.
                                                  Nachdem sich erste beunruhigende Vorzeichen anhäufen, bei denen Thomas beispielsweise beobachtet, wie sich die Bewohner der Insel selbst Blut abnehmen und diese in Gläsern vor die eigene Haustür stellen, schlägt Evans recht bald den Bogen hin zum okkulten Horror, für den bedeutende Werke wie Robin Hardys "The Wicker Man" als Vorbild gedient haben dürften. Dabei wird schnell deutlich, dass Evans außerhalb des Action-Genres mit jeder verstreichenden Minute der fatal überlangen 130 Minuten Laufzeit regelrecht unbeholfen und verloren wirkt. Während der Regisseur im Action-Genre eine schier unerschöpfliche Inszenierungswut an den Tag legt, bei der selbst das dünnste Skelett einer Handlung wie in "The Raid" noch von Höhepunkt zu Höhepunkt gepeitscht wird, erweist sich "Apostle" über weite Strecken als zerfahrenes, unfokussiertes Chaos, in dem sich Evans zwischen verschiedenen Erzählsträngen völlig verheddert.
                                                  Während Hauptdarsteller Dan Stevens seinem rätselhaften Protagonisten Thomas anfangs noch eine Aura der reizvollen Ungewissheit verleiht, die langsam neue Abgründe im Inneren des traumatisierten, ehemaligen Missionars freilegt, verliert der Regisseur die Figur zunehmend aus den Augen. Bisweilen wirkt Stevens' stoische Figur wie ein Nebencharakter in der mit folkloristischem Mystizismus aufgeladenen Mischung aus Drama, Thriller und Horror, die besonders über die erste Hälfte hinweg unterschiedliche Personen in den Vordergrund rückt, deren Einzelschicksale nur unzureichend beleuchtet oder wenig später bereits wieder fallengelassen werden.
                                                  Wenn sich Evans abwechselnd unter anderem einem jungen Liebespaar widmet, deren verbotene Beziehung schwere Konsequenzen mit sich bringen wird, oder den anderen Gründervätern der Sekte, die neben Malcolm mit drastischen Maßnahmen über die Inselgemeinschaft herrschen, versinkt "Apostle" zusehends in erzählerischer Orientierungslosigkeit, die spätestens im letzten Drittel des Films durch einen rabiaten Stimmungswechsel ersetzt wird. Plötzlich agiert Evans als Regisseur wie entfesselt und suhlt sich in blutbesudelten, stellenweise überaus expliziten Gewaltmomenten, die der eigentlichen Geschichte rund um Motive des Glaubenkonflikts sowie Anleihen an übernatürliche Verbindungen zwischen Religion und Natur endgültig den rationalen Boden unter den Füßen wegzieht.
                                                  Es ist bezeichnend, dass der Film in den wenigen Momenten, in denen Evans tatsächlich annähernd auf Action-Momente setzt, auf einmal so wirkt, als wolle er sich aus sich selbst befreien. Wenn die Kamera ähnlich wie in den vorherigen Werken des Regisseurs um Figuren herum wirbelt und kreisende Bewegungen zugleich den Taumel der Figuren imitieren, strahlt "Apostle" ganz selten jene formschöne Souveränität aus, der die mäandernde Ziellosigkeit der Geschichte sowie der um dissonantes Grauen bemühte Score von Fajar Yusekemal und Aria Prayogi vergeblich hinterher hinken. Eine große Enttäuschung, die aufzeigt, dass Evans seine Zukunft als Regisseur keinesfalls im Bereich des Horror-Spielfilms erzwingen sollte.

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                                                    Vor 7 Jahren sorgte Drew Goddard als Regisseur mit "The Cabin in the Woods" für einen Horror-Hit, der diese Auszeichnung völlig zurecht trägt. Popkultur-Spezialist Joss Whedon, der Goddard beim Schreiben des Drehbuchs zur Seite stand, bezeichnete den Film passenderweise als einen "loving hate letter" an den Horrorfilm. Für "The Cabin in the Woods" knöpften sich die beiden klischeehafte Tropen und abgenutzte Elemente des Genres vor und fügten dem Streifen eine genüssliche Meta-Ebene hinzu, auf der Menschen hinter Kontrollbildschirmen als Ersatz für die unstillbare Blutlust des eigentlichen Zuschauers dienten. Zwischen Parodie und leidenschaftlicher Hommage erwies sich "The Cabin in the Woods", der schon alleine aufgrund seines Titels augenzwinkernd auf pure Formelhaftigkeit verweist, spätestens im völlig entfesselten Finale als Grenzgang zwischen Kuriositäten- und Spiegelkabinett, mit dem der Regisseur den Horrorfilm in seine wüsten Einzelteile implodieren ließ.
                                                    Auch in seinem neuen Film "Bad Times at the El Royale" konfrontiert Goddard seine bunt zusammengewürfelten Figuren, die sich in dem titelgebenden Hotel an der Grenze zwischen Kalifornien und Nevada einfinden, unter anderem mit einer mysteriösen Übermacht, die sich hinter den Wänden der Hotelzimmer als heimlicher Beobachter sowie lüsterner Voyeur entpuppt. Während der Regisseur diese Überraschung schon recht früh in seinem ingesamt 140-minütigen Werk enthüllt, lässt er sich mit den Geheimnissen der Figuren wesentlich länger Zeit. Mit der Geduld eines klassischen Geschichtenerzählers, wie es sie im gegenwärtigen Kino kaum noch in derart ausschweifender Gelassenheit gibt, führt Goddard den Concierge Miles Miller, den Priester Daniel Flynn, die Sängerin Darlene Sweet, den Staubsaugervertreter Seymour „Laramie“ Sullivan sowie die junge Hippiefrau Emily Summerspring in das Hotel, das abgesehen von vereinzelten Rückblenden den ausschließlichen Handlungsort des Films darstellt.
                                                    Keinesfalls rein zufällig erinnert "Bad Times at the El Royale" damit anfangs vor allem an die Filme von Quentin Tarantino, speziell "The Hateful Eight", wenn der Regisseur den hervorragend ausgesuchten Cast auf engstem Raum wie Schachfiguren auf einem überschaubaren Spielbrett positioniert und sich schließlich einem erzählerischen Rhythmus verschreibt, der die Chronologie der Geschichte wild durcheinander wirbelt. Dabei entwickelt sich das El Royale, welches zum Zeitpunkt der Handlung irgendwann in den 1960er-Jahren wie ausgestorben ist und nur noch von wenigen Gästen aufgesucht wird, neben den eigentlichen Figuren zu einem eigenständigen Charakter. Während sich Goddard viel Zeit lässt, um seine Figuren ausführlich zu zeichnen und immer wieder in einem neuen Licht zu präsentieren, überrascht der Regisseur im Gegenzug unentwegt mit drastischen Wendungen, wiederholten Perspektivwechseln und garstigen Überraschungen.
                                                    Diese sichtliche Freiheit, mit der Goddard den Film vollkommen nach seinen eigenen Vorstellungen realisieren durfte, führt hingegen auch dazu, dass "Bad Times at the El Royale" bisweilen zu einem stockenden Seherlebnis gerät. Während immer wieder hervorragende Einzelszenen und Einfälle hervorstechen, wenn Xavier Dolan beispielsweise einen kurzen Auftritt als durchtriebener, britischer Musik-Manager namens Buddy Sunday hat, inszeniert der Regisseur seine Geschichte trotz Überlänge viel lieber in die Breite. Ausgeschmückt mit Details, die realhistorische Hintergründe wie eine Sekten-Mythologie oder skandalöse Verschwörungstheorien mit in die Handlung verweben, entwickelt sich Goddards Werk mit fortschreitender Laufzeit aber trotzdem noch zu mehr als die Summe der mitunter prächtig glänzenden Einzelteile.
                                                    Während der Regisseur die beste Szene bereits ungefähr im Mittelteil platziert, wenn die famose Montage in Verbindung mit einer Cynthia Erivo, die wortwörtlich um ihr Leben singt, zu einem perfekten Einklang findet, wandelt sich der Film spätestens mit dem Auftritt von Chris Hemsworth als ebenso attraktiver wie furchteinflößender Sektenanführer Billy Lee zum teuflischen Drahtseilakt zwischen Leben und Tod. Hierbei zeigt sich auch noch einmal das unbestreitbare Talent von Goddard, der diesmal zwar auf allzu komplexe Meta-Spielereien verzichtet und doch ein Gespür für das Umkehren von Klischees und Stereotypen an den Tag legt, durch das sich "Bad Times at the El Royale" letztlich klar von einem typischen Tarantino-Klon unterscheidet.
                                                    Zeugte gerade das frühe Schaffen von Tarantino von einem dominierenden Hang zur poppigen Oberfläche, schält Goddard die Charakterzüge seiner Figuren wesentlich behutsamer hervor und sorgt dafür, dass jeder von ihnen weitaus mehr ist als die stereotype Neigung, die der Streifen anfangs vortäuscht. Mit der Kulisse des unentwegt prasselnden Regens im Hintergrund entpuppt sich das El Royale für alle schlussendlich als Fegefeuer, in dem verborgene Abgründe, verschüttete Traumata und fatale Verfehlungen ihren Tribut einfordern, während am anderen Ende doch noch ein kleiner Schimmer der Hoffnung aufblitzt.

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