Patrick Reinbott - Kommentare
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Alle Kommentare von Patrick Reinbott
Jegliche Kohärenz wird im neuen "Hellboy"-Reboot des Jahres 2019 schon im Prolog im Keim erstickt. Die holprige Einführung, die im frühen Mittelalter angesiedelt ist und mit King Arthur und der Hexe Nimue Mythos auf Mythos prallen lässt, attackiert den Zuschauer bereits in den ersten Sekunden mit Schnitten, die sich ähnlich zerstückelt auf das Seherlebnis auswirken wie die tatsächlichen Schnitte, die Blutkönigin Nimue in ihre Einzelteile zerlegen. Geschlagen durch King Arthurs mächtiges Schwert Excalibur, werden ihre Gliedmaßen in verschiedenen Holztruhen versiegelt und versteckt, um den verheerenden Bann der selbst kopflos noch quicklebendigen Hexe zu unterbinden.
Nach einem Sprung in die Gegenwart wird die Handlung dieses "Hellboy" nahtlos konfus weitergeführt. Waren in der vorherigen Szene noch King Arthur und schwarze Magie von Bedeutung, findet sich der titelgebende Teufelsjunge mit den langen Haaren, abgeschliffenen Hörnern und losem Mundwerk in einer Bar in Tijuana wieder, wo er einen vermissten Agenten des Bureau for Paranormal Research and Defense auftreiben soll. Zwischen Luchador-Besäufnis und Vampirjagd läuft der Auftrag schnell auf eine blutige Eskalation hinaus, die wiederum den weiteren Ton für diese Neuinterpretation von Neil Marshall angibt.
Erstaunlich brutale Schauwerte und eine plumpe Form von Humor, die in den meisten Szenen nachträglich eingefügt wirkt, dominieren "Hellboy" maßgeblich. Schnell sehnt man sich als Zuschauer nach den ersten beiden "Hellboy"-Verfilmungen von Guillermo del Toro zurück. Unter der ebenso kreativen wie leidenschaftlichen kreativen Anleitung des Mexikaners geriet die Comic-Vorlage von Mike Mignola zum ausgelassenen Spektakel, das trotz härterer Action und bizarr gestalteter Kreaturen nie das pochende Herz dieser Adaptionen übertönte. Del Toros Liebe für die monströsen Außenseiter kulminierte in zahlreichen Momenten leiser Zwischenmenschlichkeit. In Marshalls Vision sind dagegen sämtliche Regler durchgehend auf Anschlag gedreht, während das Drehbuch auf der Leinwand einem unübersichtlichen, dramaturgisch stotterndem Flickenteppich gleicht.
Als wüste Splatter- und Gore-Granate entfaltet der neue "Hellboy" dabei noch am ehesten primitv-mitreißende Qualitäten. Während del Toro das Innenleben seiner Figuren mit spürbarer Hingabe auslotete, lotet Marshall das Innenleben seiner Figuren ebenfalls aus, jedoch deutlich stärker im wortwörtlichen Sinne. Viele Szenen seines Films wirken so, als habe der britische Regisseur sämtliche Möglichkeiten der Körperzerstörung durchexerziert. In Marshalls "Hellboy" werden Menschen und andere Wesen in zwei Hälften gerissen, Haut vom Schädel abgezogen, Kiefer herausgerissen, Gliedmaßen abgetrennt oder Eingeweide regnend über dem Boden verteilt, bis die Altersfreigabe trotz der Nähe zum comichaft Überzeichneten mehrfach an ihre Grenzen gerät.
Ansatzweise Unterhaltungswert generiert das "Hellboy"-Reboot damit lediglich durch eine bisweilen viszerale Kompromisslosigkeit, die an andere Werke des Regisseurs wie "The Descent", "Doomsday" oder Marshalls inszenatorische "Game of Thrones"-Beiträge wie die Blackwater-Schlacht erinnert. Inhaltlich ist "Hellboy" hingegen ein absurd missratener Totalausfall. Dass kurz nach dem Kinostart nun Meldungen aufgetaucht sind, die von massiven Schwierigkeiten hinter der Produktion berichten, verwundert kaum. Während sich die Hauptdarsteller bei den Dreharbeiten am Set spontan eigene Szenen geschrieben haben sollen, wurde dem Regisseur am Ende offenbar komplett der Schnitt entzogen. Als Gesamtwerk präsentiert sich Marshalls Film ähnlich schizophren gespalten zwischen einer persönlichen Handschrift und strikten Studio-Vorgaben wie zuletzt beispielsweise David Ayers DC-Film "Suicide Squad". Szenenübergänge und ganze Handlungsstränge wirken in "Hellboy" wirr und zerschossen, während die Geschichte von Schauplatz zu Schauplatz springt und in zahlreichen Dialogen voller Exposition verzweifelt eine Stringenz für die Handlung sucht, die nie ersichtlich ist.
Vereinzelte Momente in dem Film tragen durchaus Marshalls Handschrift und werden von einem exzessiven Gestaltungswillen unheimlicher Kreationen und drastischer Frontalangriffe geprägt. Andere Szenen, in denen plumpe Kostüme auf miserable CGI-Effekte treffen, wirken dagegen so, als hätten Jason Friedberg und Aaron Seltzer nochmal ein parodistisches Segment für einen ihrer Spoof-Totalausfälle à la "Disaster Movie" gedreht. Während David Harbour seinen teuflischen Protagonisten diesmal mit wesentlich weniger Selbstzweifeln und dafür weitaus infantileren Anwandlungen verkörpert, müssen sich die restlichen Schauspielern mit mindestens ebenso unterentwickelten Rollen zufrieden geben, in denen sie zu kaum mehr als Stichwortgebern und platten Sidekicks verkommen. Marshall oder womöglich eher das Studio versuchen Hellboy selbst zum eigentlichen Star dieses Reboots zu machen, in dem sich der Teufel im Kampf gegen Nimue schließlich gegen eine dunkle Vorhersehung stemmen muss.
Erst gegen Ende findet Marshalls gescheiterte "Hellboy"-Vision noch einmal zu erstaunlichen Bildern, wenn die Hauptfigur zur gehörnten Inkarnation der Hölle erhoben wird und barbarische Dämonen ein apokalyptisch bebildertes Blutvergießen in Gang setzen. Ein später Hoffnungsschimmer der atmosphärischen Eindringlichkeit eines Films, der die meiste Zeit über gegen seinen eigenen unausstehlichen Zwillingsbruder in Form eines ganz anderen Films kämpfen und sich unentwegt gegen diesen geschlagen geben muss.
7 Jahre nach "Spring Breakers" spürt Harmony Korine immer noch dem amerikanischen Traum im sonnen- und neondurchfluteten Florida nach. In seinem Meisterwerk von 2012 waren es noch vier junge Frauen, die sich beim titelgebenden Spring Break gewissermaßen selbst suchten. In einem so noch nie gesehenen Rausch, der gleichzeitig Hommage an sowie Dekonstruktion der gegenwärtigen Jugendkultur darstellte, ließ Korine seinen Cast schlussendlich eine Art neue Bewusstseinsebene erreichen. Zwischen Skrillex-Beats, einer Ausleuchtung ähnlich einer Tüte Skittles, hypnotischen Montagen, die der Regisseur selbst als "liquid narrative" bezeichnete, und James Franco als Scarface einer Post-MTV-Generation schuf Korine nicht weniger als einen der definierendsten Filme für das bisherige 21. Jahrhundert.
In seinem bisherigen Schaffen, das Korine durch Filme wie "Gummo", "Julien Donkey-Boy" und "Trash Humpers" als unerschrockenen Avantgardisten und Porträtisten beklemmender White-Trash-Traumata, jugendlicher Befindlichkeiten und dysfunktionaler Familien auszeichnete, steht "Beach Bum" seinem vorherigen Werk ästhetisch am nächsten. Tatsächlich erscheint der Film wie eine stilistische Fortsetzung von "Spring Breakers", wobei der unreife Rauschzustand heranwachsender Jugendlicher hier eher einem entspannten Dauerzustand der Weggetretenheit weicht. Grinsend und lachend torkelt Matthew McConaughey wahlweise bekifft oder betrunken durch Tag und Nacht, während seine reiche Frau Minnie dafür sorgt, dass sich der schräge Poet diesen (selbst)verschwenderischen Lebensstil mühelos leisten kann. "Beach Bum" entpuppt sich schon von der ersten Minute an als Manifest des Hedonismus, für das der Regisseur Federico Fellinis "La dolce vita" und "The Big Lebowski" der Coens miteinander verschweißt und in eine überspitze Form unserer Gegenwart verlagert, die aussieht wie Florida. In einer Szene des Films beschreibt Minnie ihren Moondog treffend damit, dass er aus einer anderen Dimension stammt. In Wirklichkeit scheint der gesamte Film aus einer anderen Dimension zu stammen, in der sich Korine seine Form von Realität mithilfe von surrealer Situationskomik und skurrilen Details zusammenbastelt. In einer Wolke aus Gras und auf einer Welle von Longdrinks unterliegt "Beach Bum" erneut Korines mittlerweile offenbar bevorzugter Inszenierung eines "liquid narratives", bei dem die einzelnen Szenen betörend ineinanderfließen, während Benoît Debies gewohnt großartige Kamera durch Zeit und Raum schwebt.
Genauso ungebunden schwebt, tanzt, wankt und stolpert auch McConaughey durch die Handlung, die keine ist, um jegliche Anflüge von offensichtlichen Pointen mit einem lauten, langgezogenen Lachen im Keim zu ersticken. Schreiend komisch ist "Beach Bum" alleine deshalb, weil Korine nach seinem eigenen Verständnis sicherlich seine erste Komödie gedreht hat, die wenig überraschend eher einer Anti-Komödie entspricht. Anflüge extrem schwarzen Humors tauchen im bisherigen Werk des Regisseurs ohnehin regelmäßig auf, doch hier gibt sich Korine den absurden Gags so sehr hin, dass sie oftmals verpuffen und abrupt in die nächste Szene überleiten.
Mit ähnlich ausgelassener Freude am Verschwenderischen jongliert der Regisseur zudem sein Ensemble. Darsteller wie Jonah Hill als zugedröhnter Literaturagent, Snoop Dogg als Rapper (!), Zac Efron als drogensüchtiger Christenrock-Liebhaber und Bartträger, für den Korine durch ein Panini-Sandwich inspiriert wurde, oder Martin Lawrence als Kapitän und Touristenführer, der von Delfinen besessen ist, tauchen jeweils lediglich für fünf oder zehn Minuten auf. Bloße Randerscheinungen, die ähnlich flüchtig wie der 95 Minuten lange Film am Zuschauer vorbeirauschen. Die Kunst von Korine besteht jedoch darin, dass sich eine improvisiert wirkende Fingerübung wie "Beach Bum" in keiner Szene erschöpft, sondern den Trip in jeder Sekunde als Stilprinzip auskostet. Der amerikanische Traum ist für den Regisseur dabei selbst längst zur größten Pointe geworden, die Korine mit seinem Protagonisten Moondog spöttisch zerlegt. Selbst dramatische Einschläge wie ein überraschender Verlust, der den benebelten Poeten auf den Boden der Tatsachen zurückholen soll, lösen sich Minuten später in Luft auf. Den Gedanken, dass unsere Welt heutzutage im Chaos versinkt, verkehrt Korine dabei bis zuletzt ins radikale Gegenteil. Nach dem letzten Akt, der ein Kapital verschlingendes Feuer auf hoher See entfacht, hallen immer noch Moondogs entscheidende Worte durch den Kopf des Betrachters: "I'm quite certain that the world is conspiring to make me happy.”
[...] Gerade im illustren Figurenensemble von Burtons Realfilm spiegelt sich die Liebe des Regisseurs zu skurrilen Randfiguren ebenso wieder wie in den staunenden Augen der Kinderfiguren, die dieser immer wieder zum Strahlen bringt. Die Geschichte von Dumbo, der sich vom entstellten Kuriosum in den fliegenden Star der Zirkusmanege verwandelt, bleibt jedoch überwiegend im erzählerisch glattgebügelten Rahmen der Disney-Umzäunung gefangen. Zwischen Tricktechnik, die dem Film eine bisweilen störend auffällige Künstlichkeit verleiht, und Figuren, die sich viel zu leicht in das gewohnte Gut-/Böse-Schema eingliedern lassen, wird Dumbo zum gefällligen Abenteuer, in dem die markante Handschrift des Regisseurs zu oft von seichter Unterhaltung verdeckt wird. Wenn der hinterlistige Unternehmer V.A. Vandevere schließlich auf den fliegenden Elefanten aufmerksam wird und den tierischen Star mitsamt dem kompletten Zirkus Medici in seinen riesigen Vergnügungspark aufnehmen will, lässt sich Dumbo kurzzeitig auch als subversiver Meta-Film deuten, der Burtons eigenes Schicksal im Angesicht der strengen Disney-Richtlinien widerspiegelt. [...] Während die versehentliche Betrunkenheit von Dumbo im Zeichentrickfilm in eine überbordende Trip-Sequenz ausufert, in der der Elefant unter anderem auch von pinken Elefanten heimgesucht wird, muss Burton die Szene in seinem Realfilm als harmlose Zirkusnummer inszenieren, in der Dumbo zur Musik der tanzenden Seifenblasen-Elefanten fröhlich mitwippt.
Menschen reduziert Jan Bonny in seinem schockierend intensiven Drama "Wintermärchen" oftmals auf reine Körper. Körper, die unentwegt Schreie ausstoßen anstatt deutliche Sätze auszusprechen, wie nacktes Fleisch aufeinanderklatschen und im Glimmen der natürlichen Beleuchtung kaum zu erkennen sind, während sie im Rausch des Alkohols und Tötens kaum konkreter erscheinen könnten.
Die Hauptfiguren des Films sind Tommi und Becky, die sich irgendwo in Köln im selbsterrichteten Untergrund aufhalten. Mit Untergrund ist ihre karge Mietwohnung gemeint, in der das Pärchen eher haust als lebt. Ein Kühlschrank, der nie gefüllt ist, ein Leben nahe der sozialen Verwahrlosung und ein brodelnder Hass auf Ausländer überschatten in "Wintermärchen" nur beinahe die verzweifelte, deprimierende Lage der Protagonisten. Eine gemeinsame Sprache finden Tommi und Becky nur in Aggression, Gewalt und dem Ausleben niederster Triebe. Immer wieder ist es dabei er, der sich in ihren Augen als noch größerer Versager erweist.
Tommi bekommt beim Sex, den Bonny ohne jegliche Anflüge von Erotik oder Hang zum Pornografischen inszeniert, keine Erektion, während sie regelmäßig in Tränen ausbricht, sobald niemand hinsieht. Und von einem Moment auf den nächsten tritt auch noch Maik in das Leben des Pärchens, ein leicht älterer Parasit, der beide sowohl durch seine Erscheinung als auch sein Verhalten erst recht aneinander zugrunde gehen lässt. Der Sex, den sich Becky von Tommi wünscht, bietet Maik der jungen Frau ebenso wie Tommi das Ausüben gezielter Tötungen, bei denen Becky ihrem Freund bislang noch nicht zur Seite stand.
Gemeinsam wandelt sich das Trio in Bonnys schonungslos rohem Werk endgültig zur rechtsextremen Terrorgruppierung, die in eine wiederkehrende Spirale aus Sex, Alkohol und Mord gerät. In seiner konsequenten Verfolgung dieses verrohten Kreislaufes entpuppt sich "Wintermärchen" als ein im besten Sinne unzumutbarer Film. Bonny selbst hatte vor der Entstehung den NSU-Prozess in München besucht, bei dem er die angeklagten Täter als kaum greifbare Monstrositäten begriff. Sein Film sollte kein expliziter Film über den Nationalsozialistischen Untergrund werden und ist am Ende doch zweifelsohne ein politischer Film geworden.
Ohne komplexere Zusammenhänge beleuchtet der Regisseur die weitläufigen Strukturen des NSU-Netzwerks ebenso vage wie er staatliche Institutionen in diesem Zusammenhang unangetastet lässt. "Wintermärchen" ist vielmehr der radikale Gegenentwurf zu Fatih Akins NSU-Drama "Aus dem Nichts", in dem der Regisseur den NSU-Schrecken aus der Perspektive eines der Opfer schilderte. Bonnys Figuren sind gewissermaßen auch Opfer ihrer sozialen Umstände, doch Becky, Tommi und Maik werden von dem Regisseur viel stärker als eindeutig zu verurteilende Täter dargestellt. Zunehmend verschwimmen in "Wintermärchen" Züge einer sadistischen Milieustudie mit tragischen Pfeilern eines Beziehungsdramas zwischen den drei Hauptfiguren. Ganz ohne Musikuntermalung wird das ständige Schreien und Brüllen zur eigenen Tonkulisse dieses vermutlich am schwersten erträglichen deutschen Films 2019. Darin lotet der Regisseur die ausweglose Brutalität und sinnlose Motivation seiner anstößigen Figuren primär über innere Konflikte und sich ständig verschiebende Machtverhältnisse aus, bis die Geschehnisse ein weiteres Mal in dem Ableben anonymer ausländischer Bürger münden. Bonnys Film, der passenderweise jegliche Form von Ästhetisierung oder Stilisierung umgeht, bietet aufgrund seines extremen Ansatzes, der mit dem Verhalten seiner Figuren durchaus im Einklang steht, mehr als genug Reibungsfläche. Einen schonungsloseren Blick in den Abgrund der deutschen Seele als verlorene Nation hat das deutsche Kino in diesem Jahr neben "Der goldene Handschuh" aber vermutlich nicht mehr zu bieten.
Tilman Singers Spielfilmdebüt "Luz" schwebt anachronistisch zwischen Zeit und Raum und lässt sich eher über seine Stimmung als seine Geschichte greifen. Für den noch jungen Nachwuchsregisseur ist es die Diplomarbeit an der Kunsthochschule für Medien in Köln, was sich in jeder Einstellung dieses Werkes widerspiegelt. "Luz" wird ebenso von einem überbordenden Willen zur Experimentierfreude geprägt wie der Film zugleich eine große Freiheit in sich trägt, wie sie häufig von Debütfilmen ausgeht.
Direkt zu Beginn, wenn die titelgebende Spanierin in einer deutschen Polizeistation eintrifft und sich im gefühlten Zeitlupentempo durch den Raum bewegt, präsentiert sich "Luz" als Grenzgänger zwischen Tagtraum und Alptraum. Die grobkörnigen 16mm-Bilder und der unheilvoll anschwellende Synthesizer-Score erinnern an die audiovisuelle Gestaltung des Horrorfilms der 70er- und 80er-Jahre, während die Hauptfigur mit ihrer umgedreht aufgesetzten Baseball-Cap eher dem modischen Style der 90er entspricht. Ehe sich der Betrachter an diesen ohne Schnitte mit hypnotischer Langsamkeit inszenierten Auftakt gewöhnen kann, entführt "Luz" umgehend an einen neuen Schauplatz. Eine Bar irgendwo im Nirgendwo, über der nur das unaufhörliche Rattern einer Straßenbahn zu vernehmen ist, dient als Ort der Täuschung und Verführung, wenn eine junge Frau namens Nora, die klassiche Femme Fatale, dem Polizeipsychologen Dr. Rossini die Geschichte einer Freudin erzählt. Bei dieser Freundin handelt es sich um jene Luz aus der Anfangsszene, die Taxifahrerin ist, aber eigentlich mit Nora eine Klosterschule besucht hat.
Offenbar war Luz in zwei mysteriöse Vorfälle verwickelt, die mit einem dämonischen Ritual und ihrem Sprung aus dem fahrenden Taxi zusammenhängen, doch wirklich konkret werden die Hintergründe in Singers Film nie. Von sich selbst sagt der Regisseur, dass es ihm oftmals schwer fallen würde, dem Plot in Filmen zu folgen. Dieses Verhalten hat er daher bewusst als Motiv für seinen Diplomfilm ausgewählt, der ebenfalls frühzeitig so wirkt, als würde der Betrachter immer wieder bedeutende Teile der Handlung verschlafen und müsste sich minütlich neu orientieren.
Im Mittelteil des Films, der sich im Verhörraum der Polizeistation ereignet, entrückt Singer "Luz" endgültig jeglicher Form von Realität. Ein Verhör, bei dem ein sichtlich veränderter Dr. Rossini eine verwirrt-traumatisierte Luz nach den vergangenen Ereignissen befragt und mithilfe von Hypnose zu steuern versucht, führt zum Überblenden zwischen der Gegenwart auf der Bild- und der Vergangenheit auf der Tonebene.
Auch wenn die Beteiligten den Raum nie verlassen, kreist der Erzählfluss von "Luz" immer wieder um die gleichen inhaltlichen Bezugspunkte. Dabei entpuppt sich Singers Werk auf vielschichtige Weise als Reise in die Vergangenheit. Der Film ist gleichzeitig eine Reise in die neblige Vergangenheit von Luz, die immer wieder durch mehrere Perspektivwechsel verschwimmt, wie auch eine Reise durch die filmgeschichtlichen Epochen und Stilrichtungen. Dämonische Besessenheit und blutiger Körperhorror aus dem Kino von David Cronenberg und John Carpenter wechseln sich mit surrealistischen Montagen, betörenden Close-Ups sowie unterbewusst-befremdlichen Stilmitteln des italienischen Horrorfilms und Giallo ab.
Dass "Luz" bisweilen so wirkt, als habe Singer die Idee für einen Kurzfilm auf 70 Minuten Spielfilmlänge gestreckt, ist das typische Symptom eines Debütfilms, das ein aufstrebendes Talent genauso radikal entfesselt zeigt wie als noch nicht vollends ausgereifte Regie-Stimme zwischen aufregenden Ambitionen und vertrauten Einflüssen. Als kurioser, seltsam eigensinniger sowie dezent verstörender Trip in die fragmentierten Erinnerungen einer von Schuld geplagten Seele stellt "Luz" aber zweifelsohne eine kurzweilig-intensive Seherfahrung dar.
Scary Movie 6
Zwei Schüsse besiegeln für Qiao ein tragisches Schicksal. Zuvor hatte die Freundin des lokalen Gangsterbosses Bin Waffen noch verurteilt und das Leben in der Unterwelt als überhöhten Mythos aus Filmen kleingeredet. In Jia Zhangkes "Asche ist reines Weiß" befindet sich Qiao aber schließlich selbst in einem solchen Film, als Attentäter ihrem Partner wiederholt nach dem Leben trachten. Plötzlich wandelt sich Zhangkes intimes Liebesdrama, das ganz zaghaft um die Möglichkeiten des Genre-Films herum tänzelt, während sich die Kamera von Eric Gautier wiederholt in den tanzenden Bewegungen der Figuren verliert, für wenige Minuten in einen brutalen Action-Thriller.
Zuerst ist es Bin, der aus dem Auto steigt, um es eigenhändig mit den gefährlichen Mitgliedern der Jugendgang aufzunehmen, von der sie auf Motorrädern verfolgt wurden. Nachdem es danach aussieht, als würden die Angreifer dem Gangsterboss das Leben aus dem Leib prügeln, steigt Qiao ebenfalls aus dem Fahrzeug und feuert zwei Schüsse in die Luft ab. Schüsse der Warnung, durch die niemand außer Qiao selbst zu Schaden kommt. Fünf Jahre wird die Protagonistin von "Asche ist reines Weiß" dafür im Gefängnis verbringen müssen, während Bin bereits ein Jahr früher entlassen wird und anschließend aus Qiaos Leben verschwindet.
Mit einem Zeitsprung, der nicht der letzte bleiben wird, spürt der Regisseur nach Qiaos Entlassung der leisen Spurensuche dieser Frau nach, die zwischen ungeklärten Fragmenten ihrer Vergangenheit und dem unaufhaltsamen, sichtbar voranschreitenden Wandel des modernen Chinas durchs Land reist. Ihr Verlangen, Bin nach all den Jahren wiederzusehen, inszeniert Zhangke als Erzählung über die Einsamkeit, konkret verortet in der Entfremdung voneinander und in der Entfremdung von Orten, die früher einmal so etwas wie den Begriff der Heimat trugen. Der Regisseur schildert beiläufig ein China des Fortschritts, der sich kaum als positiv bezeichnen lässt, wenn ganze Städte durch den ansteigenden Wasserspiegel dem sicheren Untergang geweiht sind und Menschen aus Berufsfeldern wie der Kohleindustrie in die Krise der Arbeitslosigkeit geraten.
Universelle Befindlichkeiten projiziert Zhangke dabei geschickt auf seine beiden Hauptfiguren. Im Verlauf der Geschichte, die sich von 2001 bis 2018 grob über drei Episoden erstreckt, macht der Regisseur den Fortschritt und Wandel Chinas in den Gesichtern von Qiao und Bin sichtbar. Während beide in den vielen frühen, gemeinsamen Szenen Ruhe, Gelassenheit und Zuneigung zueinander ausstrahlen, wirken sie zunehmend ratloser, resignierter und überforderter. Lange Zeit sind beide getrennt, wenn Qiao die melancholische Suchende und Bin der stumm Verschwundene ist. Das Wiedersehen nach Jahren führt beide in ein Hotelzimmer, geschützt vor dem unaufhörlichen Regen außerhalb dieser vier Wände und doch schonungslos den eigenen Gefühlen ausgeliefert. Unsicher berührt er die linke Hand der Frau, die wie ein anderer Mensch vor ihm sitzt, und spricht von dieser Hand, die ihm vor Jahren das Leben gerettet hat. Dabei war es die rechte Hand, mit der Qiao die Schüsse abgefeuert hat.
Ein Missverständnis, das ihre Beziehung treffend einfängt, die Qiao später im Film, als beide die Rollen getauscht haben, weder als Liebe noch als Hass beschreiben wird. Stattdessen würde sie ihm gegenüber nichts als Leere empfinden. Zusammengeführt werden sie von Zhangkes Montagen nichtsdestotrotz immer wieder, als gäbe es da eine unsichtbare Abhängigkeit, die niemals ganz verschwinden kann. Das komplexe Gefühlsflecht in "Asche ist reines Weiß", das zwischen Liebe, Einsamkeit, Schmerz und Verlust pendelt, ist am Ende ähnlich flüchtig wie das Leuchten eines UFOs, das nahezu selbstverständlich über Qiao hinwegfliegt.
[...] Noch offensichtlicher als zuvor in Get Out orientiert sich Peele für Wir an klaren Horror-Stilrichtungen, wenn sich die Geschichte bedrohlich zwischen intimem Home-Invasion-Terror und blutigem Slasher auf weiter Spielwiese hin und her schlängelt. Mit der Unterstützung seines Kameramanns Mike Gioulakis, der unter anderem für die Bilder von It Follows und Glass verantwortlich ist, und einem für das Genre bemerkenswert aussdrucksstarkem Cast legt der Regisseur größeren Wert auf den langfristigen Klammergriff des Unbehagens anstelle von ständigen, kurzen Schocks. Dass Peele einige Horror-Momente von Wir mit humorvollen Einschüben aufbricht, ohne den Film jemals in unpassend alberne oder allzu selbstironische Gefilde abdriften zu lassen, ist ein weiterer Kunstgriff des Regisseurs, der bereits in seinem erst zweiten Spielfilm eine klare Handschrift erkennen lässt. Mit dem fortschreitenden Verlauf der Handlung wird zudem klar, dass der Zuschauer mit Wir wie auch schon bei Get Out keineswegs nur einen simplen Horrorfilm zu sehen bekommt. War der Vorgänger noch eine mit den Mitteln des Genres ins Groteske verzerrte Parabel über eine moderne Form der Sklaverei, ist Wir in seiner Kernaussage weitaus universeller angelegt. Vielmehr richtet Peele seinen Blick diesmal auf eine Gesellschaft, die den anklagenden Zeigefinger am liebsten auf sich selbst richtet. Inmitten der zunehmend apokalyptischeren Zustände äußert einer der terrorisierenden Doppelgänger daher in einer Szene des Films konsequent den Satz: Wir sind Amerikaner. [...]
Bislang stand der französische Regisseur Jacques Audiard kaum für Genrefilme. Sein neuestes Werk "The Sisters Brothers" ist trotzdem einer geworden. Nach Charakterdramen wie "Der Geschmack von Rost und Knochen" oder "Dheepan" hat der Filmemacher einen Western gedreht, der jedoch selten ein typischer Western sein will. Direkt am Anfang beginnt "The Sisters Brothers" mit einem Schusswechsel, von dem der Betrachter wiederum wenig zu sehen bekommt. Mitten in der Nacht eröffnet Audiard seinen Film um die titelgebenden Sisters-Brüder, die 1851 als Auftragskiller durch den Wilden Westen streifen. Für ihren Auftraggeber, der Commodore, finden und töten sie jede Person, die ihnen als profitables Ziel genannt wird.
Brutal gestorben wird auch in Audiards Western zur Genüge, doch im Film des Franzosen geschieht dies mit einer makaberen Beiläufigkeit und verstreuten Willkürlichkeit, die bisweilen an den trockenen Humor der Coens erinnert. Von seinen Charakterstudien löst sich Audiard glücklicherweise ebenso wenig. Mit John C. Reilly und Joaquin Phoenix hat der Regisseur die passenden Charakterköpfe besetzt, die sich voll und ganz auf ihre dramatischen und humorvollen Facetten verlassen dürfen, um Eli und Charlie Sisters zu verkörpern. Während Reilly den älteren spielt, ist er im Vergleich zu seinem Bruder der sensiblere von beiden. Charlie hat dagegen ein unübersehbares Alkoholproblem, durch das er sich prahlend durch Bars und Salons säuft, flucht und schläft, bis ihm sein Bruder wieder einmal den Kopf aus der Schlinge ziehen muss.
Ihr nächstes Kopfgeld jagen die Sisters in Audiards Film in Form des Chemikers Hermann Kermit Warm, der eine Formel entdeckt haben soll, um Gold in Flüssen sichtbar leuchten zu lassen. Parallel zu Eli und Charlie hat der Commodore außerdem den von Jake Gyllenhaal gespielten John Morris entsandt, der zu der Zielperson schnell Kontakt aufnimmt und Warm zu den Brüdern locken soll. "The Sisters Brothers" nutzt diesen neuen Auftrag von Eli und Charlie mit elegisch-entschleunigter Erzählweise vor allem dazu, die Beziehung zwischen den Brüdern tief zu durchleuchten. Gleichzeitig spiegelt er die persönlichen Laster der Protagonisten auch an den Gefahren ihres unwirtlichen Umfelds, wenn Eli eines Nachts beispielsweise eine Giftspinne in den offenen Mund krabbelt. In der Dekonstruktion klassischer Western-Elemente findet Audiard hingegen seinen ganz eigenen Rhythmus, der gewohnte Motive wie den damaligen Goldrausch und das Versprechen der ewigen Weite unendlicher Prärien ab absurdum führt.
Tatsächlich wird "The Sisters Brothers" später, nachdem sich die Wege der vier wichtigsten Figuren schließlich kreuzen, kurzzeitig fast schon zum Märchen, wenn die goldenen Steinchen im Fluss hell erleuchtet werden. Zugleich nutzt der Regisseur diese Errungenschaft für seine drastischste Pointe, wenn sich sein Film kurz vor dem eigentlichen Finale zur im wahrsten Sinne des Wortes ätzenden Parabel über die unersättliche Gier der Figuren wandelt. An purem Zynismus ist Audiard jedoch keinesfalls interessiert. "The Sisters Brothers", der die gewohnt wortkargen, kaum psychologisierten Revolverhelden des Genres zu traumatisierten Plappermäulern macht, verschränkt die offene Weite des Wilden Westens in den vielen Nahaufnahmen von Benoît Debie auf ein intimes Minimum, das die Brüder in Hinblick auf ihre Zukunft vor allem vor die Frage stellt: "...what then?". Eine Umarmung zu dritt gibt ganz am Ende die Antwort.
Mit dem Kopf gegen die Wand, sich wieder aufrappeln, weiter rennen und doch wieder hinfallen. Sein Spielfilmdebüt "Mid90s" beginnt Jonah Hill ganz bildlich mit dieser Metapher für eine Jugend, die jeder kennen dürfte, der sich an seine Kindheit erinnert. Zu sehen bekommt der Zuschauer den 13-jährigen Stevie in der ersten Szene, als dieser tatsächlich mit dem Kopf gegen die Wand springt, während er vor seinem älteren Bruder Ian auf der Flucht ist. Einige brutale Schläge später betrachtet er die sichtbaren Hämatome an seinem Körper mit einer Mischung aus Bewunderung und Schmerz.
Hill, der für "Mid90s" vom Schauspieler zum Regisseur gewechselt ist, widmet sich in seinem spürbaren Herzensprojekt einem ganz spezifischen Teil der Kindheit, den er in eine noch spezifischere Zeitperiode eingliedert. Mit 16mm-Bildern im fast quadratischen 4:3-Format lässt der Regisseur ein vergangenes Los Angeles aufleben, das in grobkörnigen Impressionen, sonnendurchfluteten Eindrücken und naiven Erinnerungsfetzen erstrahlt. "Mid90s" dürfte unweigerlich einen gewissen Nerv beim Publikum treffen, da er atmosphärisch in eine Zeit zurückführt, die gerade in der aktuellen Mode wieder ein deutliches Comeback feiert. Gleichzeitig erinnert der Film an eine Ära, die ohne die ständige Präsenz von Smartphones und Online-Abhängigkeit an eine noch nicht allzu lang zurückliegende und doch wertvolle Phase kurz vor dem Übergang erinnert.
In einer Phase des Übergangs befindet sich auch Hauptfigur Stevie in seinem Leben. Früh in Hills Film bemerkt er zum ersten Mal die Kids auf der anderen Straßenseite, die er in dem Skateshop aufsucht, in dem die Gruppe regelmäßig abhängt. Trotz seiner schweigsamen, schüchternen Art wird der sympathische Stevie, der durch seine Art zunächst so gar nicht zum Rest der Clique passen mag, Teil dieser Jugendlichen, die rauchen, Alkohol trinken, sich alle möglichen Schimpfwörter um die Ohren werfen und skaten.
"Mid90s" versteht sich durch diese Szenen, in denen Stevie gewissermaßen in eine neue, aufregende Welt eintaucht, ebenso als Milieustudie des typischen Skater-Lifestyles wie als einfühlsame Coming-of-Age-Geschichte. Eine wirklich zusammenhängende Handlung besitzt Hills Film nicht. Viel lieber reiht der Regisseur lose Situationen aneinander, die das Bild einer Jugend im Los Angeles Mitte der 90er-Jahre zeigen, die von Hochgefühlen genauso wie von Tiefschlägen geprägt wird.
Zwischen Turtles-Bettwäsche, Ren & Stimpy-Shirts, Mobb Deep-Postern, Fat Joe-CDs, Nike-Sneakern und dem passenden Soundtrack-Mix aus dem Wu-Tang Clan, Nirvana, den Beastie Boys oder Public Enemy ist "Mid90s" jedoch mehr als pure nostalgische Verklärung. Hill bettet die Zeichen und Codes des kollektiven 90s-Bewusstseins darüber hinaus in eine Geschichte ein, die so wirkt, als hätte Larry Clark "Lady Bird" gedreht. Ohne Kompromisse in beide Stilrichtungen eingehen zu müssen, hat der Schauspieler als Regisseur ein erstaunlich reifes Langfilmdebüt geschaffen. Geradezu überdimensionale Gesten scheut Hill in Form vereinzelter Zeitlupen-Montagen genauso wenig wie es ihm gelingt, mithilfe von kleinen Ausschnitten Großes zu erzählen. Immer wieder zeichnet er in dem gerade mal 85 Minuten langen Film Charakterporträts der Figuren mit dünnen Bleistiftstrichen und kreiert trotzdem keine unfertigen Skizzen, sondern facettenreiche Porträts. "Mid90s" ist so angenehm reduziert und doch präzise auf den Punkt gebracht, wie man es in letzter im Kino vermisst hat.
Hill hangelt sich an Situationen entlang: Der aggressive, größere Bruder, der sich in Wahrheit als frustrierter, unverstandener Einzelgänger ohne Freunde entpuppt, die Hauspartys, auf denen Mädchen aus der Sicht der Heranwachsenden als begehrenswerte Geheimnisse warten, oder die Dynamik innerhalb der Clique, in der sich ein wortloses Füreinander mit herben Konkurrenzkämpfen und tiefer Verletzlichkeit vor fragwürdigen Posen abwechselt. Daraus entstanden ist ein Film, der das Gefühl des Ankommens unentwegt neben das Gefühl des ziellosen Herumwanderns stellt. Leicht hätte aus "Mid90s" eine schnell unerträgliche 90s-Motto-Party werden können. Geschaffen hat Hill stattdessen ein atmosphärisch vereinnehmendes Relikt einer Jugend im Sonnenlicht und zugleich auf der Schattenseite des Lebens.
Der Irrationalität des Dämonischen eine banale Maske zu verleihen ist das Ziel, das Bartosz M. Kowalski mit "Playground" verfolgt. Für die Handlung seines Films hat sich der polnische Regisseur an dem realen Mordfall von James Bulger orientiert, der 1993 in England im Alter von nur 3 Jahren von zwei 10-jährigen Schulkindern entführt, gefoltert und ermordet wurde. In Bezug auf die Auflösung von "Playground" mag diese Information einen gewaltigen Spoiler darstellen, doch das Marketing und die im Anschluss an Festivalvorführungen entfachte Berichterstattung kam um die Erwähnung dieses Vorfalls ebenso wenig herum.
Lange Zeit ist die Tat, die in Kowalskis Werk wie aus heiterem Himmel über den Zuschauer hereinbricht, kaum zu erahnen. Unterteilt in mehrere Kapitel, die zunächst die Namen der zentralen Figuren tragen, ist der Film als dokumentarisch inszeniertes Sozialdrama strukturiert. Aus England überträgt der Regisseur die Geschichte ins gegenwärtige Polen, wo sich Kowalski speziell auf das Leben dreier Schulkinder konzentriert. Da ist Gabrysia, die offensichtlich aus dem behütetsten Haushalt der noch folgenden Einzelschicksale stammt. Zu sehen ist das Mädchen in Schuluniform vor dem Spiegel, wie sie sich am Morgen die Lippen schminkt. Einen ersten Riss erhält die denkbar unspektakuläre Fassade jedoch in der darauffolgenden Szene, wenn Gabrysia einen großen Schluck heißes Wasser trinkt, fast so, als würde sie sich bestrafen und zugleich einer Mutprobe unterziehen. Einem ganz ähnlichen Muster folgen auch die weiteren Kapitel, in denen es um die Jungs Szymek und Czarek geht.
Kowalski zeigt Ersteren als verschlossenen, aber fürsorglichen Sohn, der sich alleine um seinen körperlich behinderten, im Rollstuhl sitzenden Vater kümmert. Inmitten der Tristesse polnischer Plattenbausiedlungen blitzt auch hier eine deutliche Abgründigkeit auf, als der Junge plötzlich auf den Vater einschlägt, bevor er zur Schule aufbricht. Aufgrund dieser Szenen wird früh deutlich, dass Kowalskis Konzept nicht aufzugehen scheint. Der Regisseur nimmt sich eine reale Tragödie voller unerklärlicher Grausamkeiten zum Vorbild, die nur durch das Lesen der dazugehörigen Berichte für Fassungslosigkeit sorgt, um den Bulger-Mord in ein sprödes Arthouse-Drama zu verwandeln, das weder als subtile Beobachtung noch als schockierendes Manifest des Bösen funktioniert.
Trotz des Ansatzes, die im Finale erfolgende Tat hinter alltäglichen Szenenfolgen zu verbergen, ist "Playground" voller Klischee-Bilder der psychologischen Bedenklichkeiten. Insekten, die mit einem Brennglas getötet werden, ein Hund, der mit Fleisch geärgert und eine Mülltonne gelockt werden soll, Aufnahmen von Czarek, der mit einem permanent schreienden, kleinen Bruder in einer Problemfamilie aufwächst und sich am Morgen der Handlung den Kopf kahl rasiert.
An plakativer Symbolik spart der Regisseur ebenso wenig wie an einer Dramaturgie der zweifelsfreien Verkettung sich immer weiter steigernder Eskalationen. Auch Gabrysia, die sich in Szymek verliebt hat und ihm ihre Gefühle endlich unter vier Augen in den abgelegenen Ruinen außerhalb des Schulhofs gestehen will, wird gegen Ende des Films zum gedemütigten Opfer dieser Jungs werden, deren Gesichter in Nahaufnahmen einem regelrecht teuflischen Antlitz gleichen.
Konkrete Motive für die schlussendliche Tat mag Kowalski aussparen, doch sein Finale verärgert weiterhin durch die Wahl der Inszenierung, die Distanz und Schock auf inkonsequenteste Weise vereint. Ohne Schnitte lässt der Regisseur das Verbrechen in Echtzeit ablaufen, während die Kamera viele Meter entfernt verweilt und das Geschehen statisch einfängt. Was sich nicht erklären, sondern nur zeigen lässt, hüllt der Regisseur in eine unentschlossene Ästhetik, die schockieren und trotzdem weiterhin einen kühl distanzierterten Kunstfilm suggerieren will. Die möglichst realistische Provokation wird endgültig zur kalkulierten Inszenierung. Ein neuer Michael Haneke ist Bartosz M. Kowalski nicht.
Wie eine Mischung aus "Sicario" und "Apocalypse Now" entfaltet sich J.C. Chandors neuer Film "Triple Frontier", in dem ein von Charlie Hunnam gespielter Ex-Soldat als Motivationsredner vor einer Gruppe von Soldaten spricht, die einem ähnlichen oder noch wesentlich verheerenderem Schicksal wie er entgegenblicken werden. Ruhig und emotionslos erzählt dieser William Miller davon, dass der Krieg auch nach seiner Zeit beim Militär wohl auf ewig unauslöschlich in seinem Kopf eingebrannt ist. Vor Jahren hat er einen anderen Mann in der Öffentlichkeit fast zu Tode gewürgt, nur aufgrund der Tatsache, dass dieser sein geparktes Auto nicht wegfahren wollte.
Von diesen Menschen, denen als junge Männer ihre Jugend geraubt wurde und die das Töten und Sterben als alltägliche Gegebenheit akzeptieren sollten, erzählt Chandor in seinem Film, der fünf ehemalige Militär-Kameraden noch einmal vereint. Es ist eine dieser typischen Men-on-a-Mission-Ausgangslagen, die der Regisseur über die erste Hälfte von "Triple Frontier" hinweg als klassisch inszenierten Thriller sowie elegisch in Fahrt kommenden Heist-Film ausbreitet. Gemeinsam will das Team rund um Santiago "Pope" Garcia, Tom „Redfly“ Davis, Francisco „Catfish“ Morales, William „Ironhead“ Miller und dessen Bruder Ben Miller das Versteck eines Kartelbosses irgendwo im Dschungel von Südamerika infiltieren. Rund 75 Millionen Dollar hat der Gangster, der bei dem Einsatz als einziger ausgeschaltet werden soll, angeblich dort versteckt.
Entgegen der verständlichen Erwartungshaltung, dass sich hinter "Triple Frontier" ein launiges Söldner-Spektakel im Stile eines "The Expendables" verbirgt, hat Chandor den Film in der tiefgründigen Tradition seiner bisherigen Werke realisiert. Darin befanden sich die Figuren ebenfalls schon mit dem Rücken zur Wand am Rande des persönlichen Untergangs ("Margin Call"), auf der hoffnungslosen Schwelle zwischen Leben und Tod ("All Is Lost") sowie im Kampf um die eigene Existenz zwischen Beruf und Familie abseits des Gesetzes ("A Most Violent Year").
"Triple Frontier" fügt sich nun nahtlos in das bisherige Schaffen des Regisseurs ein. Wieder porträtiert Chandor Figuren, die aus ihrer gebrochenen Vergangenheit heraus erneut in einen Kreislauf aus Gier, Gewalt und Moral geraten, während sie immer weiter in das titelgebende Grenzgebiet zwischen Brasilien, Peru und Kolumbien vorstoßen. Dabei wirkt die Natur des Dschungels, der unerforschte Geheimnisse und tödliche Gefahren ausstrahlt, wie ein eigener Charakter in dieser Erzählung, die ähnlich der Romanvorlage von Francis Ford Coppolas "Apocalypse Now" direkt mitten ins Herz der Finsternis führt.
Mit den anfänglichen Szenen in Amerika, durch die der Regisseur seine Figuren kurz und knapp charakterisiert, erweckt "Triple Frontier" ohnehin bereits den Eindruck, dass hier verlorene Existenzen lediglich ihrem logischen Schicksal entgegenströmen. In einer Szene setzt der von Ben Affleck gespielte Chef-Stratege Tom seine jugendliche Tochter vor der Schule ab. Ein leises "I love you" haucht der geschiedene Vater, der die Rechnungen kaum noch bezahlen kann und nur noch in der Garage seines eigenen Hauses lebt, dem Mädchen hinterher. "I miss you" erwidert seine Tochter nur, bevor sie sich umdreht und davon läuft.
Auch wenn die Figuren im weiteren Verlauf der Geschichte, die Chandor mit elektrisierenden Spannungssequenzen und rar gesäten, aber dafür umso eindringlicheren Action-Momenten versieht, kaum zusätzliche Tiefe erhalten, genügen diese frühen Szenen als Eindruck einer nahezu gespentischen Tragik. In den Tiefen des Dschungels wirken die Protagonisten in "Triple Frontier" oftmals wie durchsichtige Phantome, aus denen längst jegliche Menschlichkeit gewichen ist, während sie im nächsten Moment immer noch in präzise Killermaschinen umschalten können. Konfrontiert mit Situationen, in denen sie innerhalb von Sekunden über Leben und Tod entscheiden müssen und wo die Gier nach dem Geld als abgründiger Ansporn dient, wirft Chandor die Frage auf, inwiefern die Gesellschaft selbst die Schuld daran trägt, dass solche drastischen wie traurigen Schicksale geboren werden, während gleichzeitig die Verantwortung und Moral jedes Einzelnen verhandelt wird.
So mag das Ende von "Triple Frontier" durchaus deplatziert wirken, wenn Chandor in den letzten Minuten plötzlich unerwartet versöhnliche Töne anschlägt. Und doch besitzen diese finalen Momente eine aufrichtige Ehrlichkeit, wenn sich diese Männer zusammen dazu entschließen, wenigstens ein einziges Mal die richtige Entscheidung treffen zu wollen.
Eine recht frühe Szene im neuen MCU-Blockbuster "Captain Marvel" deutet an, was hinter den qualitativ stark voneinander abweichenden Einzelteilen für ein großer Film verschüttet liegt. Es ist der Moment, in dem sich die titelgebende Superheldin noch auf ihrem Heimatplaneten Hala befindet. Hier begibt sich die Kree-Soldatin zu Beginn auf eine Rettungsmission, bei der sie von den Skrull gefangen genommen wird. Mit einer speziellen Technologie werden ihre Erinnerungen angezapft, in denen die außerirdischen Gestaltwandler nach Resten einer anderen Technologie für einen Lichtgeschwindigkeitsantrieb suchen.
In diesen Szenen, in denen der Film von Ryan Fleck und Anna Boden durch verschiedene Zeitebenen und Lebensphasen aus den Erinnerungen der Protagonistin wirbelt, verformt sich "Captain Marvel" zu einem Rausch an Farben und Eindrücken. Kurzzeitig setzt das Regie-Duo ein Puzzle aus Kindheitsfrustrationen, prägenden Erlebnissen und euphorischen Hochgefühlen zu jenem Abdruck einer Identität zusammen, nach der sich die Heldin fast den gesamten Film lang begeben muss. Am Anfang von "Captain Marvel" trägt sie noch den Namen Vers, ein Überbleibsel, nachdem der Rest ihres vollen Namens Carol Denvers entfernt wurde. Im Gegensatz zu den gängigen Origin-Stories, in denen überwiegend gewöhnliche Menschen zu Superhelden werden, stellt der 21. Franchise-Beitrag die Formel auf den Kopf und schildert den Weg der übermächtigen Heldenfigur zurück zu ihrer Menschlichkeit.
Dabei werden der Hauptfigur jedoch einige Steine in ihren Weg gelegt, die sich aus den altbekannten Strukturen des MCU ergeben. Genauso wie der Zuschauer zu Beginn mit Captain Marvel in die Schlacht auf ihrem Heimatplaneten geworfen wird und die Superheldin später unvermittelt durch das Dach einer Videothek auf die Erde in den 1990er-Jahren stürzt, hetzt auch die Geschichte von "Captain Marvel" von einem rastlosen Handlungspunkt zur nächsten unsauberen Action-Sequenz.
Dass Fleck und Boden zuvor beinahe ausschließlich charakterorientierte Indie-Dramen in Film und Fernsehen wie "Half Nelson", "Sugar", "Mississippi Grind" und "Billions" drehten, macht sich in den verwackelt-unübersichtlichen Set-Pieces, die von der druckvollen Rasanz der Russos meilenweit entfernt sind, mehr als bemerkbar. Individuelle Handschriften und eigensinnige Regisseure braucht das MCU für die kommende Phase 3 des MCU ohnehin dringend, doch dann sollte ihnen auch der Raum gewährt werden, in dem sie ihre Markenzeichen frei entfalten dürfen. Ein bisweilen stümperhaftes Action- und Effekte-Korsett wie in "Captain Marvel" schnürt die berechtigten Vorwürfe gegen die austauschbare Gleichschaltung aufregender Regie-Stimmen innerhalb des Franchise nur noch enger.
Dynamik und Energie entwickelt der Blockbuster nur vereinzelt aufgrund der Chemie zwischen dem frühzeitig auftauchenden Nick Fury, den ein gelungen digital verjüngter Samuel L. Jackson ohne Rücksicht auf große Verluste spielt, und der Superheldin, die dank Brie Larson Würde bewahrt, wo unpassende One-Liner und aufgezwungene Popkultur-Referenzen eingestreut werden. Zwischen einer betont albernen Buddy-Komödie, gefühlvollen Einschüben, Zitaten und Symbolen der 90er, bemühten Überraschungen und dem erwartungsgemäßen Superkräfte-Gewitter im Finale muss "Captain Marvel" letztlich stärker um seine Identität fürchten als Captain Marvel. Am Ende ist die Superheldin vermutlich nur deswegen so übermächtig, weil sie wieder spürt, wo ihre menschlichen Wurzeln liegen. Vom MCU wird sie trotzdem so unsanft wie möglich in eine Gegenwart geschubst, in der der Kinostart von "Avengers 4: Endgame" bereits vor der Tür steht.
"The Secret Life of Walter Mitty" + "Inglourious Basterds" + "Sucker Punch" = "Welcome to Marwen"
Anfängliche Bilder aus Videoaufnahmen zeigen in "Boy Erased" zu Beginn eine unschuldige Kindheit voller staunender Neugier. In Joel Edgertons zweiter Regiearbeit nach "The Gift" sind diese Szenen, welche den Protagonisten Jared zeigen, die offenbar glücklichsten Momente aus dem Leben eines Jungen, aus dessen Gesicht sich kurz darauf kaum noch etwas ablesen lässt. In der Gegenwart des Films ist aus Jared ein 19-Jähriger geworden, der seine wahren Gefühle verborgen halten muss.
Bevor Edgerton einzelne folgenschwere Situationen aus Jareds Leben schildert, die mit seiner verschwiegenen Homosexualität zusammenhängen, beginnt der Regisseur stattdessen direkt mit den Konsequenzen. Von seinen Eltern, die ihn nach streng katholischen Richtlinien erziehen, was vor allem durch die Tätigkeit des Vaters als Baptistenprediger bedingt ist, wird er in ein Umerziehungslager geschickt. In diesen Camps, die heute immer noch zahlreich in den meisten Ländern existieren, soll Homosexuellen mit drastischen Methoden eingetrichtert werden, dass ihre Gefühle alles andere als natürlich wären und dass sie mithilfe von Therapie heterosexuell werden können.
"Boy Erased" versteht sich in dieser Hinsicht als deutliches Mahnmal, das die rabiaten Maßnahmen innerhalb dieser Umerziehungslager anhand der Memoiren von Garrard Conley verdeutlichen soll. An den realen Conley angelehnt ist der von Lucas Hedges gespielte Jared, der sich schon bald in einer Mischung aus militärischem Drill, homophober Einschüchterung und unangenehmer Therapiesitzung wiederfindet. Nachdem er seine persönlichen Wertgegenstände jeden Morgen am Eingang abgeben muss, verbringt Jared seine Zeit bis abends in dem Umerziehungslager, um anschließend mit seiner Mutter in einem nahegelegenen Hotelzimmer zu übernachten. Aufgehoben wird die Linearität der Handlung von Edgertons Film immer wieder durch Rückblenden, die den Protagonisten langsam in eine persönliche Art Abgrund schlittern lassen.
Irritierend ist an "Boy Erased" dabei immer wieder, wie unkompliziert und plakativ Edgerton die durchaus komplexe Thematik für den Zuschauer aufbereitet. Womöglich liegt es an der vorherigen Regiearbeit des Regisseurs, die einen beklemmenden Thriller mit zynisch-boshaftem Ausgang darstellte. Auch dieses Drama, in dem Figuren eher wie erstaunlich schnell durchschaubare Klischees wirken, wird mitunter von Szenen beherrscht, die einen beklemmend reißerischem Tonfall nicht unähnlich einem Thriller unterliegen.
Da wird Jared während der Zeit am College bei seiner ersten intimeren Annäherung zum gleichen Geschlecht direkt zum Opfer einer Vergewaltigung, während die Therapie in dem Umerziehungslager auf dem unangenehmen Höhepunkt zur schmerzhaften Teufelsaustreibung verkommt, bei der ein Sündenbock von allen Anwesenden mit der Bibel geschlagen wird. Regelmäßig zu sehen ist dabei auch Edgerton selbst als Schauspieler, der sich nur allzu hingebungsvoll in seiner Rolle des psychologisch sadistischen Einrichtungsleiters verliert.
Eher unvorteilhaft ist auch die Besetzung mancher Nebendarsteller wie Xavier Dolan als Teilnehmer des Programms. In beinahe jeder Szene mit dem frankokanadischen Multitalent fragt sich der Zuschauer viel eher, was dieser womöglich aus einem solchen Stoff für einen Film gemacht hätte. Stattdessen kommt die emotionale Katharsis in Edgertons "Boy Erased" erst spät, bevor der Film in klischeehaften Einstellungen von Händen, die aus einer geöffneten Autofensterscheibe die Freiheit ertasten, aufklärenden Texttafeln und Fotos der realen Vorbilder endet.
Zuvor kommt es zu einer Szene, in der sich Vater und Sohn nach all den Jahren des Schweigens noch einmal gegenüberstehen. Nicht er sei derjenige, der sich ändern müsse, sagt Jared. Es ist der entscheidende Satz nach einer Reihe von Sätzen, hinter denen der stumme Junge, der gemäß des Titels ausgelöscht werden soll, endgültig seine eigene Stimme erlangen durfte.
[...] Das größte Versprechen der Popmusik, seinen Hörern zuallererst schillerndste Oberflächen zu bieten, beraubt Corbet in Vox Lux zunächst um genau diese Oberflächlichkeit. Der Regisseur blickt vielmehr auf die Wurzeln eines Pop-Mythos in der Entstehung. Den in der ersten Hälfte des Films fragmentarisch angelegten Werdegang von Celeste erzählt Corbet als sensible Coming-of-Age-Geschichte, die ebenso vom verschlossenen, offensichtlich geschädigten Gemütszustand seiner Protagonistin getragen wird wie von flüchtigen Eindrücken einer Industrie, die gefallene Existenzen in maskierte Vorbildfunktionen rückt. Mit Stilmitteln des europäischen Kunstfilms und amerikanischen Independent-Films, durch die der Regisseur mitunter verfremdete Montagen mit sehr lang gehaltenen, ruhigen Einstellungen kombiniert, schildert der Regisseur die Jugend von Celeste in Schnappschüssen, die von einer am Ende der Unschuld angelangten Jugend an der Schwelle zum reinen Image zeugt. Als Brücke von Celestes Übergang vom Teenager hin zum Popstar seit vielen Jahren nutzt Corbet die Terroranschläge auf das World Trade Center vom 11. September 2001, die wiederum zu einem weiteren Terrorattentat im Jahr 2017 überleiten. Bei diesem eröffnen die Täter an einem Strand das Feuer auf mehrere unschuldige Zivilisten und tragen dabei die Masken aus dem berühmtesten Video von Celeste. Innerhalb eines einzelnen Tages entfaltet sich die Handlung in der zweiten Hälfte von Vox Lux, die den Popstar dabei begleitet, wie sie von dem Attentat erfährt, damit umgehen sowie öffentlich darauf reagieren und am Abend noch ein strahlendes Comeback-Konzert aufführen soll. Mittlerweile ist Celeste 31 Jahre alt und hat selbst eine jugendliche Tochter, die wiederum auf surreale Weise ebenfalls von der bemerkenswerten Raffey Cassidy (The Killing of a Sacred Deer) verkörpert wird, die Celeste zuvor in der ersten Hälfte des Films spielte. Die eigentliche Sensation im späteren Teil von Vox Lux ist nichtsdestotrotz Natalie Portman (Jackie). Als ältere Version von Celeste irritiert die Schauspielerin mit großartig schrecklichem Staten Island-Slang und blasiertem Gehabe, das nur noch selten einen Blick hinter die von Alkohol, Drogen und anderen Skandalen wie einem wenige Jahre zurückliegenden Autounfall zerfressene Fassade gewährt. Ebenso bissig wie abstoßend inszeniert Corbet Vox Lux fortwährend als Schnittmenge aus dem vergifteten Zwilling von A Star is Born, Black Swan und Spring Breakers, in der sich Celeste als gottgleiches Wesen über den Dingen sieht, bis sie im Hinterzimmer panisch kollabiert. Die Popkultur des 21. Jahrhunderts wird unter Corbets kreativem Antrieb zum grotesken Zerrspiegel der Realität, in dem Opfer zu Ikonen werden und Stars als Amokläufer der Musikindustrie ganz neue Dämonen gebären. Wie eng verbunden mit der Wirklichkeit Corbets Film längst schon geworden ist, zeigt Vox Lux im Zusammenhang mit einem ganz realen Popstar unserer Zeit. Im Mai 2017 sprengte sich ein Selbstmordattentäter auf einem Konzert von Ariana Grande in der Manchester Arena in die Luft und riss 23 Menschen mit sich in den Tod. Ein einschneidendes Ereignis, das die Sängerin zusammen mit anderen Rückschlägen in ihrem Privatleben zum Überdenken ihres Popstar-Images zwang. Im August 2018 veröffentlichte sie schließlich ihr viertes Studioalbum Sweetener. Darauf enthalten ist auch ein letzter Song, der mit 40 Sekunden völliger Stille endet. Eine Stille als reifes Statement, von dem Celeste in Vox Lux schlussendlich kaum weiter entfernt sein könnte. In dem fast 15 Minuten langen Finale des Films muss der Popstar ein weiteres Mal als makelloses Symbol erstrahlen, das mithilfe der Bühnenchoreografien und (von Sia geschriebenen) Songs eine nach Oberflächlichkeit und blendendem Spektakel lechzende Masse hypnotisieren soll. [...]
Sie sei eine bessere Dorothy Parker als Dorothy Parker selbst, äußert Lee Israel stolz und zugleich wutgeladen in Marielle Hellers biografischer Tragikomödie "Can You Ever Forgive Me?". In der dazugehörigen Szene hat das Leben der verbitterten Autorin einen neuen Aufschwung erhalten, nachdem die New Yorkerin einen Weg gefunden hat, um ihre Schreibblockade zu überwinden und wieder genug Geld zu verdienen. Vor den 1990er-Jahren, in denen die Handlung des Films ansetzt, schrieb Israel mehrere Biografien über Schauspielerinnen oder Journalisten, die annehmbaren Anklang fanden. Die literarische Anerkennung, nach der die Autorin strebte, blieb Israel trotzdem verwehrt.
Zu einem Zeitpunkt, an dem ein Tom Clancy 3 Millionen Dollar Vorschuss für sein nächstes Buch erhält, ist Israel in den Augen ihrer Agentin nicht einmal 10 Dollar Vorschuss für ihre nächste geplante Biografie über die Varieté-Komödiantin Fanny Brice wert. Brice wird trotzdem zur unverhofften Rettung für die Autorin, nachdem sie mit der Miete bereits seit Monaten im Verzug ist und sich nicht einmal mehr Medikamente für die Behandlung ihrer kranken Katze leisten kann.
Nachdem Israel einen alten Brief von Brice entdeckt und feststellt, dass sich dieser bei Kunsthändlern und Sammlern verkaufen lässt, kommt ihr die rettende Idee. Unfähig, auf ihre eigenen Stimme als Autorin weiterhin zu vertrauen, beginnt Israel damit, fiktive Briefe bekannter Autoren zu fälschen und für teures Geld zu verkaufen. Gut ein Jahr lang hielt sie diesen Betrug aufrecht und fälschte gut 400 Dokumente, bis ihre Taten aufflogen.
Eine reale Persönlichkeit wie Israel, die kratzbürstige Egomanie, depressiven Alkoholismus und verzweifelte Einsamkeit in sich vereinte, scheint für einen Film von Heller wie geschaffen zu sein. Schon in ihrem vorherigen Werk "The Diary of a Teenage Girl" erzählte die Regisseurin von einer im besten Sinne komplizierten Frauenfigur, die als 15-Jährige im San Franciso der 1970er-Jahre eine Affäre mit dem mehr als doppelt so alten Freund ihrer Mutter beginnt. Parallelen wie das komplexe Gemüt der unangepassten Protagonistin und klare Bezüge zum Milieu der Kunstschaffenden aufgrund einer Begabung als Cartoonistin lassen sich auch in diesem Film finden.
Für "Can You Ever Forgive Me?" kann sich Heller jedoch nie wirklich entscheiden, in was für ein Licht sie die problematische Protagonistin rücken will. So sind es eher kurze Momente, in denen der angemessen schwer zu fassende Charakter von Israel zur Geltung kommt. Diese Szenen zeigen die Autorin vor allem in Interaktion mit anderen Personen, die wiederum Israels markante Facetten sichtbar werden lassen. Rührend ist ein gemeinsames Abendessen zwischen der Autorin und der Buchhändlerin Anna, an die Israel regelmäßig gefälschte Briefe verkauft und für die die lesbische Frau offensichtlich tiefere Gefühle hegt. Für einen flüchtigen Augenblick bringen die Regisseurin und Hauptdarstellerin Melissa McCarthy die traurige Melancholie in Israels Blick zum Vorschein, als sie realisiert, dass ihr Gegenüber nur Freundschaft im Sinn hat.
Weitaus schlichter gestaltet sich der Film im Porträtieren der Freundschaft zwischen Israel und Jack Hock. Den schwulen, in die Jahre gekommenen Paradiesvogel, der obdachlos ist und sich gelegentlich mit Drogendeals über Wasser hält, rückt Heller neben Israel in eine überwiegend ausgelassene Buddy-Komödien-Dynamik. Bis auf einen vorübergehenden Wandel, der einmal mehr kurzfristig das erschreckend boshafte Potenzial der Protagonistin offenbart, dient das Verhältnis dieser beiden Figuren und Trinkerfreunde hauptsächlich der vergnüglichen Auflockerung der Geschichte, damit diese nie droht, in übermäßig ambivalente Gefilde abzudriften.
Erzählerisch entschließt sich die Regisseurin des Films, der auf den eigenen Memoiren von Israel basiert, zudem für eine klare Solidarisierung mit der Hauptfigur, die für ihre begangenen Straftaten folgerichtig angeklagt und verurteilt wird. Der spannendste Diskurs des Streifens darüber, ob sich wahre Kunst über die Grenzen zwischen Legalität und Moral hinwegzusetzen vermag, verkommt zur beiläufigen Randnotiz, die von Israel selbst in einem reumütigen Schlussplädoyer schließlich vom Tisch gewischt wird.
In ihrem Bemühen, den Zuschauer mithilfe von stimmiger Jazz-Musik auf der Tonspur in ein Manhattan zu entführen, das vor der Gentrifizierung unentwegt an Vergangenes erinnert, verliert Heller ein ums andere Mal den klaren Blick auf ihre Protagonistin. Die stand bis zu ihrem Tod im Jahr 2014 hinter der Meinung, auf keines ihrer literarischen Werke stolzer gewesen zu sein als auf die gefälschten Briefe, während sie von Heller als gefallene Heldin zelebriert wird, die sich ganz zum Schluss doch den üblichen Konventionen des Literaturbetriebs beugt. Ein Schicksal, das nur allzu gut zu "Can You Ever Forgive Me?" passt, der rebellisch gegen Feel-Good-Konventionen rebellieren will und am Ende doch gegenüber seichten, unkomplizierten Biopic-Strukturen kapituliert.
Angestrengt und überfordert macht sich ein lebendiger Körper in der ersten Einstellung von Fatih Akins "Der goldene Handschuh" an einem toten Körper zu schaffen. Zu sehen ist lange nur der Rücken von Fritz Honka, der im Hamburg der 1970er-Jahre dieses Films ein Geist ist, unsichtbar für all diejenigen, die nicht zu den verlorenen Seelen gehören. Gegen diese Unsichtbarkeit versucht Honka anzukämpfen, indem er Frauen in seine heruntergekommene Wohnung lockt, die ihm nichts mehr entgegenzusetzen haben. Eines der Resultate dieses Vorgehens zeigt Akin gleich zu Beginn seines Films, wenn Honka eines seiner Opfer bereits getötet hat und nun die Leiche entsorgen muss. Enden wird die namenlose Frau zerstückelt in Plastiksäcken, nachdem sich der Protagonist zuvor mit Schnaps Mut antrinken und quälend lange mit der Säge zur Tat schreiten musste.
Mehrfach wird sich dieses Muster leicht abgewandelt in Akins Werk wiederholen, das zum Brutalsten, Radikalsten sowie Schmutzigsten zählt, was seit vielen Jahren in Deutschland von einem großen Studio in die Kinos gebracht wurde. Kein anderer atmosphärischer Tonfall hätte dem gleichnamigen Roman von Heinz Strunk jedoch gerecht werden können, den sich Akin als Vorlage für "Der goldene Handschuh" nahm. Strunks Buch, das auf der wahren Geschichte rund um den Serienmörder Fritz Honka basiert, erzeugte Bilder im Kopf des Lesers, die nahezu unmöglich für die große Leinwand umsetzbar schienen. Die Sprache besaß eine schmuddlig-schnoddrige Poesie, bei der sich die empathische Studie eines Milieus der Gescheiterten und Untergangenen mit unerträglichen Schilderungen sexueller und gewalttätiger Abartigkeiten zu einem furiosen Tatsachenbericht vereinten.
Mit seiner Adaption ist es Akin entgegen früherer Erwartungen aber schließlich doch gelungen, Strunks Roman in angemessen filmische Form zu gießen. Der Regisseur findet zwischen beängstigend intensivem Psychogramm, theaterhafter Inszenierung mitsamt immer wieder gestelzter Dialoge, erbarmungslosem Horror, ekelerregender Ausstattung und dezent überzeichneter Milieustudie seinen ganz eigenen Zugang zu Strunks Stoff. Zu einem Großteil angesiedelt in Honkas Wohnung, in der sich das blanke Grauen ereignet, und der titelgebenden Kneipe, in der sich die vom Leben Abgewandten gleichgesinnt im dauerhaften Vollsuff zusammenrotten, lässt Akin das zittrige Porträt eines tief vernarbten Deutschlands der Nachkriegszeit im betäubten Wahn sehnsuchtstillender Schlager-Lieder entstehen.
Abgesehen von eingängigen Spitznamen wie "Soldaten-Norbert", "Tampon-Günther" oder "Doornkaat-Max" sowie ulkigen Ticks und vulgären Eigenarten lässt der Regisseur trotz gelegentlicher Neigungen hin zum Karikaturesken nie einen Zweifel an der verwerflichen und zugleich tragischen Natur seines Kneipentresen-Ensembles. Unter den ehemaligen SS-Offizieren, wirren Schnapsleichen und desillusionierten, in die Jahre gekommenen Zwangsprostituierten aus Konzentrationslagern befindet sich Honka in unauffälliger Gesellschaft, bis er sich von einem Mikrokosmos in den nächsten gegibt.
Mit dem hingelallten Versprechen, dass auf sie bei ihm zu Hause noch mehr Hochprozentiges warten würde, holt er sich die Frauen in die Wohnung, die ihn ansonsten nicht einmal "anpissen würden, wenn er brennt". In der Wohnung, die mit Bildchen nackter Schönheiten zutapeziert ist und aufgrund der versteckten Leichenteile hinter der Wand einen unerträglichen Gestank absondert, wandelt sich "Der goldene Handschuh" ein ums andere Mal zum schwer eträglichen Delirium aus kläglichem Machtmissbrauch, verzweifelter Unterwerfung, körperlicher sowie seelischer Erniedrigung und qualvoll ausgelöschten Leben.
Er habe die Würde der Opfer bewahren wollen, gab Akin in einem Interview über den Film kurz nach der Weltpremiere bei der diesjährigen Berlinale zur Aussage. Tatsächlich ist "Der goldene Handschuh" neben einer vollständigen Vermeidung jeglicher Form von Täterglorifizierung auch von einer bestürzenden Hingabe an Honkas weibliche Opfer geprägt, deren Körper und vor allem verlebt-hoffnungssuchende Gesichter der Regisseur in ausgiebigen Nahaufnahmen abtastet, um auch den letzten Funken Mitgefühl und Zuneigung im Angesicht des schwer auszuhaltenden Szenarios nicht erlischen zu lassen.
Oftmals wirkt es, als hätten Rainer Werner Fassbinder und Jörg Buttgereit für diesen vor Siff nur so triefenden sowie vor Zigarettenqualm nur so vernebelten Film gemeinsame Sache gemacht, während ein beeindruckend furchtloser Jonas Dassler in der Hauptrolle die kaum zu bewältigende Gratwanderung zwischen bemeitleidenswertem Verlierer, entstelltem Kuriosum und sadistisch-unberechenbarem Monstrum gelingt. Die wesentlich komplexere Hintergrundgeschichte von Honka aus Strunks Roman hat Akin bewusst ausgespart. Ihm ging es stattdessen darum, das pure Böse ohne erkennbare Motivation in einem kompromisslosen Genrefilm zu entfesseln. Am Ende, wenn sich all die Szenen der trostlos dreinblickenden, hilflosen Hauptfigur neben die Eindrücke abstoßender Gewalttaten beim Zuschauer eingebrannt haben, konnte der zweifelsohne sehr humanistisch geprägte Regisseur aber (glücklicherweise) doch wieder nicht vollständig über seinen Schatten springen. Einen Sargnargel für Fatih Akins Karriere nannten böse Zungen den Film im Zuge seiner Erstaufführung. Nach "Aus dem Nichts" hat sich der Regisseur mit "Der goldene Handschuh" vielmehr ein weiteres Mal neu erfunden.
Zu Beginn von "Uzumaki" äußern die Lippen der Protagonistin Kirie in Nahaufnahme, dass sie dem Zuschauer gleich die Geschichte der Kleinstadt Korouzu erzählen wird, in der sie lebt. Ganz am Ende von Higuchinskys Film wird sich diese Einstellung noch einmal exakt so wiederholen. Dem Regisseur ist es in letzter Konsequenz gelungen, sein Werk selbst in eine Spirale zu verwandeln. Ein Motiv, das Higuchinsky den gesamten Film über verfolgt und in eine spiralförmige Schleife münden lässt, die endlosen Horror ohne irgendeine Form von Ausweg in Aussicht stellt.
Zuvor führt die jugendliche Schülerin Kirie den Betrachter aber tatsächlich in jene Kleinstadt, in der die Leben der Bewohner mit jeder voranschreitenden Minute der Laufzeit stärker neben der Realität zu verlaufen scheinen. Am Anfang ist der Schrecken, ein unerklärliches Grauen ohne jegliche rationale Erklärung, nur als beunruhigendes Hintergrundrauschen zu vernehmen. Für eine ganze Weile erscheint Kirie als vermeintlich gewöhnliche Figur in dieser japanischen Kleinstadt-Erzählung, die von diversen gewöhnlich wirkenden Kleinstadt-Figuren bevölkert wird. Erst nachdem der Vater von Kiries Freund eine merkwürdige Obsession für Spiralen entwickelt und diesen mit akribischer Besessenheit nachspürt, passt sich auch die Bildsprache von Higuchinskys Film immer wieder dieser Besessenheit an. Kurze Kamerabewegungen, die in ihrem kreisenden Rhythmus einer Spirale ähneln, oder auftauchende Muster, unter denen beispielsweise die Zutaten einer Miso-Suppe ebenfalls wie Spiralen aussehen, sorgen für vorübergehende Beklemmung in dem mysteriösen Szenario, das sich schleichend ausbreitet.
Als stimmiges Gesamtwerk lässt sich "Uzumaki", auch ohne Kenntnis der Manga-Vorlage von Junji Itō, der sich wiederum von H. P. Lovecraft inspirieren ließ, jedoch nur als gescheitert bezeichnen. Innerhalb der unterschiedlichen Erzählstränge, in denen sich Higuchinsky ähnlich den Erzählstrukturen des Coming-of-Age- und Highschool-Films den Befindlichkeiten der Schüler untereinander sowie in ihren jeweiligen Familien widmet, läuft die Handlung des eigenwilligen Horrorfilms regelmäßig ins Leere. Selten entsprechen die Figuren glaubhaften Menschen, sondern vielmehr überzeichneten Stereotypen. Hierdurch erinnern sie allerdings wieder an die comichafte Natur der Vorlage, der sie entstammen. Zu fragloser Größe findet "Uzumaki" nur immer dann, wenn sich der Regisseur auf die Wurzeln der Manga-Reihe besinnt und viel lieber Einzelmomente in erstaunlich irritierendem sowie verstörendem Detailreichtum heraufbeschwört anstatt den Blick auf das verworrene Gesamtgeflecht des Drehbuchs zu richten.
Sobald die Spiralen als apokalyptische Plage in die Bilder des Films vordringen, Körper(teile) bizarr verformt werden und selbst die Wolken am Himmel bedrohliche Spiralen sind, welche offenbar eine Art göttliche Strafe über der Kleinstadt entfesseln, gestaltet sich "Uzumaki" als betörender Manga-Bilderbogen in bewegten Impressionen zwischen albernem Trash und bizarrem Arthouse-Horror. Trotz vereinzelt expliziter Grausamkeiten, die unter anderem einen großen Tausendfüßler in das Ohr einer traumatisierten Krankenhauspatientin kriechen lassen, bleibt der Horror in dem bisweilen ziellos erzähltem Streifen passend ungreifbar. Die örtliche Legende eines Drachens oder Wurms, der im See der Kleinstadt hausen soll, ist die einzige Form von mythologischem Verweis, den "Uzumaki" offenbart. Ansonsten ist Higuchinskys Verfilmung ein fremdartiger Alptraum, der Blick in eine Welt, deren Gesellschaft dem unabwendbaren Verfall geweiht ist, bis die Menschheit mit überdimensionalen Schneckenhäusern auf dem Rücken Häuserfassaden hinaufklettert.
[...] Als Mittelteil der sogenannten Liebe, Tod und Teufel-Trilogie thront das Leitmotiv von Fatih Akins (The Cut) Auf der anderen Seite als beunruhigende Vorankündigung über den fatalen Ereignissen. Zwei von drei Kapiteln, das letzte trägt den eigentlichen Titel des Films, sind nach dem Tod von zwei Figuren benannt. Dabei nimmt dieser jeweils nur einen ganz kleinen Raum ein, ganz unvermittelt bricht er in die Handlung und ist ebenso plötzlich wieder verschwunden. Die große Tragik dieser Schicksalsschläge verwebt Akin vielmehr mit den Schicksalen, welche die Szenen vor und nach dem Tod verbinden. Auf der anderen Seite ist ein Film über solche Schicksale, die zunächst unabhängig nebeneinander existieren, um sich teilweise in entscheidenden Momenten zu kreuzen und bedeutende Spuren zu hinterlassen. [...] Auf der anderen Seite ist aber nicht nur die Geschichte von Ali und Yeter, die von geteilter Einsamkeit in Abhängigkeit und Kontrolle führt, sondern auch die Geschichte von Alis Sohn Nejat, der als Germanistik-Professor an der Uni lehrt. Eine folgenschwere Tragödie wird ihn nach Istanbul führen, wo er nach Yeters Tochter Ayten sucht, die von der Arbeit ihrer Mutter nichts wusste und schon lange keinen persönlichen Kontakt mehr zu dieser hatte. Ayten wird es wiederum von Istanbul nach Deutschland verschlagen. Nach einem Zwischenfall, der mit den politischen Unruhen und Aufständen innerhalb der türkischen Bevölkerung zu tun hat, flüchtet sie illegal nach Bremen, wo sie ohne Geld und Unterkunft von der Studentin Lotte im Haus von Lottes Mutter Susanne aufgenommen wird.Im letzten Kapitel des Films, der große Gefühle im Vergleich zur stürmischen Direktheit von Akins vorangegangenem Gegen die Wand immer wieder in bescheiden klein gefassten Momenten wie eine gemeinsam zwischen zwei Mündern geteilte Zigarette aufflammen lässt, stehen vor allem Nejat und Susanne im Mittelpunkt. Zwei Tode hat das Leben von beiden erschüttert, die sich schließlich in Istanbul begegnen. Wie auch schon Ali und Yeter zuvor werden sie durch ein gemeinsames Gefühl verbunden, das erneut besonders stark spürbar über ihren gemeinsamen Szenen schwebt. Um Reue und Vergebung kreist die Geschichte dieser Trauernden bis zuletzt, wenn es für sie darum geht, aus den Handlungen des Vaters und der Tochter nach dem Auftritt des Todes einen helleren Blick auf das Leben erlangen zu können. Wie er sie erkannt habe, fragt Susanne Neja beim ersten Treffen. Sie sind der traurigste Mensch in diesem Raum, antwortet er. Am Ende, wenn der Regisseur seinen Figuren eine trostvolle Umarmung und einen hoffnungsvollen Blick aufs Meer schenkt, ist die Traurigkeit zumindest vorübergehend aus Akins Film gewichen. [...]
Von einem "game on top of the game" ist in Steven Soderberghs neuem Film "High Flying Bird" die Rede. In der dazugehörigen Szene unterhält sich der Basketballspieler-Agent Ray mit einem älteren Basketball-Coach sowie gleichzeitg altem Bekannten, der den jüngeren Nachwuchs trainiert. Dieses Spiel, von dem der Coach redet, gilt es für Ray zu spielen. In der Geschichte von Soderberghs Film befindet sich der Protagonist beruflich in einer mehr als angespannten Lage. Aufgrund eines NBA-Lockouts, bei dem die gesamte Basketball-Saison wegen anhaltender Streiks und andauernden Verhandlungsgesprächen gefährdet wird, muss Ray um sein persönliches Wohl in der Firma bangen, für die er teuer eingekaufte, vielversprechende Nachwuchsspieler unter Vertrag nimmt. Einer davon ist Erick, der während des Lockouts langsam in finanziellen Schwierigkeiten steckt und von Ray gesonderte Aufmerksamkeit benötigt.
Vorangetrieben wird "High Flying Bird" in dieser Krisensituation durch eine Abfolge von rapide abgefeuerten Dialoggefechten, die aus der Feder von Tarell Alvin McCraney stammen. Dass dieser zuvor das Theaterstück schrieb, welches schließlich von Barry Jenkins als "Moonlight" verfilmt wurde, macht sich thematisch auch in diesem Werk bemerkbar. Hinter all den Gesprächen, die sich aufgrund ihrer Dichte für Basketball-Unkundige bisweilen fordernd gestalten, verbirgt sich in "High Flying Bird" eine präzise Betrachtung von Mechanismen, die im Film selbst an einer Stelle treffend mit moderner Sklaverei gleichgesetzt werden.
Der Blick in den NBA-Betrieb entpuppt sich vielmehr als Blick in ein kapitalistisches System, das den Wert der Menschen hinter den Basketball-Spielern überwiegend ausblendet. Um dem entgegenzusteuern, streut Soderbergh immer wieder Interviewsequenzen realer Basketball-Spieler ein, die von ihren Erfahrungen innerhalb der Liga erzählen. Viel schwerwiegender ist jedoch das Geschäft, das sich aus den vorwiegend afroamerikanischen Männern schlagen lässt und ihr Einfluss auf eine Kultur, die sich wiederum vorzüglich kommerzialisieren lässt.
Für diese Thematik hätte Soderbergh, der "High Flying Bird" wie auch schon zuvor "Unsane" mit dem iPhone gedreht hat, keine passendere Ästhetik finden können. Diente der ebenso befremdliche wie aufregende Stil in dem vorherigen Psychothriller noch dazu, die verschroben-wirre Perspektive der Hauptfigur einzunehmen und ihren Geisteszustand mit ungewöhnlichen Aufnahmen wie Weitwinkeln zu verzerren, strahlt Soderberghs Netflix-Film eine virtuose Kälte aus. Die klinisch reinen Bilder erscheinen eisig blau, während sich die Figuren in den immer wieder als Long Takes inszenierten Einstellungen oftmals vor gläsernen Fassaden befinden. Dieses inszenatorische Konzept wählte der Regisseur auf vergleichbare Weise zuletzt für sein filmisches Experiment "The Girlfriend Experience". Darin besetzte Soderbergh die Ex-Pornodarstellerin Sasha Grey als Escort-Girl, die sich in dem von Isolation und zwischenmenschlicher Entfremdung durchzogenen Werk ebenfalls beinahe ausschließlich in Innenräumen aufhält.
"High Flying Bird" setzt diesen Stil fort und setzt noch stärker auf eine kristallklare Übersättigung durch digitale Bilder, mit denen Soderbergh das Drehbuch von McCraney unscheinbar sowie geradezu klammheimlich in Richtung eines ungeahnten Coups lenkt. Initiiert wird dieser von Protagonist Ray, der sich selbst als Schachspieler sowie radikaler Erneuerer betrachtet. Ihm geht es nicht einfach darum, dem Lockout so schnell wie möglich ein Ende zu setzen, sondern das System an sich an den Rand des Kollaps zu bewegen.
Passenderweise wird "High Flying Bird" hierdurch auf der Meta-Ebene auch zu einem Film über Soderbergh selbst, der sich selbst in der Figur von Ray widerspiegelt. Auch der Regisseur hat über die Jahre hinweg versucht, sich aus den strammen Fesseln des Studio-Systems von Hollywood freizusprengen und mit höchstmöglicher Freiheit zu drehen. Dass Soderbergh nun bei dem Streaming-Giganten Netflix untergekommen ist, der für die Handlung von "High Flying Bird" ebenfalls selbst an einem Punkt eine Rolle spielt, und seine Filme innerhalb von nur 3 Wochen mit einem iPhone dreht, ist für den Regisseur ein ähnlich befreiender Triumph wie der finale Schachzug von Ray, der das System erst zum Erzittern bringen muss, um sich weiterhin frei darin bewegen zu können.
Der Realität entrückt und auf verschrobene Weise menschenfremd präsentieren sich die Filme von Yorgos Lanthimos in der Regel. Für Aufruhr sorgte der griechische Regisseur 2009 mit seinem zweiten Langfilm "Dogtooth". Irgendwo zwischen der kalten, distanzierten Formstrenge eines Michael Haneke und den provokativen, gewalttätigen Abgründen eines Gaspar Noé schuf Lanthimos damals ein denkbar unkonventionelles Familienporträt. Darin werden die Kinder von den Eltern nach eigens geschaffenen Regeln erzogen, bei denen alltägliche Begriffe absichtlich eine neue Bedeutung erhalten und die große, weite Welt hinter dem heimischen Gartenzaun als verbotene Hölle indoktriniert wird. Ein Wechselspiel aus strikten Vorgaben, verbotenen Reizen und der Dekonstruktion gutbürgerlicher Ideale, das bei Lanthimos konsequent in der perversen Eskalation ausartet.
Wesentlich zahmer und trotzdem ähnlich hintersinnig hat der Regisseur auch seinen nachfolgenden Film "Alpen" inszeniert. Das Konzept von Familie spielt in diesem Werk ebenfalls wieder eine Rolle, wird von Lanthimos jedoch unter einem anderen Betrachtungswinkel beleuchtet. Hier steht eine Gruppe von Menschen im Mittelpunkt, die jeweils unterschiedlichen Berufen wie Krankenschwester, Sanitäter oder Turnerin nachgehen. Verbunden werden sie jedoch durch ein gemeinsames Geschäftsmodell, bei dem sie regelmäßig in verschiedene Rollen schlüpfen. "Alpen" heißt demnach nicht nur Lanthimos' Film, sondern auch die Gruppe, die es sich zur beruflichen Aufgabe gemacht hat, für Kunden den Platz verstorbener Geliebter oder Familienmitglieder einzunehmen.
Was zunächst nach einem makaberen Rollenspiel klingt, erhält unter der Umsetzung von Lanthimos einen ebenso nüchternen wie surrealen Dreh, mit dem sich der Grieche der Bedeutung zwischenmenschlicher Kontakte und Beziehungen auf seine ganz eigene Art annähert. Absurd mutet es an, wenn ein Mitglied der Alpen-Gruppe hinter der fremden Rolle verschwindet und penibel auswendig gelernte Dialoge die Szenen dominieren, in denen Trauernde mit ihren Nahestehenden noch einmal in Kontakt treten wollen. In zurückhaltend, geradezu unspektakulär inszenierten Szenen, die den gesamten Film über vollständig ohne Musikuntermalung auskommen müssen, verleiht Lanthimos dem Geschehen oftmals etwas Theaterhaftes. Herkömmliche Konversationen werden in dem Werk überwiegend ihrer logischen Abläufe oder emotionalen Bedeutung beraubt, stattdessen schildert der Regisseur menschliche Dynamiken als mechanische Prozesse, in denen speziell die Gefühle der jeweiligen Mitglieder der Alpen-Gruppe keinen Raum bekommen sollen.
In den Vordergrund rückt bei "Alpen" zunehmend die Frage, was den Menschen als Individuum überhaupt auszeichnet. Definieren wir uns über unser einzigartiges Dasein, das nach unserem Ableben niemals reproduziert werden kann, oder genügen bereits unauslöschliche Erinnerungen, um uns als Projektionsfläche in den Gesichtern und Körper fremder Menschen wiederzufinden?
Wie gewohnt umgeht Lanthimos in seinem Film einfache Antworten, indem er sein abstraktes Gedankenspiel, das er ebenso kalt-distanziert wie konsequent schonungslos verfolgt, in einer Abfolge brutaler Ausbrüche münden lässt. Spätestens zum Ende, wenn sich Schauspieler in ihren Rollen als Schauspieler verzweifelt an die greifbaren, intensiven Gefühle ihrer Rollen klammern, führt Lanthimos seine der Menschlichkeit entrückten Figuren doch wieder näher zur Menschlichkeit, als einem lieb ist.
Über 15 Jahre, nachdem die Produktion der Manga-Verfilmung "Alita: Battle Angel" 2003 erstmals angekündigt wurde, weichen all die Kosten und Mühen des nun doch noch erschienenen Films in den ersten Minuten Eindrücken des Staunens. Ein Staunen, dem unweigerlich das Gefühl des unschuldigen Erlebens anhaftet, wenn die Augen zum ersten Mal etwas erblicken, was sie nicht kennen, oder sich ein Geschmack auf der Zunge ausbreitet, der sich nicht in Worten ausdrücken lässt. Die Augen und die Zunge gehören in diesem Fall dem titelgebenden Cyborg-Mädchen Alita, das zu Beginn der Geschichte in ferner Zukunft von dem Wissenschaftler Dr. Dyson Ido auf dem Schrottplatz geborgen wird.
Er haucht ihr neues Leben ein, wie sich wenig später herausstellt nach dem Bild seiner verstorbenen Tochter, und führt die unter Amnesie leidende Alita durch Iron City. Ein gleichermaßen heruntergekommener wie glatt poliert wirkender Ort, über dem die wesentlich prachtvoll erscheinendere Himmelsstadt Zalem als sehnsüchtiges Utopia schwebt. Robert Rodriguez, der den Regieposten nach vergeblichen Versuchen der Realisierung des ursprünglichen Regisseurs James Cameron übernahm, setzt in diesen anfänglichen Momenten von "Alita: Battle Angel" voll und ganz auf den puren Überwältigungseffekt. Das Produktionsbudget, irgendwo zwischen 150 und 200 Millionen Dollar, spiegelt sich nicht nur im Setting, sondern vor allem in den gestalterischen Details dieses Blockbusters wider. Die per Motion-Capture-Verfahren zum Leben erweckte Protagonistin ist eine wundersame Kreation zwischen realem Mädchen und künstlicher Animationsfigur, wobei die Grenzen so fließend wie selten verlaufen. Und immer wieder verliert sich die Kamera von Bill Pope in den bewusst etwas zu groß geratenen Augen von Alita, die damals nach der ersten Präsentation des Trailers bei Fans noch auf reichlich Protest stießen.
Im fertigen Film sind diese Augen aber nicht nur der Schlüssel zu Alitas komplexer Cyborg-Seele, sondern auch in den emotionalen Kern der Handlung. Wie sie sich zu einem ungläubigen Staunen weiten, wenn Alita erstmals ein Stück Orange oder Schokolade schmeckt oder ein rasantes Spiel des Motorball-Sports von Iron City verfolgt, verleiht "Alita: Battle Angel" ein zärtliches Schwelgen in Gefühlen.
Nach kurzer Zeit verblasst die vorzeitige Euphorie jedoch spürbar, sobald sich die eigentliche Geschichte weiter entfalten muss. Von Entfaltung kann allerdings kaum die Rede sein, denn Rodriguez und die Drehbuchautoren Laeta Kalogridis sowie Cameron höchstpersönlich treiben die Manga-Verfilmung mit einer rastlosen Fülle an schwerfälliger Exposition und hastig angerissenen Handlungsfäden voran, die die Sicht auf diese technisch beeindruckend erschaffene Welt immer stärker versperren.
Es dauert nicht lange, bis Alita ihrem ersten Schwarm Hugo begegnet und zugleich von verschiedenen Cyborg-Kopfgeldjägern verfolgt wird. Dabei spielt ihre Vergangenheit als Motiv der Jagd auf sie eine ebenso große Rolle wie für Alitas übernatürliche Fähigkeiten im Nahkampf, durch die sie Widersacher mitunter in Sekundenschnelle in ihre Einzelteile zerlegt. Von hier an wird "Alita: Battle Angel" zunehmend als unentschlossene Kombination aus jugendfreundlicher Young Adult-Romanze, Science-Fiction-Fantasie über die Fragen menschlicher Werte und geradlinigem Action-Blockbuster vorangetrieben.
In vielen Szenen, die mehrere dieser inhaltlichen Ausrichtungen parallel bedienen wollen, wird der Kampf zwischen dem "From Dusk Till Dawn"-Rodriguez und dem "Spy Kids"-Rodriguez mehr als deutlich. Zahlreich abgetrennte (Cyborg-)Gliedmaßen finden in vielen wuchtigen Actionszenen von "Alita: Battle Angel" ebenso ihren Platz wie klischeehaft konstruierte Figuren (selten wurde ein Schauspieler von Format wie Mahershala Ali als stereotyper Bösewicht derartig verheizt), hölzern geschriebene Dialoge und eine vorhersehbare Handlung, die wie ein überlanger Prolog mitsamt offen gehaltenem Ende für eventuelle Fortsetzungen dienen soll.
Nach dem anfänglichen Staunen durch Alitas Augen wird der Blickwinkel der Hauptfigur auch für den Zuschauer des Films mehr und mehr verengt. Der faszinierende Entwurf einer zukünftigen Welt, die teilweise völlig veränderten Mechanismen und Regeln unterliegt, wird lediglich einem kleinen Ausschnitt untergeordnet. Ganz zum Schluss wirkt "Alita: Battle Angel", dieser produktionstechnische Kraftakt von einem sündhaft teuren Blockbuster, wie ein zerfaserter Testlauf, eine verschwenderisch protzende Tech-Demo, die dem Publikum nur ansatzweise vorführt, was noch alles möglich gewesen wäre. Zum Schluss schweifen die Augen von Alita in die Leere.
Dass Kunst im Auge des Betrachters liegt, kommt für Morf Vandewalt nicht in Frage. Der Protagonist von Dan Gilroys neuem Netflix-Film "Velvet Buzzsaw" ist Kunstkritiker und wandelt mit einer Mischung aus blasierter Arroganz und vergnüglicher Angriffslust durch die Galerien von Los Angeles. Ein scharfes Urteil von ihm genügt, damit Kunstwerke entweder für hohe Summen den Besitzer wechseln oder im Keller des gescheiterten Künstlers verstauben. In diesem Zirkus der prätentiösen Eitelkeiten, Machtspielchen und dem ewigen Zwiespalt zwischen Kunst und Kommerz ist Morf Dompteur und Hauptattraktion zugleich.
Genüsslich führt Gilroy zu Beginn seines Films durch eine dieser Galerien, um den Zuschauer mit den verschiedenen Persönlichkeiten vertraut zu machen, die er sich im weiteren Verlauf seiner Mischung aus Kunstszene-Satire und Horror-Thriller vorknüpft. Es sind Charaktere wie die Galeristin Rhodora Haze, die früher einmal Mitglied der titelgebenden Punk-Band war und Erinnerungen daran durch eine Tätowierung im Nacken trägt, ihre Assistentin Josephina, die stark um ihre eigene Karriere bedacht ist und Verführungen von Morf nicht ausschlägt, oder Jon Dondon, der ebenfalls eine Galerie besitzt und kommerzielle Ziele verfolgt.
Sie alle entpuppen sich schon früh als bewusst stereotyp angelegte Figuren gängiger Künstler-Klischees, die Gilroy über sein Schachbrett der hämischen Bloßstellung manövriert. Dabei wird bedauerlicherweise schon bald deutlich, dass der Regisseur den dargebotenen Vorurteilen und offensichtlichen Zuständen innerhalb des Kunst-Milieus fernab von einigen ebenso spitzen wie unterhaltsamen Bemerkungen wenig hinzuzufügen hat. "Velvet Buzzsaw" entwickelt sich zur oberflächlichen, leeren Beobachtung einer oberflächlichen, leeren Szene, in der die anfänglichen Eindrücke zu den einzelnen Figuren weiterhin nur bestätigt und kaum variiert werden. Auf den Punkt gebracht wird Gilroys Ansatz dafür gleichermaßen absurd wie zum Schreien komisch in der Szene, in der Morf etwas später im Film an der Beerdigungszeremonie einer Figur teilnimmt. Auch hier lässt es sich der Kunstkritiker nicht nehmen, seine Meinung offen mitzuteilen und beispielsweise die Farbgebung des Sarges als geschmacklos zu verurteilen.
Eine neue Ebene fügt Gilroy seiner Geschichte schließlich hinzu, nachdem Josephina in dem Gebäudekomplex ihres Apartments die Leiche von Vetril Dease entdeckt. Dieser stellt sich als Künstler heraus, der eine Reihe von Gemälden unbemerkt in seiner Wohnung verstaut hatte. Als sie die Stücke Morf und Rhodora zeigt, sind die beiden sofort begeistert und beschließen, das Werk des verstorbenen Künstlers öffentlich auszustellen.
Nach und nach häufen sich die rätselhaften Vorfälle. Einzelne Stellen der Gemälde beginnen sich vor den Augen der Betrachter zu bewegen, bevor die Figuren in Gilyros Film einer nach dem anderen zu Opfern werden. Die Botschaft, dass diejenigen, die Kunst ausschlachten und kritisieren, von den Werken selbst ausgeschlachtet werden, transportiert der Regisseur mithilfe der altbekannten Slasher-Struktur mitsamt schaurigem Mythos. Genauso wie Gilroy zuvor für "Nightcrawler" Psychothriller, Charakterstudie und Mediensatire sowie für "Roman J. Israel, Esq." Charakterstudie, Justiz-Drama und Crime-Thriller kombinierte, setzt er für "Velvet Buzzsaw" wieder auf die Verschmelzung unterschiedlichster Genres.
In der grundlegend originellen Mixtur aus satirischer Vorführung und brutaler Vollstreckung gehen die gegensätzlichen Stilrichtungen allerdings nie eine stimmige Symbiose ein. Gilroy betrachtet seine eindimensional geschriebenen Figuren wie durch einen gläsernen Käfig, den er offenbar niemals konsequent durchbrechen will, um auf die tieferen Abgründe dahinter zu blicken. Die wenigen Horror-Sequenzen und unkonventionellen Todesarten in "Velvet Buzzsaw", die entfernt mit dem italienischen Giallo-Subgenre verwandt sind, wirken zaghaft eingestreut und lassen den nötigen Biss vermissen. Die Szene, in der eine Figur ein blutiges Ableben erfährt, wonach ihre Leiche als Teil eines Kunstwerks angesehen wird, ist eine der rar gesäten, berauschenden Ideen in Gilroys zahmer Abrechnung mit den Kunstschaffenden von Los Angeles, dem nach wie vor bevorzugten Schauplatz des Regisseurs.
"A bad review is better than sinking into the great glut of anonymity" ist eine der Aussagen von Morf, den Jake Gyllenhaal großartig zwischen exzentrischem Paradiesvogel, homosexuellem Verführer mit klaren heterosexuellen Vorlieben und späterem Wahnsinnigen als klaren Lichtblick dieses Films verkörpert. Fast scheint es so, als hätte sich Gilroy mit Morfs Aussage selbst schon im Voraus auf die Rezeption von "Velvet Buzzsaw" gerüstet.
Menschen mit Obsessionen scheinen sich im Schaffen von Dan Gilroy als Regisseur so langsam als feste Konstante herauszukristallisieren. Schon in seinem Regiedebüt "Nightcrawler" beschäftigte sich Gilroy mit einem Kleinkriminellen, der zum freien Journalisten wird und für schmutziges Geld Unfälle oder noch schlimmere Tatorte ablichtet. Immer tiefer drang der Regisseur in die Psyche des von Jake Gyllenhaal herausragend gespielten Nightcrawlers ein, um eine verkommene Persönlichkeit ohne Moral zu beleuchten, die sich gleichzeitig lediglich den erbarmungslosen Mechanismen der Medienbranche angleicht.
"Roman J. Israel, Esq.", Gilroys Nachfolgewerk als Regisseur, erscheint zunächst wie das genaue Gegenteil des Vorgängers. Anstelle des psychopathischen Nightcrawlers kämpft der titelgebende Anwalt dieses Films so sehr für das Gute, dass er alles andere dem Streben nach permanenter Gerechtigkeit unterordnet. Gespielt wird er erneut hervorragend von Denzel Washington. Seine Figur voller Spleens und Ticks lässt der Hauptdarsteller dabei nie zur puren Karikatur verkommen, auch wenn dieser Roman mit seinen schlecht sitzenden Anzügen, der altmodischen Brille und der unförmigen Afro-Frisur auf den ersten Blick wie ein ulkiges Relikt erscheint. Zu Beginn hat es gar den Anschein, als würde die Geschichte des Films in den 1970er-Jahren, so sehr hebt sich Roman rein optisch von seinem Umfeld des Handlungsschauplatzes Los Angeles ab.
Die regelmäßigen Anwandlungen hin zu einem fast schon überspitzt dargestellten Autismus balanciert Washington dagegen mit einer warmherzigen Menschlichkeit aus, durch die seine Hauptfigur auf überaus reizvolle Art zum verdienten Fixpunkt des Films wird. Mit "Nightcrawler" teilt sich "Roman J. Israel, Esq." außerdem den gleichen Schauplatz. Während Gilroy das Los Angeles in seinem vorherigen Werk jedoch vorzugsweise in tiefschwarze Bilder tauchte, in denen jeder Lichtstreif einem rettenden Strohhalm für den immer tiefer in unmoralischen Abgründen versinkenden Zuschauer entsprach, erstrahlt die Stadt der Engel in diesem Film in überwiegend warmen Sonnenstrahlen.
Durch sie irrt Roman wie ein unbelehrbarer Samariter der zu Unrecht Verurteilten, der am liebsten das gesamte Rechtssystem von Grund auf umkrempeln würde. Aus der Bahn geworfen wird der Anwalt, als sein Geschäftspartner sowie Mentor einen schweren Herzinfarkt erleidet. Die gemeinsame Kanzlei muss wegen Bankrott geschlossen werden und Roman kann seiner Tätigkeit nur weiterhin nachgehen, indem er bei einer anderen Kanzlei unterkommt. Die wird von George Pierce geleitet, einem ehemaligen Studenten von Romans Geschäftspartner, der die juristischen Angelegenheiten weitaus kälter und härter angeht.
Nachdem sich Gilroy für die erste Hälfte von "Roman J. Israel, Esq." förmlich in den Charakter seines Protagonisten verbeißt, ist die anschließende Wandlung des Anwalts wenig überraschend. Durch eine korrupte finanzielle Verlockung, bei der Roman persönliches Wohl gegen moralische Verantwortung abwägen muss, lässt er sich schließlich auf die dunkle Seite ziehen. Von einem angeklagten Kleinkriminellen, der zu Unrecht inhaftiert wurde, greift er den Hinweis auf den wahren Täter auf, um diesen zu verraten und die ausgeschriebene Belohnung von satten 100.000 Dollar einzustreichen.
Ab diesem Zeitpunkt öffnen sich in "Roman J. Israel, Esq." ein weiteres Mal deutliche Parallelen zu "Nightcrawler". Auch hier zeigt Gilroy wieder, wie sehr die fehlgeleiteten Obsessionen eines Menschen direkt in den Abgrund führen, aus dem es kein Entkommen mehr zu geben scheint. Dabei gelingt dem Regisseur der Spagat zwischen einem nüchternen Justiz-Drama, für das sich Gilroy an einem Film wie "The Verdict" von Sidney Lumet orientierte, einem geradlinigen Thriller und einem dezent verschrobenen Charakterporträt nicht mehr so sauber wie die Verschmelzung der Genre-Richtungen seines Vorgängers. "Roman J. Israel, Esq." fehlt es an der nötigen Tiefe sowie dem weitläufigeren Ausloten der Mechanismen eines Systems, das der Protagonist so vehement revolutionieren will. Romans Kampf gegen die Ungerechtigkeit, der letztendlich zum größten Kampf gegen sich selbst wird, verläuft in allzu vertrauten Bahnen. Der Abstieg des einst Unbescholtenen in kriminelle Gefilde erinnnert an Walter Whites Reise in "Breaking Bad", während Washington in "Roman J. Israel, Esq." weiterhin unbeirrt sowie erfolgreich um die Würde seiner Figur kämpft, während diese unwürdig in dem Geflecht aus zu oberflächlicher Systemkritik und vorhersehbar-tragischem Fall sowie Ausgang verschwindet. An Gilroys Gespür für charakterliche Grauzonen, fesselnde Obsessionen sowie dazu passende Bilder kann sich der Zuschauer aber auch hier nicht so schnell sattsehen.