YupYum - Kommentare

Alle Kommentare von YupYum

  • 8 .5
    YupYum 24.01.2025, 09:42 Geändert 24.01.2025, 12:01
    über Rebecca

    In Monte Carlo lernt die zurückhaltende Gesellschafterin, die niemals mit Namen genannt wird (Joan Fontaine) und als Begleitung für Mrs. Van Hopper (Florence Bates) fungiert, den autoritären Witwer Maximilian de Winter (Laurence Olivier) kennen. Schnell knüpft sich ein zartes Band zwischen den beiden und so nimmt er sie am Ende der Reise zu seiner Frau. Nach wunderschönen Flitterwochen kommen sie nach Schloss Manderlay 🏰 , dem riesigen Anwesen der Familie de Winter. Hier lebte er mit seiner verstorbenen Frau Rebecca de Winter und dem Hauspersonal, angeführt von der strengen und mysteriös-zugeknöpften Mrs. Danvers (Dame Judith Anderson). Gleich nach ihrer Ankunft ist für die neue Mrs. de Winter in allen Ecken des Hauses noch die Anwesenheit Rebeccas spürbar - die Verstorbene liegt wie ein Schatten über dem Haus und auch über der Beziehung zu Maxim, denn die Vergangenheit wird hier niemals angesprochen. Die zweite Mrs. de Winter scheint immer demoralisierter und verzweifelter zu werden…

    In den Siebziger- und Achtzigerjahren gab der Verlag Heyne die Buchreihe der sogenannten „Romantic Thriller“ heraus, Schauergeschichten, die immer von Schriftstellerinnen kamen und das Motiv „unglückliche Romanze an einem unheimlichen Ort“ hatten. Diese billigen Taschenbücher hatten sehr schöne gemalte Titelebilder mit mystischen Titeln und einer jungen Frau im Frontbereich (oft getrieben von Angst), die vor einem Schloss oder dergleichen stand, meistens im bleichen Mondlicht 🌛. Diese Geschichten gingen alle auf die viktorianische Tradition der britischen Schauerromanzen zurück und hatten teilweise wahre Perlen zu verzeichnen, wie beispielsweise das Buch 📕 „Die Braut von Pendorric“ von Victoria Holt - einer Geschichte bei der ich mich frage, warum sie nicht schon lange verfilmt wurde.

    Die Gothic-Schauermär „Rebecca“ (1940) war also Hitch’s US-Debüt, der danach nicht mehr in seine Heimat zurückkehrte. Er war auch der erste Film, der ihm eine Oscarnominierung einbrachte. Doch auch bei den fünf weiteren Nominierungen schaffte er es nie, die Trophäe zu gewinnen, so dass er selbst einmal sagte: „Always a bridesmaid, never a bride“ („Immer Brautjungfer, nie Braut“). Erst bei der 40. Oscarverleihung wurde er mit dem Irving G. Thalberg-Memorial Award geehrt. Er lieferte mit „Rebecca“ einen gloriosen Auftakt seiner amerikanischen Karriere, obwohl das in Tat und Wahrheit doch ein sehr britischer Film war.

    Nur fünf Tage nachdem auch in Großbritannien der Zweite Weltkrieg ausbrach, begannen die Dreharbeiten. Angesetzt waren 36 Drehtage und ein Budget von 850’000 Dollar. Beides hielt Alfred Hitchcock, der sich eine andere Arbeitsweise angeeignet hatte, nicht ein. Nicht nur die Detailverliebtheit, sondern u.a. auch die Grippe-Erkrankung seiner Hauptdarstellerin Joan Fontaine verlängerten die Drehzeit, so dass am Ende 36 Tage gebraucht wurden.

    Für die Hauptdarstellerin wurden die Dreharbeiten zu einer besonderen Belastung. Hitchcock liess keine Gelegenheit aus, ihr mitzuteilen, dass bis auf ihn keiner am Set sie mochte, insbesondere nicht ihr Partner Laurence Olivier. Dies führte bei ihr zu einer depressiven Verstimmung. Ob von Hitchcock beabsichtigt oder nicht, spielte Joan Fontaine in dieser Verfassung die Rolle der unscheinbaren und eingeschüchterten zweiten Ehefrau äußerst überzeugend. Dame Judith Anderson erhielt von Hitchcock die Anweisung, während des Drehs möglichst nicht zu blinzeln, um die emotionale Kälte der Mrs. Danvers zu unterstreichen. Ihre diabolisch-geheimnisvolle Präsenz ist der eigentliche Clou dieses Schauerstücks. Sie schaffte es immer wieder auf die Toplisten der Bösewichte. In späteren Verfilmungen wurde Danvers von Diana Rigg („Emma Peel“) und Kristin Scott-Thomas verkörpert - passt!

    Auch das Budget wusste er schnell zu sprengen. Da sich in den USA kein geeignetes Anwesen als Schloss Manderlay finden ließ, wurde in einer Studiohalle ein großes Modell aufgebaut. Schon das allein kostete 25’000 Dollar. Hinzu kamen die aufwendige Traumsequenz und der finale Brand. So kostete der Dreh dann weit über eine Million Dollar und verschärfte das angespannte Verhältnis zwischen Hitchcock und Selznick - ein Verhältnis, das stets durchzogen blieb. Seine Premiere feierte „Rebecca“ dann am 21. März 1940 und nahm an den Kinokassen sechs Millionen Dollar ein, so dass Selznicks Ärger über die erhöhten Budgetkosten bestimmt bald verflogen war. 

    Die gesamte Inszenierung passte sich dem Schauermärchen-Charakter des Bestsellers von Daphne Du Maurier an. Hitch war persönlich mit ihrem Vater Gerald bekannt, ihre tollen Bücher waren auch Vorlagen für „Riff-Piarten“ (1939) und „Die Vögel“ 🐦‍⬛ (1963). Es war dies nicht nur die monochrome B/W-Palette der Bilder, sondern auch die gothische Ausstattung des Schloss, Szenerie, Kostüme und natürlich auch die Musik. Szenenbild, Schnitt, Musik und Spezialeffekte waren demzufolge auch für einen Oscar nominiert. Viele Bilder sind vom klassischen Trivialkino geprägt. So finden wir Elemente wie ein Märchenschloss, Geister, eine böse Hexe und einen Menschen, der von seiner düsteren Vergangenheit befreit werden muss.

    Doch de Maurier’s Geschichte ist clever, ihr Story-Twist im letzten Drittel lässt die Geschichte in völlig neuem Licht erscheinen. Hitchcock weiss demnach auch die bekannten Schauer-Elemente äusserst elegant einzusetzen. Die Präsenz der Polizei spielt hier zudem keine unwichtige Rolle. Obwohl es keinen realen Geist gibt, ist so einer dennoch dauerpräsent. Die gelungene Bildsprache, u.a. mit labyrinthartigen Schauplätzen und einem grossen Licht-und Schatten-Spiel immer spürbar und hinterlässt eine eindringliche Stimmung beim Publikum.

    Leider scherbelt die dramatische Musik des Komponisten Franz Waxman (1906-1967), der u.a. auch für die Musik von „Der blaue Engel“ (1930), „Frankensteins Braut“ (1935), „Boulevard der Dämmerung“ (1950) und „Das Fenster zum Hof“ (1954) verantwortlich war. Die Musik im Film war Hitchcock sehr wichtig, seine Stammkomponisten Dimitri Tiomkin und später Bernard Herrmann trugen immer wieder zu den beklemmenden Stimmungen in seinen Filmen bei.

    Fazit: Definitiv einer meiner Top 3-Favoriten aus Hitchcock‘s reichem Schaffen.

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    • 5

      Der Nacholger des ehemaligen Leiters von Dr. Murchison (Leo G. Carroll) der Green Manors Irrenanstalt wird niemand geringeres als der junge Dr. Edwardes (Gregory Peck), ein berühmter und renommierter Psychiater. Kaum in der neuen Klinik angekommen, ist er gleich von der kühlen Dr. Constance Petersen (Ingrid Bergman) angetan. Doch mit der Zeit häufen sich in der Nervenheilanstalt die Anzeichen dafür, dass Dr. Edwards selbst ein paranoider, an Amnesie leidender Betrüger ist. Als Dr. Petersen den falschen Arzt zur Rede stellt, gesteht ihr dieser eine erschreckende Wahrheit. Hat er etwa den echten Dr. Edwards auf seinem Gewissen?

      Man mag aus heutiger Sicht über die ausgedehnten psychoanalytischen Erklärungen in den Dialogen des Films ziemlich befremdet, amüsiert und auch etwas gelangweilt sein. Aber immerhin war dieses Selbstfindungsdrama in dieser Form der erste Film, der sich mit der Wissenschaft nach Sigmund Freud derart eingehend befasste.

      Anders als bei anderen Adaptionen von Büchern (z. B. „Rebecca“ oder „Psycho“) übernahm Hitchcock hier nur die Grundprämisse des zugrundeliegenden Romans (ein Geisteskranker nimmt die Identität eines anderen an). Ansonsten weicht der Film deutlich vom Roman ab. Hitchcock und Drehbuchautor Hecht haben sich dafür verschiedene psychiatrische Anstalten in der Gegend rund um New York angesehen, bevor das Drehbuch maßgeblich in einem New Yorker Hotelzimmer entstand.

      Bemerkenswert an „Spellbound“ sind drei markante Merkmale: Die Oscar-prämierte Musik von Miklós Rosza, die Skiszene ⛷️ (die auf John Ballantyne und Dr. Petersen fallenden Schneeflocken ❄️ waren in Wahrheit Cornflakes) und die von Salvador Dali entworfene Traumsequenz. Hitch nervte, dass Traumszenen bisher stets mit waberndem Rauch dargestellt und leicht unscharf gefilmt würden, um sie neblig und verschwommen wirken zu lassen. Hitchcock hielt Träume stattdessen für sehr lebhaft und klar („vidid“).

      Als Fazit hat für mich dieses doch irgendwie merkwürdige und langwierige Psychoanalysis-Drama ganz klar Staub angesetzt. Man muss sich durch einzelne Szenen geradezu hindurchkämpfen. Peck spielt zu offensichtlich mit den Kiefermuskeln und kneift die Augen dann krampfhaft zu, um auf diese Weise anzudeuten, dass mit ihm nicht alles in Ordnung ist. Bergman scheint hier als Frau allen Männern überlegen zu sein.

      25
      • 7 .5

        Die Tochter eines wegen Spionage für die Nazis verurteilten Hubermann, Alicia (Ingrid Bergman), wird vom US-Geheimdienst in Gestalt von T. R. Devlin (Cary Grant) angeworben, einen geheimen Ring von nach Brasilien geflüchteten Nazis in Rio aufzuspüren. Alicia, die das Treiben ihres Vaters stets verabscheute und Amerika liebt, ertränkt ihre Verzweiflung in Alkohol und Männern. Trotzdem lässt sie sich anheuern und fliegt mit Devlin nach Rio, um sich in das Vertrauen von Alexander Sebastian (Claude Rains) einzuschleichen, den sie aufgrund der Beziehungen ihres Vaters zu Sebastian von früher kennt. Er war schon vor Jahren in Alicia verliebt. Als sie jetzt in Rio bei ihm auftaucht, hat er nichts anderes im Sinn, als Alicia zur Heirat zu bewegen – trotz Protestes seiner Mutter (Leopoldine Konstantin), die von vornherein notorisch eifersüchtig auf alle jungen Frauen zu sein scheint, mit der sich ihr Sohn umgibt. Die Maskerade scheint perfekt, bis Devlin einen entscheidenden Fehler begeht…

        Hitchcock legte mit dem kosmopolitischen Agententhrilker „Notorious“ (1946) vielleicht seinen simpelsten und bis dato kompaktesten Film hin - auch visuell hat er nichts von seiner hohen Qualität eingebüsst. Die Konstellationen konzentrierten sich im wesentlichen auf drei Personen und ihre Mentalität und Gefühlswelt - und auf die aphrodisierenden Flüssigkeiten Whisky und Kaffee.

        „Notorious“ enthält den bis dato längsten Kuss der Filmgeschichte. Ein mehr oder weniger ungeschriebenes Gesetz lautete damals, ein Kuss dürfe nicht länger als drei Sekunden dauern. Hitchcock zieht die Kussszene über drei Minuten. Beide umarmen sich über die gesamte Zeit, unterbrochen von Küssen, die nicht länger als drei Sekunden dauern, und sprechen (oder säuseln) dazwischen in dieser schönen alten Melo-Manier.

        Maskerade und Demaskierung sind zentrale Momente in Hitchcocks Filmen. Im Fall von „Notorious“ kommt noch ein Betrug hinzu: 1950 kam der Film unter dem Titel „Weißes Gift“ auf deutsche Leinwände. Aus den Nazis im Film wurden Drogenhändler, aus dem radioaktiven Material Rauschgift, aus der Deutschen Alicia Hubermann eine Schwedin und aus dem Bösewicht Sebastian ein Herr Sebastini. Erst später erhielt der Film eine neue deutsche Synchronisation und aus den Drogendealern wurden wieder die ursprünglichen Nazis. Allerdings spielt diese Fälschung - so sehr sie auch etwas über den Umgang in Deutschland mit der eigenen Vergangenheit verraten mag - in Bezug auf die Geschichte, die der Film erzählt, so gut wie keine Rolle.

        Fazit: „Notorious“ weiss auch nach 80 Jahren immer noch hervorragend zu unterhalten, er ist spannend, seine Szenen sind kurz und knackig, und es macht einfach Spass Rio in den Vierzigern vor der grossen Bossa Nova-Welle zu sehen, die die Stadt so weltberühmt machte. Das Schauspiel ist herausragend, besonders die oft angesäuselte (oder verkaterte, je nach Tageszeit) Ingrid macht in ihrer verletztlichen Fragilität den ganzen Film für sich aus.

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        • 4 .5

          Anthony Keane (Gregory Peck), ein aus besten Kreisen stammender Londoner Anwalt, Mitglied der Kanzlei von Sir Simon Flaquer (Charles Coburn), verheiratet mit der sensiblen Gay (Ann Todd), wird beauftragt, die Dame Maddalena Anna Paradine (Alida Valli) zu verteidigen, die ihren wesentlich älteren blinden Mann ermordet haben soll. Aber bevor Keane hinter ihr Geheimnis kommt, verliebt er sich in die Angeklagte, was seine Verteidigung zunehmend erschwert. Verheimlicht Mrs. Paradine ihm gar etwas?

          Schlechte Ausgangsbedingungen hat aber auch der Film selbst. Hitchcock konnte mit seinem Cast wenig anfangen - die Schauspieler waren nicht seine erste Wahl, er hielt Gregory Peck, Alida Valli und Louis Jourdan („007 - Octopussy“; 1983) für nicht geeignet für die Rollen, die sie spielen sollten. Selznick bestand als Studiochef allerdings darauf, sie einzusetzen. Hitchcock hätte lieber Sir Laurence Olivier als Keane, Greta Garbo als Mrs. Paradine und Robert Newton als André Latour gehabt.

          Als Hitchcock nach einer Rekordzeit von 92 Drehtagen den fertigen Film dem Studio ablieferte, hatte er eine Laufzeit von fast drei Stunden. 1980 wurde die ungeschnittene Originalversion bei einer Flut zerstört, was eine Restaurierung der geschnittenen Version als unwahrscheinlich erscheinen lässt. Drei Stunden für diesen ermüdenden Stoff wäre tatsächlich eine Tortur gewesen.

          Während Barrymore und Laughton hervorragende Leistungen zeigen, wirkt Gregory Peck zu offensichtlich wie ein Amerikaner, der in einen englischen Frack gesteckt wurde. Ann Todd als seine Frau bleibt blass, wirkt oft kalt. Hitchcock erkannte dies durchaus treffend. Louis Jourdan strapaziert die Rolle des psychisch angeschlagenen, unglücklich verliebten Diener seines ermordeten Herrn in allzu theatralischer Tendenz. Alida Valli als aus armen Verhältnissen stammende Schönheit allerdings empfand ich nicht als Fehlbesetzung - sie umgibt eine grosse mystische Aura und Pecks Besuch in ihrem gotischen Herrenhaus auf dem Lande (die weitaus beste Szene des Films) bestärkt das noch zusätzlich. Ebenso hat sie für mich viel zu wenig Screentime.

          Das Melo-Justizdrama „The Paradine Case“ (1947) ist Hitchcocks letzte Arbeit unter seinem Vertrag mit David O. Selznick und kostete das Studio mit drei Millionen Dollar annähernd ebenso viel wie der wesentlich aufwendigere Film „Vom Winde verweht“ (1939). Der Grund für die Überziehung des Budgets war, dass man von Anfang an hinter dem Drehplan herhinkte. Selznick beschwerte sich, Hitchcock sei „unverantwortlich langsam“ und zeige außerdem „eine offensichtliche Indifferenz gegenüber Kosten und überhaupt nicht mehr die feste Hand, die ich einst geschätzt habe“. Ihr seit jeher beschwerliches Verhältnis war nach diesem Film endgültig zerrüttet.

          Gute Männer geraten an böse Frauen. Das ist die Moral von der Geschicht'. Die ist eigentlich auch ganz schnell erzählt und zieht sich dann endlos dahin bis zur komplett desillusionierenden Auflösung. Überhaupt ist die ganze triste Grundstimmung, die sich durch den deprimierenden Film hindurchzeht, ein Ablöscher in grau.

          „Wären nicht auch in diesem Film wieder ein paar Einstellungen und Szenen, die Hitchcocks besondere Fähigkeiten im Medium Film unterstreichen, wäre das Melodram einfach nur ein weiteres Melodram.“, wie ein Kritiker wohlwollend kritzelt. Man meint es ja schliesslich gut mit Alfred Hitchcock.

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          • 5

            „Sagen Sie, sind Sie hier mich zu überwachen?“ - „So sehr ich das bedaure, ja!“ - „Gestatten Sie, dass ich mich setze?“ - „Aber natürlich!“ - „Dann bringen Sie mir einen Stuhl!“

            „Ich hatte mal einen Hund, er hasste mich. Er hatte mich gebissen, und ich liess ihn töten.“

            Man kann es wenden und drehen wie man will: Marlene ist einfach die grösste Diva aller Zeiten, und sie beweist das in diesem konfusen Hitchcock-Revue-Krimi „Stage Fright“ (1950) wiedermal aufs Neue. Sie beweist einfach, dass ihre ihre Präsenz jedes zweitklassige Drama vor dem Absturz bewahrt und irgendwie doch noch sehenswert macht.

            Um was geht es denn hier in groben Zügen?
            Jonathan Cooper (Richard Todd) wird von der Polizei gesucht, die ihn verdächtigt, den Ehemann seiner Geliebten, die Schauspielerin Charlotte Inwood (Dietrich), getötet zu haben. Seine junge Freundin Eve Gill (Jane Wyman) bietet ihm an, ihn zu verstecken. Jonathan verrät ihr, dass Charlotte den Mord selbst begangen hätte aber auch, dass er eine Affäre mit ihr hatte. Eve beschließt, auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen, indem sie als falsche Zofe Doris bei Charlotte undercover zu arbeiten beginnt. Doch als sie zufällig dem charmanten Detektive Inspector Wilfried „Ordinary“ Smith (Michael Wilding) begegnet, verliebt sie sich in ihn.

            Schon der deutsche Titel „Die rote Lola“) ist verwirrend, eine Lola gibt es hier nämlich keine. Auch sonst fällt es schwer, der komplizierten Geschichte überhaupt zu folgen. Als Fazit sind eigentlich nur Dietrich und der ganze Theaterkasrsumpel 🎭 von damals interessant.

            Jane Wyman hasste es als unscheinbares und braves Mädchen neben der glamourösen Dietrich in ihren überbordenden Dior-Kostümen aufzutreten. Sieht man den Film wiedermal, kann man sich nicht dem gewissen Schalk entziehen, den die Dietrich wohl ob dieser Tatsache genüsslich in ihrem erhabenem Schauspiel mitpräsentierte.

            Michael Todd wurde immer wieder mit dem verkörperten Wahnsinn eines Anthony Perkins verglichen - ich finde das weit übertrieben, und Hitchcock besetzte ihn niemals je wieder. Auch sonst hat der in London spielende Film ein Gros von damals grossen britischen Schauspielgrössen zu bieten (die heute keiner mehr kennt).

            Der Film variiert das von Hitchcock immer wieder gewählte Thema des unschuldig Verfolgten („Die 39 Stufen“, „Saboteure“, „Der unsichtbare Dritte“) für eine Schlusspointe, die für den Zuschauer auch nicht ganz überraschend daherkommt. Diese ist umso ärgerlicher, da sie einer zuvor gezeigten Rückblende widerspricht, was dem Publikum schon damals sauer aufstieg. Diese dumme Einstellung irritiert noch heute.

            Edith Piaf erteilte ihrer damaligen Freundin Marlene persönlich den Segen, dass sie das Lied „La vie en rose“ im Film singen durfte (die Version von Grace Jones dudelt immer noch durch die Radios 📻 ). Noch grösser ist natürlich Cole Porter‘s „The Laziest Gal In Town“ - ein schlüpfriges Lied, das er mit seinem anzüglichen (und zensurierten!) Text extra für Dietrich schrieb.

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            • 7

              Aus einer harmlosen Plauderei im Zug nach Washington entspinnt sich der Plan zu einem perfekten Mordkomplott: Bruno Anthony (Robert Walker), der Tennis-Ass Guy Haines (Farley Granger) aus den Sportnachrichten und Klatschspalten kennt, bietet ihm an, dessen scheidungsunwillige Frau Miriam zu ermorden. Im Gegenzug soll er Brunos verhassten Vater unter die Erde bringen. So könne man doch zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, und weil sich die Mordmotive nicht mit ihnen beiden verbinden lassen, würden polizeiliche Nachforschungen schnell ins Leere laufen. Was Guy zunächst für einen bösen Scherz hält, lässt ihn jedoch nicht wieder los, denn Miriam will keinesfalls, dass ihr Mann mit der Senatstochter Anne Morton (Ruth Roman) glücklich wird. Und schliesslich macht Bruno bitterernst…

              Mit „Verschwörung im Nordexpress" (deutscher Kinotitel) gelang Hitchcock nach einigen enttäuschenden Werken eine fulminante Rückkehr zum intelligent gemachten Spannungskino. Dabei lohnt es sich, auf die symbolträchtige Bildgestaltung zu achten. Kameramann Robert Burks (fotografierte außer „Psycho" bis zu seinem Tod 1964 alle Filme Hitchcocks) setzte formal neue Akzente im Œuvre des Meisters.

              Überzeugend spielt hier Hitchcocks eigene Tochter Patricia die naiv-drollige Filmschwester von Ruth Roman. Die Figur eines jungen und frechen Backfischs begegnet einem immer wieder in Hitch’s Filmen. Robert Walker als Bruno ist herrlich aufdringlich und psychopathisch. Laura Elliott als abgewimmelte erste Frau erfährt man als super-bitchy. Ihre für die Zeit typisch verstärkte Brille für Schwersehbehinderte (die die Augeniris riesig erscheinen lässt), sollte später eine grosse Symbolbedeutung in der Geschichte bekommen - Klasse!

              Wie erwähnt, der Film besticht durch tolle und ungewöhnliche Bilder, wie solche eines Karussell 🎠, das an einem Jahrmarkt Amok fährt, oder den parallelen Handlungen an einem gewieft fotografierten Tennismatch. Die Geschichte ist spannend und fesselnd umgesetzt.

              Den Roman „Strangers On A Train“ von Patricla Highsmith hatte sich Hitchcock selbst ausgesucht. Für die Verfilmungsrechte erhielt die bis dato unbekannte Autorin mickrige 7’500 Dollar.
              Als sie sich bei Hitchcock darüber beklagte, meinte dieser, sie hätte für die Verfilmung ihres Buchs eigentlich noch bezahlen müssen, denn schließlich würde das Projekt zu ihrem künftigen Ruhm beitragen.

              Es sollte noch lange dauern, bis Highsmith endlich die verdiente Anerkennung als versierte Schreiberin des psychologischen Suspense bekam. Sie wohnte bis zu ihrem Tod, 1995, in einen kleinen Häuschen in Tegna im Pedemonte-Tal im Tessin. Ein Dorf nicht weit von meinem. Ein Besuch in der Gegend des Centovalli lohnt sich sowieso immer, es ist einer der schönsten Flecke der Schweiz 🇨🇭.

              Mit Schriftstellern konnte Alfred Hitchcock nie gut zusammenarbeiten, denn sie hätten von Grusel, Thriller und Suspense keine Ahnung. Schliff ins Drehbuch sollte Raymond Chandler bringen. Der renommierte Film-Noir-Experte war bald schwer genervt, denn der „fette Bastard" (Chandler) kam ständig zu ihm nach Hause, nervte mit Vorschlägen und änderte bis in kleinste Details. Nachdem er ihm seinen Entwurf schickte, hörte er nie wieder etwas von Hitchcock: „Kein einziges Telefonat, keine Kritik, null Anerkennung!"

              Letztlich sollte Hitchcocks Lieblingsautor Ben Hecht („Berüchtigt") das Skript fertigstellen, doch der war verhindert und vermittelte ihm seine Assistentin Czenzi Ormonde. Ärger mit ihr ist nicht überliefert.

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              • 7

                Otto Keller (O. E. Hasse) will beichten - jetzt, um diese Zeit, um Mitternacht. Der deutsche Emmigrant hat den Rechtsanwalt Villette (Ovila Légaré), ermordet und diesen um 2000 Dollar erleichtert, um mit seiner Frau Alma (Dolly Haas) zurück in Deutschland ein neues Leben zu beginnen. Der junge Priester und Beichtvater, Michael William Logan (Montgomery Clift), nimmt dem Täter das Versprechen ab, sich der Polizei zu stellen und verspricht seinerseits Stillschweigen durch Beichtgeheimnis zu bewahren. Doch Logan gerät durch eine Kette von Verknüpfung von Zufällen plötzlich selbst unter Mordverdacht des hartnäckigen Inspektors Larrue (Karl Malden - super!). Als die Polizei dann auch noch die blutverschmierte Soutane, die Keller während des Mordes getragen hat, in Logans Zimmer findet, scheint sich der Verdacht des Kriminalbeamten endgültig zu bestätigen. Doch die geheimnisvolle Blondine Mrs. Ruth Granford (Anne Baxter) kommt Logan zu Hilfe - was ist ihr Motiv?

                Zu Beginn und auch wieder als Schlussbild sieht man das Chateau Frontenac, das Wahrzeichen von Quebec Stadt in Kanada 🇨🇦 . Hitchcock wählte den Drehort dazumal bewusst, denn er dachte, nicht-katholische Amerikaner könnte das Motiv des Beichtgeheimnisses verwirren.

                Für ihn, dessen katholische Erziehung in fast allen seinen Filmen ihre Spuren hinterlassen hat, war die Geschichte eines Priesters, der in den Konflikt gerät, sich nur durch das Brechen des Beichtgeheimnisses von einem Mordverdacht befreien zu können, faszinierend. Es stand lange auf seiner „Bucket List“ (um mal zur Abwechslung ein Wort zu nehmen, das richtig trendy tönt), das Theaterstück „Nos deux consciences“ von Paul Anthelmes aus dem Jahr 1902 zu verfilmen, das Vorhaben wurde immer wieder verschoben.

                Bei vielen gilt das melodramatische Noir-Krimidrama „I Confess“ (1953) stilistisch als einer der besten Hitchcock-Thriller überhaupt. Seine Bildsprache, sein Spiel mit Licht und Schatten sowie mit Hell und Dunkel (in seinem vorerst letzten Schwarzweißfilm), die suggestive Kameraführung von Rober Burks, die exakte Bildkomposition und die vielen visuellen Details wurden vielfach gelobt.

                Das umgesetzte Motiv der Schuldübertragung war zuvor schon in „Strangers On A Train“ (1951, nach Patricia Highsmith) gesehen. Montgomery Clift gibt hier ein tolles Beispiel von seiner eigenen physischen Disposition in seinem introvertierten Schauspiel wieder. Das weibliche Pendent Anne Baxter gibt mit ihrem shiny Blond und ihrer strahlenden Erscheinung ein tolles visuelles Pendent zu Clift. Sie hat mir sehr gut gefallen und die Schilderungen in ihrer episch anmutenden Rückblende (u.a. mit dem plötzlichen Einsetzen eines Gewitters an einem Sommertag in der Idylle) fand ich fast der stärkste Teil des Films.

                Doch die Auflösung und der Showdown waren mich für Hitchcock‘s Niveau einfach zu schwach und zu wenig gewieft. Hier wäre mit der soziopathischen Psychologie des wahren Mörders weit mehr drin gewesen. Doch das einzigartige Flair und die ganze Aura des Films bleiben outstanding.

                Und wie Anne Baxter sich nach der ganzen überstandenen Geschichte dann doch erleichtert und auch glücklich mit ihrem Ehemann Pierre (Roger Dann) aus dem Bild verschwindet, hatte etwas für mich gross Rührendes. Überhaupt ist die ganze Toleranz dieses grosszügigen Mannes einfach sehr bemerkenswert, hatte er von seiner Frau zuvor doch den Satz gehört: „Ich habe dich nie geliebt und werde das auch nie.“

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                • 7 .5

                  Margot Wendice (Grace Kelly) hat eine Affäre mit dem Schriftsteller Mark Halliday (Robert Cummings). Ihr Mann, der Playboy und Lebemann Tony Wendice (Ray Milland), erfährt davon. Trotzdem möchte er sich aus finanziellen Gründen nicht von der reichen Margot scheiden lassen. Stattdessen plant er ihren Mord - einen perfekten Mord, der nicht aufgeklärt werden kann. Doch der ausgefeilte Plan scheint zu scheitern, als Margot es schafft, ihren Mörder in Notwehr zu erstechen. Doch Tony gibt nicht auf und ändert seinen Plan einfach um…

                  Der ausgefuchste Kammerspiel-Krimi „Dial M For Murder“ (1954) war Hitchcocks erste Zusammenarbeit mit seiner Lieblingsblondine Grace Kelly, die anschließend noch in seinen Filmen „Das Fenster zum Hof“ (1954) und „Über den Dächern von Nizza“ (1955) auftrat. Mit den wechselnden Farben ihrer Kostüme wurde eine wichtige Symbolik zum Film hinzugefügt: Weiss für rein, rot für verrucht, pink für treu und umsorgend.

                  John Williams hatte die Rolle des Polizeiinspektors zuvor schon am Broadway gespielt und hierfür einen Tony Award gewonnen. Es ist den meisten nicht bekannt, dass nicht etwa Cary Grant oder James Stewart der Mann der mit den meisten Auftritten in Hitchcock-Filmen hatte, sondern eben der elegante Gentleman Williams aus England.

                  Das Motiv des perfekten Mordes faszinierte Hitch, immer wieder sah man es in seinen Filmen. Es war ihm hier wichtig, den ursprünglichen Play-Charakter der Geschichte beizubehalten, dehalb spielt sich praktisch der ganze Film im Salon des Ehepaars Wenduce ab, wie das auch schon bei „Cocktail für eine Leiche“ (1948) war.

                  Doch „Dial M“ ist für mich um einzigeres fesselnder und spannender als „Cocktail“. Das liegt einerseits an den messerscharfen Dialogen und natürlich auch am herrlich diabolsch aufspielenden Ray Milland, der hier eine schauspielerische Meisterleistung zeigt.

                  Hitchcock, der für die damals hippe 3-D-Technik nicht viel übrig hatte, wurde von Warner Bros. dazu gedrängt, den Film schliesslich mit dem sogenannten Polarisationsverfahren zu drehen. Mit diesem Effekt wollte man damals die Zuschauer zurück ins Kino holen, denn nach der generellen Einführung von Free-TV wurden die Leute kinomüde. Einstellungen wurden der neuen Technik auch angepasst - hier beispielsweise durch die Schere ✂️, die von Grace Kelly gegen den Bildschirm ausgefahren wurde oder den ominösen Schlüssel 🔑 in Milland‘s Hand.

                  1998 kam schliesslich das fulminante Remake „A Perfect Murder“ (mit Michael Douglas) in die Kinos, der die (schon ursprünglich knallige) Geschichte grossartig variierte. „Dial M“ hat kaum Staub angesetzt - es sind diese Dialoge und das Schauspiel auf höchstem Niveau, die die wenig szenische Abwechslung gekonnt wettmachen.

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                  • 4 .5

                    „It strikes me that only an honest man would be so foolish.“ (Hughson)

                    Als Juwelendieb hat John Robie (Cary Grant) an der azurblauen Côte so viel zusammengeklaut, dass er für den Rest des Lebens sorgenfrei leben kann. Seiner raffinierten Technik wegen wurde er oft „die Katze“ genannt. Und eben diese Katze scheint plötzlich wieder aktiv zu sein. Eine Reihe von Einbrüchen tragen nämlich exakt seine Handschrift. Von der Polizei wird er genauso verdächtigt wie von den alten Komplizen. Da bleibt Robie nur ein Ausweg: Er selbst muss den Unbekannten selbst überführen. So trifft er am Strand von Cannes die steinreiche Mrs. Stevens (Jessie Royce Landis) und deren bildhübsche Tochter Frances (Grace Kelly). Sie klunkern kurz mit ihren Juwelen 💎, nehmen ihn mit auf einen prunkvollen Ball, eröffnen ihm so die Wege zu den Superreichen und machen möglich, dass sie bei einer verwegenen Gangsterjagd auf den Dächern von Nizza eine grosse (unfreiwillige) Hilfe sind…

                    Schöner und effektvoller Nebeneffekt: Vor der Kulisse eines gewaltig-farbenfrohen Feuerwerks 🎆 erobert der ehrbare Ex-Ganove das Herz der betörenden Noch-Amerikanerin, die ihren Filmruhm bald gegen einen goldenen Fürstenkäfig austauschen würde. Heute würden Kilmaaktivisten davon eine Herzbarracke bekommen und sich mit Sekundenkleber vor dem Palast in Monaco festleimen. Eine Stephanie würde das wohl beim wöchentlichen Müllsäcke-raustragen verdutzt bemerkt haben, hätte sich nicht gerade wieder einen ihrer verkorksten „Wetten dass…?“-Singsang-Aufritte beim mittlerweile wegen Auflehnung gegen die Political Correctness geschmähten Thomas Gottschalk gehabt.

                    Hitchcock begründete mit seinem Film ein neues Sub-Genre: die „kultivierte Thriller-Romanze“ (Buch von Harris/Lasky, 1976), was später unter anderem von Stanley Donen in „Charade“ (1963) und „Arabeske“ (1966) aufgegriffen wurde. So deutlich wie in fast keinem anderen Film stehen Frauen als Handlungstreibende in „To Catch A Thief“ im Mittelpunkt.

                    Hitchcock machte bereits Anfang der 1940er-Jahre leidige Erfahrungen mit Hollywoods Zensurbehörde. Ihn reizte es schon immer, die Grenzen des Erlaubten auszuloten und die Sittenwächter zu überlisten. In der eigentlichen Romanze „To Catch A Thief“ (1955) sind visuelle und verbale Anspielungen sexueller Art in einer Direktheit enthalten, die alles bis dahin in Hollywood Gekannte überschritt, die die Zensur aber überstanden. In mehreren Szenen gibt es versteckte sexuelle Anspielungen und Zweideutigkeiten.

                    Das Auto, mit dem Grace Kelly bei dem Ausflug im Film fährt, ist ein saphirblaues, 1954er Sunbeam Alpine Mark III-Cabriolet 🚙 . Es ist die schönste Einstellung des Films, wie die beiden Akteure auf der engen Bergstrasse, hoch über dem blauen Meer, auf ein verstecktes Plätzchen zum Picknick brausen. In einer ähnlichen Haarnadelkurve, nicht unweit dieser im Film, stürzte Kelly 1982 mit einem noch schnittigeren Auto schliesslich in den Tod.

                    Suspense? Von wegen!
                    Doch der Meister meinte: „Der Suspense ist sozusagen minimalisiert und rankt sich um die Frage, wer Robie bekommt. Die Verhaftung der wirklichen Diebe ist halt kriminalistische Genre-Logik.“

                    Sagen Sie es bitte nicht weiter: Aber für mich ist „To Catch A Thief“ sehr behäbiges Fünftzigerjahre-Kino mit einer ziemlich langweiligen, sich endlos ziehenden und uninteressanten Geschichte, die praktisch ein Vorgeschmack auf die ganze Yuppiesierung der Côte d’Azur ist. Und ich finde nun mal Tippi Hedren einfach kesser und charaktervoller als Grace Kelly.

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                    • 5 .5

                      Der Barmusiker Manny Balestrero (Henry Fonda) kann mit seinem Gehalt die eigene Familie knapp versorgen. Als seine Frau Rose (Vera Miles) eine Zahnbehandlung benötigt, sucht er seine Versicherung auf, um sich das Geld zu leihen. Die Frau am Schalter verwechselt Manny irrtümlich mit dem Mann, der die Filiale in den letzten Monaten zweimal überfallen hat. Auf dem Heimweg wird Manny von der Polizei verhaftet, was ein ermüdender und entwürdigender Prozess vor Gericht zur Folge hat. Gleichzeitig geht die ganze Geschichte der robusten Ehefrau Rose mehr an die psychische Substanz als angenommen.

                      Mit dem Noir-Krimial- und Justizdrama „The Wrong Man“ (1956) verfilmte Alfred Hitchcock seine eigene grösste Angst, die auf eine Kindheitserinnerung zurückgeht: Als er fünf Jahre alt war, schickte ihn sein Vater mit einer Notiz zur Polizei, und er wurde ohne Grund festgenommen und in eine Zelle gesperrt. Seither fürchtete sich Hitchcock vor polizeilichen Übergriffen und vor unrechtmässigen Verurteilungen und Gefängnisstrafen.

                      Auf jeden Fall kann hier attestiert werden, dass Hitch grösstmögliche Authentizität anstrebte, sowohl er wie Miles und Fonda trafen sich mehrfach mit den echten Balestreros. Seine Frau Rose erholte sich zwar entgegen der eingeblendeten Schlusstitel nie wirklich ganz von ihrer paranoiden Depression, immerhin wurde das Ehepaar nach den Autorenrechten zu Buch und zwei Verfilmungen zu gutsituierten Leute.

                      Filme, in denen von Zuschauer wissentlich Unschuldige in die Polizei- und Justizmühle gelangen, hatten für mich jeher etwas desillusionierendes und beklemmend aussichtsloses, grad wenn das Opfer noch von Geldnöten geplagt ist. Hitchcock‘s Drama ist denn auch kühl verhalten, trocken und bierernst. Dramaturgisch passiert kaum je was, das nachhaltig hängenbleibt, auch Längen plagen hier.

                      Nur genau zweimal gibt es hier für mich ein herausragendes Bildsprachenelement, die interessant blieb: Als Fonda in der Versicherungsfiliale in den Mantel greift als würde er eine Waffe rausholen, stattdessen aber die Versicherungspolice zeigt und dann, als sein Konterfei im nach der Attacke im zerbrochenen Spiegel 🪞 verstört zu erkennen ist. Ein albtraumhafter, kafkaesker Expressionismus, der leider nur rar gestreut ist.

                      Für das amerikanische Kino der Fünfzigerjahren ist mir dieser sensible Film dann doch etwas zu gleichförmig, zu verhalten, zu langfädig und zu überraschungsarm. Zwei Jahre darauf folgte das ebenso authentische Drama „Let Me Live“ (1958; mit Susan Haward), das dann nach einem ähnlichem Muster richtig krass in die Knochen fuhr.

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                      • 5 .5
                        YupYum 03.01.2025, 13:14 Geändert 03.01.2025, 14:49

                        (Kurzkommentar:)
                        Man fragt sich schon, warum man deutschen Produktionen immer gleich ansieht, dass sie deutsch sind. Sie haben eigentlich meistens diese typische Derrick- und Tatortästhetik als gemeinsamen Nenner, irgendwie scheint diese nicht ausmerzbar zu sein. Die rasant geschnittene Polizei-Minierie „Im Angesicht des Verbrechens“ (2010), die mir irrtümlich von einem DVD-Versand zugeschickt wurde, war für mich in den ersten vier Folgen mit dem Abtauchen in die Ostblock-Unterwelt in Berlin („Der fickt uns doch, ohne Vaseline!“) doch recht interessant und unterhaltsam, danach taten sich dramaturgisch einfach Mängel und Löcher auf. Mit den Details in der Ausstattung wurde es teilweise sehr genau genommen, wenn aber wichtige Schlüsselszenen bei Dunkelheit stattfinden (bei denen der Bildschirm ziemlich schwarz und der Zuschauer nachtblind bleibt), nützen auch diese wenig. Max Riemelt spielt hier weniger selbstverliebt wie auch schon, man kann ihn immerhin ertragen. Und dieses ständige Ost-Geschwafel von „Ehre“ ist kulturell schon sehr abschreckend, ich denke, ich werde wohl nie eine Reise nach Moskau unternehmen.

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                        • 7

                          „Eins ist ein für allemal klar: Die Tristesse der Siebziger ist vorbei. Die Utopien sind tot. Die Krise hat uns volle Kanne in die Realität zurückgeworfen. Was wir heute brauchen, ist Action. Und zum ersten Mal sprechen alle die gleiche Sprache.“

                          Beaune-la-Rolande 🇫🇷, 1981: Der obercoole Rockertyp mit Schnauzer, Jerôme (Joseph Olivennes), hat es einfach voll drauf: Er ist Entertainer und die freche Stimme eines Piratensenders, die während der Zeit des Punks (1976 -1981) die Äther in ganz Europa dem Bürgertum durch ihre unverschämt laute Musik und geistreichen Moderationen in ihren illegalen Übertragungen den Schrecken lernten. Zudem nennt er natürlich die heisseste Schnitte im Dorf, Blondine und Coiffeuse Marianne (Marie Colomb) sein eigen. Sein schüchterner und jüngerer Bruder Philippe (Thimotée Robart) begeistert sich hingegen für Tontechnik und schnippelt auf den 4-Spur-Musikasetten die verrücktesten Jingles für den Sender zusammen. Auch er steht heimlich auf Marianne. Zu allem Übel wird er zum Militärdienst nach Deutschland eingezogen. In West-Berlin schliesslich angekommen, lernt er den schillernden BBC-Radiomoderator Dany (Brain Powell) kennen, der sein Leben verändern wird. Philippe steigt schnell zum Radio-DJ auf. Wird das Marianne zu Hause beeindrucken?

                          Wenn ein Film den Spirit und das Zeitkolorit der ganz frühen Achtzigerjahre so liebevoll und treffend mit unzähligen Details auf den Punkt bringt, wie das eben das Kleinkunst-Drama „Les magnétiques“ (2021) tut, gibt es von mir schon mal vornherein eine hohe Bewertung. Da wird für mich eine packende Geschichte eigentlich grad mal zweitrangig.

                          Der Punk (mit dem artverwandten New Wave und Ska) war wie ein Strohfeuer, er setzte das bürgerliche Spiesserleben mit vielerlei parallelen Komponenten gleichzeitig auf den Kopf: Mit lauten und konsequent kurzen 3-Akkord-Songs, mit Konzerten in düsteren Schüppen, mit Strassenkrieg-Riots und politischen Forderungen, mit flashig zusammenkopierten Fanzines, mit Drogen, mit Schock-Mode, mit Filmexperimenten, die bishin zur Subverso-Pornogarphie ging (beispielsweise eines Jean-Daniel Cadinot), und eben mit Piratensendern - dem Radio, der drahtlosen Kommunikationstechnologie und Submitter von Ideen.

                          Es war Rebellion und Subkultur pur - und genauso wie dieses Strohfeuer auftauchte, so schnell erlosch es auch wieder. Heute sind ihre damaligen Exponenten alle im Pensionsalter - und sind sie politisch immer noch links eingestellt, zelebrieren sie wohl höchstens noch den spiessigen Sozial-, Asylanten-, und Gutmenschenpopulismus à la SPD und Grüne. Eine SPD, die mit den früheren fortschrittlichen Ideen eines Helmut Schmidt so rein gar nichts mehr gemeinsam hat

                          Der Punkspirit machte auch vor der Provinz nicht halt, was im Film sehr detailliert geschildert wird. Wird das Boomer-Bürgertum mit ihren grässlichen Tapeten, den Renault 16-Fünftürer-Karossen und ihren Frauen, die beim Friseur gelangweilt in Zeitschriften herumblättern, dargestellt, wird die Jugend (natürlich ständig mit Zigarette bewaffnet) ebenso bildlich kontrastreich symbolisiert:

                          Das ständige Herumbrettern mit Mofas, Sex im Autoscheinwerferlicht, die Kaltlicht-Darkwave-Discos, die alternativen Neon-Bars, die Waldschneisen-Treffen, der SONY-Walkman als ständiger Begleiter (mit dem man z.B. die Mixtapes für seine Angetraute schon mal zur Qualitätskontrolle vorhört) und zentral hier die Kunst der analogen Basteleien für den perfekten Sound (des Piratensenders).

                          Debut-Director Vincent Maël Cardona wurde erst 1981 geboren - es ist dementsprechend erstaunlich wie er als Millennial den Spirit dieser Zeit so treffend einfangen konnte, denn heute ist er ja erst 40 Jahre jung. Vielleicht ist er über seinen eigenen Vater zu dem Fundus gekommen, wir wissen es nicht.

                          Ich mag mich selbst noch gut daran erinnern, wie diese Piratensender damals in Zürich über den Äther kamen und man sich schon den ganzen Tag auf den Abend freute, wie sie ihre Anarcho-Programme sendeten. Sie hiessen „Radio Packeis“, „Banana“, „Atlantis“, „Schwarzi Chatz 🐈‍⬛“, „Wellenhexen“, „Farabundo“, „Bachtelkrähe“, „Kangohammer“, „Eisensäge“ etc. - der berühmteste schwarze Sender war „Radio City International“ von Frechdachs Rolf Gautschi (der sehr jung im Jahr 2003 verstarb.)

                          Wer nach den 1970er Jahren geboren ist, kann sich kaum eine Vorstellung von der Ödnis machen, die vor 1983 auf einheimischen Radiofrequenzen herrschte. In der Schweiz gab es zwar für jede Sprachregion zwei offizielle Programme. Wer sich aber für anderes als traditionelle Volksmusik, seichtes Unterhaltungsgedudel oder bildungsbürgerliche Inhalte interessierte, fand beim Landessender kaum ein Angebot.

                          Widerstand erwuchs dem Monopol der „Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft“ (SRG) erst ab Mitte der 1970er Jahre, als sich Radiopiraten oft alleine oder in kleinen Gruppen daran machten, die Frequenzen zu beleben. Die technische Entwicklung und der Preiszerfall machten es möglich, dass sich auch Laien für wenige hundert Fragen einen Sender zusammenbasteln konnten. Weil die Frequenzen jenseits von 100 MHz angeblich für Kriegszwecke rigoros freigehalten wurden, gab es im FM-Band genug Platz für ihre Experimente. Die Frequenz-Polizei und Funküberwachung lag beim Schweizerischen Postamt (PTT), die als Hüterin des Monopols alles daran setzte, dem wilden Tun jeweils ein schnelles Ende zu bereiten. Dabei gingen diese staatlichen Gesetzeshüter nicht unzimperlich vor.

                          Mit Peilsendern machten sie Jagd auf die oft fahrbaren Sender und verfolgten sie überfallkommadohaft und strafrechtlich. Trotzdem existierten im Piratenjahrzehnt nach 1975 bald Dutzende von Sendern, die teils aus Plausch, teils mit politischem Sendungsbewusstsein oder einfach aus Frust über das ungenügende offizielle Angebot aktiv wurden. Es war wild auf der Frequenz, und oftmals machten sich die Piraten auch den Spass daraus, ihre eigene Verfolgung live (z.B. mit verbotenen Funksprüchen) dokumentarisch zu übertragen. Sie agierten selbst sehr agil, flink und oft auch mobil, um sich den (oftmals übergriffigen) Verfolgungsmethoden der Staatsobrigkeit zu entziehen.

                          Für eine kontrollierte Vergabe der Frequenzen und gegen das gesetzliche Monopol der SRG und PTT setzte sich ab 1979 der Sender „Radio 24“ mit grossem Aufsehen ein. Wie die ersten Radiopiraten weltweit, die mit starken Sendern bereits in den 1920er-Jahren aus Mexiko über die Grenze in die USA sendeten, nutzten die Macher rund um Radiolegende Roger Schawinski die liberale Radiogesetzgebung Italiens, um auf dem Grenzgipfel Pizzo Groppera eine leistungsstarke UKW-Sendestation in Richtung Zürich aufzubauen.

                          Die UKW-Wellen erreichten durch eine Schneise in den Alpengipfeln die Limmatstadt – die PTT war machtlos, lag die Sendestation doch nicht in der Schweiz. Schawinskis Sender, der ununterbrochen on air war, da er nicht von der PTT ausgehoben werden konnte, erlangte ein grosses Publikum. Heute tönt der ehemals kreative Sender so langweilig und eintönig, wie alle andern kommerziellen Mainstream-Sender des Postmillenniums auch.

                          Der Titel dieses kleinen französischen Dramas nun bezieht sich natürlich auf die Magnetbänder des damaligen Tonband-Equipments. Die grössten Musikalben der Geschichte wurden alle analog aufgenommen - mit Loops bastelten Ambientpioniere wie Brian Eno, Bill Nelson, Jon Hassell der Robert Fripp ihre wundervollen Klangwelten in den Achtzigerjahren, dem „Golden Age der Popmusik“.

                          Der Soundtrack des Films ist natürlich dementsprechend wichtig, er konzentriert sich mit Ausnahme der Undertones nicht auf Punk, sondern eher auf Darkwave (Joy Division), Experimental Avantgarde (Throbbing Gristle, Gang Of Four), Industrial Metal und EBM (Die Krupps Trisome 21, Front 242, Robert Görl von DAF), einigen französischen Lokalmatadoren (wie Comix und Camera Silence) und natürlich Übervater Iggy Pop.

                          Wenn als Metapher hier der Sieg des Sozialisten François Mitterand mit den Satz „Ein Tag nach seiner Wahl starb Bob Marley am 11. Mai 1981. Wenn das keinen böses Omen ist.“ kommentiert wird, kann das schon fast als Hint zum Versagen der (Woke-)Linken von heute im Politestablishment verstanden werden - klasse!

                          Wer als Fazit gerne ins Jahr 1981 in der Provinz abtauchen will und das mehr als eine durchgehend abgerundete Story gewichtet, ist bei „Les magnétiques“ jedenfalls genau richtig.

                          Artverwandtes: „Jubilee“ (🇬🇧1978), „Brennende Langweile“ (🇩🇪 1979), „Bildnis einer Trinkerin“ (🇩🇪 1979), „Züri brännt“ (🇨🇭1980), „Totaler Sperrbezirk“ (🇺🇸 1980), „Breaking Glass“ (🇬🇧 1980), „Urgh! A Music War“ (🇬🇧 1981), „Café Malaria“ (🇦🇹 1982), „Ladies and Gentlemen, the Fabulous Stains (🇺🇸1982), „Starstruck“ (🇦🇺 1982), „New York City Girl“ (🇺🇸 1982), „Nico Icon“ (🇺🇸 1995), „Verschwende deine Jugend“ (🇩🇪 2003), „The Nomi Song“ (🇺🇸 2004), „Control“ (🇬🇧 2007), „Messer im Herz“ (🇫🇷 2017)

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                            YupYum 27.12.2024, 12:12 Geändert 27.12.2024, 12:34
                            über Jump!

                            (Kurzkommentar:)
                            Bodenlos unterirdisch umgesetztes und sturzlangweiliges Historien-Justiz-Drama auf TV-Niveau, das die Geschichte von des Juden Philippe Halsmann (Ben Silverstone) erzählt, der nach seiner Begnadigung einer Mordanklage im schon 1928 naziverseuchten Innsbruck zu einem der gefeiertsten Fotografen in New York wurde. „Jump! - Sprung in die Ewigkeit“ (2007) ist dramaturgisch so lasch, steril und unpackend, dass man Unmengen von Koffein braucht, um nicht wegzudösen und ist als einzige Abwechslung zur ermüdenden Gerichtsverhandlung angereichert mit der plumpen und sich ständig wiederholenden Bildsprache des dauernd „Judensau!“ johlenden Braunhemden-Mobs. Das Schauspiel ist auf Laientheater-Niveau, auch Patrick Swayze in der für ihn ungewöhnlichen Rolle als jüdischer Anwalt Pressburger kann das vergebliche Drama nicht vor dem Absturz retten.

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                              „James Bond. We both eradicate people to make the world a better place. I just want to be a little tidier." - "History isn't kind to those who play God.“

                              Wo sie recht hat, hat sie recht: Barbara Broccoli (64) 🥦, Tochter und Weltkulturerbin von Albert (der die James Bond-Serie von Beginn weg co-produzierte), legt hohen Wert auf die (britischen) traditionellen Werte. Alles soll so bleiben wie es immer war. Und das ist gut so.

                              Weil nämlich Amazon (der Allerwelts-Versand, der unsere Postämter regelmässig lahmlegt), das Studio Eon Productions und die MGM Studios für sagenumwobene 6,5 Milliarden Dollar geschluckt und sich damit auch die Rechte an der 007-Franchise einverleibt hat, hat es der guten Barbara den Schnuller rausgejagt. Dem Megakonzern sein toller Plan ist es nämlich, die Serie auf Marvel zu trimmen, Spin-offs davon für die Mülltonne rauszuhauen (mit Serie, Spielshow und allerlei pseudo-kreativen Geldvermehrungsmechanismen) und alles natürlich auf voll-woke zu frisieren.

                              Doch da macht die gute Barbara nicht mit: Die steht nämlich konservativ voll auf Old School-Retro-Chic und legte grad zum wiederholten Mal ihr mächtiges Veto zur verdienten eisigen Pattsituation ein, was eine Produktion vom nächsten Bond Nr. 26 betrifft. Mehr noch: Broccoli soll ungenannten Quellen zufolge mit den Worten „Diese Leute sind verdammte Idioten“ über Amazon gepoltert haben. Zudem weigere sie sich mittlerweile, mit der Produktion fortzufahren, solange Amazon mit an Bord sei. God save Broccoli: James Bond ist nämlich kein Mattel-Produkt für die TikTok-Generation!

                              Ein Hauptmerkmal, wovon sich Gentleman Bond zu sämtlichen anderen Actionstreifen unterscheidet, ist dieser unermüdliche Hang zur Mystik und dem Verborgenen des unbekannt Bedrohlichen. Wer immer die Bausteine der Bond-Franchise aufzählt (Weltherrschaft, Bösewicht und Brutalo-Helfer, Frauen fürs Bett, Retro-Referenzen, kosmopolitische Schauplätze, Gadgets, M, Q, Moneypenny etc.), lässt dieser wichtige Faktor of links liegen. Dabei ist das so essenziell und zieht sich durchs Band durch alle Bond-Filme.

                              Das Schöne am würdigen Daniel Craig-Finale „No Time To Die“ (2021) von Director Cary Joji Fukunaga ist: Dieser tolle Film zelebriert das Mystische geradezu.

                              Das Eintauchen in geheimnisvoll-verborgene Welten wird erneut gross geschrieben, sei das ein schummriger Nachtclub in Jamaika, eine Access-Only-Party auf Kuba („What is this, Spectre-bunga-bunga?“), ein Streifzug durch Norwegens dunkle und verwunschene Wälder (den Norwegian Woods widmeten gar die Beatles einen Song), oder dann der Ort des Bösen selbst: Die unheimliche Insel von Bösewicht Lyutsifer Safin (Rami „Freddy Mercury“ Malik) - diese graue, verlassene, ehemalige Raketensilo-Anlage auf den Kurilen zwischen Japan und Russland mit dem trostlosesten Garten der Filmgeschichte.

                              Der kalte Krieg lässt sich hier in aller absurd-skurrilen und erschreckenden Parallelität zur Putin-Gegenwart revue-passieren. Der Clou des Mystischen besteht eigentlich in jeden Bond-Film darin, wie die Begegnug mit dem Bösewicht in den ersten Sekunden erschaudernd ausfallen wird. Hier ist diese besonders gelungen:

                              Rami Malik ist denn auch ein toller Bösewicht - unnahbar, geheimnisvoll und blitzgescheit. Seine vorzeitige Begegnung mit Dr. Madeleine Swann (Léa Sedoux), Bond‘s Angetrauter, lässt die Symbolik einer Giftpflanze als Metapher für das geplante Grauen vorneweg vorahnen („Foxgloves. You know, if you eat them, they can cause your heart to just stop.“). Die späteren Dialoge mit Bond werden messerscharf sein.

                              Der Film hat mit der Figur von Madeleine nicht nur ein grosses melodramatisches Element, sondern es schwebt über allem letztendlich eine seltsam bedrückende Aura. Erklingt just auch zu einer Autofahrt über der italienischen Küste von Puglia die Melodie von Louis Armstrong‘s allerletzt aufgenommenen Hymne „We Have All The Time In The World“ aus dem grellen Pop Art-Weihnachtsfilm „On Her Majesty‘s Secret Service“ (1968), gibt die Crew dem Zuschauer schon die ungemütliche Vorahnung auf den Weg, dass man eben genau diese Zeit genau nicht hat. „No Time To Die“ ist ein Film in Tonlage Moll.

                              Auch sonst sind die Referenzen wieder zahlreich gestreut, genauso wie es vor zwanzig Jahren nach Pierce Brosnan‘s Abgang in „Die Another Day“ (2002) schon zum 40 Jahre-Jubiläum ausgiebig zelebriert wurde:

                              Sowohl Malik’s Narbengesicht wie seine Insel-Lochversenk-Basis erinnern in wunderbarer Weise an „You Only Live Twice“ (1967) und ihrem ebenso vernarbten Schurken Donald Pleasance. Die DNA-Superwaffe „Heracles“ ist wiederum eine Referenz an Telly Savalas‘ Viren-Parfum-Zerstäuber von „On Her Majesty’s Sectret Service“, die Laserpunkte sind vom Debut „Dr. No“ (1962) ausgeliehen. Auch Dr. No begegneten wir seinerzeit mit einer verätzten Visage.

                              Man zollt allen Ms in einer Ahnengalerie die Ehre (mit treffend porträtierter Judi Dench im Zentrum). CIA-Freund Felix Leiter ("Harder to tell the good from bad, villains from heroes these days.") ist auf einem Frachtschiff mit dabei, das wir aus „The Spy Who Loved Me“ (1977) kennen, genauso wie dort auch der bedrohliche Helikopter aus dem Nichts auftauchte 🚁 (gesteuert damals von der rassigen Fast-Italienerin Caroline „Naomi“ Munro). Ebenso auf den Film zurückzuführen ist der durchgeknallte, bärtige Professor Dr. Valdo Obruchev (gespielt vom Schweden David Dencik), sowie natürlich das wasserdurchtränkte und geschlossene Interior auf der unheimlichen Insel.

                              Der silberfarbene Aston Martin DB5 erübrigt sich einer Erklärung, einen Aston Martin V8 Vantage gabs schon mal in „The Living Daylights“ (1987; mit Timothy Dalton). Und schliesslich ist Blofeld‘s Hochsicherheits-Verwahrung noch eine augenzwinkernde Fremdverehrung („Cuckoo“) für Hanibal Lector obendrein.

                              Der kurz eingefrorene Still im Auto der neu erschaffenen 007 Nomi ("I'm not just a double 0. I'm 007."/"Do you know what time it is? Time to die!“) mit cooler Spiegel-Sonnenbrille ist geschnitten das Abbild der androgynen Grace Jones (die hier tatsächlich ein Angebot für einen Kurzauftritt bekam und leider ablehnte).

                              Diese toughe Nomi (Lashana Lynch), die von fantasielosen Kritikern als „woke und politisch korrekte Peinlichkeit“ geframed wurde, ist das eigentlich einzig ironische Ingredient am ganzen Spektakel (ihre Schlagkraft lässt jeden Zweifel an der ehrenwerten Nummer ausräumen). Es gibt hier keine verlegen-schöne Situation mit Moneypenny, kein witziges Gadget von Q, keine One Night-Stands, M ist nur unterkühlt und todernst - der Schalk eines Roger Moore sucht man vergebens.

                              Bond’s Beziehung zur Hochsicherheitstrakt-Psychiaterin Madeleine ist selbst problembeladen: Immer wieder holt Bond das BTPS-Syndrom ein, das sogenannte neurotische Leiden des fehlenden Vetrauens („I wasn’t looking over my shoulder.“). Bond wird also kaum jemals ein normales Leben führen können, auch auf der Italienreise wird er von der Spectre-Organisation physisch bedroht. Der Stunt mit dem Motorrad, das im steilen Winkel eine Mauer bezwingt, gehört zu den anspruchsvollsten der ganzen Filmgeschichte.

                              Doch Bond bekommt gottseidank auch immer wieder tatkräftige Unterstützung in jeder verwegenen Situation: In Kuba beispielsweise von der vordergründig naiven Paloma, der jungen Spanisch-Kubanerin Ana de Armas („I've done three weeks' training“.). Ihre Martial Arts-Kampfkünste machen einfach Spass, und man bedauert ihre kurze Screentime.

                              Zurück zur Mystik: Wenn Bond mit Nomi ins Innere der verlassenen Vulkaninsel vordringt, zu dem schwarzen Industrietümpel voller anonymen Menschen in roten Schutzanzügen, die im verseuchten Wasser stapfen und waten und gleichzeitig diese russische Frauen-Funktionärsstimme in Echo-Halls aus dem Off monton ertönt, ist das der wohl unheimlichste und beklemmend fassbarste Moment des ganzen Films: Dieser sowjetische Wahnsinn der Vergangenheit, der durch Putin ins 21. Jahrhundert „gerettet“ wurde, lässt einem das Blut in den Adern gefrieren.

                              Als Fazit ist „No Time To Die“, neben „Skyfall“ (2012), die wohl gelungenste Folge mit Daniel Craig. Auch wenn über dem besonderen Film diese tieftraurige Aura hindurch schwebt.

                              Nun wünsche ich zu guter letzt all meinen MP-Freunden (und sonstigen User der Seite) recht besinnliche Weihnachten 🎄- das trotz des schrecklichen Vorkommnisses in Magdeburg, das wiedermal der Ampel-Pennregierung zu verdanken ist. Diese sind das wahre woke Problem, nicht die toughe 007-Nomi. Ich kann und will mir nicht ausmalen, was das für die Familie des brutal überrollten, kleinen, 9-jährigen André diesmal (und alle weiteren wegen Traumata) für traurige Weihnachten sein wird. Das ist kein gutes Omen fürs 2025. Gemäss Wetterbericht könnte es tatsächlich schneien. Aus dem Himmel, wo André ist. ❄️

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                                YupYum 20.12.2024, 14:56 Geändert 21.12.2024, 00:55
                                über Guilt

                                London, im Postmillennium: Die junge amerikanische Studentin Grace (Daisy Head) geniesst während ihres Austauschjahres das Partyleben in der pulsierenden englischen Hauptmetropole vollen Zügen. Nach einer durchgefeierten Nacht in ihrer WG wird ihre Mitbewohnerin, die irische Molly, bestialisch ermordet aufgefunden, das Blut klebt an den Wänden. Grace wird unverhofft zur Hauptangeklagten. Zu ihrer Hilfe eilt ihre Schwester Natalie (Emily Tremaine), eine Anwältin aus Boston, die alles in Bewegung setzt, um ihre Schwester vor dem Gefängnis zu retten. Doch auch ihr kommen irgendwann berechtigte Zweifel: Welches Geheimnis verbirgt sich hinter Grace‘s unschuldigen Kulleraugen?

                                Die im Stil einer Soap-Opera abgedrehte Thrillerserie „Gulit“ (2016) orientiert sich lose an den wahren Ereignissen um Amanda Knox, eine US-Studentin, die ihr Austauschjahr in Perugia, Italien, verbracht hat als ihre britische Mitbewohnerin ermordet wurde. Es gibt nur diese eine Staffel, die Story wird sauber zu Ende erzählt.

                                Zu Beginn fielen mir zunächst einmal ein ziemlich durchschnittliches Schauspiel, einen erheblichen Trash-Faktor und gewisse grottige Dialoge auf, doch der Verlauf der Serie liess mich eines besseren belehren: Die schnellen Rasterbilder von London geben schon mal vor, was einem hier erwarten wird - nämlich eine ausgesprochen tempo- und wendungsreiche Inszenierung voller menschlichen Abgründe. Jeder hat hier irgendwas zu verheimlichen - es wird auf Denver-Niveau falsch gespielt, intrigiert, vertuscht, versteckt, vereitelt, manipuliert und gelogen.

                                Die Szenen sind kurz und prägnant, die Schnitte schnell, die Bilder bunt und flashig, die Leute jung, hübsch, durstig und dauergeil. Praktisch jeder wird hier irgendwann beim Sex gezeigt, dieser gehört zum Kanon der rasant umgesetzten Miniserie, die ein hohes Mass an gelungenen Soap-Retro-Ingredienzen zelebriert.

                                Abgetanzt wird im fiktiven „Diablo Club“, einer von London‘s exklusiven Night Clubs, wo die Eintrittsschwellen maximal, die Laserkanonen blendend und die Eintrittspreise dementsprechend hoch sind: Schüppen wie das „Ministry of Sound Club“, „The Box“, „Fabric London“, das „Egg“ „XOYO“ der „Phonox“ sind heute weit mehr als reine Vergnügungsclubs, sie dienen ebenso für Kontakte in obere Kreise und zu Geschäften besonderer Art - natürlich auch zur Kuppelung, Drogenbeschaffung und Edelprostitution.

                                Das wird in der Serie mit dem zum „Diablo“ verbundenen Sexclub „Courtenay“ thematisiert, wo ranghohe Geschäftsleute, Mitglieder des Politbetriebs, der Justizia, der Mafia bishin zum Königshaus ihrem exklusiven Vergnügen frönen. Wer sich nicht an die strengen Regeln hält, wird mitunter sehr blutig bestraft.

                                Die Serie thematisiert noch weitaus mehr, z.B. den Konflikt mit den Iren und die IRA-Vergangenheit, Korruption im Polizeibetrieb, psychisch instabile Betroffene, die berüchtigte britische Yellow Press oder die schmutzigen Tricks von Anwälten, die natürlich in erster Linie für das Wohl ihrer eigene Karriere arbeiten.

                                Als Fazit muss man diesen zehn Folgen einen unglaublich hohen Unterhaltungswert zugestehen. Jeder der kurzen Szenen hat irgendeine Wendung im Köcher, ständig lässt ein neues Detail den Fall wieder in einem ganz neuen Licht erscheinen - alles geht hier kompakt, zügig und sehr abwechslungsreich voran. Die Bilder sind so grell, wie der Technobeat stampfend ist. Es gibt keine Verschnaufpause hier, bis dem Zuschauer in den letzten Minuten noch die (wirklich) wahre Auflösung des Falls präsentiert wird, natürlich nicht, ohne dazu noch eine mächtig augenzwinkernde Schlusspointe obendrauf zu setzen. Klasse!

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                                  YupYum 16.12.2024, 09:46 Geändert 16.12.2024, 21:44
                                  über Run

                                  Pillen in allen Farben💊 , aufgezogene Spritzen und ein Schrank voll mit Gift - die Elemente für den perfekten Mutter/Tochter-Psychohorror wären also durchaus mal gegeben. Im Mittelteil des Kammerspiels „Run“ (2020) steigert sich die klaustrophobische Spirale dann auch effektiv ins Höhennirvana, dann nämlich wenn die junge und gelähmte Chloé (Kiera Allen) ihre Odyssee durchs labyrinthische Heim ohne Rollstuhl beklimmem muss.

                                  Doch zu oft lässt Director Chaganty eine eigentlich tolle Ausgangslage verpuffen, im letzten Drittel versäuft der Pisaker dann vollends. Ebenso offensichtlich wurde bei artverwandten Glanzlichtern abgekupfert, ohne natürlich dessen Klasse zu erreichen:

                                  Beispielsweise bei Stephen Kings‘ Novel „She“, die 1990 mit Kathy Bates als „Misery“ so eine tolle filmische Adaption bekam, dass der Oscar gleich über Colorado‘s weisse Berge hereingeschneit ❄️ kam. Auch dort ging es um fürsorgliche Obsession, auch dort fand der Geplagte in Unterlagen Hintergrundinformationen (in einem Fotoalbum), auch dort wurde die Rettung der letzten Minute aus dem Hinterhalt abgemurkst.

                                  Doch im Unterschied zu „Run“ hatte „Misery“ ein klar ersichtliches Motiv der Täterin. Ein solches bleibt hier sowohl von Mutter Sarah Paulson, wie auch von der Tochter im Dunkeln, was sich im traurig uninspirierten Schlussbild bemerkbar macht. Man weiss einfach nicht, wofür das alles hätte sein und stehen sollen.

                                  Fazit: Hier wurden sämtliche Möglichkeiten durch Schlampigkeit vergeigt, der Thriller hinterlässt einen fahlen Nachgeschmack.

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                                    über Horizon

                                    In verschiedenen Lebensbereichen haben wir uns daran gewöhnt, dass man es mit der Deklaration besonders genau nimmt: Bespielsweise bei Lebensmitteln wollen die Leute heutzutage wissen, ob die Kuh 🐄 , deren Milch sie im Kaffee versenken, auch bestimmt klimaneutral gefurzt hat. Oder der Heini im TV-Spot weist Sie ratternd darauf hin, dass es im weiteren rezeptfreien und überflüssigen Placebo, das Ihnen von der Pharma aufgeschwatzt wird, auch noch eine Packingsbeilage drin hat, auf der Sie kleingedruckt die allfälligen Beschwerden als Nebenwirkungen nachlesen können.

                                    Nur bei Filmen sahen es die EU-Bürokraten trotz kürzlicher Gehaltserhöhung auf Kosten den Kohärisions-Eintreib-Milliarden (also uns Steuerzahler) nicht für notwendig, mal endlich eine Pflicht zu notwendigsten Pflichtfelder zu erlassen:

                                    Ähnlich der aufgeblasenen „Herr der Ringe“-Triologie wird auch „Horizon“ (2025) dem Dödel als eigenständiger Film vertickt. Der essenzielle Zusatz „Chapter 1“ sieht man erst auf Online-Informationen - doch dann ist es natürlich (meistens) schon zu spät.

                                    Die weitere logische Konsequenz besteht nun also darin, dass sich der Zuschauer hier durch einen geographisch vollkommen verwirrenden dreistündigen 50-Millionen-Dollar-Pilotfilm hindurchquälen muss, der gefühlt so lang wie der „Horizon“ weit ist. Dass die Jahreszeiten ebenso rasant wechseln wie die Ortsangaben macht das Ganze nicht entwirrender. Immerhin hat der Kameramann mal eine wunderschöne Herbst-Birkenhaine mit photogeshopten goldgelben Blättern einfangen.

                                    Da werden einem also vom Ambitiös-Director Kevin Costner an die zwanzig verschiedene Storylines zum Frass vorgeworfen, von denen keine einzige konsequent oder plausibel (und natürlich schon gar nicht zu Ende) erzählt wird, und diese werden teils in ellenlangen Einschlaflabereien bishin zu unnachvollziebaren Szenensprüngen auf dem bedeutungsschwangeren Edeltablett präsentiert.

                                    Irgendwann versteht der Zuschauer ob dieser konfusen Brühe nur noch Bahnhof 🚂 und das anfängliche Interesse begint bis zur völligen Entnervung schwindelnderregent zu taumeln.

                                    Costner selbst ist ca. 15 Minuten in den drei endlos gefühlten Stunden zu sehen, er will mit seinem sauber frisierten Figaro-Bart so überhaupt nicht in eine Wildwest-Native-Welt passen. Dass jede 25-Jährige bei seinem Anblick gleich ins Eros-Nirvana wegschmachtet, bleibt der Traum eines alten Chauvi.

                                    Haben wir nun also das grosse Glück 🍀 vor uns, dass nun also jedes Jahr zu Weihnachten ein weiterer Teil dieser angeblichen Endlosserie „Horizon“
                                    bevorsteht, wie das uns schon Peter Jackson in seinem aufgeblähten Fantasy-Geschwurbel auf das Millennium bescherte? Ich bin damals schon nach dem ersten Teil ausgeschert und werde dieses Trauma bestimmt nicht ein zweites Mal mitmachen, diese überfranzte Pilot-Bruchlandung reicht mir forever.

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                                      YupYum 12.12.2024, 13:08 Geändert 12.12.2024, 22:38

                                      (Kurzkommentar:)
                                      Vorweggenommen: Dialoge und Schauspiel sind hier immerhin auf hohem Niveau, die hier stylische Kate Winslet 👗 und die kauzige Judy Davis harmonieren einfach göttlich zusammen. Über die Hemsworth-Clons giibt es wiederum kein Wort zu verlieren. Ansonsten kann sich She-Director Jocelyn Moorhouse (von ihr stammt das exzellente „An American Quilt“; 1995) nicht wirklich entscheiden, was sie dem Zuschauer eigentlich zumuten will: Outback-Comedy, Liebesschmonzette, Rachedrama, Couture-Show, Kindermoritat oder Witwendrama. Das ist so fahrig in Überlänge zusammengeschustert, dass dem Film komplett einen roten Faden abhanden kommt. Und der Schluss 🔥ist dann seltsam abrupt und uninspiriert. Natürlich kann die Dürrenmatt-Hommage „The Dressmaker“ (2015) auch aus Kritikermund wohlwollend so umgemünzt werden, indem gesagt wird, dass diese unzähligen Versatzstücke wie Stoffreste sind, aus denen ein perfektes Ganzes geformt wurde. Naja.

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                                        YupYum 11.12.2024, 14:32 Geändert 11.12.2024, 21:48

                                        London, 1960: Dem Kosmetikvertreter Cummings (Richard Todd) geht’s richtig dreckig: Nachdem seine Verkaufszahlen in den Keller gerattert sind, wird nun auch noch sein neues Auto von einer Jugendgang gestohlen, das für seine Arbeit exorbitant wichtig ist. Die Spur führt zum cholerischen Autohändler Meadows (Peter Sellers), mit dem nicht wahrlich zu spassen ist.

                                        Dieser völlig unbekannte, britische (Post-)Noir-Kriminalfilm „Never Let Go“ (1960) kann heute eigentlich nur noch wegen dem diabolisch aufspielenden Peter Sellers Interesse erwecken, ansonsten ist er eher lau:

                                        Er hat kaum Schauwerte vom London der Swinging Sixties, die Geschichte (die eigentlich nicht wirklich schlecht ist) weiss nicht zu zünden, die Polizeiarbeit ist mau, die Frauenrollen blass und der Showdown dürftig. Einzig die Charakterlabilität des Hauptdarstellers Richard Todd kommt gut zum Tragen: Sie bringt den Zuschauer immer wieder fast zur Verzweiflung.

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                                          (Kurzkommentar:)
                                          Eine Seite wie Moviepilot hat natürlich auch den grossen Vorteil, dass man immer auch gewarnt wird, wo man sich gehörig die Finger verbrennen kann. Also ähnlich einer Packungsbeilage einer überteuerten Schweizer Einwurfpille. Denn schlechte Filme sind keine Placebos, sie verursachen wahrlich Beschwerden und Depressionen. Das kaltfarbene Nachbars-Auspionier-Kammerspiel „Columbus Circle“ (2012) ist nicht etwa stylisch cool, sondern nur vollends daneben, mit kreisrunden Logiklöchern en masse, hanebüchenem Plot, ohne Spannung und gestelzten Dialogen, die schmerzen. Zwar gibt es nichts Interessanteres auf der Welt wie seine blöden Nachbarn heimlich durch den Türspion zu beobachten, doch Selma Blair (die hier unter dem Hikikomori-Syndrom leidet) hat ja auch nicht viel anderes zu tun. Das Drehbuch hätte sie allerdings schon mal durchlesen können.

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                                            YupYum 09.12.2024, 16:49 Geändert 10.12.2024, 13:34

                                            „Hairspray… it’s way beyond Grease!“

                                            „Wilbur, it's the times. They're a-changin'. Something's blowin' in the wind!
                                            Fetch me my diet pills, would you, hon?“
                                            (Mom Edna Turnblad)

                                            „Could you turn that racket down? I'm trying to iron in here.“
                                            (Mom Edna Turnblad)

                                            Motormouth Maybelle: „Oh Papa Tooney. We've got a Looney.“
                                            Mom Prudence Pingleton: „Don't you try to cast one of your voodoo spells on me, native woman!“

                                            „Ooh whee! Tiddley papa! l am a whopper! Motormouth Maybelle is my name and, sweetheart, dancin' is my game.“
                                            (Motormouth Maybelle)

                                            Mom Edna Turnblad: „Tracy, I have told you about that hair. All ratted up like a teenage Jezebel!“
                                            Girl Penny Pingleton: „Tracy's flamboyant flip is all the rage, Ms. Edna. Jackie Kennedy, our First Lady, even rats her hair.“
                                            Mom Edna Turnblad: „But Tracy ain't no First Lady. Are your Tracy? No siree. She's a hair hopper, that's what she is!“

                                            Was für eine Überraschung! Das übergewichtige Teenager-Girl Tracy Turnblad (Ricki Lane) darf nach dem Vorsprechen 1962 in ihrer geliebten TV-Sendung „The Corny Collins Show“ als Tänzerin auftreten! Ihre liebenswerte Art und ihre kessen Sprüche lassen sie bald Everybody’s Darlin’ werden.

                                            Doch der Neid ist natürlich nicht weit: Die voll dem Ideal entsprechende Superschnitte Amber von Tussle (Colleen Fitzpatrick; mit Top-Figur und natürlich so shiny-blond, dass man eine Sonnenbrille braucht), die bis zu Tracys Auftreten die beliebteste Tänzerin in der Sendung war, speit vor Wut und denkt sich mit ihrer dollen Mami Velma (Debbie Harry von „Blondie“ - wunderbar!) schon aus, wie der kommende Giftcocktail ☠️ des Schadens aufgemischt wird.

                                            Tracy gibt mit ihrem Übergewicht noch einen drauf und modelt offensiv im Fernsehen für „Hefty Hideaway“ und den durchgeknallten Modeschöpfer Mr. Pinky (Alan J. Wendl), der einen ausgeflippten Kleiderladen speziell für Übergrößen führt. Hier bedient sich natürlich auch Mutti Edna (Divine - einfach grossartig!). Tracy wird endgültig zur Feindin von Zicke Amber, als sie mit deren Ex-Freund Link Larkin (Michael St. Gerard) „steady“ geht. Tracy und Amber kämpfen schliesslich um den Titel der Miss Autoshow, für die sich Mami Velma schon eine böse Überraschung ausgedacht hat…

                                            Gleichzeitig treten in der Stadt Riots gegen die längst obsolte Rassentrennung auf.

                                            John Waters (*22. April 1946 in Baltimore; Maryland - dort spielt auch „Hairspray“) galt lange Zeit als das „schwarze Schaf“ unter den Filmemachern: Seine frühen Werke, „Pink Flamingos“ (1972), „Female Trouble“ (1974) und „Desperate Living“ (1977) (zusammen auch als „Trash-Trilogy“ bekannt), beinhalteten damals oft verpönte und streng tabuisierte sexuelle Themen wie Transgeschlechtlichkeit und Homosexualität, Inzest und Zoophilie, sowie den Ekel des Zuschauers herausfordernde Szenen. Gleichzeitig waren sie Satiren und Angriffe auf die amerikanische Kultur und die bürgerliche Gesellschaftsschicht, aus der Waters selbst stammt.

                                            Seine Low Budget-Filme lösten damit starke Kontroversen innerhalb des herkömmlichen Kinoverständnisses aus, provozierten die Zensur und natürlich auch die Grenzen des guten Geschmackes. Trotzdem wurden sie insbesondere bei jungen, aufgeschlossenen Kinogängern als sogenannte „Midnight Movies“ zum Erfolg und schließlich zu Kultfilmen. Heute werden John Waters’ kompromisslose Filme als wegweisende Meilensteine der zeitgenössischen Filmkultur anerkannt und gewürdigt.

                                            Er sagte: „Es gibt guten schlechten Geschmack und schlechten schlechten Geschmack. Jemand lediglich mit reinen Brutalitäten zu schockieren, ist schlechter schlechter Geschmack.“

                                            So erfolgreich wie das im Trailer frivol-abschätzig abgewertete „Grease“ (1979) wurde „Hairspray“ (1988) zwar nicht, es wurde dennoch ein riesiger Publikumshit. Jede der rasanten Einstellungen begenet einem mit einem Augenzwinkern, die bewusst trashig und amateurhaft wirkenden Kulissen, Kostüme und übertriebenen Frusuren sind die farbenfrohen Zutaten. Yes indeed, there are Hair Do‘s and Hair Don’t‘s!

                                            Der Film hat als Fazit rein nichts von seiner frechen Frische eingebüsst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein poliertes Millenniums-Remake den Charme dieses Originals einholen kann, und dass Travolta die Schrägheit eines Sonny Bono (damaliger Ehemann von Cher) adäquat zu kopieren weiss.

                                            Die Dialoge sind geschliffen und voll von zweideutigem Wortwitz. Es gibt keine Sekunde überflüssige Länge hier, und die Tanzeinlagen sind ein visueller Genuss. Die vielen Stars machen zudem einfach Laune. Der Film ist sowohl ein unvergleichlicher Brüller wie auch ein unwiderstehlicher Herzwärmer.

                                            Die obig erwähnte Bob Dylan-Zitate werden natürlich auch bewusst durch den Kakao gezogen, indem man sie gleich miteinander verband. 1962 wollte man nämlich noch Spass ohne Ende und keine ernsten Folk-Troubadoure, die einem die moralischen Leviten lasen. Beatnik-Leute tauchten zwar schon vereinzelt auf, die Gras pafften und Timothy Leary’s durchgeknallte Schriften rezitierten. Ein solches Paar wird hier von Ric Ocasek („The Cars“) und der Hobby-Millionärs-Sängerin Pia Zadora verkörpert.

                                            (Pia machte übrigens tatsächlich mal eine wirklich gute Platte, die „When The Lights Go Out“ (auch von 1988) hiess, deren zweite Slow-Seite richtig hübsch war. Sie wurde vom Produzentenduo Jam/Lewis geschrieben und geschliffen, die schon der exzellenten Funktruppe „The S.O.S.-Band“, Cherelle, Grande Ole Lady Patti Austin und natürlich Janet Jackson zu gehörig Erfolg verholfen hatten.)

                                            Der gängige Rassismus und die Abgründe der damaligen Psychiatrie werden voller charmant-absurder Zoten „gewürdigt“, der Spirit des Musikfilms hat eine zutiefst menschliche Kompetente. Damals war die Rassentrennung ein real existierendes Problem, die universal-berühmte Rede „I Have A Dream“ von Martin Luther King fand dann auch im August 1963 statt.

                                            Zum Vergleich: Heutzutage finden sich Begrifflichkeiten, wie „Rassismus“, „Rechtspopulismus“ und „Islamophobie“ inflationär im links-woken Kampf-Vokabular wieder, um u.a. jedwelche Kritik an der gängig-konformen Migrationspitik im Keim zu ersticken - ein krasser Gegensatz zu den Sixties!

                                            Der Titelsong „Hairspray“ wird von Rachel Sweet gesungen, eine gute Wahl: Das Teenie-Girl coverte viele Früh-Sixties-Hymnen auf ihren Platten ab 1978 (für das legendäre „Stiff“-Label), die Melange mit Punk und New Wave machten die speziellen Nuancen ihrer Songs aus.

                                            1988 konnte man diese stampfenden 2-Minuten-Songknaller, die im Film mit unzähligen Beispielen verwendet wurden, nicht einfach zusammengoogeln und die vielen Tänze billig von YouTube kopieren. Dafür buchte Waters extra einen Music Consultant und eine Dance Consultant.

                                            Und hier zum Schluss noch weitere Tänze, die ab 1961 in waren:

                                            The Madison, The Pony, The Popeye, The Fly, The Shake, The Hitch Hike, The Mashed Potatoe, The Jerk, The Block, The Swim, The Waddle, The Fly, The Bug, The Frup (auch: The Surf, Big Bea, The Thunderbird), The Chicken, The Monkey, The Dirty Dog, The Watsui, The Batsui, The Boogaloo, The Philly Skate, The Sanctification, The Beulah Wig, The Funky Broadway - und eben: Twist, Slop, Hully Gully!

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                                              YupYum 08.12.2024, 13:29 Geändert 08.12.2024, 20:32

                                              „Siehst du das? Auf allen Kanälen. Der Name der Schule wird erwähnt, das ist eine absolute Katastrophe!
                                              Ich krieg diese arme Frau nicht aus dem Kopf. Du hör mal, ich hab Amanda auf der anderen Leitung, ich ruf dich zurück.“
                                              (Sylvia)

                                              Hugh Grant konnte ich lange Zeit nicht ausstehen. Seine biederen Rollenbilder als Brit-Sunnyboy, Buddy für alle, Prince Charming oder Frauenversteher hielten mich regelmässig davon ab, überhaupt mal was mit ihn anzusehen - sein Name war Programm der Abschreckung.

                                              Man hörte latent seine Fangemeinde in den Ohren: Diese Augen können doch nicht lügen. Dieser schüchtern-verträumte Blick, dem einst Julia Roberts als Star wider Willen in der Hollywood-Schmonzette „Notting Hill“ (1999) erlag, kann nichts als unverstellte Ehrlichkeit bedeuten.

                                              In meinen Augen war radikales Abwenden eines erfestigten Image immer das Beste, was einem Schauspieler passieren würde: Kevin Costner gefiel mir erst richtig, als ich seine kolossale Mörderballade „Mr. Brooks - Der Mörder in dir“ (2007) gesehen hatte, Sandra Bullock mochte ich erst jenseits von 40 Jahren, und Richard Gere liebte ich in seiner Rolle als vermögendes A-loch in der Bedrouille dann wahrlich - in „Arbitrage“ (2012), das wiederum höllisch gute Parallelen zur hiesigen HBO-Miniserie „The Undoing“ (2020) aufweist:

                                              Dieses hochpolierte Kleinod auf Mirror Finish besitzt allerlei Ingredienzen, die tolle Mischung formt das Ganze. Vom packenden Krimifall, über Beziehungs-, Sozial- bis zum Justizdrama ist alles mit dabei, und das erst noch gewürzt mit einer gehörigen Portion Psycho-Thrill!

                                              Zuviel sollte man denn von der Geschichte gar nicht verraten, die mit jeder einzelnen Szene einen obendraufgibt: Hugh Grant spielt Dr. Jonathan Fraser, einen Kinderonkologen, der sich vor allem durch seine hohe Empathie zu den kleinen Patienten einen Top-Ruf erwirtschaftet hat, seine Frau Grace (Nicole Kidman) ist eine erfolgreiche Paartherapeutin für die Schickeria der Stadt New York, ihr Sohn ein vorbildlicher Schüler, natürlich in einer angesehenen Privatschule.

                                              Man wohnt zweifelsfrei in Manhattan, die Fassade ist rein und gelackt, die Freunde ebenso erfolgreich, die Konversationen mit ihnen oberflächlich, die Kostüme perfekt sitzend, der Campagner kühl.

                                              Und so kommt, mir nichts, dir nichts, eine junge Italo-Amerikanerin aus der Bronx, names Elena (Matilda de Angelis), in den illustren Kreis von Grace und ihren elegant-geschwätzigen Freundinen - es geht um die kommende Benefiz-Veranstaltung der besagten Reardon School. Mit Befremden wird zur Kenntnis genommen, wie die sich eingeschlichene Frau mit Latino-Touch hemmungslos ihrem mitgebrachtes Baby die Brust gibt. Die strohblonde Sylvia (Lily Rabe - top!) wird es ihrer Freundin Grace später als „passiv-aggressives Verhalten“ analysieren.

                                              Als Elena dann auch noch just im gleichen Gym der Frauen auftaucht, und in der Umkleide splitternackt Grace in ein Gespräch einwickelt, ohne jemals daran zu denken, sich was überzuziehen, kann man das fast schon als ein Akt des knisternden Sinnlich-Abgründigen erfassen. Dieser Höhepunkt einer undefinierbaren Ungemütlichkeit lässt den kommenden Thrill schon konkret erahnen, doch es soll für alle Beteiligten richtig dick kommen…

                                              Wer Top-Schauspielkino erwartet, wird von „The Undoing“ nicht enttäuscht: Nicole Kidman spielt ihre Selbstdisziplin, mit der jede Fassungslosigkeit gleich im Keim erstickt wird, auf allerhöchsten Niveau. Ihr Mann Hugh Grant gibt den perfekten Ehemann in makelloser Fassade, die von immer grösser werdenden Rissen natürlich nicht verschont bleibt. Das Fussvolk liebt es übrigens, wenn es den Reichen richtig dreckig geht, das bestärkt sie in ihrer sozialistisch-gefärbten Neidkultur.

                                              Der altehrwürdige Donald Sutherland (als Franklin Reinhard) ist hier als Patron von alten Schrot und Korn, Kunstmäzen und Vater von Grace in einer seiner letzten Rollen zu sehen. Es versteht sich von selbst, dass seine Bediensteten natürlich altmodisch in weissen Schürzen kostümiert sind.

                                              Die Fragen des Detective Joe Mendoza (Edgar Ramirez) löchern die, denen er sie stellt, mit einer solchen Unbarmherzigkeit, die einem erst einen Vorgeschmack auf die Härte des amerikanischen Strafvollzugs geben.

                                              Besonders erwähnen möchte ich noch die schwarze Mittfünzigerin Noma Dumenzweni als knallharte Anwältin Haley Fitzerald im eleganten Hosenanzug und Lily Rabe als junge, karriereheisse Prep-Freundin von Grace, die sich vom blonden Oberflächlichkeits-Gift zur verlässlichen Partnerin mausert. Diese beiden hervorragenden Nebendarstellerinnen sind die Würze auf diesem Teller!

                                              Die Dialoge sind messerscharf, es wird nichts ausgelassen, jeder Konter sitzt.

                                              Die Soziologie spielt eine grosse Rolle: „Zeig mir deine Wohnung, und ich sage dir, wer du bist!“ Ausser von der toughen Anwältin wird jedes Schlafzimmer hier gezeigt. Die Kluft der Schichten wird so erst richtig fassbar gemacht.

                                              Die Kamera macht die gestylten Hochglanzbilder natürlich erst möglich: Wie hier die gekonnten Rückblenden und Einspielschnipsel dramaturgisch visuell eingefangen und umgesetzt werden, ist eine Wucht. Oftmals lässt der Weichzeichner die Hälfte des Bildes so diffus erscheinen, so wie der Regen auf die Strassen von NYC fällt. Die genialste Einsellung vielleicht: Wie sich das Prisma der Strassen- und Verkehrslichter im nassen Asphalt des Gullys ins Verderben spiegelt.
                                              New York - Labyrinth und Dschungel in Neon.

                                              Die Musik der russischen Brüder Galperine erinnert oftmals an Hofwalzer von Wien, bis sie schliesslich die Bedrohlichkeit des Settings adäquat zu untermalen weiss.

                                              Das oftmals gehörte Manko schlussendlich, dass die angeblich viel zu rasante Auflösung des ganzen Falls einem halbgar unbefriedigt zurücklässt, möchte ich nicht stehen lassen: Eigentlich weiss nämlich nur der Täter und der Zuschauer was wirklich los war. Als die anderen Beteiligten im Helikopter 🚁 erschöpft und gleichzeitig erleichtert davonrattern, wissen sie eigentlich gar nichts, und der Flug kann als eine symbolische Reise ins Ungewisse verstanden werden. Mystik bis zum Schluss.

                                              Für mich gibt es hier eigentlich nur einen (echt winzigen) Mangel hier, und das sind die Maintitles mit dieser Seifenblasen-Horror-Göre: Das erinnerte mich (ehrlich gesagt) zu unschön an das umstrittene Machwerk eines Darren Aronofsky statt an einen Hochglanz-Thriller in New York. Doch immerhin singt Nicole Kidman den adaptierten Titelsong sehr schön. Und das überwiegt dann eben doch.
                                              Fazit: Bitte anschauen!

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                                                YupYum 14.11.2024, 12:42 Geändert 17.11.2024, 14:16

                                                Der deutsche Publizist Henryk M. Broder (*1946 in Katevice; Polen) ist einer der profiliertesten Kommentatoren des Zeitgeschehens. Er ist berühmt dafür, seine bissige Kritik oft mit herrlichem Sarkasmus zu unterstreichen. Ich liebe seine Auftritte.

                                                Er entstammt einer jüdischen Handwerkerfamilie aus dem oberschlesischen Industriegebiet - seine Eltern, Kalman Broder und Felicja Broder waren Überlebende von Konzentrationslagern.

                                                Schon in seiner Jugend schrieb er Kolumnen, Kommentare und Polemiken für allerlei Medien. Dann wurde er beim „Spiegel“ sesshaft, seit 2011 ist er nach internen Differenzen für „Die Welt“, „Welt am Sonntag“ und „Welt Online“ tätig. Immer wieder mit Kurzinterviews, die man als Videoclips googeln und schauen kann.

                                                Seine Werke „Hurra, wir kapitulieren!“ und „Das ist ja irre! Mein deutsches Tagebuch“ wurden Bestseller. Er ist ebenso Gründer, Mitbetreiber und Autor des Blogs „Die Achse des Guten“. Zu seinem letzten Büchern gehört der Bestseller „Durchs irre Germanistan: Notizen aus der Ampel-Republik“.

                                                Broder war auch Mitarbeiter der Musikzeitschrift „Song“ und in den 1970er Jahren bei „Pardon“ und „Spontan“, die oft explizit erotische Aufmacher mit einer linken Grundhaltung verknüpften. Im selben Zeitraum begann seine Auseinandersetzung mit antisemitischen Tendenzen in politisch links stehenden Kreisen. Diese analytische Aufarbeitungsarbeit ist bis heute ein dominierender Pfeiler in seiner ganzen publizistischen Arbeit.

                                                Broder trug in den 1970er Jahren die Kritik am „Antizionismus“ in die politische Linke, was zum Entstehen der sogenannten „Antideutschen“ beitrug.

                                                Er sagt: „ Der sogenannte Antizionismus ist nur die elegante und versteckte Form des reinen Antisemitismus. Eine Ausrede, den Antisemitismus in einer politisch aseptischen Form zu präsentieren können.“ oder „Es gibt keinen Antizionismus, der seinen Ursprung nicht im Antisemitismus hätte.“

                                                Alice Schwarzer warf er im Laufe ihrer „PorNo“-Kampagne autoritäre Charakterzüge vor - wütend machte ihn 1993 insbesondere einen Artikel der Journalistin Ingrid Strobl in „Emma“, in dem das Existenzrecht Israels bestritten wurde. Er habe sich irgendwann mit „linken Antisemiten à la Schwarzer und Paczensky“ nicht mehr auseinandersetzen wollen.

                                                Broders Bruch mit der deutschen Linken, der öffentliche Umgang mit dem Islamismus und die deutsche Vergangenheitsbewältigung sind neben dem Nahostkonflikt, der „postkolonialen Bewegung“ nach Judith Butler („Wokismus“) und Israel Broders zentrale Themen bis heute.

                                                Broder sieht die Aufmerksamkeit, die dem Nahostkonflikt gewidmet wird, im Vergleich zu anderen Konflikten mit höheren Opferzahlen, längerer Dauer und dennoch deutlich geringerer Resonanz (von Kongo über Nigeria, Somalia, Sudan, Jemen bis Tibet und Darfur) als Indiz für antisemitische Tendenzen in der deutschen Öffentlichkeit. Er kritisiert zudem das Niveau vieler Äußerungen zu diesem Konflikt und bezweifelt die Kompetenz und Neutralität der in den Medien präsenten Akteure.

                                                Die Auslieferung von Broders Buch „Der ewige Antisemit“ wurde im Zusammenhang mit Aussagen zum Skandal um das Theaterstück“ Der Müll, die Stadt und der Tod“ von Rainer Werner Fassbinder zeitweise gestoppt, nachdem der Intendant des Frankfurter Schauspiels, Günther Rühle, gegen Antisemitismusvorwürfe Broders eine einstweilige Verfügung erwirkt hatte.

                                                Angelehnt an den Buchtitel und die Thematik entstand im Jahr 2017 schliesslich die Filmdokumentation „Der ewige Antisemit“, die Broder mit dem Regisseur und Filmproduzenten Joachim Schroeder realisierte. Der Film ist kürzlich wegen eines Artikels erneut ins Bewusstsein der Leute gekommen und wird seither wieder auf YouTube geschaut. Was nur gut ist.

                                                Broder begibt sich auf eine Reise von Dresden über Paris bis hinauf nach Malmö in Schweden. Ziel seiner Autoreise ist eine Bestandsaufnahme des heutigen jüdischen Lebens in Europa. Dabei stellt er sich und den Menschen, die ihn dabei begleiten und die er unterwegs trifft und aufsucht, unter anderem die Grundsatzfrage nach dem Ursprung der Judenfeindlichkeit und des Antizionismus und spricht auch darüber, was die aktuelle Zuwanderung aus muslimischen Ländern für die jüdische Kultur in Europa bedeutet.

                                                Begleitet wird er dabei von seinen langjährigen Freund Hamed Abdel-Samad. Dieser schrieb erst gerade kürzlich das wichtige Buch „Der Preis der Freiheit - Eine Warnung an den Westen“. Genau wie auch der wichtige Aufklärer Ahmad Mansour (der regelmässig in deutschen TV-Gesprächsrunden, wie Markus Lanz, zu sehen ist), steht auch Abdel-Samad unter ständigem Personenschutz, der von Broder in seiner Dokuntation mehrfach thematisiert wird.

                                                Über Abdel-Samad wurde eine muslimische Fatwa verhängt, und sein „Vergehen“ war, dass er den Koran anders als die Muslimbrüder auslege. Er kann sich seither also nicht mehr frei und schutzlos in Deutschland bewegen - ein Armutszeugnis woker Politik seit Angela Merkel.

                                                So begleiten wir als Zuschauer das Dreiergespann (der dritte im Bunde ist Broders Hund „Chico“) im Auto Richtung Norden. Immer gibt es zuerst einen Besuch, danach wird dieser im Auto reflektiert.

                                                Die erste Etappe der Reise führt Broder nach Dresden, wo er sich zu einem Gespräch mit seinem alten Freund Leon de Winter in einem Café trifft. Sie unterhalten sich darüber, was es heutzutage heißt, Jude in Europa zu sein, und stellen fest, dass sie vielleicht zur letzten Generation gehören, die damit aufgewachsen ist, die alte jüdische Gemeinschaft noch gekannt zu haben.

                                                In Paris tauchen wir ins „Marais Quartier“ in eine Art letztes jüdisches Refugium ein. Mit der ständigen Präsenz von Hochsicherheitsleuten der Polizei hat man sich seit dem terroristischen Anschlag auf den „Bataclan“ Musikclub vom 13. November 2015 mittlerweile abgefunden.
                                                Nochmals zur Erinnerung: Dieser islamfaschistische Horror dauerte damals über 4 Stunden und forderte 130 Todesopfer sowie knapp 700 Verletzte.

                                                In Naumburg suchen sie das dortige Oberlandesgericht auf, das ein Jahr zuvor in dritter Instanz den wegen Holocaustleugnung verurteilten ehemaligen SPD-Kommunalpolitiker Hans Püschel freigesprochen hatte. Das Gericht verweigerte nun Broder jegliche Art der Auskunft.

                                                In Regensburg wird Broder der philosophisch-theologischen Satz „Der Antisemitismus ist immer der Vorbote eines grossen Unheils“ präsent.

                                                Die Aussage des Linken-Aktivisten Diether Dehm „Der Begriff Antisemitismus muss dem Holocaust vorbehalten bleiben und darf außerhalb dieser Definition keine Anwendung finden.“ führt Broder zu der Festsstellung, damit dem Antisemitismus von heute einen Freibrief auszustellen.

                                                Die köstlichste Episode des Films findet dann in Hildesheim im Saal der „Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst“ statt; genauer: In der „Fakultät für Soziale Arbeit und Gesundheit“, wo es ein Seminar über die soziale Lage von Jugendlichen in Palästina gegeben hatte, welches nun in einer Podiumsdiskussion unter dem Aspekt antisemitischer Inhalte aufgearbeitet und debattiert wird.

                                                Nach einem ellenlangen, ermüdenden Ausführungen voller Ausflüchte, billigen Rechtfertigungen und lapidarer Relativierungen am Mikrophon der Ober-Rektorin Christiane Dienel jagt es Broder vor Wut den letzten Deckel von der Pfanne: „Es gibt keinen naiven Antisemitismus!“, wirft er der vornehmen Dame vor, und dass sie selbst getragen von Naivität sei und der „antisemitischen Verseuchung“, die mit ihr stattgefunden hätte.

                                                In München besuchen sie Florian Gleibs, den Betreiber des traditionellen jüdischen Restaurants „Schmock“ und essen eine vorzügliche Vorspeise.

                                                Die letzte Etappe führt schliesslich ins schwedische Malmö, in dessen Quartieren längst arabische Clans das Sagen haben. Als Jude lebt man dort dank diesem importierten Antisemitismus immer gefährlicher.

                                                Beim Besuch bei einem ungarnstämmigen jüdischen Lehrer, der mittlerweile voller täglicher Bedrohungen lebt, kommt einem unweigerlich der 2020 brutal ermordete Lehrer Samuel Paty von Conflans-Sainte-Honorine unweigerlich in den Sinn. Er sagt, dass die Kinder alle infiziert seien durch die Konflikte, die aus den Herkunftsländern in das Migrationsland mitgebracht wurde. Das Migrationsland notabene, dass sie verachten. Man könne diese Kinder kaum aufklären, da dies als Aggression empfunden werden und dann gleich mehrere Cousins vorbei geschickt würden. Schon 11-Jährige hätten ihm den Hitlergruss gezeigt.

                                                Weiter wird der Rabbiner von der Synagoge besucht, deren Betrieb wegen verschiedener Anschläge nur noch mit kugelsicherem Glas der Kirchenfenster stattfinden kann. Der Rabbiner bemerkte, er habe sich schon oft selbst gefragt, ob die Zeit gekommen wäre, sich aus Malmö zurückzuziehen, bleibe dennoch, „weil meine Gemeinde mich braucht.“

                                                Der Satz von Broder ging mir danach ans Eingemachte: „Ich muss sagen, mir ist die jüdische Beharrlichkeit („Wir bleiben!“) unheimlich. Ich halt das nicht für besonders klug. Wenn man etwas aus der Geschichte gelernt haben will, muss man als erstes wissen, wann die Zeit gekommen ist zu gehen.“

                                                Die Dokumentation ist in der Mediathek des Bayerischen Rundfunks nicht mehr abrufbar. „Der ewige Antisemit“ wurde in den gängigen Medien nicht besprochen, beziehungsweise rezensiert. Man kann den wertvollen Film auf YouTube sehen. Der Videokanal birgt auch das Interview von Moderator Peter Voss von 2008, dass sehr zu empfehlen ist.

                                                Visionär nimmt Broder bei Voss schon damals alles vorweg, was mit dem ungebremsten Import von muslimischen Asylmigranten mittlerweile in ganz Europa tagtägliche Routine ist: Von omnipräsenter Gewalt, sexuellen Übergriffen, täglich verübten Messergewalt, Terror und Progromen gegen unsere jüdischen Mitmenschen.

                                                Der Hass, der sich zuerst immer gegen Juden manifestiert, und danach irgendwann gegen uns alle, die nicht-muslimisch sind, richten wird.
                                                Wir, die sogenannt „Ungläubigen“.

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                                                  Juliette Binoche - elegante Pariserin, Hobbymalerin und Oscarpreisträgerin - mal als toughe Truckerbraut in Jeans und offenem Vintage-Hemd, die von Nashville in den Bundesstaat Arkansas braust, ist doch mal richtig eine schöne Rollenabwechslung für sie. Ständig in CB-Funkkontakt mit ihren coolen Lastwagen-Kolleginnen in der gegenseitigen Schutzengel-Funktion (u.a. Vernoica Ferres (!)), wird es für Sal (also Juliette) zur Nagelprobe, als sie sich plötzlich als herbeigezwungene Zudienerin für den Menschenhandel Minderjähriger wiederfindet. Doch Detektive Gerick (Morgan Freeman) erkennt schnell ihr gutes Herz, lässt sie auch mal gewähren, bleibt ihr aber dennoch auf den Fersen. Und wenn es dann auf einem abgelegenen Flugplatz ✈️ zum Showdown kommt, sind auch hier ihre Trucker-Freundinnen mit kessen Sprüchen umgehend zur Stelle: „An Airport, that’s wonderful, Babe! I always wanted to become a Stewardess, before I broke my teeth!“

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                                                    Der Kolumnist Harry Bergmann schreibt über "The Zone of Interest" und Jonathan Glazers Dankesrede bei der Oscar-Verleihung

                                                    von Harry Bergman, Falter.at., 17.4.2024

                                                    Ich bin kein Filmkritiker. Das ist auch keine Filmkritik. Wäre ich ein Filmkritiker und das hier wäre eine Filmkritik, wäre es höchstwahrscheinlich eine überschwänglich gute, vielleicht sogar eine begeisterte Kritik. Aber ich will den Film „The Zone of Interest“ nicht kritisch beleuchten, nicht rezensieren, nicht kommentieren. Ich will den Macher dieses Films, Jonathan Glazer, der sicher ein ganz Großer unter den Machern ist, kritisieren.

                                                    Sie werden sich jetzt vielleicht fragen, ob ich Glazer persönlich so gut kenne, dass ich mir das herausnehmen kann. Nein, ich kenne ihn eigentlich gar nicht. Ich will aber auch nur über ein paar Minuten seines Lebens schreiben. Nämlich genau jene Minuten, die er benötigte, um seine Dankesrede für den Oscar für den besten Internationalen Film zu halten. Und die kenne ich.

                                                    Lange vor dieser Rede war natürlich der Film selbst. Sollten Sie ihn noch nicht gesehen haben – was ich Ihnen übrigens unbedingt empfehlen würde – erzähle ich Ihnen ganz kurz, worum es geht:

                                                    Der Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß und seine Ehefrau Hedwig leben auf einem direkt an die Lagermauer angrenzenden Grundstück ihre Vorstellung einer Landidylle aus. Große Familie. Großes Haus mit mehr oder weniger versklavten Bediensteten. Großer, blühender Garten. Großes Glashaus. Großer Swimmingpool.

                                                    Diesseits der Mauer das kleine, banale Paradies. Jenseits der Mauer Dantes Inferno. Das Schlimmste, das je Menschen Menschen angetan haben.

                                                    Aber jetzt – im schnellen Vorlauf – zu der Stelle von Jonathan Glazers Rede, die in den letzten Tagen kaum weniger besprochen wurde als der Film selbst:

                                                    „Our film shows where dehumanization leads at its worst. It shaped all of our past and present. Right now, we stand here as men who refute their Jewishness and the Holocaust being hijacked by an occupation which has led to conflict for so many innocent people.“

                                                    Ich will das gar nicht übersetzen, weil durch die Übersetzung bereits eine Interpretation stattfinden könnte. Ich habe zumindest schon etliche Übersetzungen mit ebenso vielen Interpretationen gelesen. Ich will es einmal so stehen lassen.

                                                    Es gibt aber zwei Stellen, die ich eben so nicht stehen lassen kann. Ich schreibe mir seit dem 7. Oktober nicht die Finger wund, um dann großmütig darüber hinwegzusehen.

                                                    Und ja, ab hier wird es sehr, sehr persönlich. Für Sie eine wunderbare Gelegenheit, etwas Sinnvolleres mit Ihrem Leben anzufangen, als weiterzulesen.

                                                    Zu Glazers „dehumanization“ schreibt die deutsche Schriftstellerin und Journalistin Mirna Funk in ihrer direkten – manchmal sicher auch überspitzten – Art: „Dank Jonathan Glazer ist die Universalisierung des Holocaust hiermit abgeschlossen. Er will klar machen, dass judenmordende Nazis mit allen anderen Tätergruppen austauschbar sind.“

                                                    Nun, dass Glazer den Holocaust seiner Einzigartigkeit beraubt, muss man so hinnehmen. Es ist schließlich sein Film und wenn er in seinem Film Auschwitz nur als Parabel für Entmenschlichung verwenden will – deshalb ist wohl das Lager im Film nie zu sehen, sondern nur zu hören – ist dem wenig entgegenzusetzen. Sein Film ist sein Film. Dass er damit Gefühle von unmittelbar Betroffenen verletzt, steht auf einem anderen Blatt. Meine Gefühle zum Beispiel – ich habe sie gewarnt, dass es sehr persönlich wird. Meine Eltern waren einige Wochen vor ihrer Befreiung genau hinter der Mauer, die im Film zu sehen ist. Sie wurden in Auschwitz befreit. Die Verallgemeinerung Ihres Leidens tut dem Sohn natürlich weh.

                                                    Der wahre Grund aber, der mich antreibt, die heutige Kolumne zu schreiben, sind die Worte „the Holocaust being hijacked by an occupation“.

                                                    Da ist sie wieder, die Auschwitzkeule. Juden verwenden Ihre Opferrolle, um den moralischen Anspruch zu haben, Täter zu werden. Das ist erstens historisch falsch und zweitens zutiefst antisemitisch.

                                                    Ja, antisemitisch! Nicht antizionistisch! Nicht antiisraelisch! Antisemitisch!

                                                    Es gibt den Antisemiten, die weltweit täglich mehr werden, den ersehnten Joker in die Hand. „Wenn ich Israel kritisiere, bin ich noch lange kein Antisemit!“

                                                    Ich habe es schon so oft versucht, vielleicht gelingt es mir heute, diesen Teil der Diskussion endlich hinter uns zu bringen:

                                                    Israel zu kritisieren ist nicht antisemitisch. Ich kann Ihnen gern noch ein paar Gründe liefern, die Sie noch gar nicht kennen.

                                                    Die extrem rechte Regierung Israels zu kritisieren ist auch nicht antisemitisch. Ich finde es nur beim prognostizierten Anteil der FPÖ von 30 Prozent etwas schräg.

                                                    Netanjahu den größten Anteil an der derzeitigen inner-israelischen Situation zu geben, ist nicht antisemitisch.

                                                    Antisemitisch ist, wenn man diejenigen, die Juden umbringen, nur weil sie Juden sind, nicht Mörder nennt.

                                                    Antisemitisch ist, wenn man ignoriert, dass die Hamas jederzeit und sofort den Krieg beenden könnte, wenn sie die Geiseln endlich freilässt. Geiseln, die sie nur deshalb als Geiseln genommen hat, weil sie Juden sind.

                                                    Dass Glazer selbst Jude ist, macht die Sache nicht besser, sondern schlechter. Antisemitische Inhalte sind auch dann – und vor allem dann – antisemitische Inhalte, wenn sie durch das Jüdischsein ihrer Vertreter scheinbar legitimiert werden.

                                                    Lieber Jonathan Glazer, die Juden sind nicht als Opfer vergast worden, sondern als Täter. Die Juden sind seit der Kreuzigung Christi an allem schuld. Das war und ist die Begründung für Judenhass, Judenverfolgung und Judenvernichtung: die Erlösung der Welt von den Juden.

                                                    Sie kennen doch diesen uralten Witz:

                                                    „Die Juden und die Radfahrer sind an allem schuld!“

                                                    „Wieso die Radfahrer?“

                                                    „Wieso die Juden?“

                                                    Und jetzt sind die Juden am 7. Oktober selbst schuld. Die gerechte Bestrafung für die „occupation“. Ich habe Sie doch richtig verstanden, Herr Glazer?

                                                    In Ihrer Rede, Herr Glazer, war leider keine Rede davon, dass Gaza seit 2005 nicht von Israel besetzt wird.

                                                    In Ihrer Rede, Herr Glazer, war leider keine Rede davon, dass Gaza seit 2005 als zweistöckige Stadt erbaut wurde. Ein Erdgeschoss, ein Untergeschoss und eine klare Bauwidmung: Tod den Juden!

                                                    In Ihrer Rede, Herr Glazer, war leider keine Rede davon, dass die Ausstattung des Untergeschosses nur einen Plan hatte: Tod den Juden!

                                                    In Ihrer Rede, Herr Glazer, war leider keine Rede davon, dass das Untergeschoss am 7. Oktober – vor den Augen der Welt – seiner wahren Bestimmung übergeben wurde: Tod den Juden!

                                                    In Ihrer Rede, Herr Glazer, war leider keine Rede davon, dass sich das jahrelange Buddeln und Schuften, das Leben als Grottenolm, gelohnt hatte und am 7. Oktober endlich der ersehnte Tag mit dem ersehnten Ziel gekommen war: Tod den Juden!

                                                    In Ihrer Rede, Herr Glazer, war leider nur von der „occupation“ die Rede „which has led to conflict for so many innocent people“.

                                                    Ich glaube seit dem 7. Oktober, dass ich im falschen Film bin. Seit den Entgleisungen einer Judith Butler (über die ich in meiner letzten Kolumne „Manieriert oder mariniert?“ geschrieben habe), seitdem eine Deborah Feldman mit ihren woken Argumenten jede zweite Talkshow des deutschen Fernsehens gehijacked hat, seit der Pro-Hamas-Preisverleihung bei der Berlinale, an der sich auch die Ministerin für Kultur und Medien, Claudia Roth, erfreut hat und leider auch seit Jonathan Glazers bejubelter Rede, glaube ich nicht nur, dass ich im falschen Film sitze, nein, ich weiß es.

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