_Garfield - Kommentare
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Alle Kommentare von _Garfield
Ein in der Nachbarschaft Andersons entstandenes, mit Freunden und Familie realisiertes Period Piece, das bei allem Rückblick nie zur biografischen Nabelschau gerät. PTA macht nicht den Fehler, sich der Erinnerung nostalgisch zu überantworten, sondern bewahrt sich einen kritischen Blick auf die Zeit und ihre Leute. Ölkrise, Machismo, alttägliche Rassismen und Sexismen sind ständige Begleiter in einem Film, dem es durch die Fokussierung auf zwei lebenshungrige, ganz und gar idiosynkratische Hauptfiguren dennoch gelingt, eine spielerische, warmherzige Liebesgeschichte zu erzählen, die wie die Serpentinen des San Fernando Valley beständig überraschende Haken schlägt.
Kunst, die sich der Gegenwart offen zuwendet, im Konkreten aber zugleich nichts von ihrer universellen Kraft verliert, ist selten. Filme, die das Gefühl der Millenial-Generation zu fassen bekommen, ohne sich in Memes und identitätspolitischen Buzzwords zu verlieren, fast noch mehr. Joachim Trier gelingt es, gegenwärtige Debatten aufzugreifen und sie mit existenziellen Fragen neu zu perspektivieren. Der Filmtitel stellt jene pathetischen Gesten einer zwischen Selbstmitleid und Ironie wankenden Generation zur Schau, die einem viel zu gut bekannt sind, denen sich Trier aber zu keinem Zeitpunkt überlegen fühlt. Stattdessen nimmt er sie ernst, berücksichtigt neue Formen des Umgangs und der Empfindsamkeit, ohne auf neue Empfindlichkeiten Rücksicht zu nehmen. Entstanden ist ein beizeiten leichtfüßiger, dann wieder tonnenschwerer Beziehungsfilm, der die Ambivalenzen unserer Zeit aufzeigt, statt sie auszublenden; der bei alledem aber nie vorgibt, mehr Antworten zu geben, als er Fragen stellt.
Die anachronistische, bisweilen atonale, aber immer stimmungsvolle Musik von Matthew Herbert ist der große Gewinner dieses Filmes. Wie ein Omen legt sie sich unter diesen ruhigen, fast schon meditativ erzählten Film; besonders der rätselhafte Lautgesang, der auch einem animistischen Keltenritual entstammen könnte, lädt die eindrücklichen, kargen Landschaftsbilder Irlands immer wieder atmosphärisch auf. Landschaften von einer melancholischen Tristesse, wo der Torf reichhaltig gestochen wird, aber die Kartoffeln rar sind. Das kollektive Trauma der irischen Hungersnot hallt lebhaft in der Figur von Anna (Kíla Lord Cassidy) wider, deren Fasten zugleich ein Ausdruck persönlicher Traumata und religiöser Schuldkomplexe darstellt. Das nuancierte Drehbuch greift daneben das zerrüttete Verhältnis zwischen den Iren und ihren ehemaligen englischen Besatzern auf, was zusätzlich zur unterschwelligen Spannung zwischen der englischen Krankenschwester Elizabeth (Florence Pugh) und den irischen Dorfbewohnern beiträgt. Besonders das Thema Hoffnung in einer tristen, hungernden Welt hat mich sehr berührt; insbesondere der aufopferungsvolle Einsatz von Elizabeth für das Mädchen und eine mögliche Zukunft – entgegen der Dogmen und Ängste, die ihr tief eingeschrieben (worden) sind.
Schon der Beginn ist ein Highlight: die verdreckten, blutgetränkten Uniformen getöteter deutscher Soldaten werden gesäubert, Einschusslöcher im Stoff geflickt, anschließend aufgehängt; rotes Wasser tropft auf den Boden. Dann lernen wir den Protagonisten Paul Bäumer (Felix Kammerer) kennen, einen kriegsbegeisterten Schüler, der die Propaganda seines Landes wie ein Schwamm aufgesogen hat. Er bekommt eine jener Uniformen ausgehändigt, die wir zu Beginn des Filmes am Körper eines anderen jungen Soldaten gesehen haben; sie ist gewaschen und getrocknet, aber das Namensschild des vorigen Trägers ist noch angeheftet. Der Kreislauf der Tötungsmaschinerie auf ein kleines Stoffschild verdichtet, die brutale Gleichgültigkeit des Krieges in einem einfachen Prozess erzählt. Regisseur Edward Berger findet viele solcher eindrücklichen Bilder für Erich Maria Remarques Roman von 1929, abseits der obligatorischen Schlachtsequenzen, die – so die immanente Paradoxie des Kriegsfilmes – jenes Bedürfnis nach Spektakel befriedigen müssen, dessen Grausamkeit sie zugleich betonen möchten (zumindest jene Genre-Einträge, die auf das „Anti“ in der Selbstbeschreibung bestehen). Im Westen nichts Neues kann diesen inneren Widerspruch nicht auflösen, findet aber am Rande der Frontgräben immer wieder einen Weg aus dem Spektakel.
Endlich einmal ein Film, der von radikaler Kunst erzählen kann, ohne sich in abgegriffenen Arthaus-Inszenierungen peinlich zu überhöhen. Die Gäste, die zugleich Opfer sind, werden nicht zu Karikaturen verunstaltet, die in Zeitlupe zu klassischer Musik das Weinglas schwenken und dabei einen fettigen Lippenabdruck am Glasrand hinterlassen, sondern lediglich als ein Haufen recht unsympathischer, reicher Menschen, wie es sie, mutmaße ich, genau so auch in der Wirklichkeit gibt: der alternde Filmstar, die unzufriedene Assistentin, das unglückliche Ehepaar, die versnobten Restaurantkritiker, die neureichen Start-Upper, der Fanboy und sein Date (Anya Taylor-Joy), das nur zufällig Teil der titelgebenden Inszenierung von Starkoch Julian Slowik (Ralph Fiennes) wird. Das sind keine tiefen Charakterstudien, aber einprägsame, bunte Figuren, die dem Film völlig ausreichen, um seine Geschichte erzählen zu können. Ich kann nur empfehlen, während der Sichtung darauf zu achten, was die Aussagen von Fiennes bedeuten würden, wäre seine Figur nicht Koch, sondern Filmemacher. So oder so ergibt sich eine ziemlich ätzende Kunstkritik, die ausnahmslos alles und jeden unter Beschuss nimmt – vor allen den Künstler selbst. The Menu nimmt sich dabei nicht zu ernst und weiß, in Analogie zum Ende des Filmes, ziemlich genau, was er sein will: ein gut gemachter Cheeseburger, mit American Cheese, weil der so gut schmilzt.
[...] Nachdem sich Dracula und Mina das erste Mal in den Straßen Londons begegnen und dort den Tag miteinander verbringen, sitzen sie am Abend schließlich bei einem Gläschen Absinth in einem Salon und reden über die Heimat Draculas. „A land beyond a great vast forest, surrounded by majestic mountains and lush vineyards and flowers of such frailty and beauty as to be found no where else“, seufzt Mina in der trüben Erinnerung an ihr früheres, vage erinnertes Leben. Hier führt der Film das weiter, was er in den ersten Interaktionen zwischen Mina und Dracula bereits andeutet: zwischen den Beiden herrscht nämlich nicht vorherrschend Abneigung, wie es der Roman beschreibt, sondern eine tiefe, gegenseitige Verbundenheit. Der Drehbucheinfall, die beiden Figuren über eine vermeintliche Reinkarnation historisch miteinander zu verkitten, verändert auch die Bedeutung ihrer Umgebungen und wie sie zu lesen sind.
Die Landschaften des fernen Transsilvanien drücken in dieser Szene scheinbar auch die Sehnsucht nach einem Ausbruch aus den strengen Rollenbildern der Londoner Gesellschaft aus. Der Fluch Draculas, der Vampirismus, kann demnach sogar als Heilsbringer verstanden werden, der Mina, in Buch wie Film immer den Befehlen und Handlungen der von Van Helsing angeführten Männerbande unterworfen, die Möglichkeit eröffnet, sich ein Stück weit Unabhängigkeit zu erkämpfen. Nicht ohne Grund sind im Hintergrund der Szene die erhabenen Panoramen und die mysteriösen Schlösser Transsilvaniens visualisiert. Sie bilden eine Projektionsfläche für ihre Sehnsucht. Diese Sehnsucht, ihre gemeinsame Sehnsucht, ist ein Zurückerinnern, ein nostalgischer Gedanke an das Mittelalter als ihr Glück noch währte, und damit zum Ursprungspunkt des Traumas und des Fluches. Der Salon wird zu einem Zwischenraum dieser gemeinsamen Erinnerung. [...]
Am Anfang bin ich noch an Bord: Berlin im Schneegestöber, ein Sarg, eine trauernde Witwe – das lass ich mir gefallen. Dann geht es ins Flugzeug und auch hier bleibe ich zunächst willig auf dem mir zugewiesenen Fensterplatz, denn Flugzeuge mag ich und besonders mag ich es zu beobachten, wie Regisseure Normalität inszenieren; das Boarding, die vielen kleinen Handgriffe der Crew, aber auch die typischen Verhaltensweisen der Passagiere. So was muss man erstmal inszenieren können! Sehr gut hat das Patrick Vollrath jüngst in 7500 gemacht – da bekommt man ein gutes Gefühl für das Flugzeug als Arbeitsplatz und das Prozedere der Crew, um dann um weiteren Verlauf erleben zu können, wie das Standardisierte, Alltägliche durch einen Entführungsversuch in eine Ausnahmesituation verwandelt wird. Klassisches Filmhandwerk also: Normalität erzeugen, um das Außergewöhnliche wirkungsvoll heraufzubeschwören. Schwentke macht das okay, aber er ist auch kein Vollrath, erst recht kein Fincher, an den ich aufgrund der Querverbindung von Foster zum gleichfalls kammerspielartigen, aber unendlich viel effektiveren Panic Room denken musste. Aber wo war ich? Ach ja, Flugzeuge als Schauplatz bergen Potenzial: das gedimmte Licht der Passagierkabinen, das Behagliche des Flugzeugs, das jederzeit ins Klaustrophobische kippen kann; da liegt eine naturgegebene Spannung, die sich filmisch aufgreifen lässt. Flightplan weiß das kaum für sich zu nutzen.
Die Idee, Foster zur Flugzeugkonstrukteurin zu machen, bildet eigentlich eine wunderbare Ausgangslage für ihre spätere John McLane-Situation. Auch Peter Sarsgaard mag ich, der hat ein Gesicht, dem das „fick dich“ natürlicherweise eingeschrieben ist. Leider ist die Auflösung, wie schon oft bemerkt, sehr dumm. Die Folge: totaler Druckabfall, die Spannung verflüchtigt sich, es droht – um die Flugzeug-Metaphern auf Reisehöhe zu bringen – die Bruchlandung. Geld als Motivation und Bösewichte, die nur böse sind, gehören ins 20. Jahrhundert verbannt, aber leider sterben sie nicht aus. Foster macht das schon okay, wenngleich sie andauernd in die Rolle der hysterischen Löwenmutter gedrängt wird (auch hier: Panic Room das bessere Beispiel für eine ähnliche Figur). Da ist noch Sean Bean, der einmal nicht das Arschloch spielen muss und tatsächlich leben darf (!) – eine von wenigen Überraschungen in einem eher überraschungsarmen Film, der lediglich durch seinen Schauplatz und die reizvolle Prämisse leidlich zusammengehalten wird. Ich rate dazu, sich den Trip einfach zu sparen – ist ohnehin besser für die CO2-Bilanz.
[...] Der Philosoph Christian Wolf weist in seinem Text Die große Illusion sinnfällig darauf hin, dass The Matrix womöglich einer der ersten Filme war, der ein breites Publikum zum ersten Mal mit dem Gedanken vertraut machte, dass die Welt, in der sie leben und die sie für vollkommen selbstverständlich nehmen, nur eine gut gemachte Simulation sein könnte. Eine solche Vorstellung ist aus Sicht des sogenannten Neurokonstruktivismus allerdings gar nicht so absurd. Mit Verweis auf den Neurophilosophen Thomas Metzinger lässt sich das subjektive Erleben des Menschen auch als „elegante Benutzeroberfläche“ verstehen, die unser Gehirn errechnet, ohne, dass wir etwas davon mitbekommen. Unsere alltägliche Wahrnehmung von der Welt ist danach eine vom Gehirn konstruierte Wirklichkeit, die wir projiziert bekommen.
Die Idee dahinter fußt auf der Erkenntnis-philosophischen Schule des Konstruktivismus, wonach „der Akt des Erkennens stets auch Art und Inhalt des Erkannten“ beeinflusst. Die Existenz einer objektiv gegebenen Realität ist dieser Denktradition nach mindestens strittig, schließlich ist der Ausgangspunkt für diese Annahme das einzelne Gehirn (oder um es noch komplizierter zu machen: das Bewusstsein). Morpheus gibt sich in dieser Hinsicht selbst als Neurokonstruktivist zu erkennen. Nachdem Neo aus der Matrix erwacht und Morpheus ihm die Spielregeln dieser simulierten Welt erklärt, sagt dieser: „What is real? How do you define real? If you’re talking about what you can feel, what you can smell, can taste and see, then real is simply electrical signals interpreted by your brain.“ Er schließt mit den apokalyptischen Worten: „Welcome to the desert of the real.“
Und in diesem Punkt hat Morpheus recht: Wir können weder aus unserem Bewusstsein heraustreten, noch in ein anderes Bewusstsein eintreten, um zu überprüfen, ob eine Alltagswelt als „oberste Wirklichkeit“ außerhalb unserer Wahrnehmung existiert oder ob Andere die Realität so wahrnehmen wie wir. Die Indizien dafür, dass wir eine objektive Realität mit Anderen teilen scheint lediglich durch Sprache vermittelt – wir können zum Beispiel auf einen Tisch zeigen und uns verbal mit Anderen darüber verständigen, dass dieser Tisch auch für sie existiert. Der Tisch – so scheint es nun – existiert also auch außerhalb unserer Wahrnehmung, in einer allgemeingültigen, objektiven Welt.
Doch Sprache ist ein menschengemachtes, durch Konventionen geregeltes Zeichensystem, das auch immer wieder Missverständnisse produziert. Wirft man beispielsweise einen Blick auf den US-Präsidentschaftswahlkampf von 2020 und die dabei sichtbar gewordene Polarisierung zwischen den widerstreitenden politischen Partei- und Wählerlagern, dann kann man ernsthafte Zweifel darüber anmelden, ob diese Lager eine objektive Realität teilen, auf die sie sich in der Debatte verlässlich beziehen können. Stattdessen scheint es so, dass eine Unzahl von Realitäten besteht, die jeder für sich heilig gemacht hat und darum erbittert verteidigt. [...]
Unabhängig davon, wo man nun die literarische Vorlage dieses Filmes einordnet, unstrittig ist aus meiner Sicht, dass es sich bei Donna Tartt um eine begnadete Stilistin handelt; eine Autorin also, die Sprache wirklich zum Schwingen bringen kann und der es gelingt, in diesen magischen Zwischenraum einzutauchen, den wirklich nur herausragende Literatur zu betreten vermag. Tartt findet für diesen Zwischenraum auf den letzten Seiten ihres Buches folgende Worte:
"Between ‚reality‘ on the one hand, and the point where the mind strikes reality, there’s a middle zone, a rainbow edge where beauty comes into being, where two very different surfaces mingle and blur to provide what life does not: and this is the space whrere all art exists, and all magic." (The Goldfinch, S. 863)
Die Poesie dieser Sprache ins filmische Medium, also in eine Poesie der Bilder zu übersetzen, ist seit jeher ein der großen, kaum zu überschätzenden Herausforderungen von Literaturverfilmungen. Vielen Adaptionen ist gemein, dass sie zwar die narrative Struktur ihrer Vorlage aufbrechen (indem sie die Chronologie verändern oder ganze Abschnitte aussparen), sich aber zugleich in den Dialogen, quasi als Trost für den Autoren der Vorlage, sehr nah an derselbigen zu halten versuchen. Hier liegt meiner Meinung nach bereits ein großes Missverständnis vor. Das Nonverbale, die aufgeladene Stille, die Auslassung und Verknappung ist in der Literatur nur äußerst schwierig umsetzbar, da sich diese oft gezwungen sieht, dort zu explizieren und etwas auszusprechen, wo das Bild die berühmten tausend Worte erübrigen kann. Hier liegt also eine Chance der filmischen Adaption an Dialogmaterial einzusparen und zugleich die Vorlage motivisch zu verdichten; in einem Bild, einem Schuss und vor allem: einem Gesicht – in der performativen Qualität des Filmischen.
Postmodernes Erzählen eines romantischen Stoffes
The Goldfinch hat allerdings keinerlei Vertrauen in das eigene Medium und begeht zugleich den Fehler, die Vorlage strukturell zu verkomplizieren. Die simple chronologische Struktur von Tartts Roman bricht der Film in viele verschiedene Rückblenden und Vorausblicke auf und beraubt sich narrativ somit um unheimlich viel Fallhöhe. Das alles in Gang setzende Attentat in der New Yorker Kunstgalerie wird zerstückelt und als PTSD-Flashes eingestreut; der Verlust der Mutter, die im Film im Grunde nicht vorkommt und lediglich als flüchtiger, idealisierter und zugleich unbeseelter Schatten inszeniert wird, bleibt emotional ohne Resonanz. Das Ergebnis: man hat überhaupt kein Gefühl für die einschneidende Gewalt des Attentats und damit für das alles in Gang setzende Trauma der Hauptfigur. Das ist vor allem darum schade, weil sich gerade der Anfang des Romans ganz wunderbar filmisch umsetzen lässt. Das Schweigen, in das Theo zu Beginn verfällt, wäre auch eine wunderbare Möglichkeit für die Adaption, zunächst nur über Bilder zu erzählen, ehe der Film mit fortlaufender Dauer auch zu einer Sprache kommt; analog zu Theo, der sich nach dem Attentat wieder sukzessive ins Sprechen bringt.
Ärgerlich ist die Fragmentierung der Chronologie auch deshalb, weil sie anstelle einer vermeintlich modernen, dramaturgisch unergiebigen filmischen Struktur tritt. Die erste Begegnung mit Hobie und Pippa nach dem Anschlag; der Halt, den Theo dort und im Hause der Barbours findet, kann so kaum nachempfunden werden. Positiv hervorheben möchte ich trotzdem Nicole Kidman, die die unterkühlte, aber zugleich liebende Ersatzmutter Mrs. Barbour spielt. Fürsorge über Gesten der Distanz zu erzählen, ist wirklich eine große Leistung.
Auf eigenen Füßen stehen
Ich möchte auch nicht auf den Schauspielern der Hauptfigur herumhacken: ich bin zwar kein großer Fan von Ansel Elgort, aber bisweilen sah ich einen verschmitzten Charme bei ihm aufblitzen, der mich durchaus mit dieser Besetzung hätte versöhnen können. Es ist nur so, dass diese Figur fortlaufend fern und seltsam sauber bleibt; selbst in seiner Drogensucht strahlt er die gleichförmige, ja langweilige Frische eines neu bezogenen Bettlakens aus. Die wenigen Augenblicke, in der die Coming-of-Age-Geschichte des Filmes eine künstlerische Eigenständigkeit gewinnt, sind Einzelszenen aus der Zeit in Las Vegas, in der der Film Theos orientierungslose, Drogen-betäubte Jugend schildert, die er gemeinsam mit seinem besten Freund Boris verlebt. (Gänzlich fehlbesetzt im Übrigen: Luke Wilson als spielsüchtiger Vater, der nichts von der Explosivität des literarischen Vorbilds besitzt).
Ich würde nicht behaupten, dass der Roman ohne Schwächen ist, da dieser gerade in seinem letzten Abschnitt doch arg bequem auserzählt wird (die meisten Konflikte lösen sich in Wohlgefallen auf), ehe Tartt auf den sehr schönen meta-fiktiven Abschlussseiten wieder ihre beste Seite zeigt, wenn sie dem Schreiben und dem Geschichtenerzählen ihre Liebe gesteht – und an jenen Ort in unseren Herzen erinnert, an dem der Glaube daran unbeirrt fortbesteht. Der Film findet allerdings nie zu einem solchen Ort, zum Rande des Regenbogens etwa, sondern bleibt, wie so viele Adaptionen vor und nach ihm, ängstlich, abhängig und ideenlos. Das Gegenteil also dessen, was Kunst ist – oder zumindest sein kann.
[...] Wir sehen im Film nie eine Bedrohung, sondern immer nur die Indizien, die auf sie verweisen; die Geschichten, die sich über sie erzählt werden, die Spuren, die sie hinterlässt oder die Geräusche, die sie verursacht. Der Film erweist sich als ein Spiel mit Ängsten, die gleichermaßen unbezeichnet und unaufgelöst bleiben. Diese Vorgehensweise ist vor allem im Kontext des Horrorgenres interessant und mit Aussicht auf den Verschwörungsdiskurs lehrreich, wenn man den Angstbegriff theoretisch in den Blick nimmt.
Der Soziologe Max Dehne unterscheidet zwischen den Begrifflichkeiten Angst und Furcht. Furcht sei der allgemeinere Begriff und beschreibe beispielsweise die Furcht vor konkreten Gefahren, Angst dagegen beschreibe vor allem das unmittelbare, körperliche Gefühl; den Zustand selbst. Als den eigentlichen Erfahrungsgegenstand der Angst identifiziert Dehne über die theologische Philosophie von Søren Kierkegaard die Unbestimmtheit. Zu einer ähnlichen Erkenntnis gelangt er über die psychoanalytische Perspektive von Sigmund Freud, der zwischen der Angst (gekennzeichnet durch Unbestimmtheit) und Furcht (gekennzeichnet durch einen Objektbezug) unterschied.
"When the culture is in turmoil, for some reason audiences flock to the horror film. Perhaps, during these times of great, generalized social anxiety, the horror film functions to shock its audience out of their anxiety. Anxiety tends to promote a sense of helplessness; fear, on the other hand, provides an impetus for change." (Phillips, S. 9)
Dieser Mechanismus lässt sich auf unsere prototypische Figur des „Verschwörungsgläubigen“ übertragen. Dieser überführt durch die Konstruktion der Verschwörungstheorie die eigene Angst in Furcht und befreit sich damit gleichsam aus der quälenden Ungewissheit. Dieser Überführungs- oder Transformationsprozess setzt die Anwesenheit eines Anderen als Bezugspunkt der Furcht voraus. Dieses Andere ist zunächst einmal das, was nicht das Ich ist.
"Its psychoanalytic significance resides in the fact that it functions not simply as something external to the culture or to the self, but also as what is repressed (though never destroyed) in the self and projected outward in order to be hated and disowned." (Wood, S. 27)
Die Überführung der Angst in Furcht, die zugleich eine Befreiung aus der Ungewissheit in die Gewissheit bedeutet, manifestiert sich im Verschwörungsglauben. Dieser weist das Andere aus, macht es sicht- und damit beherrschbar, er bezeichnet es – als Jude, als Ausländer, als Elite oder als Hexe. Dieser Verwandlungsprozess der eigenen Ängste in konkretisierbare Furcht beschreibt jedoch keine Pathologie, sondern vielmehr allgemeingültige sozialpsychologische Prozesse, die zum Beispiel im Rahmen der Theorie des (kollektiven) Selbstwertschutzes erforscht werden. Demnach schützen wir unseren Selbstwert beispielsweise dadurch, dass wir die grundlegenden Vergleichsdimensionen verzerren („Vergleich nach unten“), den sozialen Vergleich ganz vermeiden oder die Vergleichspersonen abzuwerten versuchen (defensive Attribution). In Gruppenzusammenhängen ist es danach typisch, die eigene Gruppe aufzuwerten und die Anderen abzuwerten. Heterodoxe und orthodoxe Verschwörungskonstruktionen müssen vor diesem Hintergrund als selbstwertdienliche Verzerrungen der Realität verstanden werden.
Was The Blair Witch Project 1999 also zu einem solch durchschlagenden Erfolg machte, kann als „resonant violation“ bezeichnet werden. Einerseits knüpfte das Phänomen an bereits vorhandene kulturelle Trends an (das Internet als Neuland) und stellte einen Resonanzboden dafür bereit (die Webseite zur Vermarktung), zum anderen brach es die Regeln herkömmlicher Vermarktung, indem es das Spiel mit der Fiktion nie offenlegte und sogar bis in den filmischen Prozess und sein Resultat hinein fortsetzte. Die resonant violation beschreibt also die Gratwanderung zwischen dem Vertrauten und dem Unvertrauten, dem Fremden und Neuen – der vertraute Hexenglaube verbindet sich im Blair-Witch-Phänomen mit den unvertrauten virtuellen Räumen des Web und findet dort neuen Nährboden. Damit erzählt er gleichermaßen von der Verführbarkeit des Kinos, des Internets und schließlich unserer eigenen psychologischen Manipulationsanfälligkeit.
[...] Die Musik von Harry Gregson-Williams und Trevor Rabin setzt mit einem treibenden Schlagzeug-Rhythmus ein, während der rasante Schnitt Aufnahmen von der Nationalpromenade in Washington D.C. und zentralen Regierungsgebäuden, die stellvertretend für die darin beheimateten Behörden stehen, mit Überwachungsbildern aus Satelliten und Sicherheitskameras parallelisiert. Es folgen Bildschnipsel von Straßen, Gebäuden und Fahrzeugen – in jedem Lebensbereich, so scheint es, hat ein unliebsamer Beobachter, der viel beschworene Big Brother, längst Einzug erhalten. Durch Farbfilter abstrahieren sich Personen bisweilen zum bloßen Zielobjekt, zugleich folgt die Jump-Cut-Technik einem dialektischen Prinzip: Bilder von Überfällen, Autoverfolgungsjagden und Gewalttaten wechseln sich mit schlaglichtartig aufblitzenden Bildern von blinkenden Streifenwagen und polizeilichen Festnahmen ab und suggerieren dadurch Kausalbeziehungen zwischen Verbrechen, Überwachung und erfolgreicher Strafverfolgung.
Wie das Fadenkreuz bei einem Gewehr fokussiert die Überwachungstechnik dabei immer wieder Einzelpersonen und löst sie damit gleichsam aus der anonymen Masse heraus – macht sie zu Subjekten der Verdächtigung. Die konnotierte Botschaft, die diesen Bildern insbesondere über ihre filmsprachliche Verquickung eingeschrieben ist, scheint so suggestiv wie eindeutig: vor einer entfesselten Sicherheitsbehörde, dem deep state, wie sich im Film später zeigen wird, ist kein Bürger sicher. Die Paranoia ist folglich gerechtfertigt. Dies unterstreicht auch noch einmal die paradigmatische Tagline auf dem Plakat zum Film. Darauf heißt es: „It’s not paranoia if they’re really after you.“
[...] Der Überwachungsdiskurs, mitsamt der Paranoia, die ihn vonseiten der Überwacher wie den Überwachten befeuert, verdichtet Tony Scott in der Titelsequenz auf nur 2 Minuten Laufzeit. Es gelingt ihm, ein Gefühl der Paranoia und des Verfolgtwerdens zu erzeugen und gleichzeitig die diskursiven Positionen und ihre Relationen zueinander skizzenhaft klar zu machen. Nach dem Einstieg ist zwar sicher, dass wir überwacht werden, in jedem Moment und besonders dann, wenn wir es am wenigsten erwarten, zugleich legt die Titelsequenz über die dialektische Schnittweise auch Gründe dar, warum die Überwachung notwendig sein könnte: Gewalt auf den Straßen, Verbrechen, dem mit konventionellen Mitteln (möglicherweise) nicht mehr beizukommen ist. In den Zwischenbereichen dieser ästhetischen Gegenüberstellung tut sich dann eine zentrale Abwägungsfrage des Diskurses auf: die scheinbare Unvereinbarkeit von Freiheit und Sicherheit. [...]
Man könnte sagen: die Bilder dieses Filmes sind zu eigenen Erinnerungen geworden – zu Erinnerungsbildern. Die Erinnerung ist jene an eine Fantasie, die sich laufend reproduziert. Die Wahrheit ist natürlich die, dass nichts davon wirklich ist und doch transzendieren Szenen des Filmes bis in meine Wirklichkeit hinein – Tokio wurde so zu einem Sehnsuchtsort. Das Hotel wurde zu einem Sehnsuchtsort. Bar-Noir, Lounge-Jazz, Bill Murray schnippt lässig mit den Fingern, Suntory Time – das hat Klasse. Es ist auch tieftraurig dort zu sein, niederschmetternd gar, weil der Ort ins Bewusstsein ruft, wie flüchtig Kostbares manchmal unser Leben streift. An diesem Ort, diesem gottverdammten Ort. Jeden Tag gibt es frische Wäsche, Frühstück, brav nickendes Hotel-Personal. Alles erste Klasse für einen Star von Weltruhm. Hand in Hand mit den Annehmlichkeiten des Hotels geht die grausame Unverbindlichkeit, die Anonymität, die ständige Fluktuation, das mörderische Trainingsgerät, das einem den Fuß abreißt, wenn man nicht ganz genau aufpasst!
Das Hotel ist auch ein Paralleluniversum, ein unpersönlicher Zwischenraum, alternative Geschichte, alternative Zukunft, ein gefährlicher Türspalt, der sich öffnet, die Verlockungen freilegt und sich so plötzlich schließt, wie er sich geöffnet hat. Natürlich ist es auch ein transitorischer Raum, Schauplatz liminaler Phasen und spiritueller Schwebezustände, Illusion unendlicher Möglichkeiten. Ein nostalgischer Sehnsuchtsort, für mich, natürlich, aber auch für die Figuren auf der Leinwand, die sich finden und ebenso schnell wieder voneinander entfernen müssen. Platonisch – oder nicht. Romantisch – oder nicht. Auch die Beziehung der Hauptfiguren siedelt sich in einem solchen Zwischenbereich an. In diesem Zwischenraum, im Uneindeutigen, liegt die Kraft des Filmes, vom Verlorensein und vom Fündigwerden gleichermaßen erzählen zu können. Einfaches ist manchmal profund: die Suche hört nie auf. Auf dem Weg werden wir fündig.
[...] Der Realitätscharakter des filmischen Mediums auf einer semiotischen Ebene (seine Pseudo-Indexikalität) sowie seine narrativen Mechanismen sind maßgeblich für seine suggestive Strahlkraft. Das photographische Bild beherbergt offenbar eine Art ästhetisch empfundener Wahrheit, die das Sprachliche übersteigt. Die Bilder sprechen, aber sie sprechen nicht in Worten und Sätzen. Oder: Die Bilder des Zapruder-Films sprechen, wie Garrison es formuliert, in tausend Worten: „Picture speaks a 1000 words, doesn’t it?“, fragt er rhetorisch an das Publikum im Gerichtssaal gerichtet. Die Vorstellung, dass der Zapruder-Film als filmischer „Kronzeuge“ lediglich die objektive Wahrheit abbildet, also ungeschönt das zeigt, was tatsächlich und wahrhaftig geschehen ist, ist jedoch irregeführt und sitzt einem grundlegenden Missverständnis bezüglich filmischer Bilderwelten und ihres Realitätscharakters auf. Das Zeichensystem des Kinos und die vermeintliche Realität, das dieses abzubilden vermag, entspricht eher der Argumentationsstruktur des Verschwörungsnarrativs, welches das Ziel verfolgt, eine kohärente Interpretation von der Wirklichkeit wiederzugeben. Beides enthält jedoch nur Bruchstücke einer photographischen Wahrheit, die für ein fiktives Ganzes fiktionalisiert wird. [...]
Dokumentarfilm neu denken – „Leviathan“ und die Zukunft der Visuellen Anthropologie
Die überlegene Spezies
In Steven Spielbergs Filmversion von War of the Worlds überfallen Außerirdische die Erde. Bei ihrem Angriff steuern die Aliens riesige dreifüßige Kampfmaschinen, die die panischen Erdenbewohner mit futuristischen Strahlenkanonen augenblicklich zu Staub pulverisieren. Im Laufe des Filmes stellt sich heraus, dass die außerirdischen Invasoren die Vernichtung der Menschheit weniger aus Mordlust, denn aus ökonomischen Erwägungen heraus betrieben haben. Der Massenmord ist in der Grammatik der Aliens nicht mehr als ein Ernteprozess, die dreibeinigen Kampfmaschinen fungieren folglich als Ernte-Roboter. Diese fangen die Menschen zunächst in einem großen Käfig auf, zuvor werden sie „gepflückt“, dann in einer Art „Entsafter“ zerkleinert und deren blutigen Überreste anschließend auf dem Erdboden verstreut. Auf dem mit Menschenblut gedüngten Boden wachsen von da an fremdartige Pflanzen.
Diese Szene weist frappierende Parallelen zu einem philosophischen Gedankenexperiment auf, das der Autor und Philosoph Richard David Precht im Rahmen der Tierethik-Debatte entwickelte. In diesem Szenario landen ebenfalls hochtechnologisierte, uns überlegene Außerirdische auf der Erde. Sie versklaven die Menschen, um sie als Nutztiere produktiv zu machen, veranstalten zu medizinischen Zwecken Experimente mit ihnen und verspeisen sie schließlich aus kulinarischen Gründen. Die Menschen sind darüber verständlicherweise wenig glücklich und bitten die Außerirdischen, ihre Artgenossen doch lieber nicht zu verspeisen. Diese aber erwidern, dass sie das gleiche Verhalten bei den Menschen und ihrem Umgang mit anderen, unterlegenen Spezies beobachtet hätten und rechtfertigen damit ihr eigenes Handeln. Kants kategorischer Imperativ schlägt voll ein, denn den Menschen entziehen sie damit jede Argumentationsgrundlage für ihr eigenes Existenzrecht.
Auf einem Fischerboot irgendwo im Nordatlantik strömt derweil durch ein Loch an der Seite des Bugs ein ununterbrochener Blutstrahl ins Meer. Das Blut stammt von tausenden Fischen, die das Fischerboot mit Schleppnetzen tagtäglich aus dem Meer zieht. Die überlegene, außerirdische Spezies ist hier der Mensch, der mit hoch-effektiven Maschinen versucht, eine maximale „Ernte“ zu erzielen. Die Szene entstammt der experimentellen Dokumentation Leviathan. Sie erzählt von … ja, wovon erzählt sie eigentlich?
Neue Perspektiven
Wo Spielberg die Menschenernte 2005 ganz selbstverständlich aus der Perspektive der Menschen schilderte, um auf diese Weise das grausame Schicksal der Erdenbewohner emotional fruchtbar zu machen, versucht Leviathan in der Darstellung der industrialisierten Schleppnetzfischerei eine solche Perspektive nicht nur zu vermeiden, sondern in den perspektivischen Entscheidungen selbst einen theoretischen Standpunkt auszudrücken. Im radikalen Verzicht auf eine rein menschliche Perspektive erschließt sich dem Film nämlich eine vollkommen fremdartige, tatsächlich apokalyptische Bilderwelt. In etwa so, als begleite man die Aliens aus War of the Worlds ebenso bei ihrer Ernte, wie die Menschen, die Opfer ihrer flächendeckenden Invasion werden.
Mit der Multiperspektivität wird es dann plötzlich furchtbar kompliziert: die grausamen Invasoren, die in den Fiktionen der Unterhaltungsindustrie das bedrohliche Andere personifizieren, wirft Leviathan direkt auf uns zurück. In den Schuhen des Anderen soll die eigene Sicht auf die Welt infrage gestellt werden, ohne – wie es das philosophische Gedankenspiel tut – eine ethische Lehre oder ökologische Botschaft verbal zu explizieren. Wenn überhaupt, dann verdichtet sich Leviathan im Arrangement seiner Bilder zu einer ermahnenden, ökologischen Botschaft – ohne dabei ein Wort verlieren zu müssen. Dafür verfolgt die Dokumentation von Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel seine gesamte Laufzeit über gänzlich andere Strategien.
Leviathan zeigt Fische, Krabben, Möwen, Maschinen und die Menschen, die in einer Beziehung zu all diesen Lebens- und Dingwelten stehen, vor allem nebeneinander und verortet diese nicht in einer hierarchischen Erzählstruktur. Diese Form der De-Hierarchisierung drückt sich in erster Linie in der Wahl der filmsprachlichen Mittel aus. Dazu zählt zunächst einmal der Verzicht auf all jene Konventionen, die den dokumentarischen Film sonst so fest im Griff haben: es gibt kein Voice Over, und damit keinen durch eine Vorrecherche erzeugten Kontext, keinen hetero-diegetischen Musikeinsatz und keine Talking Heads – jene Interview-Stimmen, die im Dokumentarfilm zumeist orientierende Referenzpunkte bereitstellen, indem sie sich zu den Dingen des Filmes anstelle des Zuschauers positionieren.
Im Mittelpunkt des Filmes steht somit kein figuraler Ankerpunkt. Damit existiert auch kein Orientierungspunkt für den Zuschauer, sich im Chaos der stürmenden See und im Chaos unvertrauter Arbeitsprozesse zurechtzufinden. Die Kamera (der Film wurde ausnahmslos mit GoPros aufgenommen) heftet sich in der Folge an alles, das diesen Ort bevölkert. Sie treibt im Kielwasser haltlos durch das Meer, den Kräften der Strömungen gänzlich unterworfen, sie schummelt sich in ein gefülltes Fischernetz, um den Fangvorgang aus Sicht des Fisches darzustellen oder kommt einer verletzten Möwe so nahe, dass in der Beschaffenheit der nassen Federn formale Strukturen abstrakten Charakter bekommen.
Die Rolle des Subjekts
Die Beziehung des Filmes zum Subjekt ist deswegen ein zutiefst paradoxes. Einerseits scheint die Rolle des Subjektes durch den multiperspektivischen Ansatz und eine sich immer wieder emanzipierende, Distanz gewinnende Kamera einen immensen Bedeutungsverlust zu erleiden, gleichzeitig beeinflusst das gefilmte Subjekt maßgeblich die Perspektive der Kamera. Dadurch vermittelt sie auch immer wieder ein existenzielles Gefühl von Verloren- und Geworfenheit. Einigen Fischen, die leblos an Deck umhertreiben, legt sich die GoPro ganz einfach dazu, bis sie den Fischen direkt in die toten Augen blickt. Vom sichtlich gezeichneten Kapitän zeigt die Kamera, der Ikonographie des Western gleich, lediglich den Bildausschnitt der Augenpartie. Der Duellant ist hier das Meer, die Natur … Gott? Die Kamera möchte so nah dran sein an der Welt, die sie abzubilden versucht, dass sie offenbar am liebsten in ihre Subjekte eindringen würde, um die Kameralinse der subjektiven Erfahrung so gänzlich zugänglich zu machen.
Das führt gleichzeitig zu einem der Hauptanliegen der Sensory Ethnography, der sich Castaing-Taylor und Langzeit-Kollaborateurin Paravel als prominenteste Vertreter des SEL (Sensory Ethnography Lab) der Harvard University auch institutionell verschrieben haben. Dort heißt es, solle die innovative Verschmelzung von Ästhetik und Ethnografie gefördert werden. Ein Anspruch, der auch viel Aufschluss über Leviathan gibt, der in der Vermittlung von Erfahrungswelten (Ästhetik als die Lehre der Wahrnehmung) und ethnischer Fremdheit (Ethnografie) jedoch einen entscheidenden Schritt weitergeht: die Menschen in Leviathan spielen nämlich keine Rolle im Sinne ihrer ethnischen oder kulturellen Zugehörigkeit. Noch am ehesten definieren sie sich über ihren Beruf.
Castaing-Taylor und Paravel verstehen die Ethnografie vielmehr Spezies-übergreifend und sind nicht einmal durchgängig am Subjekt interessiert. Wenn die Kamera in ihre Subjekte eindringen möchte, dann nur, um sich anschließend wieder wütend von ihnen abzuwenden, um Teil eines metallenen Ungetüm zu werden. So verschwimmen die Grenzen zwischen den Entitäten: wir haben das Schiff als eigenständigen Charakter, insbesondere durch das vom Bild entkoppelte Sound-Design stetig präsent, das klaustrophobische Chaos im prall gefüllten Schleppnetz, den Konkurrenzkampf der Möwen um den begehrten Beifang, das Meer in seiner unbändigen Gewalt oder die Fischer, die mit der Zigarette im Mundwinkel stoisch ihrer Arbeit nachgehen.
Im Kontrast zur Brutalität der Tötung und den routinierten Handgriffen der erfahrenen Fischer scheint Leviathan sich auf die Suche nach einer Wahrheit zu machen, die sich gerade aus den Gegensätzen, Widersprüchen und der Vielzahl von Blickwinkeln konstituiert. Vielleicht geht es also um nichts anderes als einen originären, sensorischen Zugang zur Wirklichkeit zu finden. In der Sensory Ethnography und ihrem starken Fokus auf die Erfahrungswelt ihrer Subjekte drückt sich deswegen auch immer die Sehnsucht nach etwas Vorsprachlichem aus; etwas, das die Unmittelbarkeit und Gewalt der Erfahrung erlebbar macht ohne sie intellektuell vorzukodieren. Die dichte Beschreibung, die Clifford Geertz im Rahmen der Methodologie der Feldforschung einst postulierte, schreiben Castaing-Taylor und Paravel so zur dichten Darstellung um (Pavsek, 2015: 5). Statt einer Stimme geben sie den Subjekten einen Körper (Thain, 2015: 44).
Die Erfahrung des Bewusstseins liegt vor der Sprache. Castaing-Taylor veranlasst dieser Gedankengang zu der Behauptung, sein Film liege vor der Interpretation (Pavsek, 2015: 6) – eine bemerkenswerte Aussage, die dessen Film auch sogleich gegen jede Kritik zu immunisieren versucht. Das Ziel des Filmes, einem anderen Bewusstsein, oder zumindest einer fremden Erfahrungswelt nahe zu kommen, scheint doch auch immer nur ein nie ganz zu verwirklichender Traum davon, die Welt durch jemand anderes Augen erblicken zu dürfen. Es ist zugleich eine zentrale Triebkraft des Kinos generell.
Die Kraft des Bildes
„But what if film doesn’t speak at all? What if film not only constitutes discourse about the world but also (re)presents experience of it? What if film does not say but show? What if a film does not just describe but depict?“ (Castaing-Taylor, 1996: 86)
Dieser Gedankengang aus Castaing-Taylors aufsehenerregenden Aufsatz Iconophobia verlagert den Fokus auf die Rolle des Filmemachers und dessen Erfahrung. Statt die Erfahrung zu beschreiben, soll sie dargestellt werden, ohne sprachlich (und damit stets ideologisch) kompromittiert zu werden. Sich der Sphäre des Sprachlichen zu entziehen, scheint somit auch immer durch den Wunsch angetrieben, ideologischen Vorannahmen vorzuschützen.
Die radikalen Mittel, die diesen theoretischen Vorüberlegungen gefolgt sind (insofern ist Leviathan natürlich zu jedem Zeitpunkt ideologisch aufgeladen), brachte den Filmemachern unter anderem den Vorwurf ein, in ihrer scheinbaren, strikten Abkehr vom Rationalismus lediglich einem blinden Empirismus zu folgen, der in einer ebenso blinden filmischen Erfahrung gipfele (Pavsek, 2015: 5). Die von Castaing-Taylor prognostizierte Ikonophobie, die Angst der Wissenschaft vor der Ambiguität des Bildes, stand im Zuge dieser Auseinandersetzung die wiederum vom Filmwissenschaftler Christopher Pavsek prognostizierte Logophobie, die Angst der Sensory Ethnography vor der sprachlichen Einfassung des Bildmaterials, gegenüber.
Das knüpft an die ewigen Diskussionen über neue Kunstformen und ihren Stellenwert an und führt sie sogleich weiter, indem sie zum Schauplatz einer akademischen Auseinandersetzung werden. Am Grunde der stiefmütterlichen Behandlung der Visuellen Anthropologie vonseiten der Mutterdisziplin liegt die Frage nach der Eigenständigkeit von Bilderwelten und den Gefahren ihrer Vieldeutigkeit. Ein Umstand, den die Filmemacher des IWF (Institut für den Wissenschatlichen Film) beispielsweise mit dem Gedanken an eine verobjektivierbare, filmische Wissenschaftsdisziplin zu überwinden hofften.
Leviathan gibt auf diese Frage eine klare Antwort: wo die Sprache an ihre Grenzen gelangt, soll das Kino beginnen. Der Dokumentarfilm im Allgemeinen, und die Visuelle Anthropologie im Besonderen, ist deswegen nicht bloß die Fortführung ihrer Mutterdisziplin mit audiovisuellen Mitteln, sondern eine eigene Disziplin, die sich den Herausforderungen im Umgang mit dem Bild (und allen Risiken, die damit verbunden sind) selbstbewusst stellen muss. Denn die Vieldeutigkeit des Bildes ist nicht gleichbedeutend mit willkürlichem Relativismus, interpretatorischer Spielraum nicht gleichbedeutend mit totaler Egalität. Die Abstinenz einer Stimme ist nicht Äquivalent mit der Abstinenz eines Ausdrucks. Und der Filmemacher ist nicht abstinent, wo dessen Stimme durch die Montage stets hörbar bleibt. Aus Leviathan spricht deswegen vor allem ein unbändiges Vertrauen in die Kraft der Bilder und damit einhergehend ein unbändiges Vertrauen in die Mündigkeit des Zuschauers.
Dieser Text erschien zum ersten Mal am 20. Juli 2018 auf meinem alten Filmblog. Dies ist eine überarbeitete Fassung.
Quellen:
Castaing-Taylor, Lucien: Iconophobia. In: Transition, No. 69 (1996), S. 64-88.
Pavsek, Christopher: Leviathan and the Experience of Sensory Ethnography. In: Visual Anthropology Review 31, 1 (2015), S. 4-11.
Thain, Alanna: A Bird’s Eye View of Leviathan. In: Visual Anthropology Review 31,1 (2015), S. 41-48.
Links:
https://www.youtube.com/watch?v=QBBY04zTaXI, zuletzt aufgerufen am: 10.04.2022
https://sel.fas.harvard.edu/, zuletzt aufgerufen am: 10.04.2022
Aus den Schatten dringt Licht; aus der Angst wird Hoffnung. Batman (Robert Pattinson) schiebt sich mit der Fackel durch die Flut, dahinter folgt ihm ein Schwarm vom Licht angezogener, gesichtsloser Bürger Gothams, die einmal mehr Opfer einer seiner Gegenspieler geworden sind. Eine helfende Hand als Geste für eine Entwicklung. Vom wütenden, selbstgerechten Rächer zum Wächter einer Stadt, die an sich selbst zu ersticken droht. Der Riddler bekommt diese kollektive Selbstvernichtung diagnostisch zu fassen und zieht Schlüsse, die im Terror münden. Er ist ein junger John Doe, ein exaltierter Zodiac. Bekritzelte Notizheftchen, irre Gedanken in einer irren Welt. Er erkennt die Masken und die Personas, die ihr anhaften, und er vermutet dahinter nichts, das wirklicher und authentischer ist als das, was sich ihm offen anzeigt. Er schält die Zwiebel nicht, denn da ist kein Kern. Batman ist nicht in Wahrheit Bruce Wayne – Bruce Wayne ist Batman.
Kurt Cobain soll Pate gestanden haben für diesen melancholischen Nachtschwärmer. Das Ruhelose, Weltschmerz-ige, ja, melancholische ist der Fledermaus jedenfalls durchgehend anzusehen. Nirvanas "Something in the Way" wird bei Matt Reeves allerdings zu einem Taschenspielertrick, trivialisiert das eine durch die Parallelisierung mit dem anderen. Ernst genommen werden will der Film, darum ist er zumeist zappenduster. Erwachsenenunterhaltung erkennt man heutzutage offenbar an den Lichtverhältnissen. Und wer es da noch nicht begriffen hat, sollte einmal den Stimmen lauschen: ein tiefes Flüstern hallt durch diesen Film. Das ist beizeiten okay (Batman), aber meistens arg peinlich (Gordon) und vor allem: monoton. Matt Reeves kennt nur einen Ton und nur eine Farbe. Schade.
Aber: er findet auch Schattierungen im Schwarz. Wenn die Fledermaus und die Katze sich, nach der voyeuristischen Observation, zum ersten Mal im Lack- und Leder-Kostüm gegenüberstehen, sich bekämpfen, aber irgendwie auch verführen, bekommt man eine Ahnung davon, dass ernstes Blockbuster-Kino auch Spaß machen kann, ohne sich ironisch verraten zu müssen. Die Integration von Catwoman (Zoë Kravitz) und ihr Zusammenspiel mit Batman ist ein wichtiges schattierendes Element in einem Film, der sich beizeiten an seinem eigenen Gewicht zu verheben droht. Sie am Boden, im wummernden Techno-Rektum der Iceberg Lounge, er am Bildschirm und in ihrem Ohr. Sie setzt auf ihre Verführungskünste, er auf seinen detektivischen Instinkt. Das ergänzt sich, ist filmisch interessant, bringt die Geschichte voran, etabliert die Beziehung. Großartig. Das nächste Mal, und ein nächstes Mal wird kommen, wünsche ich mir mehr davon. Damit es nicht nur kracht, sondern prickelt.
[...] Die schwelgende Musik von Dario Marianelli schwillt nicht nur zu den kämpferischen Konflikten an, sondern auch in Augenblicken des gemeinschaftlichen Denkens und Philosophierens. Agora erzählt auf diese Weise von verschiedenen Formen der Vergemeinschaftung: Auf der einen Seite durch das Ideal der Gleichheit und des Erkenntnisstrebens (die Brüder des Neuplatonismus), auf der anderen Seite durch die absolutistischen Lehren des Monotheismus. Darum ist der Film auch als ein zutiefst religionsskeptisches Plädoyer zu lesen, das die Etablierung des Christentums mit einer Vernebelung des Verstandes übersetzt. Hier macht der Film, der im Übrigen eine freie, fiktionalisierte Bearbeitung fragmentarischer historischer Überlieferungen darstellt, vor allem wütend; wütend auf den ewigen Kreislauf von Wir und die Anderen, von Gewalt und Gegengewalt. In Hypatia zeitigt sich eine idealisierte, vermeintlich unschuldige Interpretation von Vergangenheit, der man nach dem eindrücklich geschilderten Einzug religiösen Barbarismus bereitwillig zu betrauern bereit ist. Denn übrig bleibt eine verdorrte geistige Landschaft. Da ist keine Wissenschaft, wo jede Frage bereits beantwortet wurde. Da ist kein Diskurs, wo bereits der Zweifel blasphemisch gedeutet wird. Da ist kein Zusammenleben möglich, wo das Dogma das Denken leitet. Aus Agora lässt sich auch für die heutige Zeit etwas lernen und sollte darum unbedingt (wieder-)entdeckt werden.
Was für ein Film! – Üppig ausgestattet, bisweilen Bilderbuch-artig pittoresk, dann wieder in starre, farblich entsättigte Einstellungen gefasst. Zugleich mit einer spielerischen Leichtigkeit montiert und ganz mühelos zwischen den verschiedenen Zeitebenen wandelnd – in etwa so wie die vier Schwestern im heimischen Nest erst sich und im Etiketten-reichen Gesellschaftstanz schließlich ihre Herzbuben umkreisen. Das hat was von der eleganten, scheinbar (!) mühelosen Montagekunst eines Olivier Assayas, einer Mia Hansen-Løve oder eines Hirokazu Kore-eda. Nicht einmal die Titeleinblendung des Handlungsortes Massachusetts (gesprochen: ma·suh·choo·suhts) und der einmalige Hinweis auf die zeitlichen Ebenen (sieben Jahre zuvor) wären nötig gewesen, so natürlich und fließend ergibt sich die erzählerische Struktur aus den Figuren und ihren Leben.
Und diese Figuren! Echte Charaktere, verschieden in ihrem Habitus, ihrem Temperament, ihren Träumen und den Mitteln, mit denen sie diese Träume zu verwirklichen gedenken. Alle schön auf ihre Art, also schön im Sinne dieser Sache, die jeden Menschen von innen zum leuchten bringt (das klingt esoterischer als es gemeint ist) – schön, also, auch auf einer filmischen Ebene; gute Gesichter, die Nuancen zum Ausdruck bringen können, denen aber die Freude am Spiel miteinander in jeder Zeile nachempfunden werden kann; hier wird sich unterbrochen, die Dialogzeilen überlappen und kreuzen sich, so lebendig sprudeln sie aus den kleinen Frauen, die alle auf ihre Weise den Herausforderungen des Erwachsenwerdens zu trotzen versuchen, heraus. [...]
Dies ist kein Film über Alkohol. Na ja, vielleicht ein bisschen. Die Flasche dient allerdings eher als Fluchtpunkt für eine existenzielle Krise. Saufen für den Rausch, das Vergessen, das wohlige kreisen und schweben, bis es eben nicht mehr wohlig ist, aber das kreisen bleibt – das kennen wir. Auch den pädagogischen Impetus, der in Filmen wie diesen irgendwann folgen muss, wenn sich einem der Eindruck aufdrängt, dass besoffen sein doch eigentlich ziemlich spaßig sein kann. – Kann es. Beizeiten. Aber das ist nicht der Punkt. Die magische 0,5-Promille-Grenze, die die Lehrerrunde des Filmes hier aus rein wissenschaftlichem (!) Interesse anstrebt, ist viel eher ein Mittel zur (Wieder-)Entdeckung – von dem was verloren und vergessen wurde, was verschüttgegangen ist im Trott des Alltags und der Gewohnheiten. Sich selbst neu entdecken … oder: nicht man selbst sein zu wollen. Ein schmaler Grad. Alkohol – Überraschung, Überraschung! – ist ambivalent. Neue Höhen oder neue Abgründe, im Rausch ist beides möglich. Der Film, um mal etwas Tacheles zu reden, ist sicher etwas fahrig, nicht immer ganz fokussiert (besoffen, wen man möchte, haha), aber das ist in Ordnung. Mads Mikkelsen hat ein Gesicht, in dem ich ewig suchen könnte.
Die Sequenz des Übergangs zwischen den zwei Schauplätzen dieses Filmes vollzieht sich als abstraktes Formen – und Schattenspiel und zählt für mich zu den eindrücklichsten Montagen dieses Kinojahres. Vom Tunnel verschluckt und vom Tunnel wieder ausgespuckt; nach dem Schwarzwald plötzlich die beleuchteten Hochhausfassaden Hong Kongs, die Fremde, das metallene Ungetüm, der Lärm und die Lichter. Mittendrin die Protagonistin des Filmes – die Mutter des Regisseurs. Keine Schauspielerin. Zuerst dachte ich: eine Dokumentation; war genervt vom Inszenierungsgrad, von den fotografisch kadrierten, säuberlich aneinandergereihten Einstellungen. Dann zieht mich der Film mehr und mehr rein, lässt mich teilhaben am Alltag dieser Person, von der ich nicht weiß, ob sie darstellt oder einfach nur ist. Dann höre ich auf, danach zu fragen. Dann kommt Hong Kong und die Begegnungen in der Fremde. Die Geschichte schlägt kleine Vignetten, der Film beginnt die Schicksale von Personen zu erzählen, die er wie beiläufig vom Wegesrand aufliest, die aber immer in einem Zusammenhang mit der Geschichte von Anke gedacht werden können. Diese Geschichte ist fern von meiner Lebensrealität, erzählt vom Leben nach der Arbeit, der Einsamkeit nach dem Tod und einem Sohn in der Ferne, vermag es aber das zu leisten, zu dem Kino in seinen Glanzmomenten imstande ist: mich über mich hinaus denken zu lassen.
DUNE zu schauen ist wie durch Sand zu laufen: anstrengend und ermüdend. – Das ist natürlich nur die halbe Wahrheit, aber für den Einstieg gar nicht mal schlecht. DUNE hält auch seine beglückenden Momente bereit. Da sind zum Beispiel die Zeremonien, die die Politik der Welt detailreich zur Aufführung bringen, mit ihren ritualisierten Gesten, den steifen rhetorischen Formeln und den Uniformen, die immer auch Korsette sind. Da sind die geheimen Zeichensprachen und überhaupt die Sprachen dieser Welt mit ihren Doppel- und Dreifachbezeichnungen für die gleiche Sache. Und da sind die filigranen maschinellen Apparaturen, die Technologien und Dinge dieser Welt. All das liebe ich. Die Welt von DUNE beglückt durch seinen Detailgrad und die Beiläufigkeit ihrer Einführung. Die Darstellung der (materiellen) Kultur, die diese Welt lebendig und organisch macht, steht zugleich in einem Spannungsverhältnis zu den brutalistischen Monumentalbauten, die die Bilder dieses Filmes beherrschen.
Der kleine Mensch
Hier ist die Imagination von Villeneuve vor allem groß (also ganz im Wortsinne GROSS): Menschen wirken klein in Relation zu den Objekten und Räumen, die sie erschaffen haben, wirken klein in den ewigen Wüstenlandschaften, die sie durchschreiten oder den leeren Thronsälen und herrschaftlichen Gemächern, die sie besetzen – das macht Sinn, zeigt es doch visuell an, wie fragil die Macht ist, die diese Menschen in den Händen halten und wie undurchsichtig und komplex sie ihrer Natur nach ist. Die Bedingungen, die ihre Macht garantieren, können die Figuren folglich selbst kaum beeinflussen, darum ist auch der Plot (im wahrsten englischen Wortsinne) um eine politische Verschwörung nur konsequent.
Die Menschen in DUNE wirken hilflos und allein in den Weiten der Architekturen, die sie ersonnen und erschaffen haben, sie wirken ohnmächtig in den machtpolitischen Strukturen, von denen sie mehr beherrscht werden als sie diese zu beherrschen imstande sind. Visuelles Konzept und thematische Motive scheinen in dieser Hinsicht also wunderbar miteinander zu korrespondieren. Auch die Gesichter der Schauspieler (Rebecca Ferguson, Timothée Chalamet) spiegeln diese Konflikte glaubhaft wider und sind trotz ihrer Anordnung in einem komplizierten Macht- und Intrigengeflecht nicht bloße Schachfiguren – dass sie bisweilen dennoch fast zu verschwinden drohen, hängt aus meiner Sicht mit der fehlgeleiteten Inszenierung zusammen. [...]
[...] Da Spellbound in der Mitte des psychologischen Jahrhunderts erschien, ist die Psychoanalyse natürlich der letzte Schrei. Mit welcher Sicherheit die Psychologen im Film einzelnen Traumelementen unmittelbar eine feste Bedeutung zuweisen, ist dabei irritierend und erheiternd zugleich. Psychoanalyse also verstanden als universeller Werkzeugkasten, mit dem sich jedes Problem zielgenau beheben lässt und Psychologen verstanden als pragmatische Klempner der Seele (keine Ahnung, woher diese Redewendung kommt, aber sie enthält einiges an Wahrheit, wenn man sich diesen Film ansieht). Durch die geschilderte Beziehung von Analytiker und Analysand wird in Spellbound übrigens zugleich die Geschlechterrollen-Logik interessant verkehrt, da es Peck ist, der sich als psychisch Leidender in jene hysterischen und „schwachen“ Posen werfen muss, die ansonsten für Frauenrollen reserviert blieben. So sehen wir Peck immer wieder kraftlos in sich zusammensacken, ohnmächtig werden oder irrational daherreden. Bergman ist es, die Peck in diesen Momenten auffängt, an seinen Logos appelliert und schließlich – um einmal den stürmischen deutschen Titel aufzugreifen – für sie als Paar und für ihn als gesundes Individuum zu kämpfen sucht. [...]
Penis.
Schreiben mit der Ungewissheit: Über BURNING und Filmkritik
Lee Chang-dong sagte einmal, dass er seine Kurzgeschichten immer für eine bestimmte imaginäre Person schreibe; dass seine Texte wie Liebesbriefe an diese Person seien, die so denkt und fühlt wie er. Nun, auch wenn es vermessen ist: bei Burning fühle ich mich wie diese eine Person. Das macht das Schreiben über diesen Film, über meine Rezeptionserfahrung, so kompliziert. Vieles in diesem Film ist ungewiss. Und ich denke, dass diese Ungewissheit keinen künstlerischen Rückzugspunkt markiert, hinter der sich bequem verschanzt werden kann sobald es einmal konkret wird und die Fragen drängend. Nein, ich denke die Ungewissheit dieses Filmes korrespondiert direkt mit seiner inhaltlichen Konzeption. In seiner Ambiguität ist Burning nämlich nicht beliebig. Manchmal tänzelt der Film weltvergessen zum Jazz, der aus den Autoboxen dringt, manchmal ist er von beängstigender analytischer Schärfe. Manchmal ist es die Gleichzeitigkeit dieser Dinge, die genialisch ist. Die meiste Zeit findet der Film gerade in den Zwischenbereichen, den Gleichzeitigkeiten statt. Und in diesem Dazwischen, die Grenzen scheinen fließend, um dann umso brutaler sichtbar zu werden, findet Denken und Fühlen plötzlich zueinander. Und manchmal bleibt es nur bei einem unauflösbaren Gefühl des Unbehagens. Der Film kann diese Augenblicke ebenso wenig auflösen wie die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, die er schildert.
„Wieso bist du immer so ernst?“, fragt der reiche Ben (Steven Yeun) unseren Protagonisten Jong-su (Yoo Ah-in) ganz lässig an einer Stelle des Filmes. Überhaupt: die Figur des Ben ist immerzu lässig. Kapital macht lässig. Er hat die Gewissheit internalisiert. Jong-su, der arme Schlucker, schlurft hingegen durch diesen Film wie der letzte Schluck Wasser, der die Kurve nicht gekriegt hat. Eine typische Murakami-Gestalt. Schreiberling, leise, introvertiert, aufmerksam. Schriftsteller haben ihre eigenen Phantasmen, Murakami ist da keine Ausnahme. Lee Chang-dong schildert die Begegnungen zwischen Arm und Reich nicht wie sein Kollege Bong Joon-ho über einen sich beständig zuspitzenden, immer offener zutage tretenden Konflikt, vielmehr führt er aus, was in Parasite lediglich anklingt: Die Gangdam-Elite wird nicht trennscharf als das Andere positioniert, damit unser Protagonist in ihrem Schatten an Profil gewinnt. Stattdessen drückt sich die Überlegenheit und die Brutalität der Klassenunterschiede gerade in ihrer Freundlichkeit und in ihrem Interesse an denjenigen aus, die nicht Teil ihres sozialen Kreises sind und es auch niemals sein werden. Sie empfangen den armen Jong-su und die arme Hae-mi (Jeon Jong-seo) mit offenen Armen – aber aus der Gewissheit bestehender Verhältnisse heraus. Es folgen kleine Gesten der Befriedung: Jong-su und Hae-mi werden zum Abendessen eingeladen, Hae-mi darf den Tanz des großen Hungers tanzen, den sie von ihren Afrikareisen mitgebracht hat (eigentlich war sie auf der Suche nach dem Sinn) und Bens Freunde lächeln schwach und erfreuen sich an dieser kleinen Zirkusnummer, ein bisschen frischer Wind hat schließlich noch niemandem geschadet. Es ist eine brutale Szene von brutaler Subtilität, weil sie die scheinbare Unveränderlichkeit der Verhältnisse im Habitus verankert.
Der schönste Augenblick in diesem wunderschönen Film ist der bereits erwähnte Tanz zur Musik von Miles Davis. Barbusig und bekifft tänzelt sie dahin, die Sonne geht unter und der große Schmerz fährt in diesen Film hinein in dem Augenblick, in dem die Musik verstummt und nur die Stille bleibt. Überhaupt: alles an dieser Szene ist elegant und poetisch. Plötzlich war das niedersächsische Hinterland, aus dem ich komme, direkt an die nordkoreanische Grenze teleportiert und Lee Chang-dong bekommt all die Dinge zu fassen, in einem Gefühl konserviert, die bei einem Sommerabend auf dem Land mitschwingen ohne sie aussprechen zu können. Es ist keine nostalgische Erinnerung, die diesen Augenblick beseelt, es ist ihr genaues Gegenteil: es ist die Aufhebung jenes verklärenden Blickes, den der Film zunächst zu provozieren scheint. Verklärung und Zertrümmerung, hier belagern sie den gleichen Ort. Es scheint so als schwebe dieser Film. Diese eigentümliche Ungewissheit macht ihn ebenso quälend, wie sie ihn faszinierend macht. Er kann die Konflikte nicht auflösen, ebenso wenig wie wir uns sicher sein können, dass die Konfliktlinien den ganzen Film über nur einseitig empfunden worden sind. Die Unterschiede zwischen den Figuren werden nicht einmal so sehr an den Dingen deutlich, die sie umgeben (die edle Stadtwohnung und der Porsche auf der einen, das marode Landhaus und der schäbige Kleinbus auf der anderen Seite), vielmehr konstituieren sie sich im Raum des Sozialen, im Aufeinanderprallen der Figuren. Die Opposition ist jeder Geste, jedem Blick eingeschrieben, aber sie spricht sich nie offen aus.
“There’s class warfare, all right, but it’s my class, the rich class, that’s making war, and we’re winning.” (Warren Buffett)
An einer Stelle sehen wir Ben in seiner Wohnung mit einer jungen Frau. Bis zu diesem Zeitpunkt haben wir Ben nie alleine zu Gesicht bekommen, die Wahrnehmung seiner Figur erfolgte stets über die Schulter von Jong-su hinweg, war also immer gefärbt von dessen Verdachtsmomenten, dessen Unbehagen. Ben hockt also vor dieser Frau, an seiner Seite ein Schmink-Koffer (dieser wurde bereits früher im Film eingeführt) und trägt dieser in ruhigen, behutsamen Bewegungen Make-up auf. Keiner von beiden spricht ein Wort. Die Frau blickt verängstigt drein, lächelt schwach, sucht nach einer Regung in Bens Gesicht und schließt dann die Augen. Es folgt ein Schnitt und die Szene ist zu Ende. Hier stoße ich an eine Grenze, die meine Sprache und mein Denken über Filme gleichermaßen betrifft: Es gibt keine Interpretation dieser Szene meinerseits, im Sinne einer Übersetzung der filmischen Elemente in ihre Bedeutungen. Es steht nicht das Filmische für das Eigentliche abseits seiner Fiktion, vielmehr werden Denken und Fühlen, das Filmische und das Eigentliche in dieser Szene kongruent miteinander. Der Subtext wird förmlich an die Oberfläche gespült und löst sich gleichsam atmosphärisch auf. Er bemalt sie, bemalt ihre Oberfläche, sie ist vor Angst wie erstarrt. Ihr Gesicht indiziert die Gewalt dieses Augenblicks, die sich ausschließlich im Verhältnis der Körper zueinander zeigt. Dabei ist es keine gewaltsame Eskalation, die wir hier zu sehen bekommen. Es ist vielmehr eine Gewalt, die selbstverständlich geworden ist und die genau deswegen so schockiert. In ihrer Selbstverständlichkeit und ihrer Normalität scheint sie sich fast zum verschwinden zu bringen. Zurück bleibt die Ungewissheit des Augenblicks.
Lee Chang-dong erzählt in einer filmischen Sprache, die intellektuell und intuitiv zugleich ist. So wie da nie auf der einen Seite der Gedanke steht und auf der anderen Seite das Gefühl, sondern sich beide Sphären wechselseitig bedingen. Die Beschäftigung mit Burning führte mir auch mein eigenes Hadern mit verschiedenen Formen der Filmkritik vor. Die Flüchtigkeit eines Mediums, das mit 24 Bildern pro Sekunde an einem vorbeirauscht, lässt sich nicht mit den Ansprüchen nach Vollständigkeit oder Allgemeingültigkeit vereinbaren. Über Filme zu schreiben heißt also über das Flüchtige zu schreiben. Selbst das Bild, das zur näheren Betrachtung angehalten wird und deswegen ohne Kontext ist, bekommt nichts zu fassen, das im Moment des Sehens entscheidend ist. Wenn ich diese Prämisse akzeptiere, stellt sich die Frage, wie die Filmkritik dieser Flüchtigkeit begegnen kann.Wenn die Kunst es erlaubt, die Sprache zu umgehen (Niklas Luhmann), dann kann die Filmkritik mit ihren Worten nur verzweifelte, beständige Kreisbewegungen vollziehen. Sie kann sich nähern. Darin liegt die Chance.
Die ontologische Unsicherheit, die sich im Welt- und Kunstempfinden beständig androht, lässt sich nicht auflösen oder überwinden, aber wir können lernen, Ambiguität und Ungewissheit auszuhalten. Vor allem, so scheint es mir, darf und sollte Filmkritik auch zweifeln dürfen. Zweifeln an der eigenen Perspektive, zweifeln an der eigenen Wahrnehmung. Es sollte der Modus der Filmkritik per se sein. Zumindest einer Filmkritik, die Filme nicht bloß als Produkt begreift und sich selbst als Dienstleistung (auf der einen Seite) und sie ebenso wenig zum Anschauungsmaterial und Stichwortgeber für gesellschaftspolitische Diskurse degradiert und dabei filmästhetische Dimensionen gänzlich ignoriert (auf der anderen Seite). Beide Formen der Filmkritik verweigern sich der Flüchtigkeit, die dem Gegenstand Film grundlegend zu eigen ist. Und während die eine Form der Kritik versucht alle wirkungsästhetischen Dimensionen zu verobjektivieren oder auszublenden, leidet auch die sich als direkt, emotional und authentisch gerierende Filmkritik („auf Augenhöhe“) an einer Überbetonung derselben.
Vielleicht ist es so: Kritik konstituiert sich aus dem Wechselspiel von Nähe und Distanz, Denken und Fühlen, Einfühlung und Distanzierung. Ohne Nähe gibt es keine Kritik, die sich wirklich angreifbar macht für die wirkästhetischen Dimensionen eines Filmes; die sich nicht auch manipulieren lassen will. Aber Kino ist Manipulation und wir sollten uns manipulieren, uns affizieren lassen, um gleichsam auf Distanz zu den eigenen Affekten zu gehen. Diese dialektische Bewegung beschreibt, so scheint es mir, aber kein Nacheinander, keinen starren Prozess kritischer Rezeption, sondern es ist gerade die Gleichzeitigkeit dieser Modi, die Kritik ermöglicht, oder: erst wirklich fruchtbar werden lässt. Ganz oft, so scheint es mir weiter, vollziehen wir diese wellenartigen Bewegungen in der Rezeption von Kunst bereits intuitiv und von ganz alleine. Auf die Ergriffenheit folgt die Skepsis und andersherum. Der Resonanzraum wird zum Denkraum und andersherum. Manchmal überschneiden sich die Räume und überlappen sich. In diesen Momenten, in der Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz, produzieren sie Widersprüche. Der Kopf stößt auf das Herz. In diesen Momenten beginnt ein Aushandlungsprozess mit uns selbst. Hier treten die „ja, aber“s und die „trotzdem“s auf den Plan und wir versuchen das Denken mit dem Fühlen zu versöhnen. Vielleicht müssen wir aber nichts versöhnen, sondern können gerade diese Widersprüche sichtbar machen, indem wir das eigene Sehen anderen erfahrbar machen. Vielleicht, es ist nur ein Verdacht, beginnt genau dort die Kritik.
Seltsamer Film. Brad Pitt spielt den Tod und möchte in einer Milliardärsfamilie das echte Leben kennenlernen – so gut der erste Gag. Durch die zumeist extrem sparsame musikalische Untermalung von Thomas Newmann und die Kameraarbeit von Lubezki vermittelt einem der Film ganz oft das Gefühl eines existenziellen Dramas, dann muss Pitt auf einmal den fish out of water geben und alles ist auf akward lustig getrimmt, bleibt aber nur akward. Dann erzählt der Film eine Liebesgeschichte zwischen der Milliardärstochter (Claire Forlani) und dem Tod. Zugleich fokussiert sich der Film stark auf die Figur des Milliardärs, gespielt vom großen Anthony Hopkins, der mit der Aussicht seines baldigen Ablebens zu ringen hat. Fatalerweise versucht der Film nun all diese Dinge (Komödie, Liebesgeschichte, Drama) sinnvoll miteinander zu verquicken. In einer ganz peinlichen Szene bricht die andere Tochter von Hopkins in Tränen aus, weil dieser sich nicht für ihre bescheuerten Torten interessiert, die sie für seinen Geburtstag geplant hat. Das löst sich nach einem Streitgespräch in herzerwärmendem Gelächter auf und man möchte am liebsten im Boden versinken vor lauter Fremdscham. Das fasst im Grunde auch gut den Problemhorizont dieser Familie zusammen. Hopkins wird als nachdenklicher, idealistischer Milliardär gezeichnet, der sich seiner unternehmerischen Verantwortung vollends bewusst ist. Lediglich ein aufstrebender Kollege plant hinter dessen Rücken den Ausverkauf seines Konzerns an einen skrupellosen, nebulösen Konkurrenten. Am Ende richtet sich aber auch das irgendwie, nicht zuletzt dank der Mithilfe des Todes, der von der Familie emotional ganz erweicht ist. Es wird sogar Hand in Hand gen Horizont gelatscht – mitsamt Feuerwerk. Der Tod ist am Ende eben auch nur eine hoffnungslose Kitschnudel.
Die Enttäuschung ist in dieser Rückkehr bereits angelegt. Wie sollte sie auch je glücken, nicht? Mit Graus stellte ich mir vor, was geworden wäre, wenn man „Twin Peaks“ einem dieser unzähligen Nachlassverwalter überlassen hätte, die Hollywood in letzter Zeit vornehmlich hervorbringt. Was wäre im Kopf eines jungen, aufstrebenden Regisseurs vorgegangen, der seinem Vorbild Lynch unbedingt gerecht werden wollte – der Stadt Twin Peaks unbedingt gerecht werden wollte? Ein neuer Mordfall? Alte Liebeleien mit alten Gesichtern wieder aufgekocht? Nein. Nein! Bitte nicht. Das hielte ich nicht aus. Ich denke Frost/Lynch wussten um die Gefahren einer Wiederkehr, vielleicht sogar um ihre Unmöglichkeit. Auf die Anflüge heimeliger Nostalgie folgt stets die brutale Gegenbewegung, auf die Misty Mountains, die Twin Peaks sagenumwoben umschweben, folgen Bilder karger Wüsten und einer lichtverpesteten Casinostadt. Alles ist anders. „Twin Peaks“ ist keine warme Umarmung mehr. Special Agent Dale Cooper ist nur noch eine Erinnerung, die nicht mehr erinnert werden kann, erinnert werden will. Und selbst als er plötzlich, nach einer quälend langen Wartezeit, schließlich auf der Matte steht, ist etwas anders, seine Figur auf seltsame Weise entrückt. Es ist etwas verloren gegangen 1991 und es wird nie wider zurückkehren. So wie sich „Twin Peaks“ globalisiert hat, fragmentiert sich auch Cooper. Als Dougie schlurft er langsamen Schrittes durch die Welt, verspeist weltvergessen ein Stück warmen Kuchen und trinkt eine Tasse Kaffee, erinnert sich nicht, aber richtet sich allmählich in seinem neuen bürgerlichen Dasein ein. Er macht einen zufriedenen Eindruck auf mich und man beginnt allmählich sein Herz an diese Person zu verlieren, die Cooper gleicht, aber nicht Cooper sein kann, nie wieder sein wird. Dougie, indes, ist kein Vergleich zu jenem Cooper, der in den letzten drei Episoden den tieftraurigen Schlusspunkt setzt. Kein Vergleich, wirklich. Dieser Cooper ist getrieben von der Erinnerung, getrieben von der Vorstellung, etwas zu beenden, das er vor langer Zeit einmal begonnen hat. Er muss zurück zu Laura Palmer, jenem Fall, der ihn nie losgelassen, ihn alles gekostet hat. Cooper wird zum Zeitreisenden, durch seine Anwesenheit wird „Fire walk with me“ metafiktiv umgedeutet. Er gräbt in den Erinnerungen einer Serie, gräbt in den Erinnerungen ihrer Zuschauerschaft, in ihren Sehnsüchten und Träumen und wird doch nicht fündig. Er kann nicht fündig werden. 18 Folgen dauert diese Suche, an deren Ende ein markerschütternder Schrei die Stille der Nacht durchschneidet. 18 Folgen dauert diese Suche, von der wir wissen, dass an ihrem Ende keine Antworten stehen können. 18 Folgen haben wir Zeit zu lernen, dass es darauf auch nicht ankommt. 18 Folgen Fernsehgeschichte.