Patrick Reinbott - Kommentare

Alle Kommentare von Patrick Reinbott

  • 6 .5

    [...] Dabei ist A Skin So Soft ein Film der aneinandergereihten Beobachtungen, die keiner klaren Dramaturgie unterliegen. Durch das präzise Einfangen der jeweiligen Abläufe, die den Sport des Bodybuildings in letzter Konsequenz als genau jenen Kampf gegen die ermüdende Ausdauer sowie Verfolgung repetitiver Routine schildert, der er ist, hat der Filmemacher ein Werk geschaffen, das sich bewusst unzugänglich und trotzdem bereichernd entfaltet. All diejenigen, die dem höchst narzisstisch sowie durch stumpfe Zielstrebigkeit geprägten Sport von vornherein skeptisch gegenüber stehen, könnten nach der Betrachtung dieses Films in ihrer Einstellung womöglich nur wenig bekehrt werden. Côté geht mit seiner Inszenierung wenig Kompromisse ein und setzt auf ständige Montagen von angespannten Muskeln, Männern, die selbst beim Essen wie unter starken Anstrengungen stöhnen und das Gesicht verzerren, da Nahrung für sie kein Genuss, sondern nur Mittel zum Zweck ist, sowie generell Körper, die der Regisseur unentwegt umkreist oder aus nächster Nähe abtastet. [...] In Pumping Iron bringt es Arnold Schwarzenegger (Der City Hai) in einer berüchtigten Szene des Films einmal auf den Punkt, als er beschreibt, dass sich der Pump im Fitnessstudio, bei dem das Blut auf einmal besonders stark in den Muskel strömt und sich dieser anfühlt, als würde jemand Luft hineinpumpen, mit dem Gefühl eines Orgasmus vergleicht. Für Bodybuilder wie ihn würde sich daher jeder Tag beim Training wie Sex mit einer schönen Frau anfühlen. Diesem obsessiven Lebensgefühl der Sportler spürt auch Côté in A Skin So Soft nach, wobei er im Umkehrschluss zugleich die einsamen, sensiblen oder egoistischen Seiten der Bodybuilder abbildet. Speziell die Szenen, in denen der Regisseur einige der Männer an der Seite ihrer Partnerinnen zeigt, sind von sichtlichen zwischenmenschlichen Spannungen geprägt. In diesen Momenten halten die Frauen oftmals selbst als Coaches oder zur Beurteilung des Posings her, während beispielsweise die Beziehung des jüngsten Bodybuilders zu dessen Freundin, die er gleichzeitig für einen Wettkampf trainieren will, noch vor der Kamera zu zerbrechen scheint. Neben der unverfälschten Monotonie des Gezeigten, die ein dem Bodybuilding abgeneigtes Publikum lange vor Ende des Films ermüden dürfte, zeigt Côté durch sein Interesse an den experimentellen Stilmitteln zwischen Dokumentation und Fiktion jedoch auch immer wieder kurze Momente des Verspielten. In einer als Traumsequenz angelegten Trainingsmontage inszeniert er die verstohlenen Blicke zwischen zwei Bodybuildern im Fitnessstudio als gelungenen Spagat zwischen ehrgeizigem Neid und Ansporn sowie dezent homoerotischem Begehren, das innerhalb der Natur dieses Sports zwischen all dem Hypermaskulinen oftmals ohnehin mitzuschwingen scheint. Den unnötig in die Länge gezogenen Epilog, für den der Regisseur die sechs Sportler erstmals zusammenführt und für 3 Tage in eine Hütte in den idyllischen Wäldern Kanadas schickt, wo sie wie ausgelassene Kumpels erst zurückhaltend, dann immer aufgeschlossener Zeit zusammen verbringen, hätte es da gar nicht mehr gebraucht. [...]

    12
    • 5 .5

      [...] Inspiriert wurde der DFFB-Absolvent für die Geschichte seines Films von eigenen Kindheitserinnerungen an dunkle Berge und Wälder sowie von Geschichten über Hexen und Kobolde, die auf ihn offenbar schon immer eine düstere Faszination ausübten, während die Poster-Artworks an Alben-Cover von Death-Metal-Bands wie Six Feet Under erinnern. Obgleich der Zusatztitel von Hagazussa - Der Hexenfluch das Kernmotiv der Handlung scheinbar bereits vorweg nimmt, ist der Horror im Film des Regisseurs eher von subtiler, schleichender Natur und entsteht vielmehr durch suggestive Bildkompositionen sowie wiederkehrende Symbole anstelle von offensichtlichem Schrecken. Dabei etabliert Feigelfeld den entschleunigten Erzählrhythmus von Hagazussa - Der Hexenfluch schon im ersten Kapitel namens Schatten mit Einstellungen von hypnotischer Langsamkeit, die in das mittelalterliche Setting führen, wo das junge Mädchen Albrun mit ihrer Mutter auf einem Bauernhof in den Alpen lebt. Recht bald erinnert der Film an die typischen Arthouse-Horrorfilme der jüngeren Vergangenheit, die gerade von der amerikanischen Filmproduktionsgesellschaft A24 in mittlerweile angenehmer Regelmäßigkeit vertrieben werden. Vergleichbar mit It Comes at Night oder Hereditary - Das Vermächtnis, aber vor allem mit dem folkloristischen Familien-Grauen von The Witch, ist auch Hagazussa - Der Hexenfluch kaum an konventionellen Stilmitteln des massenkompatiblen Horrors erinnert, sondern präsentiert sich bewusst als sperriges Seherlebnis, für das der Regisseur historische Randnotizen und esoterische Mythen, Charakterdrama und albtraumhaft visualisierte Seelenlandschaften kombiniert. [...] Um sich dem isolierten, vereinsamten Bewusstseinszustand seiner offensichtlich schwer traumatisierten Protagonistin anzunähern, verwendet der Regisseur kaum Dialog und verlässt sich stattdessen auf Bilder, die neben ihrer naturalistischen Erdung immer wieder surreales Unbehagen zu Tage befördern, wenn die Kamera von Mariel Baqueiro auf Details wie Maden, Würmern, Totenschädeln oder Pestbeulen verweilt. Ähnlich wie Lars von Trier in seinem radikalen Meisterwerk Antichrist scheint auch Feigelfeld das Motiv der Natur als Kirche Satans heraufbeschwören zu wollen. Im Vergleich mit den offensichtlichen Vorbildern von Hagazussa - Der Hexenfluch fehlt dem Nachwuchsregisseur jedoch noch merklich das Gespür dafür, ergreifende Dramatik und tiefen Horror stimmig in Einklang zu bringen. Trotz der Unterstützung des griechischen Avantgarde-Duos MMMD, das die dazugehörigen Bilder mit beunruhigendem Dröhnen und vibrierenden Klängen auflädt, erweist sich die Atmosphäre in Feigelfelds Werk mit fortschreitender Laufzeit als nur bedingt wirkungsvolles Vakuum, das narkotisierenden Spannungsaufbau ohne adäquate Stimmungshöhepunkte anstelle von effektiver Beklemmung vermittelt. Wenn Albrun im vorletzten Kapitel des Films einen Pilz verspeist, der überaus halluzinogene Konsequenzen mit sich bringt, kippt Hagazussa - Der Hexenfluch zwischen ängstlicher Paranoia und konkreten Bedrohungen endgültig in einen filmischen Wahnzustand, der sich spätestens im Finale exzessiv entladen darf. Zuvor zeigt der Weg dorthin einen aufstrebenden Filmemacher, der sich zuallererst in atmosphärischen Stimmungsbildern ausprobiert, ohne ihr volles Potenzial schon ausschöpfen zu können. Trotzdem ist es nicht gänzlich ohne Reiz, Feigelfeld in seinen mittelalterlichen Irrgarten der psychotischen Abgründe, übernaturlichen Mythen und naturalistischen Schreck-Symbole zu folgen und sich zu fragen, was da in Zukunft noch kommen könnte. [...]

      15
      • 3
        • 5

          Romantisch und komisch ist an Victor Levins als RomCom eingestuften "Destination Wedding" erstmal wenig. Es ist vielmehr an trockenen Nihilismus grenzender Zynismus, von dem der Film des Regisseurs, der zuvor hauptsächlich an TV-Serien wie "Mad Men" als Produzent beteiligt war, durchzogen wird. Keanu Reeves und Winona Ryder spielen Frank und Lindsay und sie sind die einzigen Figuren, die in "Destination Wedding" überhaupt eine Stimme erhalten. In jeder Szene sind die beiden entweder gemeinsam oder einzeln zu sehen, während alle Personen um sie herum wirken, als seien sie lediglich stumme Dekoration in dieser Geschichte, die eigentlich von ausgelassener Geselligkeit und fröhlicher Gemeinsamkeit handeln sollte.
          Eher zufällig lernen sich die Protagonisten am Flughafen zu Beginn des Films kennen, wo sie nach kurzer Zeit feststellen, dass sie beide als Gäste zu einem Hochzeitswochenende in die Weinberge Kaliforniens unterwegs sind. Dabei finden sie heraus, dass sie sich im Vorfeld durchaus bereits kannten, wenn auch nur auf indirekte Weise. Bei Frank handelt es sich um den Bruder des Bräutigams, während Lindsay einige Jahre zuvor noch mit diesem verlobt war und vor der geplanten Hochzeit sitzengelassen wurde. Was die beiden jedoch von Anfang an verbindet, ist ihre pessimistische Einstellung gegenüber dem Leben.
          Neben allen Menschen um sie herum können sich Frank und Lindsay gegenseitig ebenfalls kaum ausstehen, was dazu führt, dass sich "Destination Wedding" entgegen der bekannten Klischees des Genres über verbitterte Wortgefechte entfaltet, in denen jeglicher Anflug von Sympathien oder gar positiven Gefühlen umgehend im Keim erstickt wird. Was zunächst als angenehm gewöhnungsbedürftiger, auf positive Weise irritierender Gegenentwurf zum üblichen Einheitsbrei funktioniert, entwickelt sich jedoch mehr und mehr zum unentschlossenen Hybrid aus neurotischen Dialogschwällen, aus denen beinahe der gesamte Film besteht, und klischeehaften Strukturen, denen sich Levin schließlich doch noch immer wieder hingibt.
          Während sich Reeves und Ryder gerade dadurch recht stimmig in ihren Rollen einfügen, dass zwischen ihnen die meiste Zeit über kaum Chemie aufkommen mag, erschöpft sich der Erzählfluss von "Destination Wedding" im Verlauf der ohnehin schlanken 86 Minuten Laufzeit erstaunlich schnell, da der Regisseur seinem Konzept abseits von bemühten Pointen und inszenatorischem Stillstand kaum etwas hinzuzufügen weiß. Aufgrund der statischen Einstellungen innerhalb malerischer Landschaften, festlicher Räumlichkeiten oder privater Schlafzimmer sieht Levins Film wie eine uninspiriert abgefilmte Episode einer günstig produzierten Sitcom aus, die von jemandem geschrieben wurde, der gerne wie Woody Allen zu seinen besten Zeiten schreiben würde.
          Dabei versagt "Destination Wedding" zusätzlich als konsequente Anti-RomCom, wenn der Regisseur zunehmend Momente zwischen Frank und Lindsay einstreut, in denen sichtlich die Funken sprühen und doch noch entfernt romantische Gefühle die Oberhand gewinnen. In manchen Szenen unterläuft Levin so zumindest die Sehgewohnheiten seines Publikums, wenn er die einzige Sexszene des Films beispielsweise zur peinlichen Fremdscham-Passage verbiegt. Seinen zynischen, lebensfeindlichen Protagonisten zieht er allerdings nicht nur in diesem Moment den Boden unter den Füßen weg. Stattdessen müssen sich Frank und Lindsay im Finale einer Auflösung beugen, die der Zuschauer vermutlich schon vor Beginn des Films vor Augen hatte. So verkommt "Destination Wedding" zur überaus halbgaren Affäre, die nur hin und wieder unterhaltsam ist, obwohl sie es nicht sein will, und die tief sitzende Verbitterung und giftigen Zynismus auf redundante Weise vortäuscht, um sich letztlich doch noch brav anzupassen.

          12
          • 5 .5

            [...] Viele Szenen in Elijah Bynums Regie-Debüt Hot Summer Nights wirken wie schimmernd überhöhte Erinnerungen an eine Vergangenheit, die schon eine ganze Weile zurückliegt. [...] Von diesem Hauch des Mysteriösen sowie der Mythenbildung, die während der Adoleszenz oftmals mitschwingt, wird Hot Summer Nights deutlich geprägt. Hierbei schwankt die Geschichte des Films zwischen unkonkreter Coming-of-Age-Fantasie und konkreten Crime-Zuspitzungen hin und her, um sich im späteren Verlauf immer stärker innerhalb dieser Genre-Zuordnungen zu verkeilen. [...] Nichtsdestotrotz rücken die Konflikte, die sich über die verschiedenen Beziehungen der Figuren zwangsläufig ergeben, über gut zwei Drittel der Handlung erst einmal in den Hintergrund. Stattdessen inszeniert Bynum Hot Summer Nights längere Zeit als schwelgerisch-schwüles Sommermärchen, in dem die nostalgischen Reize eines unvergesslichen Sommers in jungen Jahren wie in Greg Mottolas Adventureland ebenso mitschwingen wie beispielsweise der unentwegte Drang aus Edgar Wrights Baby Driver, die Figuren sowie ihre starken Gefühle zueinander über die Verbindung von Songs auf der Tonspur sowie rastlosen Bewegungen einzufangen. Dabei wagt sich der Regisseur durch den permanenten Einsatz von markanten Songs aus der Handlungsepoche des Streifens bisweilen in nervenstrapazierende Gefilde vor, während Hot Summer Nights trotz einiger überaus sinnlich-aufregender Montagen (die Lollipop-Szene zwischen Daniel und McKayla beispielsweise) droht, zum reinen Vakuum voller audiovisuell reizvoller Stimmungsbilder zu verkommen. Diese Bedenken hatte der Regisseur vermutlich auch selbst, weshalb Bynum den kriminellen Aspekt seiner Geschichte schließlich vermehrt in den Vordergrund rückt. Der Rückgriff auf Neo(n)-Noir-Motive wie aus Nicolas Winding Refns Drive oder ungeplante Crime-Verstrickungen wie in Paul Thomas Andersons Boogie Nights erweist sich in Hot Summer Nights jedoch zunehmend wie ein Fremdkörper. Die altbackenen Gangster-Mechanismen aus der banalen Realität des Films stehen dem verträumten Ansatz des Regisseurs auffällig im Weg, wobei sich das zentrale Hauptdarsteller-Trio Timothée Chalamet (Lady Bird), Maika Monroe (It Follows) und Alex Roe (Die 5. Welle) aus ihren überstilisierten Hüllen freizuspielen versucht, bevor Bynums Film im Finale während eines schweren Sturms, der durch Cape Cod wütet, endgültig in ernüchternden Klischees versinkt. Wie ein wohliger Traum, aus dem das unsanfte Erwachen und die anschließende Benommenheit folgen. [...]

            11
            • 4

              [...] Nach gut einem Drittel von Schraders Film liegen dem Zuschauer all diese Erkenntnisse, Beobachtungen und Konflikte offen, wodurch der Regisseur eine dramatische Geschichte in Gang setzt, in der es von intimen sowie globalen Konflikten, Problemen und Krisenherden nur so wimmelt. Bedauerlicherweise entpuppt sich First Reformed recht bald als herber Fehlschlag, der sich somit wiederum konsequent in das überwiegend misslungene Spätwerk des Regisseurs einfügt. [...] Mit First Reformed wollte Schrader seiner eigenen Aussage nach schließlich einen Film über das Spirituelle und das Seelenleben machen, für den er sich unverkennbar von seinen großen Regie-Vorbildern wie Ingmar Bergman (Persona) , Yasujirō Ozu (Die Reise nach Tokyo), Robert Bresson (Pickpocket) und Carl Theodor Dreyer (Das Wort) inspirieren ließ. Entstanden ist dabei jedoch ein weitestgehend oberflächliches Werk, das etliche komplexe Themen anreißt und nie stimmig vertieft. Schrader greift unter anderem radikalen Umweltaktivismus, Öko-Terrorismus, tödliche Krankheiten, tiefe Glaubenskrisen, Alkoholismus, Depressionen und Suizid auf, um die jeweiligen Handlungsaspekte, die für sich genommen bereits einen ganzen Film ausfüllen könnten, wie Stichworte in die Geschichte einzustreuen und unentwegt aufeinanderprallen zu lassen. Auch wenn First Reformed glücklicherweise halbwegs von einem souveränen Ethan Hawke (Before Sunrise) in der Hauptrolle als Priester Toller zusammengehalten wird und diverse Nahaufnahmen von Hawkes Gesicht oftmals genügen, um den verborgenen sowie sichtbaren Schmerz seiner Figur offenzulegen, ist Schraders Film zusätzlich von prätentiösen Dialogen und plakativen Symbolen durchzogen, die den schwerwiegenden Themen niemals gerecht werden. Trotz der beklemmenden Einstellungen, die überwiegend statisch im Seitenverhältnis von 1,37:1 gedreht wurden, wirken die Bilder in Schraders Film vor allem aufgrund der ausgesprochen hässlichen Digital-Ästhetik steril und glatt, während sich die Handlung gerade im Vergleich mit den zuvor genannten, europäischen Regie-Größen wie ein unterentwickelter Abklatsch anfühlt. Mit dem Holzhammer bekommt der Zuschauer die Öko-Botschaft des Regisseurs eingeprügelt, während die Geschichte durch den Rückgriff von Schrader auf seine liebsten Motive in einer uninspirierten Abwärtsspirale mündet, die Toller letztlich zur geistlichen Variation eines Travis Bickle aus dem von Schrader für Martin Scorsese (Casino) geschriebenen Taxi Driver macht. Dabei rutscht First Reformed in manchen Szenen gar in unfreiwillige Komik ab, wenn der Regisseur nach einer berührend intimen Szene zwischen Toller und Mary in, mit billigen Effekten zusammengeschusterten, Esoterik-Kitsch verfällt, während das surreal-antiklimatische Ende wie eine irritierende Selbstparodie wirkt. [...]

              12
              • 7

                Bei einem Film wie "Utøya 22. Juli" stellt sich zuallererst die Frage, worin der Sinn eines solchen Werks liegt. Wie der Titel bereits verrät, greift Regisseur Erik Poppe darin jenes Datum auf, an dem der schwer bewaffnete Rechtsextremist Anders Breivik im Jahr 2011 ein Massaker auf der norwegischen Insel Utøya anrichtete, das Jugendliche eines dort organisierten Ferienlagers betraf und insgesamt 77 Menschen das Leben kostete. Poppe, der vor seiner Karriere als Filmemacher unter anderem Erfahrung als Pressefotograf in Kriegsgebieten sammelte, nähert sich diesem tragischen, schockierenden Vorfall über einen inszenatorischen Ansatz, der ebenso immersive Intensität entfaltet wie er den Zuschauer wiederholt an seine persönliche, moralische Toleranzgrenze treiben dürfte.
                Nach einer kurzen Einleitung, welche den vorangegangenen Bombenanschlag in Oslo zeigt, wechselt das Geschehen auf die norwegische Insel, wo die 18-jährige Kaja als Identifikationsfigur der nachfolgenden Geschehnisse präsentiert wird. Die junge Erwachsene ist es, der die Handkamera von Martin Otterbeck in 72 Minuten ohne sichtbare Schnitte in kaum einem Moment von der Seite weicht, während das damalige grausame Chaos in qualvoller Echtzeit filmisch rekonstruiert wird. Nachdem Poppe die anfänglichen Szenen mit den jugendlichen Figuren nutzt, um ähnlich wie Gus Van Sant in seiner Amoklauf-Studie "Elephant" ein Panorama aus banalem Smalltalk, adoleszenten Problemen und zaghaft politischen Ansichten zu zeichnen, verschwimmt die Charakterzeichnung mit den ersten hörbaren Schüssen, die über die Insel hallen, in hektischer Unsicherheit sowie ansteigender Panik.
                Was die Figuren mitunter zunächst als Sicherheitsübung oder Feuerwerkskörper einordnen wollen, als sie ratlos in ein Gebäude flüchten, wird nur wenige Minuten später zur unvorstellbaren Gewissheit: Ihr Leben ist in Gefahr, da mindestens einer oder mehrere Schützen das Feuer auf Utøya eröffnet haben. Die anschließenden Aufnahmen in "Utøya 22. Juli" gleichen einer unübersichtlichen Hölle, in der lediglich Kaja als feste Konstante in einem Szenario dient, das von pausenlosen Schüssen aus unterschiedlichsten Richtungen, verzweifelten Schreien sowie hilflos durch die Gegend rennenden Körpern bestimmt wird. Dabei begreift Poppe sein Werk, für dessen Vorbereitung er ausgiebige Gespräche mit realen Überlebenden und Augenzeugen des Attentats führte, als Versuch, das Unbeschreibliche auf filmische Weise erfahrbar zu machen. Ohne jemals ins allzu Voyeuristische oder in unangenehme Exploitation-Gefilde abzugleiten, wahrt der Regisseur eine gewisse Distanz zu den Opfern und zum Täter, der hier nie beim Namen genannt wird und bis auf zwei kurze Ausnahmen als schattenhafte Silhouette aus weiter Ferne nie zu sehen ist. Stattdessen fokussiert sich der Regisseur allem voran auf das subjektive Empfinden der Betroffenen, die hier speziell in Form von Kaja eine niederschmetternde Tour de Force durchlaufen muss.
                Nur in einigen wenigen Momenten greift hierbei das Konzept der filmischen Dramaturgie sowie dezent emotionalen Manipulation des Zuschauers, wenn Poppe beispielsweise Handy-Anrufe besorgter Mütter auf den toten Körpern eben erst Verstorbener einfängt. Trotzdem vermeidet es der Regisseur, dass sich "Utøya 22. Juli" zweifelsfrei einer Art Genre zuordnen lässt. Sicherlich bietet unter anderem das nervenzerreißende Sound Designs, das sich ohne musikalische Untermalung aus dem stetigen Wechsel zwischen unaufhörlichen Schussgeräuschen sowie der trügerischen Stille des Nachladens ergibt, Vergleiche zu den Stilmitteln des Terrorfilms, doch der Regisseur ist viel zu sehr mit der lähmenden Zerstreuung sowie unvorhersehbaren Drastik des Szenarios beschäftigt, als dass von seinem Werk jemals so etwas wie eine fesselnde Dramatik ausgehen könnte, die sich automatisch falsch anfühlen würde.
                Vielmehr ergeben sich die nachhallendsten Bilder des Films aus Detailaufnahmen und Passagen des kräftezehrenden Innehaltens. Wenn sich Kaja mit einigen anderen Jugendlichen hinter einem Gebüsch oder unterhalb eines Felsvorsprungs verschanzt, während jede einzelne Sekunde zur spürbaren Ewigkeit wird, oder wenn sie einem anderen Mädchen in den letzten Momenten des Lebens und noch darüber hinaus die Hand hält, ist "Utøya 22. Juli" auf angemessene Weise eine Abfolge verfilmter Gefühlszustände in unvorstellbaren Extremsituationen zwischen Leben und Tod, die ganz nah am Menschen bleiben, während die unbegreifliche Dunkelheit im unsichtbaren Hintergrund lauert. Die Frage, ob ein solcher Film eine grundlegende Daseinsberechtigung besitzen darf, lässt sich bis zur letzten, ohnmächtig stimmenden Einstellung dieses schwer fassbaren Werks diskutieren. Dass es Filme wie "Utøya 22. Juli" im Kino geben muss, wo das Publikum ohne Ausflucht einem Ereignis ausgesetzt wird, das nicht begriffen, aber vielleicht ansatzweise nachempfunden werden kann, sollte hingegen außer Frage stehen.

                15
                • 4 .5

                  Losgelöst vom Mythos der griechischen Göttin Artemis, die als Hüterin der Frauen und Kinder gilt, führt Regie-Debütant Drew Pearce den Zuschauer in "Hotel Artemis" in ein dystopisches Los Angeles im Jahr 2028, wo der titelgebende Schauplatz für Kriminelle zur lebensrettenden Zuflucht wird. Während außerhalb der Räumlichkeiten des Hotels Aufstände und Straßenschlachten toben, die in ihrer chaotischen Drastik das Ende der vorherrschenden Zivilisationsordnung anzukündigen scheinen, hält Krankenschwester Jean Thomas ihr illegal geführtes Etablissement anhand strikt vorgegebener Regeln am Laufen.
                  Im Hotel Artemis sind Waffen ebenso verboten wie das Töten generell. Einlass erhalten zudem nur diejenigen, die eine Mitgliedschaft abgeschlossen haben und ihre regelmäßigen Beiträge zahlen, während Polizisten im Gebäude von vornherein nicht gestattet sind. Ein recht überschaubares Regelwerk, das bislang dafür gesorgt hat, dass Jean, die in der Regel nur mit ihrem Spitznamen "The Nurse" angesprochen wird, seit 22 Jahren erfolgreich als Leiterin im Hotel Artemis arbeitet. Dass diese Regeln im Verlauf von Pearces Film zwangsläufig gebrochen werden, ist ein dramaturgischer Kniff, den sich der Zuschauer von Anfang an zu Recht erwarten darf. Als Neo-Noir-Thriller-Kammerspiel hängt über "Hotel Artemis" die ganze Zeit ein Hauch der drohenden Eskalation in der Luft, der in Verbindung mit dem stimmungsvollen Score von Komponist Cliff Martinez zu einer der Stärken des Films gehört.
                  Neben dem Umstand, dass Pearces Werk durchgehend wie ein ausgedehntes Vorspiel in Vorbereitung auf den unvermeidlichen Showdown wirkt, erweist sich die Handlung als schleppender Hohlkörper, den der Regisseur zu selten mit aufregenden Impulsen füllt. Trotz der rätselhaften Anwesenheit vieler überaus namhafter Darsteller, zu denen unter anderem Jodie Foster als Krankenschwester Jean Thomas, Dave Bautista als ihr hühnenhafter Assistent sowie Security-Chef Everest und Sterling K. Brown, Sofia Boutella, (ein nervtötender) Charlie Day, Jeff Goldblum und Zachary Quinto in den Rollen unterschiedlicher Krimineller zählen, entpuppen sich die Figuren in "Hotel Artemis" recht bald als uninteressante, unterentwickelte Genre-Abziehbilder.
                  Auch wenn der Streifen im Vorfeld irreführend als Action-Thriller vermarktet wurde, der sicherlich viele an die "John Wick"-Filme erinnert haben dürfte, nimmt die eigentliche Action in Pearces Werk nur ungefähr 10 Minuten der Gesamtlaufzeit ein. Der Rest der Geschichte ist als abgründiges Charakterdrama angelegt, in dem es den jeweiligen Figuren bedeutend an Tiefe fehlt. Unentschlossen inmitten des Reizes, die zwischen Überzeichnung und Klischee pendelnden Figuren mit augenzwinkenderm Zähnefletschen aufeinander loszulassen, streut Pearce dagegen gelegentliche Momente ernstgemeinter Dramatik ein, wenn er die Figur der Krankenschwester mit einer tragischen Vergangenheit versieht.
                  Über kurze Rückblenden zeichnet der Regisseur das Bild einer Frau, die ihren Sohn verloren hat, doch der Grund bleibt ebenso wie die Strömung der Wellen, die in diesen Szenen stets zu sehen ist, ungenau und verschwommen. Fest steht nur, dass sich Jean hierdurch über die Jahrzehnte hinweg einen Käfig geschaffen hat, der vom derzeit hippen Singer-Songwriter Father John Misty passend dazu auf der Tonspur als "Gilded Cage" im gleichnamigen Song besungen wird. Ein anderer bekannter Song des Soundtracks ist "California Dreamin'", der Jean aus dem retrofuturistischen Setting bewusst in die Vergangenheit führen soll, wenn sie mit Kopfhörern durch die verlassenen Gänge des Hotels ihrer Routine nachgeht.
                  Spätestens, wenn sich der gefürchtete Gangster-Boss Wolf King ankündigt, der mit zwei Neuankömmlingen des Krankenhauses eine persönliche Rechnung begleichen will, nachdem sie zu Beginn des Films bei einem Überfall auch einen wertvollen Gegenstand aus seinem Besitz gestohlen haben, zerfällt der betont auf künftigen Kultstatus abzielende Film endgültig in seine dürftigen Einzelteile. Eine finale Wendung in Bezug auf das persönliche Schicksal der Krankenschwester wirkt unpassend konstruiert, um die Konfrontationen im Schlussakt weiter zuzuspitzen, während die schließlich ausbrechenden Kampfsequenzen vielmehr wie ein letzter verzweifelter Kampf um die Aufmerksamkeit des Publikums wirken. Dieses darf angesichts des misslungenen Gesamtwerks, welches wie eines der typisch verunglückten Netflix-Originals mit erstaunlich prominenter Besetzung wirkt, berechtigt den Kopf schütteln.

                  13
                  • 8

                    Zum nunmehr 6. Mal tritt IMF-Agent Ethan Hunt mit seinem kleinen Team aus Spezialisten eine der sogenannten unmöglichen Missionen an, die dem Blockbuster-Franchise seinen Titel verleihen. Seit Brian De Palma im Jahr 1996 mit "Mission: Impossible" den Grundstein legte, der auf der gleichnamigen Serie aus den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre basierte, hat das "Mission: Impossible"-Franchise mithilfe regelmäßig wechselnder Regisseure wie John Woo, J. J. Abrams, Brad Bird und aktuell Christopher McQuarrie mehrfach die Gestalt gewechselt, ohne den bestechenden Kern der Reihe jemals grob zu vernachlässigen. "Mission: Impossible - Fallout", für den McQuarrie nach "Mission: Impossible - Rogue Nation" erneut Regie führte, erscheint jetzt als direkter Nachfolger zu Teil 5 und greift inhaltliche Aspekte des Vorgängers wieder auf, um sich dem Charakter von Ethan so stark anzunähern wie nie.
                    Wenig überraschend stellt sich die eigentliche Mission, bei der Ethan und sein Team verhindern müssen, dass drei Plutonium-Kapseln in die Hände anarchistischer Terroristen geraten, die sich selbst die Apostel nennen und den Weltuntergang heraufbeschwören wollen, als bloße Alibi-Struktur heraus. Etwas zu viel Zeit verschwendet McQuarrie, der ebenfalls das Drehbuch geschrieben hat, für unnötig ausführliche Exposition, doch sobald das IMF-Team nach einem anfänglichen, einschneidenden Rückschlag endgültig in Bewegung geraten muss, setzt auch "Mission: Impossible - Fallout" zu einer einzigen durchgängigen Bewegung an, die über die knapp 150 Minuten Laufzeit hinweg selten zur Ruhe kommt.
                    Quer über den Globus, von Berlin über Paris und London bis nach Kaschmir, verschlägt es Ethan und sein Team erneut in zahlreiche Situationen, die entweder von vornherein bereits mehr als brenzlig erscheinen oder im Verlauf des Einsatzes mit Hürden aufwarten, die wieder einmal maximales Improvisationsgeschick des IMF-Teams erfordern. Dass sich der 6. Teil des Franchise dabei wie eine aufregende Achterbahnfahrtfahrt gestaltet, die den Zuschauer aufgrund von spektakulären Actionsequenzen mitunter kaum noch durchatmen lässt, gehört längst zur natürlichen Erwartungshaltung, die das Publikum eines "Mission: Impossible"-Films mit sich in den Kinosaal trägt.
                    Auch wenn es McQuarrie und seinem Team nicht gelingt, die spektakulären Set Pieces aus Teil 4 und 5 noch einmal bedeutend zu übertrumpfen, markiert "Mission: Impossible - Fallout" nichtsdestotrotz eine durchweg faszinierend choreographierte sowie inszenierte Abfolge von Verfolgungsjagden aller Art, physischen Konfrontationen, verdichteten Schusswechseln und vor allem verblüffenden Stunts, die die Grenze zwischen realem Aufwand und künstlicher Aufbesserung vollends verschwimmen lassen. Dabei fällt am Ende selbstverständlich alles auf einen Namen zurück, ohne den dieses gesamte Franchise nicht denkbar wäre. Tom Cruise zieht als Ethan Hunt erneut sämtliche Register und wirkt trotz seiner mittlerweile 56 Jahre immer noch fitter als vergleichbare Kollegen, die vielleicht halb so alt sind wie er.
                    "Mission: Impossible - Fallout" ist der erneute Beweis dafür, dass Cruise tatsächlich der letzte große Schauspielstar ist, der sein Publikum mit einer elektrisierenden Präsenz in seinen Bann schlägt, die sich sowohl aus seinem unglaublichen Körpereinsatz sowie der emotionalen Fallhöhe ergibt, die im 6. Teil der Reihe nochmals spürbar erhört wurde. Bereits die frühe Auftaktsequenz in Berlin zeigt Ethan zur Abwechslung als den Unterlegenen, wenn er sich bewusst dazu entscheidet, seinem alten Freund und Team-Kollegen Luther Stickle das Leben zu retten, wodurch es den Bösewichten zunächst gelingt, mit dem Plutonium zu entkommen. Zudem werden erstmals Vorwürfe laut, die Ethan in den Augen seiner engsten Vertrauten bisweilen in ein neues Licht rücken. Neben all den Szenen, in denen der IMF-Agent beispielsweise durch die Straßen sowie über die Dächer von Paris förmlich um sein Leben sprintet, mit einem Fallschirm den HALO-Sprung vollzieht, in einer Männertoilette nach Luft ringend um sein Leben kämpft, sich an einem Seil in einen fliegenden Helikopter raufzieht und diesen anschließend gefährlich nahe an Felswänden entlang fliegt, ist der 6. Teil des "Mission: Impossible"-Franchise auch ständig ein Film über einen Mann, der die Leben der Menschen, die ihn am nähesten stehen, unentwegt gegen das Wohl der gesamten Menschheit abwägen muss. Die beiden Sätze "I'll make it" und "I'll figure it out", die Ethan in dem Film immer wieder äußert, mögen wie amüsante Running Gags erscheinen, doch gleichzeitig sind sie auch aufrichtige Versprechen, deren Einhaltung der eigentliche Kern der "Mission: Impossible"-Reihe ist.
                    Nebenbei gelingt es McQuarrie hervorragend, Ethans Umfeld mit alten und neuen Weggefährten mitreißend zu gestalten. Simon Pegg als Benji und Ving Rhames als Luther geben gewohnt hervorragende Sidekicks ab, die Humor und Dramatik mühelos zu balancieren verstehen, während Rebecca Ferguson als Ilsa Faust diesmal als unkonkreter Schatten aus der Vergangenheit zurückkehrt. Direkt aus den Albträumen, die Ethan in diesem Film hin und wieder heimsuchen, manifestiert sich zudem seine Nemesis Solomon Lane erneut und wird von McQuarrie schlüssig in den Handlungsverlauf integriert. Als begeisterndster Neuzugang stellt sich hingegen Henry Cavill als August Walker heraus.
                    Der CIA-Agent ist zugleich ein trainierter Killer, der von seiner Vorgesetzten treffend als Hammer beschrieben wird, falls Ethan im Vergleich dazu ein Skalpell ist. Als Wachhund an der Seite des IMF-Agenten entspinnt sich zwischen Cruise und Cavill ein bestechendes Verhältnis zwischen kantiger Bromance und bedrohlichem Misstrauen, das der Regisseur genüsslich auskostet. Auf dem Weg in Richtung Zielgeraden gerät "Mission: Impossible - Fallout" zudem zum emotional mitreißendsten Teil der Reihe neben Abrams' "Mission: Impossible III". Indem McQuarrie Ethan noch einmal schmerzlich mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert, findet der 6. Teil der Reihe im Zusammenspiel aus globaler Drastik und intimen Zusammenhängen zu einem atemberaubenden Abschluss, zusammengehalten in jeder Szene von Cruise, der inmitten all der Stunts, die er zum Großteil wieder selbst absolvierte, längst zum realen Ethan Hunt im Kampf um das Publikum geworden ist.

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                    • 7

                      Der spontane Impuls, das fiebrige Zucken im Moment, überhaupt der gelebte Moment, vorübergezogen und doch immer wieder für Sekundenteile in Bildern eingefangen, all das, was Jakob Lass in seinen vorherigen Filmen stets aufs Neue verfolgte, hat er in der Romanverfilmung "So was von da" nun zu seinem bislang besten Werk gebündelt. Beworben wird der Streifen, den der Regisseur wie gewohnt in seinem von Improvisation geprägten FOGMA-Stil inszeniert hat, als die erste improvisierte Romanverfilmung überhaupt. Das Drehbuch wie immer ein Skelett mit vagen Szenenbeschreibungen, die Buchvorlage von Tino Hanekamp kaum mehr als ein atmosphärischer Richtungsweiser, der vorgibt, was der Film für eine Stimmung transportieren soll.
                      Und Stimmung ist tatsächlich das entscheidende Stichwort, sobald sich der Betrachter den ersten Szenen von "So was von da" hingibt und dem wild pulsierenden, nervös unorganisierten Werk schlagartig ausgeliefert ist. Lass beschreibt einen letzten Abend, den der Clubbesitzer Oskar an Silvester in Hamburg in seinem Club verbringen will, bevor dieser geschlossen werden muss. Über die letzten Jahre hinweg hat er eine Menge Schulden angehäuft, die der wütende Lude Kiez-Kalle jetzt mit Gewalt von ihm eintreiben will. An diesem letzten Abend im Club am Ende der Reeperbahn steht jedoch die Flucht im Mittelpunkt. Die Flucht in eine Zukunft, die ungewiss wie ein Fallbeil über den letzten Überresten der verblassenden Gegenwart hängt. Bereits im Auftakt gibt Oskar den entscheidenden Ton des Films vor, wenn er zum Zuschauer spricht und darüber redet, dass das Hier und Jetzt alles ist. Am liebsten wäre es ihm, wenn der Abspann sofort in diesem Moment einsetzen würde, bevor der eigentliche Film überhaupt erst begonnen hat. So nähert sich Lass der Essenz einer jungen Generation an, die lieber im gelebten Moment verglüht, als in Gedanken an einen Morgen einzuschlafen und womöglich gar nicht mehr aufzuwachen.
                      Dabei galt die Romanvorlage eigentlich als unverfilmbar, zu eigen sei der Schreibstil von Hanekamp, der kaum verständliche Sätze und seitenweise Beschreibungen des puren Exzesses aneinanderreiht, ohne sich um den Zugang des Lesers zu kümmern. Der Regisseur begegnet dieser Eigenwilligkeit wiederum mit seinem eigenen Hang zum Experimentellen und verwandelte die Dreharbeiten in einen Prozess aus Fiktion und Dokumentation, bei dem das Hamburger Nachtleben am Set neben den festen Darstellern auch zahlreichen feierwütigen Statisten offen stand. Um dem Gekünstelten zu entgehen, das zwangsläufig entsteht, wenn Schauspieler auf Regieanweisungen hin in einen ekstatischen Partyzustand verfallen sollen, filmte Lass Szenen aus dem laufenden Clubbetrieb, in denen er seinen Cast auf das reale Ausmaß des Rausches prallen ließ.
                      In den besten Momenten, wenn sich Oskar, seine gute Freundin Nina, der frustrierte Rockstar Rocky und Oskars Freund sowie Geschäftspartner Pablo mit einigen anderen regelmäßig auftauchenden Gesichtern von einer Ecke des Clubs in die andere treiben lassen, erstrahlt "So was von da" trotz dieses Gefühls, dass niemand so wirklich vorankommt und sich der Regisseur unentwegt dem Abbruch einzelner Entwicklungen hingibt, als hypnotisierendes Meer aus Lichtern, Farben und Tönen. Genauso, wie die verschiedenen Songs innerhalb der Räumlichkeiten als ständig wechselnde Mischung aus pumpenden Electro-Beats, sanft treibendem House, wütendem Punk-Rock und tanzbar-entfesseltem Elektropop durch die Einstellungen hallen oder dröhnen, greift Lass ständig nach diesem unverwechselbaren Gefühl des Nachtlebens, das er selbst als Konglomerat aus Euphorie und Verzweiflung bezeichnet.
                      Treffend wird in "So was von da" an dem Zustand festgehalten, bei dem das drohende Ende der Party einem apokalyptischen Zustand gleichkommt und die ersten aufgehenden Sonnenstrahlen des neuen Tages einen persönlichen Untergang ankündigen. Zu vollkommener Finsternis kommt es in Lass' Film allerdings nie, denn dafür klammert er sich zu sehr an das Licht der Freundschaft zwischen den zentralen Figuren, das selbst dichteste Nebelschwaden oder dunkelste Winkel überstrahlt. Dabei lässt sich der Regisseur seine typischen Regie-Einfälle auch in diesem Werk wieder einmal nicht nehmen, wenn er seine Bilder gerade zu Beginn des Films ständig mit aggressiven Jump Cuts zerreißt, den Hirntumor einer Figur auf surreale Weise kurzerhand an Ort und Stelle entfernen lässt und damit Golf spielt oder das Film-Ehepaar Bela B. als von den Toten auferstandener Altrocker und Corinna Harfourch als spießig-konservative Innensenatorin mit in den Club zwängt.
                      Als kantigere, bewusst noch unvollendeter wirkende Schnittmenge aus Sebastian Schippers "Victoria" und "Absolute Giganten" wirkt "So was von da" trotz des erneut improvisiert-chaotischen Zugriffs auf das spärlich vorhandene Ausgangsmaterial trotzdem wie Lass' bislang stringentester Film. Ein Werk, das einen nach vorne treibt, wenn es weitergehen soll, das innehält, wenn eine dringend benötigte Pause eingelegt werden muss, und das im richtigen Moment des Hier und Jetzt endgültig im Rausch versinkt, bis die unbequeme Realität wieder anklopft.

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                      • 7

                        [...] Der erste ungewöhnliche Clou ihres nunmehr dritten Films The Endless besteht von vornherein darin, dass Benson und Moorhead die Hauptrollen der Brüder spielen, die noch dazu die gleichen Vornamen tragen wie sie selbst. Je weiter die unbehagliche Stimmung des Streifens voranschreitet, desto mehr Schichten legen die Regisseure erneut frei, um wieder deutlich stärker an den wirren, verkopften Stil ihres Debüts anzuknüpfen. Den emotionalen Zugang ihres zweiten Films hat das Duo allerdings keinesfalls verlernt. So entpuppt sich die Rückkehr der Brüder zurück in den Schoß der zwielichtig erscheinenden Gemeinde als Zerreißprobe zwischen den beiden Männern, die sich ihrer Vergangenheit und somit auch der Gegenwart auf unterschiedliche Weise annähern. Mit dem subtilen Vordringen in den engeren Kreis der Gemeinde sowie den unklar verschwommenen Details aus der Vergangenheit von Justin und Aaron entfaltet sich The Endless über gut zwei Drittel der Laufzeit hinweg als kryptisch-subtiler Angstmacher. Gerade aus dem Umstand, dass die übrigen Mitglieder von Camp Arcadia eine ruhige Gelassenheit sowie Unscheinbarkeit ausstrahlen, nehmen die Regisseure in Verbindung mit dezent bizarren Ausreißern zum Anlass, um ähnlich wie beispielsweise in den Filmen von David Lynch (Eraserhead) das Furchteinflößende im vermeintlich Gewöhnlichen zum Vorschein zu bringen. Benson und Moorhead belassen es jedoch nicht bei bloßen Andeutungen und Gedankenspielen und formen die Paranoia vor der großen Sekten-Katastrophe im letzten Drittel ihres Films endgültig zu einem vertrackten Spiel rund um verschiedene Zeitschleifen und eine Art höhere Existenz, die ähnlich wie in Resolution über allen rationalen Vorgängen zu schweben scheint. Dabei geraten dem Regie-Duo die inszenatorischen Zügel gelegentlich aus der Hand, wenn große Ambitionen auf ein sichtlich zu niedriges Budget stoßen. Im Kern bleibt The Endless aber trotzdem jederzeit eine Geschichte zweier verzweifelter Brüder, die orientierungslos einen Ausweg aus ihren Leben finden wollen und für die die Suche nach einem Platz auf dieser Welt nur durch die Besinnung auf ein gemeinsames Miteinander Hoffnung vor einem unerklärlichen Chaos bieten kann. [...]

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                        • 5 .5

                          "FOGMA" - abgekürzt für "Fuck Dogma" - brüllen einem die Filme von Jakob Lass entgegen. Für seinen Stil, der dem jungen, Deutschen Kino eine neue, wildere Seite abgewinnen will, bedient sich der Regisseur ausgiebig der Improvisation, seine Drehbücher bezeichnet er selbst nur als "Skelettbücher". Darin enthalten sind meist nur grobe Szenenbeschreibungen, Skizzen unvollständiger Handlungsstränge, die Lass gemeinsam mit den Schauspielern erst bei den Dreharbeiten ausformuliert, mit spontanem Leben füllt und mithilfe von unberechenbarer Energie vorantreibt. In der Theorie gebührt dem Filmemacher alleine aufgrund seines filmischen Ansatzes, der mit der amerikanischen Independent-Strömung des Mumblecore vergleichbar ist und raue Authentizität vor aufwendig durchdachte Form stellt, gebührendes Lob. Die Schattenseite dieses FOGMA-Stils besteht allerdings darin, dass die hierdurch entstandenen Filme von Lass am Ende meist radikaler gedacht als realisiert sind.
                          Während sein Langfilmdebüt "Frontalwatte", das der Regisseur während seines Studiums an der Filmuniversität Babelsberg drehte, noch von dem ziellos-unbestimmten Stil profitierte, mit dem Lass die orientierungslosen Figuren durch Szenen manövrierte, in denen das vermeintlich Banale zum Aufsehenerregenden geriet, machten sich die negativen Aspekte des FOGMA-Stils in seinem Nachfolgewerk "Love Steaks" bereits deutlich bemerkbar. Die stürmische Liebesgeschichte zwischen einem Masseur und einer Köchin, die beide im gleichen Luxushotel angestellt sind, geriet zum unangenehm zerstreuten Chaos, bei dem unbeholfene Dialoge, ein fehlender roter Faden sowie inszenatorisch beliebige Stilmittel massiv an den Nerven des Zuschauers zerrten.
                          Lass' dritter Spielfilm "Tiger Girl" scheint sich zunächst wieder deutlich stärker im Einklang mit dem Regie-Ansatz des Regisseurs zu befinden. Ungebändigt und anarchisch verschreibt sich der erneut improvisatorische Stil des Streifens dem ungeordneten Befinden der beiden zentralen Protagonistinnen, die der Regisseur erst wiederholt aufeinandertreffen und anschließend immer wuchtiger gegeneinander prallen lässt. Die eine von beiden ist Maggie, die es von Bochum nach Berlin gezogen hat, wo sie eine Ausbildung zur Polizistin absolvieren will. Hier scheitert sie jedoch schon bei der Aufnahmeprüfung aufgrund des sportlichen Teils, weswegen sie als Alternative eine Ausbildung bei einer privaten Sicherheitsfirma beginnt. Aus dem schüchternen, unsicheren Mädchen namens Maggie wird nur wenig später Vanilla, wie sie von dem anderen Mädchen getauft wird, das sich selbst nur Tiger nennt. Tiger scheint das genaue Gegenteil der blonden, langhaarigen Maggie zu sein, nicht nur wegen ihrer kurzen schwarzen Haare, sondern vor allem durch ihre wüste Einstellung, mit der sie das Leben offenbar als riesigen Abenteuerspielplatz der Gewalt und Zerstörung begreift.
                          Schnell ist Vanilla fasziniert von Tigers Art, wenn das Mädchen Seitenspiegel von Autos abtritt oder einer aufdringlichen Bande von Jungs mit einem Baseballschläger auf den Leib rückt, als diese Vanilla in der U-Bahn-Station belästigen. Aus Faszination entwickelt sich schnell eine Art Freundschaft, der Lass zugleich mit seiner gewohnten Inszenierung nachspürt. Zittrige Handkamera-Bilder, unsaubere Jump Cuts und ein Electro-lastiger Soundtrack voller unruhiger Beats bilden den ästhetischen Rahmen für ein destruktives Frauenverhältnis zwischen aggressiver Emanzipation und verwirrter Unterwerfung, das der Regisseur über die erste Hälfte seines Films hinweg wie ausgelassen choreografierte Tänze beschreibt. Reichlich störend fällt hierbei aber wieder Lass' ausufernder Hang zum Überstilisierten auf, wenn gewalttätige Auseinandersetzungen durch Zeitlupe und fast schon surreale Martial Arts-Einlagen als gezwungen coole Posen zelebriert werden. Gleichzeitig verkommt das Zittrige, Angespannte, der ständige Drang, mit dem Kopf des eigenen Films gegen die Wand des biederen Deutschen Kinos zu schlagen, zunehmend zur angestrengten Bemühung.
                          Trotz der angenehmen Tatsache, dass der Regisseur seine Hauptfiguren nicht durchpsychologisiert und zwanghafte Ursachen hinter ihren Handlungen sucht, fällt die Entwicklung von Vanilla und Tiger in der zweiten Hälfte des Films nahezu enttäuschend aus. Während sich Tiger aufgrund von persönlichen Rückschlägen letztlich doch als nachdenkliche, reflektierte Zweiflerin entpuppt, die ihre Taten mit einem klaren moralischen Kompass begründet, verliert Vanilla endgültig jegliche Kontrolle über ihren Hang zur willkürlichen Gewalt. Beide Mädchen tauschen für das Finale gewissermaßen die Rollen und der Auftakt spiegelt sich in den letzten Einstellungen auf augenzwinkernde Weise noch einmal wider. Das anarchische Potenzial seines Films schöpft Lass hingegen nie aus. Zu sehr wirkt "Tiger Girl" als Gesamtwerk wie ein gezwungen-bemühter Aufschrei im Stile eines widerspenstigen Pubertierenden.
                          "Denn du weißt nicht, wie man Feuer macht" lauten die ersten Textzeilen aus einem Song der Berliner Elektropop-Band Grossstadtgeflüster, die hin und wieder auf der Tonspur des Streifens zu hören ist. Anlässlich der bloßen Zündeleien des Regisseurs möchte man Lass diese Worte selbst noch einmal deutlich nahelegen.

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                          • 6 .5

                            In Spike Lees schwungvoll-experimenteller Tragikomödie "She's Gotta Have It" befindet sich die attraktive, selbstbewusste Protagonistin Nola zwischen drei verschiedenen Männern. Da ist der äußerst durchtrainierte Greer Childs, geradezu ein Adonis, der sie wie einen schicken Dekorationsgegenstand betrachtet, den er sich gerne in die Sammlung stellt. Außerdem gibt es noch den vorlauten, unreifen Kurierfahrer Mars Blackmon, der für eine Beziehung gar nicht geeignet ist, Nola aber ununterbrochen zum Lachen bringt. Zu guter Letzt ist Jamie Overstreet der dritte Mann in ihrem Leben, der sie liebevoll und zuvorkommend wie ein echter Gentleman behandelt. Ein Gentleman, der alleinigen Besitz von Nola ergreifen möchte.
                            Das Dilemma in Nolas Leben und zugleich die Freiheit von Lees Langfilmdebüt besteht darin, dass sich Nola zwar eigentlich für einen der Männer entscheiden müsste, es aber lieber vorzieht, alle drei gleichzeitig zu daten. Mit seinem Porträt einer afroamerikanischen, selbstbestimmten Frau, die sich völlig ungeniert in ein sexuell ausschweifendes Liebesviereck stürzt, hat der Regisseur den Grundstein für das New Black Cinema gelegt. In dem Filmgenre, das gegen Ende der 1980er- bis zur Mitte der 1990er-Jahre kursierte, rückten afroamerikanische Filmemacher afroamerikanische Figuren in einen klischeebefreiten Mittelpunkt, der vom Mainstream-Kino bis dato weitestgehend ignoriert oder mit stereotypen Darstellungen umgangen wurde. Geradezu progressiv und doch untypisch wirkt es daher, wie sich Lee durch die Kamera von Ernest Dickerson immer wieder förmlich in dem Körper seiner Hauptdarstellerin Tracy Camilla Johns zu verlieren scheint, wenn er Nola ab und an entblößt in Nahaufnahmen einfängt und das Sexleben der Protagonistin mit ungewohnter Freizügigkeit zelebriert. Dabei kommt die Erzählweise von "She's Gotta Have It" von Anfang an eher einem Mosaik gleich, durch das der Regisseur die verschiedenen charakterlichen Facetten von Nola wahlweise in ihren unterschiedlichen Liebhabern spiegelt oder auf gegensätzliche Ansichten prallen lässt. Unvollständig und fragmentarisch wirkt der Rhythmus von Lees Film, so als habe er sich an der Strömung der Nouvelle Vague orientiert, um konventionelle Erzählmuster gezielt aufzubrechen.
                            Zusammen mit der Schwarz-Weiß-Ästhetik, die das verschwindend geringe Budget von gerade einmal 175.000 Dollar gewissermaßen in sich trägt, und dem sprunghaften Jazz-Score ist "She's Gotta Have It" ein Debütfilm im klassischen Sinne. Ein Werk, bei dem die Ecken und Kanten nicht mal ansatzweise abgeschliffen wurden und dem man den ungestümen Tatendrang seines Regisseurs in jeder Szene anmerkt. Durch die gesonderte Aufmerksamkeit, die Lee außerdem den Schauplätzen zukommen lässt und mit der er die spezielle Atmosphäre des Brooklyns der auslaufenden 80er einfängt, strahlt der Streifen eine ähnliche Stimmung wie die Woody-Allen-Filme der 70er aus, in denen die geliebte Heimatstadt des New Yorkers ebenfalls stets zu einem eigenen Charakter wird. Mehr als nur ein reiner "Annie Hall" oder "Manhattan" mit afroamerikanischen Figuren ist "She's Gotta Have It" aber trotzdem einer eigenen Perspektive auf die Befindlichkeiten der Protagonistin verschrieben.
                            Dabei lotet Lee das Begehren von Nola als Kreislauf aus Lust und Enttäuschung aus, bei dem sich die junge Frau am Ende wiederholt die Frage stellen muss, was sie sich von den Männern und mitunter auch Frauen, die Nola ebenfalls begehren, eigentlich verspricht. Als der Streifen gegen Ende zum ersten Mal eine finstere Wendung in problematische Gefilde nimmt und Nola auf brutale Weise in eine Opferrolle rückt, wirkt es, als habe der Regisseur selbst kurzzeitig die Kontrolle über das unberechenbare Temperament seiner Hauptfigur verloren. Ganz zum Schluss, wenn Nola den Zuschauer mit einem letzten Monolog aus dem Film entlässt, triumphiert sie in "She's Gotta Have It" aber trotzdem als eine Frau, die sich optimistisch den Fesseln der Monogamie entledigt und gerade in dem Umstand, ungebunden durchs Leben zu gehen, die größtmögliche Freiheit für sich selbst schöpft.

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                            • 6

                              Mit "The First Purge" wird das dystopische Szenario, bei dem Verbrechen aller Art in den USA 12 Stunden lang legal sind, zurück zu seinem Ursprung geführt. 3 Filme der "Purge"-Reihe drehte Regisseur und Drehbuchautor James DeMonaco zuvor, um das martialische Konzept, mit dem die Verbrechensrate den Rest des Jahres bei unter 1 % gehalten wird, nicht nur rein inhaltlich, sondern auch durch Verwendung verschiedener Genre-Stilrichtungen zu variieren. Für Teil 4, der als Prequel dienen und die Vorgeschichte erzählen soll, hat DeMonaco erneut das Drehbuch geschrieben, doch den Regiestuhl überließ er erstmals dem noch recht unbekannten Gerard McMurray. Dabei erweist sich die Idee, das zuvor stets leicht in der Zukunft verortete Szenario in die Vergangenheit und somit unmittelbar unsere Gegenwart zu verlegen, als gleichermaßen unbequemer wie gelungener Schachzug.
                              Während die "Purge"-Filme bislang reißerisch-plakativ überhöhte Fantasien waren, die sich nah an realen Parallelen entlang bewegten, wirkt "The First Purge" noch zeitgemäßer und dringlicher. Indem der Afroamerikaner McMurray sich ganz bewusst auf eine ebenfalls afroamerikanische Gesellschaftsschicht fokussiert, die er zu den zentralen Protagonisten des Films erhebt, entpuppt sich der nunmehr 4. Eintrag in das Franchise als bewusst politisch aufgeladene Kampfansage, die ebenso wütend wie schonungslos mit einem Amerika der Trump-Ära abrechnet. War der ungefähr zeitgleich in den USA stattfindende Wahlkampf zwischen Donald Trump und Hillary Clinton noch eine bedrohliche Kulisse für den vorangegangenen "The Purge: Election Year", der die Lage der Nation zwischen gespaltener Unentschlossenheit und apokalyptischen Bedenken in exzessive, nahezu cartoonhaft überspitzte Bilder fasste, herrscht in "The First Purge" längst ernüchternde Gewissheit über die chaotische Seele einer zerrissenen Gesellschaft.
                              Dabei positioniert Drehbuchautor DeMonaco die Handlung, in der die Purge-Nacht erstmals als Experiment in dem sozial schwachen Brennpunkt Staten Island getestet werden soll, noch stärker als zuvor zwischen verschiedensten Genres und Stilrichtungen. Auch wenn das Franchise nach wie vor überwiegend als Horrorfilm-Reihe vermarktet wird, lässt sich "The First Purge" zwischen Horror, (Psycho-)Thrill, Gesellschaftskritik, Politsatire und Action-Reißer nie eindeutig definieren. Die eigentliche Charakterzeichnung fällt unterdessen recht simpel aus, wenn der Zuschauer von Anfang an drei klare Identifikationsfiguren vorgestellt bekommt, die später im Film um ihr Überleben kämpfen müssen und mit deren Schicksal das Publikum deutlich mitfiebern soll.
                              Hierbei spielt Lex Scott Davis die Rolle der entschlossenen Aktivistin Nya, die mit öffentlichen Protesten gegen den Versuch einer Purge-Nacht demonstriert, bei der Straftaten wie Mord kapitalisiert werden sollen. Nebenbei muss sie sich außerdem alleine um ihren jüngeren Bruder Isaiah kümmern, der aufgrund permanenter Armut droht, in die Kriminalität abzurutschen. Als Schlüsselfigur erweist sich in dieser Hinsicht der lokale Drogendealer Dmitri, der die kriminellen Geschäfte fest im Griff hat. Wie sich nach kurzer Zeit im Film herausstellt, verbindet den Drogendealer und Nya eine gemeinsame Vergangenheit als Liebespaar.
                              Auch wenn "The First Purge" hinsichtlich der Dramaturgie eher konventionell ausfällt und DeMonaco sichtlich bemüht ist, den Nebenhandlungsstrang rund um die Überwachung des Purge-Experiments durch die Wissenschaftlerin und Purge-Ideenentwicklerin Dr. Updale schlüssig in den Rhythmus der Geschichte einzubinden, besticht der Streifen durchwegs mit der Inszenierung des Regisseurs. Vergleichbar mit Ryan Coogler, der zuletzt Afrofuturismus und eine eigenwillige Soundtrack-Auswahl aus modernen amerikanischen Trap-Beats und afrikanischen Tribal-Klängen ins Marvel Cinematic Universe brachte, wirkt auch McMurrays Regie-Ansatz deutlich persönlichkeitsgetrieben. Das "Purge"-Universum erweitert der Regisseur somit nicht nur um eine willkommene neue Perspektive, bei der ausschließlich diejenigen in den Vordergrund gerückt werden, die von dem Purge-Konzept am härtesten getroffen werden, sondern auch um eine immer wieder elektrisierende Ästhetik, die brutale Dringlichkeit, albtraumhafte Impressionen und treibende Hip-Hop-Musik kombiniert.
                              Auch das inhaltliche Konzept scheint sich McMurray bewusst zu eigen gemacht zu haben. Während die Purge-Nacht in den vorherigen Teilen bereits als feste Konstante bestand, beleuchtet "The First Purge" die Geburtsstunde dieses Szenarios als manipuliertes Machtinstrument, für das der Staat dem Willen der Gesellschaft mit drastischen, aggressiven Maßnahmen entgegenwirkt. Auch wenn das Konzept in diesem 4. Teil einer moralischen Überprüfung erneut kaum standhält, sobald die stattfindende Gewalt wieder einmal nur mit überlegener Gegengewalt beantwortet werden kann, findet McMurray zumindest in der Ergründung der Anfänge einen geschickten Dreh. In einer hervorragenden Sequenz, die auf ihre Weise als humanistische Unterstreichung gelten darf, finden die New Founding Fathers of America (NFFA) bei dem Versuch, sich die ersten Gewalttaten anlässlich der soeben begonnenen Purge-Nacht anzusehen, lediglich Aufnahmen eines Stadtviertels vor, das sich im Angesicht der vorherrschenden Situation dazu entschlossen hat, eine wilde, aber letztendlich friedfertige Block-Party zu feiern.
                              "The First Purge" stützt das Konzept des Franchises somit keineswegs alleinig auf die natürliche Verrohung sowie das Gewaltpotential des Menschen, sondern formuliert eine gezielte Anklage gegen Staat und Politik, die McMurray wiederum in einem gezielt entfesselten Schlussakt attackiert. Wenn der Streifen gegen Ende zu einem reinen Actionfilm zwischen "Die Hard" und "The Raid" verkommt, der die Ermächtigung der afroamerikanischen, unterdrückten Bevölkerungsschicht in einem wutentbrannten, geradezu kathartischen Blaxploitation-Finale feiert und mit dem hoffnungsvollen Song "Alright" von Kendrick Lamar in den Abspann überleitet, erweist sich "The First Purge" einmal mehr als ebenso plakatives wie zielgerichtetes B-Movie, das seine wüste Fassade mit einem wütendem Aufschrei kreuzt. Gleichzeitig bleibt das "Purge"-Franchise gerade auch aufgrund seiner gänzlich unsubtilen und gerade dadurch ungebundenen Freiheiten eine der momentan interessanteren "Horrorfilm"-Reihen.

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                              • 5 .5

                                Als er bei einer Besprechung für seine nächste Mission danach gefragt wird, was zurzeit die geläufigste Schmuggelware sei, die von Mexiko über die US-Grenze gelangt, antwortet der paramilitärische CIA-Offizier Matt Graver korrekt: Menschen. Was vor Jahren noch das Kokain war, welches die USA in einen erbarmungslosen Drogenkrieg zwischen den mexikanischen Kartellen hineinzog, ist nun Menschen gewichen, die als Terroristen ins Land geschmuggelt werden, um gezielte Terroranschläge zu verüben. Mit was für einer Drastik diese Attentate vonstattengehen, beweist Regisseur Stefano Sollima in "Sicario: Day of the Soldado" mit einem grimmigen Auftakt, bei dem sich mehrere dieser Selbstmordattentäter mitunter direkt vor Müttern mitsamt deren kleiner Kinder brutal in die Luft sprengen.
                                Als hätte Denis Villeneuves Vorgänger "Sicario" den Finger noch nicht tief genug in die Wunde gelegt, nachdem der Regisseur den sinnlosen, grausamen Drogenkrieg der USA mit ambivalenten Zwischentönen und aufreibenden Konsequenzen in elektrisierenden Bildern und Tönen einfing, begibt sich der Italiener Sollima in der Fortsetzung noch tiefer in das Tal der Wölfe. Dieser Ort, den der vom CIA angeheuerte Auftragskiller Alejandro bereits im Finale des ersten Teils zur Sprache brachte, wird als konkret greifbarer Höllenschlund ein weiteres Mal zum Schauplatz des Films. Existierte in "Sicario" in Form der von Emily Blunt gespielten FBI-Agentin Kate noch so etwas wie eine moralische Instanz, die durch die immer belastenderen Ereignisse ihres Einsatzes zunehmend an dieser harten Welt der harten Männer zerschellte und der irgendwann nur noch der rechtzeitige Absprung übrig blieb, zeichnet Drehbuchautor Taylor Sheridan im 2. Teil bis auf minimale Ausnahmen eine reine Männerdomäne der moralisch verkommenen Kaltblütigkeit.
                                Um einen wirkungsvollen Schlag gegen die Kartelle auszuüben, die die US-Regierung hinter den anfänglichen Selbstmordattentaten vermutet, hecken Graver und sein Team einen perfiden Plan aus, mit dem sie einen Krieg zwischen den beiden größten Drogenkartellen entfachen wollen. Hierfür greift der CIA-Offizier erneut auf die Unterstützung des eiskalten Todesengels Alejandro zurück, den Graver seinen eigenen Worten nach diesmal vollständig von der Leine lassen will. Dieser Schritt resultiert nicht nur darin, dass der Auftragskiller zunächst den Anwalt einer der beiden Kartelle auf offener Straße in Mexiko erschießt, sondern als wichtigsten Schritt die 16-jährige Tochter Isabela des Kartellbosses Carlo Reyes entführt, um die Schuld wiederum dem anderen Kartell in die Schuhe zu schieben. Wenig überraschend geht die Mission, das Mädchen nach einer Täuschungsaktion von Texas zurück nach Mexiko zu transportieren, unerwartet schief.
                                Nach einer fatalen Eskalation trennen sich die Wege zwischen Alejandro, der mit Isabela an seiner Seite auf sich alleine gestellt wird, und Graver, der sich den Folgen des illegal ausgeführten Einsatzes stellen und mit dem Rücken zur Wand weiterkämpfen muss. Bis zu diesem Punkt und auch darüber hinaus gestaltet sich "Sicario: Day of the Soldado" als ansehnlich inszenierte Fortsetzung, der eine eigene Handschrift sowie gewisse markante Höhepunkte von Villeneuves Erstling jedoch fehlen. Trotz einiger bemerkenswerter Einstellungen macht sich die Abszenz von Kameramann Roger Deakins, der "Sicario" in gelbstichige Bildkompositionen voller feiner Details hüllte, deutlich bemerkbar, während sich die langjährige Weggefährtin Hildur Guðnadóttir des kürzlich verstorbenen Komponisten Jóhann Jóhannsson redlich Mühe gibt, an dessen wummernde Drones und beunruhigende Streicher anzuknüpfen.
                                Nichtsdestotrotz erweckt "Sicario: Day of the Soldado", der sich nie wirklich als Prequel oder Sequel kategorisieren lässt, den Eindruck, als habe sich Sheridan mittlerweile längst in eine Sackgasse geschrieben. Dass diese Welt aus Verrohung und Gewalt, die er hier schildert, unweigerlich nur noch mehr Verrohung und Gewalt zur Folge hat, ist ein Umstand, dem der Drehbuchautor lediglich mit abgestumpftem Pessimismus sowie unentwegt abgebrühter Maskulinität zu begegnen weiß. Auch wenn gerade die beiden Hauptfiguren Graver und Alejandro alles andere als Identifikationsfiguren mit weißen Westen sind, begeht Sheridan in der Fortsetzung zunehmend den Fehler, beide in ein unangenehm auffallendes heroisches Licht zu rücken. Während der von Josh Brolin mit stoischem Charisma verkörperte Graver weiterhin recht eindimensional bleibt, wird in "Sicario: Day of the Soldado" zumindest stellenweise der Versuch unternommen, Benicio del Toros Alejandro mit vielschichtigeren Facetten auszustatten. Obwohl der Auftragskiller schon in "Sicario" einen etwas tieferen Hintergrund erhielt, wird es in Teil 2 noch persönlicher, wenn sich der Todesengel in manchen Szenen geradezu zähneknirschend an einen letzten Funken Menschlichkeit inmitten von persönlicher Tragik zu klammern versucht.
                                Menschlichkeit ist jedoch das Stichwort, das Sollima mit seiner garstigen Inszenierung bewusst im Keim erstickt. Auch wenn "Sicario: Day of the Soldado" in seiner atmosphärischen Wirkung zusammen mit der harten Gewaltdarstellung regelrecht betäubend auf den Zuschauer einwirkt, hinterlässt der Film nicht nur deswegen ein Gefühl der Leere. Hinter der eher überschaubaren Geschichte, die langsam über 2 Stunden Laufzeit hinweg gestreckt wird, verbirgt sich kaum mehr als die Demoralisierung sowie endgültige Zersetzung der menschlichen Seele, die der Regisseur speziell im vor Schreck verzerrten oder vor Todesangst in Tränen versunkenen Gesicht der 16-jährigen Isabela regelmäßig einfängt.
                                Während in "Sicario: Day of the Soldado" erneut ersichtlich werden soll, wie diesmal vordergründig minderjährige Existenzen gebrochen werden oder auf eine Zukunft in pechschwarzer Finsternis zusteuern, sind es am Ende dieses chaotischen Szenarios doch wieder die toughen Männer, die ihre eigenen Absichten entgegen aller Vorschriften durchsetzen, jegliche Grenzen der vertretbaren Rechtfertigung überschreiten und selbst tödlichsten Konsequenzen in konstruierten Entwicklungen trotzen, um innerlich brodelnd über beinahe jegliche Menschlichkeit zu triumphieren. Eine gleichermaßen zermürbende wie überflüssige Fortsetzung.

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                                  [...] Mit Ant-Man and the Wasp bewegen sich die Verantwortlichen aus dem Marvel Cinematic Universe (MCU) atmosphärisch sofort wieder aus jenen unerwartet dunklen Sphären heraus, die Avengers 3: Infinity War zuletzt heraufbeschworen hat. Vollständig von der Bildfläche verschwunden ist der Titan Thanos, welcher die Zukunft des MCU nach einem weitestgehend ernsten Blockbuster, in dem Leben ebenso auf dem Spiel standen wie beendet wurden, mit einem gewaltigen Cliffhanger in purer Ungewissheit hinterließ. Dramatisch wird es zu Beginn der Ant-Man-Fortsetzung höchstens, wenn dem von Paul Rudd erneut sympathisch gespielten Scott Lang die Ideen ausgehen, wie er sich die Zeit während seines gerichtlich angeordneten Hausarrests vertreiben soll. [...] So wirkt Ant-Man and the Wasp zu großen Teilen wie eine überteuerte, sehr lang geratene Episode einer Sitcom, die neben Situationskomik und Wortwitzen zusätzlich durch einen ungemein verspielten Sinn für visuelle Attraktionen auffällt. Ant-Man mag in vielen seiner Szenen der kleinste aller Marvel-Superhelden sein, doch gerade dieser Umstand räumt der Ant-Man-Reihe ungeahnt kreative Freiheiten des visuellen Exzesses ein. Dadurch wirken die rar gesäten Momente innerhalb des Quantum Realms erneut wie ein bunter LSD-Trip, während das unentwegte Spiel mit wechselnden Größenverhältnissen, blitzschnellen Transformationen menschlicher Körper, Insekten oder beliebiger Gegenstände und Objekte diverse wahnwitzige Szenen mit sich bringt. Damit ist Ant-Man and the Wasp letztendlich vor allem ein kalkulierter Stimmungsaufheller, der mithilfe von spaßiger, seichter Kurzweil zwischenzeitlich wieder die Sonne im MCU scheinen lässt, nachdem es zuletzt Thanos war, der sich deren Aufgang mit diabolischer Gelassenheit ansah. [...]

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                                    [...] Ein schwerer Sturz von einem Bullen bei einem Rodeo-Wettkampf versetzt den jungen Cowboy Brady Blackburn in eine existenzielle Lebenskrise. Auch wenn er nach seinem Unfall äußerlich unversehrt geblieben ist und die Metallplatte, die seinen gebrochenen Schädel fortan zusammenhalten muss, nach kurzer Zeit kaum noch sichtbar ist, sind es die inneren Wunden, die in Chloé Zhaos Drama The Rider in jeder Szene schmerzlich spürbar sind. Auf ein Pferd sollte er laut ärztlicher Verordnung nie wieder steigen, sonst droht ihm bei einem weiteren Sturz dieser Art der Tod. Die in China aufgewachsene und mittlerweile in den USA lebende Regisseurin nähert sich dem tragischen Schicksal des verunglückten Rodeo-Reiters und großen Pferdeliebhabers mit einer Einfühlsamkeit, die unentwegt mit melancholischer Schwere durch die wundervoll fotografierten 16-mm-Filmaufnahmen hindurch schimmert. So wird The Rider zum zerbrechlichen Leinwand-Poem, das die persönliche Krise des Protagonisten in einem Mittleren Westen der USA verortet, den Zhao mit vorsichtiger Neugier an zutiefst uramerikanischen Mythen und Werten abtastet. Dabei lässt der Film der Regisseurin nicht nur visuell Spuren von großen Kino-Poeten wie Terrence Malick (Song to Song) erkennen, sondern präsentiert die Handlung zudem als faszinierenden Ansatz zwischen dokumentarischem Realismus und fiktiver Überhöhung. [...] In dieser Hinsicht erinnert The Rider an den letzten, gerne unterschätzten sowie übersehenen Die irre Heldentour des Billy Lynn von Ang Lee. Es mag sicherlich damit zusammenhängen, dass es sich bei beiden Filmemachern um Menschen handelt, die sich einer nationalen Seele mit dem Zugang eines Außenseiters annähern, der ursprünglich aus einem völlig anderen Land stammt. [...] Auch Zhao betrachtet den Western-Mythos der endlosen Prärie mit ihrem Versprechen von ultimativer Freiheit und den glorreichen Cowboy-Stars als Konstrukt, hinter dem sie Seelen voller Narben und Existenzen in der Ausweglosigkeit zum Vorschein bringt. [...] An der Weggabelung seiner Existenz kommt die Regisseurin zusammen mit Brady endgültig zu der Erkenntnis, dass ein Leben der geplatzten Träume und schwerwiegenden Konsequenzen immer noch ein Leben ist, in dem nach innen gerichtete Einsicht sowie Erkenntnis weitaus bedeutsamer sein kann als die vermeintliche Freiheit im Sattel der Prärie. [...]

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                                      18 Jahre sind vergangen, seit Greg Berlanti sein Regiedebüt "The Broken Hearts Club: A Romantic Comedy" veröffentlichte. Nur die Komödie "Life as We Know It" aus dem Jahr 2010 ist von dem Regisseur zwischen seinem Debüt und seinem dritten Film noch fürs Kino erschienen. Untätig war er in der Zwischenzeit jedoch nie, denn Berlanti ist auf dem US-amerikanischen Serienmarkt längst eine wiederkehrende Größe. Als Produzent und Drehbuchautor taucht sein Name aktuell regelmäßig in Serien wie "Supergirl", "Arrow", "The Flash", "Legends of Tomorrow" und "Riverdale" auf. Dass er über die Jahre gerne öfters Filme fürs Kino gedreht hätte, ihm dieser Wunsch aber oftmals verwehrt blieb, liegt ganz offensichtlich daran, dass Berlanti ein offen homosexuell lebender Mann ist, der am liebsten Stoffe verwirklicht, in denen er sich selbst wiederfindet.
                                      Filme mit explizit homosexueller Thematik sind im Studio-System von Hollywood hingegen bis heute Mangelware. Selbst Werke aus den letzten Jahren mit homosexuellen Protagonisten wie "Moonlight" oder "Call Me by Your Name", die beim Publikum und von Kritikern wahre Jubelstürme entfachten oder mit dem Oscar als Bester Film ausgezeichnet wurden, entstehen mit vergleichsweise schmalen Budgets außerhalb der gängigen Hollywood-Strukturen. Somit ist es gleichermaßen verwunderlich wie wenig überraschend, dass Berlantis dritter Kinofilm "Love, Simon" nun mit dem Alleinstellungsmerkmal erscheint, der erste Film eines großen Studios (20th Century Fox) zu sein, der eine homosexuelle Liebesgeschichte zum zentralen Thema macht.
                                      Für die Romanverfilmung der Vorlage von Becky Albertalli bedient sich der Regisseur ausgiebig bei den Mechanismen der Indie-Tragikomödie sowie Coming-of-Age- und Highschool-Filmen, um mithilfe des Drehbuchs der "This Is Us"-Showrunner Elizabeth Berger und Isaac Aptaker seine persönliche Variante eines Coming(-Out)-of-Age-Films zu schaffen. Hauptfigur ist der 17-jährige Simon Spier, der dem Zuschauer gleich zu Anfang per Voice-over versichert, dass er ebenso normal und gewöhnlich sei wie er. Ein streng gehütetes Geheimnis verbirgt der Jugendliche allerdings vor seinem Umfeld: Er ist homosexuell. Seine Eltern und seine jüngere Schwester Nora wissen davon ebenso wenig wie seine engsten Freunde Leah, Nick und Abby, mit denen er zur Schule geht.
                                      Simons Leben erhält einen unerwarteten Dreh, nachdem er davon erfährt, dass auf der Tumblr-Seite "creeksecrets" ein anonymer Mitschüler eine Nachricht hinterlassen hat, in der sich dieser als homosexuell outet, aber ebenso wie Simon in Geheimhaltung lebt. Indem sich Simon entschließt, dem Unbekannten mit dem Pseudonym Blue seine wahren Gefühle zu offenbaren, entwickelt sich zwischen den beiden eine E-Mail-Freundschaft, durch die sich Simon bald in den Menschen verliebt, dessen Identität er gar nicht kennt.
                                      Auch wenn sich "Love, Simon" von der ersten Szene als bekömmlicher Wohlfühlfilm zu erkennen gibt, der mit glatten Bildern aus dem Weichzeichner und einem Soundtrack gespickt ist, der von Bleachers-Frontmann und Erfolgsproduzent Jack Antonoff mit verlässlich eingängigen Indie-Hits versehen wurde, sollte man Berlantis Film trotzdem keineswegs vorschnell als kitschiges Märchen aus einem fiktiven Wunderland abschreiben. Kein großes Geheimnis macht der Regisseur aus der Tatsache, dass er sich speziell gegen Ende ganz bewusst dem großen Kitsch hingibt. "Love, Simon" ist der Film, den Berlanti selbst gerne in den 80er-Jahren gesehen hätte, als das populäre Teenager-Kino eines John Hughes beispielsweise keinerlei Alternativen für homosexuelle Heranwachsende wie Berlanti bot. Der neue Film des Regisseurs ist ein solches Werk geworden, das gerade ein jüngeres Zielpublikum, unter dem sich womöglich viele Zuschauer in ähnlicher Geheimhaltung und Unsicherheit wie Simon befinden, berechtigt in freudige Ekstase versetzen und zu völlig neuem Mut inspirieren könnte.
                                      Neben dem eigentlichen Plot, bei dem Simon zusätzlich in eine Erpressung verstrickt wird, die droht, sein Coming-Out ungewollt an die Öffentlichkeit dringen zu lassen, findet Berlanti aufgrund der homosexuellen Perspektive einen frischen Zugang für die Darstellung vertrauter Gefühle und Probleme junger Menschen. Zusammen mit der gelungenen Leistung von Hauptdarsteller Nick Robinson, der Simon als sympathischen Schönling verkörpert, der in seinem Gesicht immer wieder den traurigen Menschen erkennen lässt, der seine aufrichtigen Gefühle versteckt sowie unterdrückt halten muss, beschreibt "Love, Simon" den Konflikt des Coming-Outs als spürbare Belastung, die irgendwann auch Konsequenzen für Simons Freundeskreis mit sich bringt, dessen Gefühle ebenso leicht verletzt werden können wie die des Jugendlichen. Im Gegensatz zu Luca Guadagninos "Call Me by Your Name" aus diesem Kinojahr, der homosexuelle Gefühlsstürme und jugendliches sexuelles Erwachen als sinnliche Feier der aufgestauten Zurückhaltung, erotischen Gesten und hitzigen Entladungen darstellte, ist "Love, Simon" trotz einiger stereotyp gezeichneten Freiheiten beim Figurenensemble weitaus stärker darauf bedacht, das Innere des Protagonisten als durchaus dramatisches Wechselbad der Gefühle zu schildern. So inszeniert Berlanti das Verschweigen von Simons Homosexualität einerseits wie ein Gefängnis, in dem der Betroffene isoliert und einsam von der Außenwelt mit seinen eigenen Gedanken alleine ist, um die Thematik andererseits in einer charmant-amüsanten Szene einer gewissen Absurdität auszuliefern. In dieser fantasierten Sequenz wechselt der Regisseur kurzerhand die Perspektive und visualiert Coming-Outs heterosexueller Teenager vor ihren Eltern mit entsprechend urkomischen Reaktionen.
                                      In einer der Schlüsselszenen im letzten Drittel des Films gibt Simons Mutter Emily gegenüber ihrem Sohn zu, schon immer gewusst zu haben, dass er ein Geheimnis hütete. In den letzten Jahren konnte sie spüren, wie er stets förmlich die Luft angehalten habe. Jetzt sei die Zeit gekommen, in der er endlich wieder ausatmen könne. Eine berührende Feststellung, die ebenso auf die Struktur von "Love, Simon" zutrifft. Auch Berlantis Film unterliegt diesem Rhythmus, wenn Gefühle unter Anhalten des Atems wie verschluckt wirken, um irgendwann zwischen zärtlichen Bekundungen, ehrlichen Eingeständnissen und knallbunter Romantik zwischen Lichtermeer und Riesenrad aus voller Kraft ausgeatmet und vor allem ausgelebt werden dürfen.

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                                        10 Jahre nach Bryan Bertinos grimmigen Home-Invasion-Terror-Film "The Strangers" folgt von Johannes Roberts jetzt ein Sequel, in dem der maskierte Nihilismus erneut sein Unwesen in den Tiefen uramerikanischer Wertevorstellungen treibt. Trotz einiger überdeutlicher, unpassender Jump Scares war Bertinos Vorgänger geradezu ein Lehrstück, was Atmosphäre und Spannungsaufbau betrifft. Der Film, in dem sich ein Ehepaar in einer persönlichen Krise befindet und mitten in der Nacht zusätzlich von drei maskierten Psychopathen in ihrem eigenen Ferienhaus terrorisiert wird, war die beklemmende Studie einer unaufhaltsamen Gewalt, die sich völlig ohne konkrete Motivation als kaum greifbarer Schrecken manifestiert. In vollkommener Verstörung endete "The Strangers", um beim Zuschauer Ratlosigkeit und Verzweiflung zu hinterlassen.
                                        In der Fortsetzung "The Strangers: Prey at Night" tauchen die drei maskierten Psychopathen erneut auf, um diesmal einer vierköpfigen Familie das Leben zur Hölle zu machen. Überschneidungen zu Bertinos Erstling lassen sich dabei jedoch beinahe ausschließlich in der ebenso deprimierenden Atmosphäre finden. Von Anfang an inszeniert Roberts die furchteinflößenden Antagonisten als phantomhafte Übermacht, die sich überall dort Zugang verschaffen kann, wo zuvor vermeintliche Sicherheit herrschte. In der Geschichte des 2. Teils befindet sich die zentrale Familie auf dem Weg zum Trailer-Park, wo Onkel und Tante wohnen. Hier wollen die Eltern Cindy und Mike noch einmal Zeit mit ihren jugendlichen Kindern Kinsey und Luke verbringen, bevor das Problemkind Kinsey auf ein neues Internat geschickt wird.
                                        Schon bei der Wahl des Settings entpuppt sich "The Strangers: Prey at Night" verglichen mit dem Vorgänger als ganz und gar andersartig angelegter Film. Die klaustrophobische Ausweglosigkeit des Ferienhauses von Kristen und James tauscht der Regisseur gegen ein weitläufiges Trailer-Park-Areal ein, das er zugleich als gespenstisch ausgestorbenen Nicht-Ort inszeniert. An diesem Schauplatz stellt das Drehbuch von Ben Ketai und Bertino die vorbelastete Familie auf eine qualvolle Zerreißprobe, sobald die ruhige Dunkelheit der Nacht wieder einmal von grässlich penetranten Klopfgeräuschen an der Tür durchbrochen wird und die albtraumhaften Maskenträger ihr sadistisches Spiel ankündigen.
                                        Mit Leichtigkeit ließe sich diesem Sequel vorwerfen, dass die vorherrschende Logik sowie das wiederholt unüberlegte Figurenverhalten den üblichen Klischees des Horror-Genres entstammt und einmal mehr frustriert anstatt gruselt. Damit würde man Roberts allerdings Unrecht tun, denn der Regisseur inszeniert sich in diesem Potpourri verschiedenster Genre-Stilrichtungen und konkreter Zitatanhäufungen regelmäßig nahezu in Rage und treibt den geradlinigen Plot mit einer Stringenz voran, die ebenso kompromisslos auf den Zuschauer einstürmt wie sie immer wieder rohe Emotionen freilegt.
                                        Am offenkundigsten bedient sich Roberts hierbei aus dem Fundus des 80er-Jahre-Horrors, ohne seinen Film jemals zum reinen Schaulaufen nostalgischer Reize verkommen zu lassen. Die Songs, die in "The Strangers: Prey at Night" immer wieder auf der Tonspur erklingen, stammen von Bonnie Tyler oder Kim Wilde. Trotz des wesentlich dominanteren Einsatzes als noch in "The Strangers" sind 80s-Hits wie "Kids in America" oder Power-Balladen wie "Total Eclipse of the Heart" im Kontext des Films erneut eher irritierende Anleihen, die wie Echos aus einer längst vergangenen Zeit wirken.
                                        Genauso, wie sich das exakte Jahrzehnt der Handlung von "The Strangers: Prey at Night" nie wirklich genau bestimmen lässt, pendelt der Film selbst ständig zwischen verschiedenen Spielarten des Horrors hin und her. Mithilfe einer durchdachten Kameraarbeit sowie Lichtsetzung gestaltet Roberts sein Sequel zwischen garstigem Slasher und intensivem Terror-Ausdauerlauf. Neben dem maskierten Trio, das der Regisseur mit überlegter Wirksamkeit in und um die Einstellungen herum platziert, mein man als Zuschauer, die Präsenz ikonischer Vorbilder wie Michael Myers und Leatherface ebenfalls in dieser unheilvollen Wohnwagensiedlung spüren zu können.
                                        Gerade wenn sich im Finale eine Figur auf die Ladefläche eines Pick-up-Trucks retten kann und hysterisch sowie blutüberströmt zu schreien beginnt, scheint das ekstatische Finale von Tobe Hoopers "The Texas Chainsaw Massacre" wie ein Spiegelbild aus Roberts' Film hervorzubrechen. Explizite Verweise wie diesen lassen sich vielfältig von "Friday the 13th" über "Christine" bis hin zu "Scream" erkennen, wodurch "The Strangers: Prey at Night" als Gesamtwerk bisweilen droht, rein oberflächlichen Reizen und Mechanismen zu unterliegen. Wenn die Familienmitglieder in Roberts' Film mit schmerzlichem Verlust konfrontiert, Kinder erst im Überlebenskampf und schließlich durch den Tod von ihren Eltern getrennt werden und zwischenmenschliches Drama von unerklärlichem Horror überschattet wird, ist jedoch auch dieses Sequel eine gekonnt eindringliche Bebilderung tief sitzender Urängste, die Verstand und Logik in den einsamen Schatten stellen.

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                                          [...] Den Weg der ausgebeuteten Arbeiterklasse hin zum entschlossenen Aufstand und Streik, der den menschenverachtenden Tageslohn von einem Dollar aus dem Weg schaffen soll, beschreibt und inszeniert Franco dabei in ungewohnt konventioneller Manier. Von seinen bisherigen Romanverfilmungen ist Stürmische Ernte der geradlinigste, zugleich aber auch enttäuschendste Streifen geworden, der sich von Anfang an ein klares Ziel setzt und dies ohne schnörkellose Umwege mithilfe zweckdienlicher, zumeist arg oberflächlich angerissener Figuren zu erreichen versucht. Während sich Filme wie As I Lay Dying, Child of God und The Sound and the Fury aufgrund von ausgefallenen Erzählperspektiven, erbarmungslos-knochentrockenen Stimmungsbildern und inszenatorisch verspielten Stilmitteln oftmals wie spitze Steinchen im Sehnerv des Zuschauers verkeilten, fehlt Stürmische Ernte die nötige Ambition, um aus dem straffen Gewand einer vor sich hin plätschernden Geschichtsstunde auszubrechen, in der der Lehrer die Aufmerksamkeit der anwesenden Schulklasse bereits nach der Hälfte der Zeit verloren hat. Tatsächlich fühlt sich der Film über weite Strecken wie ein aufgeführtes Theaterstück an, für das Franco, der selbst die Rolle des Mac McLeod übernommen hat, viele seiner befreundeten Schauspielkollegen vor der Kamera versammeln konnte. [...] Als Gesamtwerk ist Stürmische Ernte als Aufschrei der Ungerechtigkeit einer unterdrückten und gerade im Kino nach wie vor unterrepräsentierten Gesellschaftsschicht gewiss ein löbliches Unterfangen, das Franco jedoch auf unerwartet banale Weise in ein erzählerisches Korsett kleidet, welches zwischen rebellischer Zuversicht, tödlichen Rückschlägen und dramaturgisch belanglos unterentwickelten Zuspitzungen stets den einfachen Weg nimmt. Bis es ganz zum Schluss wieder einmal die Texttafeln richten müssen. [...]

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                                            [...] Die überaus exklusive Met Gala, bei der sich jedes Jahr etliche Stars in sündhaft teurer, möglichst extravaganter Abendgarderobe tummeln, gibt den idealen ästhetischen Rahmen für Ross‘ Film ab. Nach einem holprigen Auftakt, bei dem es dem Regisseur eher mühselig gelingt, sein sehr spielfreudig aufgelegtes Ensemble gleichzeitig stimmig einzuführen und unter Kontrolle zu halten, findet Ocean’s 8 als butterweich vor sich hin gleitende Heist-Komödie zumindest inszenatorisch einen bestechenden Puls. Mithilfe von eleganten Kamerafahrten, ausgeklügelten Einstellungen und der makellosen Ausstattung, die wenig überraschend vor allem in den jederzeit perfekt ausgesuchten Outfits der Darstellerinnen zur Geltung kommt, fühlt sich der Film bisweilen wie das Blättern durch ein stilvoll arrangiertes Hochglanz-Lifestyle-Magazin an. Ein Eindruck, der wiederum auffällig zum boulevardesken Crime-Setting des Films passt, das vor Glanz und Glamour nur so strotzt. [...] Dem zwischen verschlagener Lässigkeit, humorvoller Selbstironie und angemessen aufreizender Laszivität pendelnden Cast steht jedoch immer noch eine Handlung gegenüber, die sich bestenfalls als akzeptables Mindestmaß umschreiben lässt. Recht früh wird deutlich, dass sich hinter der edlen Aufmachung und dem schwungvollen Taktgefühl lediglich unambitionierte Erzählkonventionen verbergen, denen jegliche Art von überraschendem Spannungsbogen vollkommen fehlt. [...] In einer Szene des Films, in der Kalings Figur erfährt, dass Taylor Swift ebenfalls bei der Met Gala zu Gast sein wird, fragt sie enttäuscht, ob die Gruppe überhaupt etwas stehlen müsse und warum sie nicht einfach so zur Gala gehen könnten. Einer der ehrlichsten Momente des Films, dem man sich als Zuschauer gerne fragend anschließt. [...]

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                                              [...] 14 Jahre sind vergangen, seitdem Brad Bird mit Die Unglaublichen den Superhelden im Animationsfilm ein kleines Denkmal setzte, das für viele Pixar-Fans bis heute eines der besten Werke aus der Animationsschmiede darstellt. Viel ist passiert in dieser Zeitspanne, die den Superhelden-Film aufgrund des Marvel Cinematic Universe, mehr oder weniger gelungenen Konkurrenzversuchen durch das DC Extended Universe und Fox-Vertretern wie die X-Men-Reihe und Deadpool flächendeckend im gegenwärtigen Blockbuster-Kino verankert hat. Eine Entwicklung, von der sich Pixar und Bird mit der Fortsetzung zu Die Unglaublichen auf ebenso simple wie überraschende Weise lösen. Die Unglaublichen 2 ignoriert den realen Lauf der Zeit, indem das Sequel unmittelbar an das Ende von Teil 1 anknüpft und die Superhelden-Familie im Kampf gegen den Maulwurf-Schurken Der Tunnelgräber zeigt, der ganz zum Schluss des Vorgängers eingeführt wurde. Das einleitende Set-Piece zum Auftakt der Fortsetzung gibt dem Regisseur und seinem Team zugleich die Möglichkeit, das Publikum mit der gewohnten Mischung aus gewitzter Rasanz, chaotischem Humor und liebenswürdigem Charme mitten ins Geschehen zu schleudern. [...] Während Bird den Handlungsstrang rund um Elastigirl in erster Linie für turbulent in Szene gesetzte Actionszenen nutzt, die aufgrund der tollen Animationen auch im Jahr 2018 neben all der Realfilm-Konkurrenz wirklich gelungen sind, ist es aber vor allem der andere Handlungsstrang, welcher neben den doch recht vorhersehbaren Entwicklungen ungleich unterhaltsamer ausfällt. Der Familienalltag mit Mr. Incredible als gestressten, überforderten Hausmann strotzt nur so vor gelungenen Gags, wobei Bird hierbei die wohl größte Stärke seiner Fortsetzung in vollem Maße ausspielt. Während Superhelden-Fähigkeiten an sich in den Marvel-Filmen aufgrund der eigentlichen Figurendynamik mehr und mehr als Selbstverständlichkeit in den Hintergrund gerückt sind und das DCEU diese verstärkt als schwere Bürde versteht, zelebriert Die Unglaublichen 2 die ungewöhnlichen Fähigkeiten der Figuren immer noch als aufregendes, staunenswertes Alleinstellungsmerkmal. Obwohl der Regisseur die warmherzige Chemie zwischen seinen Figuren dabei nie aus den Augen verliert, läuft das Sequel immer dann zur Höchstform auf, wenn der wunderbar entfesselte Score von Michael Giacchino seine wildesten Töne anschlägt und Baby Jack-Jack als erneuter heimlicher Szenenstehler beispielsweise im Kampf gegen einen Waschbär vollkommen die Kontrolle über seine vielen verschiedenen Superkräfte verliert und alles im puren Chaos versinkt. Aufgrund der unterschiedlichen Themen, die Bird als alleiniger Drehbuchautor in dem Film unterbringt, läuft Die Unglaublichen 2 über die insgesamt kurzweiligen 2 Stunden der Laufzeit hinweg nicht immer ganz rund. Zwischen all dem vergnüglichen Spektakel will der Regisseur gleichzeitig von Eltern erzählen, die Verantwortung für ihre Kinder übernehmen wollen, von Kindern, die sich im Gegensatz dazu um ihre Eltern kümmern müssen, von Superschurken und ihrem hypnotischen, manipulativen Umgang mit der medialen Wirkung und der gefährlichen Linie zwischen Verehrung und Verachtung strahlender Ideale. Wo andere Filme unter dieser überladenen Last mit Sicherheit zusammenbrechen würden, lässt sich Bird allerdings kaum von seinem eingeschlagenen Kurs abbringen und gleicht erzählerische Defizite mit ungebremstem Herzblut wieder aus. So ist Die Unglaublichen 2 eine rollende Lawine aus charmanten, spaßigen Einzelteilen, die sich ähnlich wie der Superheld Mr. Incredible trotz verursachten Schäden von nichts abhalten lässt. Eine schöne Fortsetzung. [...]

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                                                Ari Asters Spielfilmdebüt "Hereditary" beginnt mit einer Kamerafahrt, die langsam auf das Innere eines Miniaturhauses zusteuert. Dabei handelt es sich um eine originalgetreue Nachbildung des Hauses, in dem die Künstlerin Annie mit ihrem Mann und den beiden Kindern lebt. Ein Haus, in dem zu Beginn des Films neben anderen vagen Gefühlen Trauer Einzug gehalten hat, nachdem Annies Mutter verstorben ist. Die Beerdigung der Frau, die zu den einzelnen Familienmitgliedern recht unterschiedliche Verhältnisse gepflegt hat, gibt die tonale Richtung für einen Film vor, der sich zwischen dunklem Familiendrama, übernatürlichem Geisterspuk und grotesken Ausreißern in nahezu komödiantische Gefilde kaum greifen lässt.
                                                In den letzten Jahren arbeitete der Indie-Verleih A24 mit Produktionen wie Under the Skin, Tusk, The Witch und It Comes at Night ebenso konstant wie beeindruckend daran, das Horror-Kino im Mainstream gegen die üblichen Sehgewohnheiten zu bürsten, Erwartungen des Publikums zu unterlaufen und ernste Arthouse-Ansprüche mit altbekannten Genre-Mechanismen zu kombinieren. "Hereditary" fügt sich in diesem Zusammenhang ideal in das bisherige Schema von A24 ein, denn Asters Debüt wird von einer ungestümen Newcomer-Mentalität geprägt, bei der ein Regisseur seine persönlichen Einflüsse und Vorlieben offenbart und gleichzeitig derart gewagt miteinander kreuzt, als hätte er ohnehin nichts zu verlieren.
                                                Bei einem Film wie diesem, der sich bisweilen so anfühlt, als würden vor den eigenen Augen mindestens drei verschiedene Filme zeitgleich gegeneinander ankämpfen, um die Oberhand zu gewinnen, ist die Wahrscheinlichkeit nicht gerade gering, dass das betroffene Werk in seine chaotischen Einzelteile zerfällt. "Hereditary" aber funktioniert ganz hervorragend, da sich der Regisseur zunächst ausgiebig Zeit für seine Figuren nimmt und das vielschichtige, zutiefst geschädigte Bild einer Familie zeichnet, in der unausgesprochene Konflikte und schwer vernarbte Wunden regelmäßig aus den stilvollen, gebändigten Einstellungen hervorzubrechen drohen.
                                                Nach dem Tod ihrer Mutter, die sie wenig später im Film als distanzierte, kalte Frau beschreiben wird, scheint sich ein dichter Schleier über den Familienhaushalt von Annie zu legen. Wie der Titel von Asters Film bereits ankündigt, geht es in dem Werk des Regisseurs vor allem um das Erbe, mit dem die zentrale Familie zurückgelassen wird. Während sich Annie vor ihrem ebenfalls distanzierten Mann Steve heimlich in eine Trauergruppe flüchtet, um ihre Gefühle sowie ihre bewegte Vergangenheit recht konkret vor fremden Menschen ausdrücken zu können, zeigt sich der jugendliche Sohn Peter vom Tod der Großmutter recht unberührt. Viel schwerer getroffen ist die 13-jährige Charlie, die Zeit ihres Lebens wie Omas Liebling behandelt wurde. In einer frühen Szene des Films fragt sie ihre eigene Mutter, wer sich nach dem Tod der Großmutter denn nun um sie kümmern würde. Mit ihrem verschrobenen Verhalten, das Charlie als Außenseiterin brandmarkt, gehen jedoch auch einige unheimlichen Facetten einher, die sich immer wieder in kleineren Momenten voller irritierender Schauer offenbaren. Normalität scheint sich in der Graham-Familie schon lange zu einem Fremdwort entwickelt zu haben, während an jeder Ecke der schleichenden Einstellungen ein unangenehmes Geheimnis darauf wartet, gelüftet zu werden und geisterhafte Erscheinungen in die vermeintliche Gewissheit der Realität eindringen.
                                                Mit elegischem Tempo, bei dem sich zwischen die Bilder immer wieder Töne der unheilvollen Dissonanz mischen, die unweigerlich Schlimmeres androhen, inszeniert Aster seinen Film als brüchiges Familienporträt, in dem sich vergangene und gegenwärtige Traumata sowie zwischenmenschliche Spannungen immer intensiver zuspitzen, bis der Regisseur sein Publikum früh, vermutlich sogar zu früh, mit einer brachialen, tragischen Wendung konfrontiert, die viele Zuschauer zutiefst erschüttern und aufwühlen dürfte. Nach einer solchen Entwicklung, und diesem Umstand ist sich Aster offenbar vollstens bewusst, scheint in einem Film wie "Hereditary" tatsächlich alles möglich zu sein und dieser Devise folgt der Regisseur anschließend mit unbeirrter Furchtlosigkeit.
                                                Im Zentrum gehört "Hereditary" aber auch zu weiten Teilen der Hauptdarstellerin Toni Collette, die in ihrer Rolle als Annie trauert, wütet, tobt, leidet, schreit und flucht, während sich der Film gerade im Zusammenspiel zwischen Annie und dem von Alex Wolff in seiner bislang vermutlich besten Schauspielleistung verkörperten Sohn Peter zu einem Wirbelwind der bizarren Gefühlsschwankungen entwickelt. Wie die Schnittmenge aus dem emotionalen Gewicht von "The Babadook", dem geisterhaften, übernatürlichen Schrecken aus "The Conjuring" und den tonalen Schwankungen zwischen Komödie und Horror aus "Housebound" wirkt "Hereditary" schließlich, als Annie von einer Bekannten aus ihrer Trauergruppe von einer Art Séance erfährt, bei der man mit Verstorbenen Kontakt aufnehmen kann.
                                                Auch wenn Asters Film im finalen Drittel zunehmend mit garstigen Horror-Momenten und grotesken Höhepunkten aufwartet, von denen einige das Potential besitzen, dass sie der Betrachter selbst Tage nach der Sichtung noch nicht wieder abgeschüttelt hat, bleibt "Hereditary" bis zum wundervoll entrückten, vollends dem symbolischen Grauen verschriebenen Schluss ein Film über eine Familie, die zwischen ungeklärten Schwierigkeiten, schwerwiegenden Vorwürfen, ungewollten Missverständnissen und schier unlösbaren Hindernissen zerfällt und in der das Verdrängte, Ungewollte sowie Unvermeidliche auf exzessive, dämonische Weise an die Oberfläche befördert wird.

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                                                  In scheinbar perfekter Harmonie schreitet das frisch verheiratete Ehepaar Florence und Edward zu Beginn von Dominic Cookes "On Chesil Beach" im Jahr 1962 über den malerischen Strand, der dem Film seinen Titel verleiht. In der Adaption von Ian McEwans gleichnamiger Novelle dauert es jedoch nicht allzu lang, bis in der Beziehung zwischen den noch recht jungen Verliebten erste Risse sichtbar werden. Hierfür schränkt der Regisseur den Handlungsraum anfangs noch stark ein und verwandelt die Geschichte in ein kammerspielhaftes Szenario, das zunächst nur das Hotelzimmer umfasst, in dem die beiden Hauptfiguren ihre Hochzeitsnacht verbringen wollen. Doch schon das Abendessen bringt erste Unstimmigkeiten mit sich. Nachdem der Auftritt der beiden Kellner noch humorvoll überspitzt wird, sorgt eine Diskussion zwischen dem Ehepaar darüber, ob sie zum Essen im Zimmer bleiben oder doch nochmal raus an den schönen Strand gehen sollten, für eine seichte Meinungsverschiedenheit, die sich zum klar erkennbaren Streit hochschaukelt.
                                                  Aus der Gegenwart heraus führt Cooke den Zuschauer dabei in regelmäßig eingestreuten Rückblenden zurück in die Vergangenheit der beiden Protagonisten, um immer wieder in das zentrale Hotelzimmer zurückzukehren, in dem die Anspannung stetig wächst. Mithilfe der Rückblenden entsteht parallel langsam das Bild von zwei Menschen, die aus sozialen Milieus stammen, welche kaum unterschiedlicher sein könnten. Während Florence aus finanziell wohlhabendem Hause stammt, in dem sich die Eltern für ihre musikalisch begabte Tochter natürlich ebenfalls einen Mann aus ähnlich situierten Verhältnissen wünschen, ist Edward ein einfacher Junge vom Land, der Musik lieber hört, anstatt sie selbst zu praktizieren. Verkompliziert wird die Situation in seiner Arbeiterfamilie zusätzlich durch seine Mutter, die nach einem Unfall einen Gehirnschaden davontrug und dadurch immer wieder geistige Aussetzer hat, durch die sie unter anderem nackt und verwirrt durch den Garten läuft oder Gesichter einfach nicht mehr wiedererkennt.
                                                  Auf zaghafte Weise zeichnet der Regisseur in "On Chesil Beach" die romantische Entwicklung zwischen Florence und Edward vor dem Hintergrund der sexuellen Revolution nach, die in England erst Jahre später um 1969 herum stattfand. Sex oder vielmehr die Absenz von Sex ist es schließlich auch, die den entscheidenden Keil zwischen das Ehepaar zu treiben scheint. Auch wenn die Hochzeitsnacht gewissermaßen dazu dienen soll, dass Florence und Edward zum ersten Mal miteinander schlafen, wobei dieser Anlass für beide generell das erste Mal darstellt, offenbaren die unterschiedlichen Einstellungen der Partner gegenüber der Liebesnacht endgültig tiefere Probleme inmitten von schreckhafter Prüderie zwischen ihnen.
                                                  Trotz der interessanten Erzählstruktur, die der linearen Handlung immer wieder den Anstrich eines Puzzles voller kleiner Mosaike aus Liebe, Zärtlichkeit, Frust und Schwierigkeiten verleiht, wirkt "On Chesil Beach" allerdings oftmals zu ziellos. Auch sporadisch eingestreute Szenen, die Florence in jüngerem Alter sowie ihren Vater betreffen und ein dunkles Geheimnis andeuten, erscheinen durch ihren blitzartigen Einsatz geradezu willkürlich. Im Gesamtwerk sind es eher einzelne Momente, die aus der schlichten Geschichte hervorstechen. Wenn Edward Florence beispielsweise erstmals mit zu sich nach Hause bringt und seine Freundin auf dessen erneut stark verwirrte Mutter trifft, entspringt aus dieser Begegnung eine gefühlvolle Annäherung, die entgegen des offensichtlich ausgestellten Kitschs wirklich zu berühren vermag, sobald sich Edward alleine zum Teekochen in die dunkle Küche zurückzieht, wo er seinen Tränen in einem heimlichen Gefühlsausbruch endlich freien Lauf lassen darf.
                                                  Mit fortschreitender Laufzeit wird Cookes Film neben der stilvollen Ausstattung und schick anzusehenden Einstellungen aber beinahe nur noch durch die pointierten Schauspielleistungen der beiden Hauptdarsteller getragen. Insbesondere Saoirse Ronan beweist sich einmal mehr als eine der talentiertesten Schauspielerinnen ihrer Generation, indem sie Florence eine sensible Unsicherheit verleiht und von ihrer seltenen Qualität profitiert, durch die sie gleichzeitig wie ein junges Mädchen und eine reife Frau zur gleichen Zeit auftreten kann. Die Unentschlossenheit sowie fatale Kommunikationsschwierigkeiten, die "On Chesil Beach" zunehmend in Richtung Tragödie drängen, vertraut der Regisseur dafür hingegen zu wenig den Figuren im Hier und Jetzt des Jahres 1962 zu. Stattdessen verpasst Cooke den idealen Ausstieg und manövriert die Geschichte aus McEwans Drehbuch in eine Abfolge von Zeitsprüngen von äußerst wechselhafter Qualität. Diese enden zuletzt in jener Art von künstlich wirkendem Make-up, das die eigentlich auf tragische Art bewegende Schlusspointe zum aufgesetzten Maskenball verkommen lässt, der den ansonsten subtil von innen heraus hervor gespielten Charakterfacetten im Finale endgültig die nötige Wirkung raubt.

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                                                    "You see? I'm not the victim of this story. I'm the hero."

                                                    In "The Tale" erzählt Jennifer Fox von Jennifer Fox. Die Geschichte der 48-jährigen Dokumentarfilmerin und Professorin, die sich schlagartig mit einem ebenso tragischen wie schicksalsträchtigen Ereignis aus ihrer Jugend auseinandersetzen muss, als ihre Mutter eine alte Kurzgeschichte von ihr entdeckt, ist biografischer Hintergrund der Regisseurin und Handlung dieses Films zugleich. Mit den Worten “I’d like to begin this story by telling you something so beautiful” beginnt die 13-jährige Jennifer ihren essayistischen Text, in dem das Mädchen von zwei Erwachsenen erzählt, die sie sehr ins Herz geschlossen hat. Gemeint sind hierbei die Reitlehrerin Mrs. G, auf deren Reiterhof sie in den 70er Jahren die Sommerferien verbrachte, und der Trainer Bill, der die jungen Mädchen beim Ausdauerlauf fit hält.
                                                    Zunächst entwickelt das Mädchen einen engen Draht zu der Lehrerin, die gleichermaßen sympathisch wie kühl wirkt und ihren Reitschülern beibringt, dass Schmerz lediglich etwas ist, das es durchzustehen gilt. Noch sympathischer wirkt Bill, der auf jedes individuelle Bedürfnis der Mädchen ausgiebig einzugehen scheint und sie gleichzeitig wie ein großer Motivator zu Höchstleistungen antreibt. Als Jennifer wenig später von den beiden auch noch in ein Geheimnis eingeweiht wird, nachdem die eigentlich verheiratete Mrs. G und der attraktive Junggeselle Bill ihr verraten, dass sie ein Liebespaar sind, sieht sich das Mädchen umgehend als etwas Besonderes. Dieser innige Bund, in dem sich das Trio fortan zu befinden scheint, wird für die 13-jährige Jennifer nur noch inniger, als sie alleine vermehrt Zeit mit Bill verbringt, der sich immer stärker am Körper des Mädchens interessiert zeigt.
                                                    Auf non-lineare Weise breitet die Regisseurin die Handlung von "The Tale", in dem eine hervorragende Laura Dern die erwachsene fiktionalisierte Version von Fox spielt, zwischen Vergangenheit und Gegenwart aus. Mithilfe ihrer eigenen Erinnerungen, den Worten aus dem Essay ihres 13-jährigen Ichs und Erzählungen von Personen, die zum damaligen Zeitpunkt anwesend waren und von Fox Jahrzehnte später jetzt noch einmal besucht werden, versucht sich die Dokumentarfilmerin einen Vorfall neu zu erschließen, der sie für immer geprägt hat. In diesem Zusammenhang sollte es nicht zu viel verraten sein, dass es sich bei der schwerwiegenden Thematik dieses Films um eine Geschichte des sexuellen Missbrauchs handelt.
                                                    Über 40 Jahre hat es gedauert, bis Fox die Kraft gefunden hat, diese Geschichte erzählen zu können. Aufgrund ihrer eigenen Berufung als Dokumentarfilmerin ist die Regisseurin für gewöhnlich spezialisiert auf Stoffe, die der Realität entstammen und denen eine wahrhaftige Authentizität zugrunde liegt. Für ihre eigene Geschichte hat sie nun aber die Form des Spielfilms gewählt, um durch den Kunstgriff der Dramaturgie sowie die Erzählweise, die einer selbsttherapeutischen Auseinandersetzung gleicht, in der eigenen Psyche nach Antworten auf lange verdrängte Fragen zu forschen. Mit diesem radikalen Ansatz, der schonungslose Selbstoffenbarung zur Folge hat und das in Bilder fasst, was zuvor nur als schwach verblassende Fetzen im Kopf der Protagonistin sortiert werden muss, wird "The Tale" zu einem ebenso bewegenden wie erschütternden Filmexperiment.
                                                    Ähnlich wie der leider immer noch zu unbekannte Dokumentarfilm "Tarnation", in dem Jonathan Caouette die Beziehung zu seiner schizophrenen Mutter sowie eine langjährige Historie des Missbrauchs verarbeitet hat, um womöglich sein eigenes Leben zu retten, ist auch Foxs mutiges Werk von schier transzendierender Kraft. Mit "The Tale" öffnet die Regisseurin große Teile ihres Lebens für ein breites Publikum, doch zugleich wird der Film auch von einem sehr intimen Zugang vorangetrieben, bei dem sich Fox ganz und gar abgeschottet von äußeren Einflüssen nur mit sich zu beschäftigen scheint. Dass diese Methode auch dringend nötig ist, beweist der non-linare Handlungsfluss aus zersplitterten Erinnerungsfetzen und Ereignissen, die mitunter aufgrund falscher Annahmen noch einmal neu bewertet werden müssen. Gegen Ende des Films, wenn das schreckliche Ausmaß von Jennifers Erlebnissen eigentlich bereits umfassend aufgeschlüsselt wurde, befindet sich die ältere Protagonistin über eine Rückblende noch einmal im Gespräch mit ihrem 13-jährigen Ich. Nachdem sich das junge Mädchen triumphierend damit rühmt, die eigentliche Heldin und nicht das Opfer dieser Geschichte zu sein, wirft ihr die erwachsene Jennifer vor, das Vergangene lediglich in der Zeit einzufrieren, ohne den Kontext und die weiterführenden Folgen zu berücksichtigen. Es ist die erschütternde Erkenntnis eines Menschen, der mit sich in diesem Moment am härtesten ins Gericht geht. Diese Art von Bilanz, die von unreifer Unkenntnis über bewusste Manipulation einer gerade erst Heranwachsenden bis hin zu explizitem Missbrauch führt, hinterlässt zuletzt das Bild einer furchtlosen Frau, die im Kampf gegen ihr eigenes Selbstbild wiederholt ins Stolpern gerät, auf Widersprüche stößt und doch bemerkt, dass es noch nicht zu spät war, das eigene Vergessen und Schweigen zu durchbrechen.

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