Patrick Reinbott - Kommentare

Alle Kommentare von Patrick Reinbott

  • 7 .5
    über Tully

    Was für Millionen von Frauen die vertraute Realität ihres Alltags ist, wird in Jason Reitmans neuem Film "Tully" bisweilen zum unerträglich anzusehenden Horror. Der Mutterschaft als simplen Begriff verleiht der Regisseur in einigen Montagen dieser Tragikomödie, die wie auch schon Reitmans "Juno" und "Young Adult" von Diablo Cody geschrieben wurde, nachdrückliches Gewicht. Der Kreislauf aus kurzen Schlafphasen und schrillen Schreien, welche die Mutter aus diesen reißen, Geräusche, die aus dem Babyphone dringen, volle Windeln, die gefühlt tonnenweise im Müll entsorgt werden müssen und Milch, die sich die Mutter selbst abzapfen muss, inszeniert Reitman kurz nach der Geburt von Marlos drittem Kind in nervenzehrender Intensität. "Tully" beschreibt jedoch auch den Punkt darüber hinaus, der Moment, an dem all die Kräfte, die liebevolle Fürsorge, die Müttern ihren Neugeborenen entgegenbringen wollen oder vielmehr sollen, einen Menschen endgültig brechen.
    Marlo, die Protagonistin des Films, hat mittlerweile das 40. Lebensjahr überschritten und frühere Träume längst begraben. Die von Charlize Theron gespielte Frau wirkt keineswegs rein zufällig wie eine etwas ältere Version der ebenfalls von Theron verkörperten Autorin Mavis, die schon in Reitmans "Young Adult" von der Gegenwart abgehängt wurde und unentwegt den jüngeren Jahren ihres Lebens nachtrauert. In "Tully" sind diese mit Verzweiflung gespickten Gedanken der Hoffnung, ein Schritt zurück in frühere Zeiten sei vielleicht irgendwie noch möglich, kaum mehr als Illusionen, die Marlo resigniert akzeptiert hat. Als Hausfrau, Mutter und Ehefrau muss sie gleich drei verschiedene Rollen erfüllen, von denen Marlo nicht nur ausgelastet, sondern überlastet wird. Zwei Kinder hat sie bereits, von denen der kleine Jonah aufgrund seiner Verhaltensauffälligkeit gesonderte Aufmerksamkeit benötigt, und hochschwanger zeigt Reitman die Protagonistin am Anfang des Films mit einem dritten Kind im Bauch. Ein Kind, das, wie sich wenig später herausstellt, nicht geplant war. Der sichtliche Stress hat sich zusätzlich auf Marlos Eheleben ausgewirkt, wodurch ihr Mann Drew in vielen Szenen des Films wie ein passiver Gast in seiner eigenen Familie wirkt, der zu der bedeutenden Dynamik, in die Marlo Tag für Tag verwickelt ist, keinen Zugang mehr findet.
    Dabei ist es vor allem Cody, die mit fortschreitendem Alter weiterhin als Drehbuchautorin zu reifen scheint, ohne ihren eigenwilligen Stil vollständig aufgeben zu müssen, hoch anzurechnen, dass sie Marlo glücklicherweise komplex genug zwischen warmer Bemühung und niedergeschlagener Überforderung anlegt. Hinzu kommt auch noch Theron, die für ihre Rolle gut 25 Kilo zunahm und ihr übergewichtiges Erscheinungsbild nicht einfach nur ausstellt. Stattdessen löst sie mit wohl überlegten Bewegungen und durch das, was aus ihrem Gesicht abzulesen ist, beim Betrachter vielschichtige Reaktionen zwischen Entsetzen, Mitleid, Mitgefühl und Verständnis aus. In sich zu ruhen scheint Reitmans Film aber erstmals, als die titelgebende Night Nanny Tully an Marlos Haustür klingelt.
    Die Idee hierzu stammt von Marlos reichem Bruder Craig, der seiner Schwester zur Geburt ihrer Tochter Mia ein entlastendes Geschenk bereiten möchte. Craig versichert seiner Schwester, dass sie diese Nanny kaum bemerken würde. Wie eine gute Fee würde sich diese unsichtbar bei Nacht um alles kümmern, um am nächsten Morgen schon wieder verschwunden zu sein. Bei Marlo löst der Gedanke an die Einstellung einer solchen Nanny jedoch nur unweigerlich Assoziationen zu einem dieser kitschigen Lifetime-Filme aus, in denen sich die freundliche Bilderbuch-Nanny nach kurzer Zeit als gefährliche Psychopathin entpuppt. Was zunächst nur nach einer der typischen Cody-Dialogzeilen mit popkulturellem Einschlag anmutet, stimmt durch den ersten Auftritt der Nanny, die Marlo nach einem Nervenzusammenbruch doch noch anheuert, tatsächlich skeptisch. Mackenzie Davis spielt Tully als beschwingte, freigeistige Hipster-Mary-Poppins, die bei der Protagonistin genauso wie beim Zuschauer früh den Eindruck erweckt, als sei diese zu perfekt, um wahr zu sein.
    Trotzdem entwickelt "Tully" gerade im Zusammenspiel zwischen Theron und Davis einen warmen, bewegenden Puls, dem man mehr und mehr verfällt. Als Marlo zum ersten Mal in diesem Film wieder aufblüht und Farben sehen kann, wie sie in einer Szene selbst sagt, passt sich auch Reitman dem veränderten Rhythmus der Geschichte an und inszeniert seinen Film zunehmend als Abfolge von sanft vor sich hin fließenden Szenen. Neben den regelmäßig eingestreuten Traumsequenzen, in denen eine Meerjungfrau unter Wasser verkommt, ist der Film trotz der eher unruhigen Kamerabewegungen plötzlich weit entfernt von den hektischen Schnittfolgen, mit denen der Regisseur den höllischen Alltag seiner Protagonistin abbildete.
    Und doch können wundervolle Szenen wie die, in der Marlo zum Beispiel mit ihrer kleinen Tochter beim Karaoke zu Carly Rae Jepsens Call Me Maybe in purer Lebensfreude aufgeht, oder Marlo und Tully in einer wilden Party-Odyssee quer durch Bushwick schließlich auf Fahrrädern durch Marlos alte Nachbarschaft rasen, nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Finale von "Tully" noch mindestens eine neue Wahrheit auf den Zuschauer wartet. So diskussionswürdig die geschickt verborgene Entwicklung des Finales auch ist, führt sie am Ende dieses zutiefst menschlichen, empathischen Films über die komplexen Facetten von Mutterschaft und der Begegnung zwischen Vergangenheit und Zukunft zum vielleicht schönsten Satz des Films, der von Drew geäußert wird: "I love us"

    14
    • 6

      [...] Als Mischung aus American Psycho und Heathers wird Vollblüter auf dem Poster beschrieben und auch wenn der Vergleich wieder einmal einem hochtrabenden Marketing-Schritt entspricht, strahlt Finleys Debüt tatsächlich Züge aus den kalten, zunehmend von der Realität entkoppelten literarischen Welten von Bret Easton Ellis aus. Ähnlich wie die Romane des amerikanischen Schriftstellers beschreibt auch Finley eine abgestumpfte Oberschicht, die sich mehr und mehr jeglicher moralischer Züge entledigt und nur noch in abschreckenden Extremen neue Formen des inneren Ausdrucks findet. Ein gemeinsames Ziel innerhalb ihrer abseitigen Freundschaft finden Amanda und Lily schließlich in Lilys arroganten, reichen Stiefvater Mark. Nachdem Amanda sofort bemerkt, dass Lily diesen abgrundtief hasst und er dem Mädchen zudem androht, sie in ein weiter entfernes Internat zu schicken, nachdem Lily wegen Plagiatsvorwürfen von ihrer bisherigen Schule ausgeschlossen wurde, überlegen sie sich einen mörderischen Plan. Mit dem Vorhaben, den verhassten Stiefvater einfach um die Ecke zu bringen und dafür den vorbestraften Drogendealer Tim anzuheuern, der in den Augen der Mädchen sowieso nichts mehr zu verlieren hat, steuert die Handlung von Vollblüter in zunehmend vorhersehbare Bahnen. Inhaltlich altbewährte Erzählpfade sowie das zusätzlich betont langsame Tempo des Films vermag der Regisseur hierbei lediglich durch geringfügige Abweichungen von vertrauten Klischees und seine bemerkenswerte Handschrift zu kaschieren. Dabei lassen die auffällig stilvollen Einstellungen und Kamerafahrten in keiner Szene auf einen Regie-Debütanten schließen und erinnern eher an formverliebte Filmemacher wie beispielsweise Park Chan-wook (Stoker) oder Yorgos Lanthimos (The Killing of a Sacred Deer). Höhepunkt der Inszenierung ist jedoch der Score von Erik Friedlander, der dem Streifen mit äußerst percussionslastiger Musik einen ganz eigenwilligen, mitunter fremdartig verschrobenen Rhythmus verleiht und dort beklemmende Spannung andeutet, wo sich womöglich sonst nur banaler Realismus abzeichnen würde. Als Gesamtwerk fehlt es Vollblüter aber an der konsequenten Weiterentwicklung der sichtbaren Abgründe, die zu oft endgültige Ausbrüche erahnen lassen und am Ende doch unter der befremdlich sterilen Oberfläche eingeschlossen bleiben, die Finley zum dominierenden Stilprinzip erhebt. So stellt dieser Film eines jener typischen Debüts dar, die viel Potenzial zwischen einer schon jetzt sehr markant entwickelten eigenen Handschrift erkennen lassen und bei denen lediglich der erzählerische Feinschliff fehlt, um beeindruckende Form und außergewöhnlichen Inhalt zu vereinen. Das Finale dieses Films kommt in dieser Hinsicht einem ersten Schritt in die richtige Richtung gleich, die Finley jetzt nur noch weiterverfolgen muss, um sich in Zukunft eventuell mit den ganz Großen innerhalb dieser Nische des psychotischen, andersartigen Indie-Films messen lassen zu können. [...]

      12
      • 8

        [...] Die Passion der Jungfrau von Orléans beginnt zu jenem Zeitpunkt, an dem sich Jeanne längst in Gefangenschaft befindet und vor einem Gericht gegenüber den Anschuldigungen der Ketzerei aussagen soll. Den Ablauf dieses Gerichtsprozesses schildert Dreyer dabei filmisch in Einstellungen, die eher einzelnen Gemälden gleichen, in denen die Gesichter der Personen als Geschichten für sich dienen. Ein Gesicht wird der Betrachter des Films dabei vermutlich nie mehr vergessen. Es gehört Maria Falconetti, die Jeanne d'Arc in ihrer einzigen Filmrolle überhaupt spielt. Mithilfe der Hauptdarstellerin, die den Leidensprozess der angeklagten Freiheitskämpferin sowie Tiefgläubigen völlig ohne hörbare Worte nur durch ihre Gesichtsausdrücke vermittelt, wird Die Passion der Jungfrau von Orléans zu einem Werk, in dem der historische Kontext mehr und mehr verblasst. Stattdessen hat Dreyer die Stummfilmära um einen, gerade formal, nahezu revolutionären Meilenstein bereichert, der den individuellen Glaubenskrieg im Angesicht von institutioneller Unterdrückung verhandelt. [...] Falconetti, der in diesem Film eine der erschütterndsten, wuchtigsten Darbietungen der gesamten Filmgeschichte gelingt, wird zur tragischen Oberfläche komplexer innerer Seelenlandschaften. Dass die Hauptdarstellerin nach der Beteiligung an Dreyers Werk nie wieder in einem anderen Film mitwirkte, da sie vom Regisseur angeblich äußersten Strapazen bei den Dreharbeiten ausgesetzt wurde und mitunter stundenlang auf dem Boden knien musste, verwundert nicht. Je nachdem, wie viel Wahrheit in diesen Hintergründen steckt, tragen die erschwerten Bedingungen jedoch verstärkt dazu bei, dass von der Hauptfigur eine beispiellos hypnotisierende sowie mitreißende Präsenz ausgeht. Wenn Jeanne neben all dem ausgestrahlten Leid beim Gedanken an den bevorstehenden Tod zusätzlich eine seltsame Ekstase ausstrahlt, die durch Falconettis weit aufgerissene Augen blitzt, dann wird Die Passion der Jungfrau von Orléans auch zu einem Werk, das sich dem Märtyrertum in all seinen beängstigenden, traurigen wie ekstatischen Facetten nähert. 1928 verbrannte die Originalfassung des Films in den ufa-Studios von Berlin, wonach der Regisseur eine neue Version aus Reststücken anfertigte, die 1929 ebenfalls verbrannte. Erst 1951 wurde eine Kopie der Zweitfassung geborgen, während noch einmal 30 Jahre später eine gut erhaltene Kopie der Erstfassung entdeckt wurde, die anschließend ausgiebig restauriert und neu veröffentlicht wurde. Fast scheint es, als könne das Schicksal Dreyers Werk ebenso wenig anhaben wie die Flammen der Seele von Jeanne d'Arc, die sich aus dem verbrannten Körper am Ende des Films doch noch zum Himmel erhebt. [...]

        10
        • 8

          [...] In Bewegungsabläufen, die einer sanften, geschmeidigen Choreografie gleichen, fährt ein Gabelstapler in der Eröffnungsszene von Thomas Stubers In den Gängen durch die verschiedenen Regalreihen eines Großmarkts. Die bekannten Klänge von Johann Strauß' Walzer An der schönen blauen Donau verleihen den anfänglichen Bildern eine ruhige Gelassenheit sowie nahezu surreale Poesie, die dem denkbar unpoetischen Arbeitsalltag der Mitarbeiter in diesem Großmarkt eigentlich kaum ferner sein könnte. Doch genau darum, das unerwartet Schöne und Berührende zwischen dem für gewöhnlich Banalen und Unscheinbaren hervorzuheben, geht es dem Regisseur in seinem Drama. Umringt von feiner Melancholie, leiser Komik und unterschwelliger Tragik widmet sich Stuber den Menschen hinter den Arbeitern, von denen es scheint, dass sie sich durch die unterschiedlichen Abteilungen und Gänge einfach treiben lassen. Dabei wird der Großmarkt, in dem sich ein Großteil der Szenen ereignet, zum Mikrokosmos diverser Gefühle und Geschichten, von denen der Regisseur jede einzelne glücklicherweise so behandelt, als sei sie unbedingt erzählenswert. [...] Wenn die Verhältnisse zwischen Abteilungen wie Süßwaren oder Tiefkühlkost, das nur Sibirien genannt wird, in freundschaftliche oder feindselige Verbindungen zueinander gesetzt werden, verleiht der Regisseur ihnen dadurch umgehend die Qualität eigenständiger Länder oder Orte. Diese Kunst, den jeweiligen Orten und Plätzen innerhalb dieses überschaubaren und doch von ganz speziellen Merkmalen geprägten Mikrokosmos eine außergewöhnliche oder markante Bedeutung über ihre eigene Funktion hinaus zu verleihen, zeichnet Stubers Film genauso aus wie ein ungemein feinfühliger Umgang mit den Menschen, die diesen mit Leben füllen. [...] Die meiste Zeit überlässt der Regisseur den Film aber seinen drei großen Hauptdarstellern Franz Rogowski (Transit), Sandra Hüller (Toni Erdmann) und Peter Kurth (Herbert). Letzterer verkörpert seine Figur mit einer Mischung aus brummiger Sympathie, warmer Empathie und stiller Sehnsucht nach etwas Verlorenem, wobei Bruno zunehmend sowie gerade gegen Ende des Films für die emotionalsten Erschütterungen verantwortlich ist. Rogowski und Hüller spielen Christian und Marion als Gegensätze, die sich trotz aller Unwahrscheinlichkeiten anziehen und über lange Blicke oder kurze Berührungen gegenseitig erkunden. In kaum einer anderen Szene von In den Gängen wird diese zärtliche Spannung, die Rogowski und Hüller ganz fantastisch zum Ausdruck bringen, deutlicher als an Marions Geburtstag, an dem sie in der Küche vor dem Kaffeeautomaten von Christian mit einem Yes-Törtchen überrascht wird, das dieser mit einer einzelnen Kerze zum Geburtstagskuchen gestaltet, den er mit seinem Teppichmesser in zwei Hälften schneidet. Einzig und allein die Blicke und Bewegungen der Schauspieler genügen in diesem Moment, um etwas vollständig ohne Kitsch aufflammen zu lassen, das schon kurz danach zwischen Getränkekästen, Hubwägen und Gabelstaplern, einem Aquarium voller Fische sowie zahlreichen Nudelsorten, die sich kaum auseinanderhalten lassen, wieder verschwindet. [...]

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          • 8 .5

            [...] Den Rahmen des inhaltlich Greifbaren hat Letztes Jahr in Marienbad während diesen Szenen längst verlassen. Resnais, der für das Werk ein Drehbuch von Alain Robbe-Grillet verfilmt hat, nimmt dieses Szenario lediglich als Aufhänger für ein meditatives Traumspiel, in dem sämtliche Gegensätze, das Erträumte und das Traumhafte, das Konkrete und das Angedeutete, das Vergangene und das Gegenwärtige, das Geschehene und das Ersehnte, in einem surrealen Filmrätsel verschwimmen. Verschiedene Zeit- und Bewusstseinsebenen zerkleinert der Regisseur in schimmernde Puzzleteile, die sich zu gleichen scheinen und sich trotzdem niemals zu einem Ganzen zusammensetzen lassen. Die Bilder, die der Film zeigt, und die dazugehörigen Worte des Mannes, die der Zuschauer hört, treiben in ihrer angeblichen Zusammengehörigkeit regelmäßig auseinander und öffnen eine Kluft zwischen Wahrhaftigkeit und Lüge, in der Resnais‘ Film hervorragt. Manchmal sind es daher nur die markdurchdringenden Klänge einer Orgel, die annähernd eine lineare Konstante ergeben und wie ein schauriger Taktstock durch dieses irritierende Mysterium führen. Hinter meterhohen Mauern der Klarheit und dichten Verschleierungen des Verständlichen, zwischen denen sich Figuren verbergen, die inmitten der edlen Räume oftmals selbst wie lebloses Interieur erscheinen, ist die Liebe, die der Erzähler offenbar erneut erwecken oder gar erzwingen möchte, nur noch als blasser Wunsch spürbar. Neben den wiederkehrenden Bildern von Spiegeln, in denen Figuren als Dopplung ihrer selbst erscheinen oder multiple Abspaltungen der eigenen Persönlichkeit enthüllen, verliert sich auch Letztes Jahr in Marienbad in der labyrinthischen Struktur des eigenen filmischen Daseins unentwegt selbst. Vage Anzeichen des Abgründigen, eine Pistole, von der die Frau erschossen wird, oder das gleißende Licht eines weißen Scheins, der das Bild mehrfach erhellt und dabei auch einmal das verängstigte Gesicht der Frau, deuten körperliche Brutalität und sexuelle Gewalt an, die Drehbuchautor Robbe-Grillet erst in seinen späteren eigenen Regiearbeiten wie L'éden et après explizit ausformulieren sollte. In Resnais‘ Film bleiben diese kurzen Anflüge jedoch nichts weiter als Interpretationsmöglichkeiten in einem an Interpretationsmöglichkeiten ungemein reichen Werk. Beschreibt Letztes Jahr in Marienbad eine Art Fegefeuer, in dem die verstorbenen Seelen des Mannes und der Frau noch einmal aufeinandertreffen sollen und sich doch stets verpassen? Eine Affäre, in der Eifersucht zum Mord führt? Eine Vergewaltigung, die als Trauma aufgearbeitet werden soll? Eine Erinnerung, die falsch gedeutet wird und an der Wahrheit vorbeiführt? Jede Möglichkeit der Deutung erhält ihre Berechtigung, doch am Ende ist dieser kühle und zugleich formvollendete Traum in Filmform allem voran eine Reise in das avantgardistische, surreale Konstrukt eines Kinos, in dem Anfang und Ende kreisartig an verschiedenen verschlossenen Türen vorbeiführen, deren äußere Gestaltung der Betrachter frustriert bestaunt. [...]

            21
            • 9
              • 9

                Bereits der Auftakt von William Friedkins Thriller-Meisterwerk "The French Connection" ist von einer chirurgisch präzisen und trotzdem ungemein desorientierenden Ausstrahlung, bei der die Perspektive zu keinem Zeitpunkt eindeutig festgesetzt zu sein scheint. In Marseille beginnt die Geschichte des Films, wo ein Mann, der offenbar Undercover-Polizist im Einsatz ist, eine kleine Bande Krimineller beschattet. Dass es sich bei dem Anführer der Gangster um Alain Charnier handelt, der das größte Heroin-Syndikat der Welt leitet, wird erst mit weiterem Verlauf der Handlung aufgeklärt. Zu Beginn von "The French Connection" sind es erst einmal nur Menschen und ihre Handlungen, die Friedkin in konzentrierten Einstellungen beobachtet. "The French Connection" besteht aus dem beständigen Wechselspiel aus Beobachten und Beobachtetwerden, in dem der namenlose Polizist zunächst als stummer Jäger gezeigt wird. Aus sicherer Entfernung behält dieser seine angebliche Beute vorsichtig in den Augen, kauft sich im Zuge seiner Tarnung verschiedene Arten von Nahrung wie ein Stück Pizza oder ein Baguette und läuft wenig später durch die labyrinthisch anmutenden Gassen der malerischen Hafenstadt.
                Doch schon in diesen Szenen macht sich beim Betrachter unverzüglich Misstrauen breit. Die brillante Kamera von Owen Roizman ist allem Anschein nach längst selbst zu einem bedrohlichen Beobachter verkommen, der den vermeintlichen Jäger verfolgt, bis es für diesen schließlich kein Entkommen mehr gibt. Einen Schuss später, der wie ein brutaler Weckruf erscheint, wechselt das Setting von Friedkins Film nach Brooklyn, wo Jimmy „Popeye“ Doyle und Buddy „Cloudy“ Russo, zwei Polizisten des Drogendezernats von New York, einem brisanten Fall auf die Spur kommen. Es wird um eine große Menge Heroin gehen, das eine hohe Reinheit von 89 Prozent besitzt und zwischen zwei Gangstern den Besitz wechseln soll. Erneut handelt es sich um jenen Alain Charnier, der im Prolog des Films als nahezu übermächtige Instanz auf dem Spielfeld der kriminellen Machenschaften eingeführt wurde.
                Die eigentliche Kriminalhandlung, die auf einem Erfolgsroman von Robin Moore basiert, welcher sich wiederum einen wahren Fall zum Vorbild nahm, rückt in "The French Connection" allerdings recht bald an den Rand der Geschehnisse. Für den eher simpel gehaltenen Plot reduzieren Friedkin und Drehbuchautor Ernest Tidyman Dialoge auf das Nötigste und breiten bedeutende Entwicklungen vor allem über die visuelle Bildsprache aus. Das Katz- und Mausspiel zwischen dem Polizisten-Duo Popeye und Cloudy sowie den Kriminellen inszeniert der Regisseur dafür als vielschichtige Grauzone, in der die Grenzen zwischen Gut und Böse fortwährend unklarer verschwimmen. Auch wenn sich Popeye eigentlich auf der Seite des Gesetzes befindet, wird er im Film frühzeitig als moralisch durchaus verwerfliche Figur angelegt, die durch rassistische Bemerkungen unangenehm auffällt, sich mit rauer Gewalt Zugang zu wichtigen Informationen verschafft und generell wie ein ständig unter Strom stehender Mensch erscheint, bei dem der nächste Wutausbruch nur Sekunden entfernt sein könnte. Hintergründe der Charaktere beleuchtet Friedkin nur spärlich, wenn er den von Gene Hackman herausragend gespielten Popeye in einer kurzen Szene in seiner Wohnung beispielsweise lediglich als verkatertes Wrack zeigt, das von einer attraktiven, vermutlich bezahlten Frau mit den eigenen Handschellen ans Bett gefesselt wurde.
                Neben diesem kurzen Exkurs ins Privatleben des Polizisten wird Popeye aber vor allem als getriebener Berufsmensch dargestellt, der sich um jeden Preis an einen Fall heftet, da er offensichtlich schon länger viel zu tief in dem Kreislauf gefangen ist, welcher aus dem gegenseitigen Beobachten und Beobachtetwerden besteht, das Friedkin von Anfang an als zentralen Erzählrhythmus etabliert. Dabei verkommt der Schauplatz New York, optisch vergleichbar mit den kühlen Noir-Fantasien eines Jean-Pierre Melville, zum bleichen Moloch zwischen ständigem Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, in dem die fragmentarisch angeordneten Schnittfolgen eine einzigartige Stimmung der bedrohlichen Paranoia und zugleich befremdlichen Verlorenheit erzeugen.
                Aus diesem betörenden Tagtraum des immer sinnloser erscheinenden Katz- und Mausspiels reißt Friedkin den Betrachter jedoch unentwegt mit fiebrig-fesselnden Spannungsspitzen, wenn eine Verfolgung zu Fuß in einer U-Bahn-Station zum famosen Bewegungsballett der Tricks und Täuschungen wird, während eine spätere atemlose Verfolgungsjagd, in der Popeye im Auto einer Hochbahn hinterher rast, derart mitreißend und spektakulär in Szene gesetzt ist, dass die Filmgeschichte bis dato wenig Vergleichbares fabrizieren konnte.
                Am Ende ist "The French Connection" ein Werk, in dem all die obsessiven Bemühungen des Protagonisten, der bei seinem letzten Einsatz bereits einen Kollegen verlor und auch diesmal wieder mindestens ein menschliches Opfer zu verantworten hat, radikal ins Leere führen. In einer grandiosen Montage zeigt Friedkin zuvor im Film, wie Popeye auf einer Straße gegenüber von einem Restaurant steht und die Kriminellen beschattet, die sich im Inneren feinste Speisen bringen lassen, während sich der Polizist mit einem schlecht schmeckenden Heißgetränk zufriedengeben muss, das er mit offen zur Schau gestellter Abneigung auf die Straße schüttet. Ganz zum Schluss ertönt in Friedkins Film noch ein letzter Schuss außerhalb des Bildes. Er führt, ebenso wie die Ermittlungen selbst, ins Nichts.

                19
                • 8

                  [...] Zu den donnernden, tosenden Klängen des Songs Mein Herz brennt der Band Rammstein rennt die 16-jährige Lilja zu Beginn von Lukas Moodyssons Lilja 4-ever durch die Straßen Schwedens. Das Gesicht des Mädchens ist von Blessuren gezeichnet, während ihr Blick Leere und Verzweiflung ausstrahlt. Zwei Gefühle, von denen die ratlose, gehetzte Protagonistin schließlich an den äußeren Rand einer Autobahnbrücke getrieben wird. Ein abrupter Schnitt, der in eine Schwarzblende übergeht, führt die Situation jedoch vorzeitig ins Ungewisse und den Zuschauer drei Monate zurück in die Vergangenheit. Der schwedische Regisseur leitet seinen Film gleich zu Anfang in den Abgrund und der Titel des keine fünf Minuten alten Werks erweist sich als tragischer Scherz. Diesen ritzt die Hauptfigur in einer Szene des Films in eine Parkbank, wobei die ungelenke Kritzelei für Lilja in diesem Moment das Bedeutsamste ist, was die junge Russin in ihrer Lebenslage der Nachwelt noch hinterlassen kann. [...] In der Hölle auf Erden gelangt die Protagonistin derweil an einen Punkt, an dem ihr nichts mehr bleibt außer ihr Körper, den sie fremden Männern gegen Bezahlung überlässt. Von ihrer Freundin wird Lilja, die lediglich in Orten und Dingen wie russische Techno-Clubs und amerikanisches Fast Food von McDonald's kurzzeitig eine Form der Realitätsflucht findet, mit der Prostitution vertraut gemacht. Trügerisch scheint der Regisseur das erste Mal von Lilja, an dem sie die Kontrolle über ihren Körper gegen Geld aufgibt, noch mit einem radikalen Stimmungswechsel ausgleichen zu wollen. Zeichnet sich im Gesicht der Protagonistin in der dazugehörigen Szene nichts als Ausdruckslosigkeit ab, während sie mit dem fremden Mann Sex hat, so ist Liljas Gesicht in der darauffolgenden Szene geradezu freudestrahlend. In dem Supermarkt, in dem sie in einem früheren Moment des Films noch eine Packung Saft wieder ins Regal zurückstellen muss, da sie nicht genug Geld dabei hat, packt sie nun alles in den Einkaufskorb, was sie sich wünscht, um sich an der Kasse mit genügend Geld auch noch eine Packung Zigaretten zu leisten. Im atmosphärisch stetigen Auf und Ab von Lilja 4-ever, für das der Regisseur die bisweilen unerträglichen Tiefschläge mit ebenso konsequenter wie schonungsloser Härte inszeniert, folgt auf jedes Anzeichen von Optimismus umgehend der Schritt zurück in den Käfig des Lebens. Lilja kämpft gegen das Aufgeben an, doch ihren Gefühlen, die längst taub zu sein scheinen und unter die sich trotzdem noch so etwas wie Glücksgefühle mischen, als sie den deutlich älteren Andrej kennenlernt, unterliegt sie zwangsläufig. In Moodyssons erdrückendem Sozialdrama ist für falsche Hoffnung kein Platz mehr und so weiß der Zuschauer lange vor Lilja, was die Hauptfigur vermutlich nur ahnt. Ein Versprechen, das keines ist, eine Reise, die ins Nichts führt und ein Körper, in dem das Herz und die Seele schwinden. Vielleicht werden die Menschen im Himmel wirklich zu Engeln. [...]

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                  • 7
                    über Der Fan

                    "Ich bin so unglücklich, dass ich nicht einmal mehr weinen kann."

                    Hoffnungslos und verloren schwärmt die jugendliche Schülerin Simone dem Neue Deutsche Welle-Star R hinterher. Mehr als dieser eine Buchstabe ist in "Der Fan" bis kurz vor Ende des Films nicht von dem Namen des Sängers bekannt, was ihn zunächst umso stärker zu einer symbolischen Erscheinung werden lässt. In Gedanken versunken läuft die Protagonistin von Eckhart Schmidts Film durch die Gegend, fantasiert von einem gemeinsamen Leben mit R und erkundigt sich jeden Tag am Schalter der Post oder beim Briefträger persönlich, ob nicht ein Brief für sie von dem Star gekommen sei. Viele Liebesbriefe hat sie ihm selbst schon geschrieben, doch alle blieben sie bisher unbeantwortet. Die Schuld dafür gibt sie einer von Rs Liebhaberinnen, die die Briefe wegen ihrer ständigen Eifersucht vor dem Sänger verstecken würde.
                    Gedankengänge wie dieser präsentiert der Regisseur dem Betrachter des Films mit permanentem Voice-over der Hauptfigur, wodurch sich "Der Fan" bereits nach den ersten Szenen als Falltür direkt in das ebenso vereinsamte wie verwirrte Innenleben von Simone erweist. Schmidt zeichnet den Charakter des Mädchens mithilfe einer konsequent subjektivierten Inszenierung nach, indem er der Protagonistin nicht nur in kaum einer Szene von der Seite weicht, sondern sämtliche Geschehnisse aus dem Blickwinkel von Simone schildert. Durch trostlose Bilder mit blasser Farbgebung und dem Synthesizer-Score der NDW-Musikgruppe Rheingold wird "Der Fan" unweigerlich zu einem überaus kalten Filmerlebnis, bei dem sich die traurige Isolation sowie realitätsferne Entfremdung der Protagonistin in jedem Bild widerspiegelt. Unter dem Titel "Trance" wurde Schmidts Film in den USA veröffentlicht, was den atmosphärischen Schwebezustand des Werks vortrefflich einfängt.
                    Nachdem Simone noch einmal vergeblich 7 Tage auf eine Antwort von R wartet, findet sie heraus, dass der Sänger für eine TV-Aufzeichnung in München sein wird. Per Anhalter fährt das Mädchen, das ohnehin schon lange die Schule schwänzt und immer wieder mit ihren Eltern in Streit gerät, in die bayrische Stadt, um ihr angehimmeltes Idol nach so langer Zeit endlich wirklich zu treffen. R, der in zuvor gezeigten Auftritten wie ein Roboter wirkte, welcher die Textzeilen seiner Songs ohne jegliche Emotion sowie starr vor Bewegungslosigkeit wiedergegeben hat, entpuppt sich nach und nach als arroganter, abgehobener Mensch, wobei das Problem dabei eher auf dem Begriff "Mensch" lasten sollte. Während Simone bislang immer einer verklärten Idealvorstellung nachjagte, muss sie langsam feststellen, dass sich hinter der mythologischen Popstar-Gestalt auch nur ein Mensch mit gewöhnlichen Makeln verbirgt.
                    Bevor sich Schmidts Film schließlich in jenes geradezu monströse Werk verwandelt, dessen Kinoveröffentlichung die Hauptdarstellerin Désirée Nosbusch nach den Dreharbeiten unbedingt verhindern wollte, scheint sich für Simone doch noch der Himmel auf Erden zu öffnen. Nachdem sie vor R in Ohnmacht fällt, als sie ihm das erste Mal persönlich gegenübersteht, hat die Protagonistin dessen Interesse so stark geweckt, dass er das Mädchen nach der TV-Aufzeichnung mit in seine Wohnung nimmt. Hier kommt es dazu, dass Simone mit R Sex hat und ihre Träume offensichtlich endgültig zur Realität geworden sind.
                    Was die erst 16- oder 17-Jährige allerdings erst danach schmerzlich realisiert, ist die Tatsache, dass sie für den Star nur von kurzem Interesse war. "Du hast mich sehr glücklich gemacht" sagt R zu Simone, ganz so, als würde er eine seiner Songzeilen vortragen, mit denen er zuvor schon das Herz des Mädchens für sich erobert hat. Als er anschließend ankündigt, ohne sie in einen längeren Urlaub fahren zu wollen, obwohl er ihr eben erst einen Wohnungsschlüssel überlassen hat, bricht aus "Der Fan" das Grässliche, Monströse hervor, das den Streifen zu einem kleinen Skandal innerhalb der deutschen Filmkultur der 80er Jahre machte. Im psychotisch-kannibalistisch ausgedehnten Schlussakt wird das romantische Pop-Ideal verschlungen, um in einem Akt der ausgebrannten, monotonen Neuverwertung doch noch wiedergeboren zu werden. Eine gleichermaßen abgründige wie bittere Metapher für die Musikindustrie an sich, die ihre Künstler verschlingt und wieder ausspuckt sowie den Fans Träume beschert, die zu dunklen Obsessionen werden und im Zusammenprall mit der Realität zu endlosen Albträumen mutieren, die ganz neue Monster hervorbringen.

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                    • 5

                      Damit das Star Wars-Franchise im Besitz von Disney verlässlich Jahr für Jahr am Laufen gehalten wird, folgt mit "Solo: A Star Wars Story" 2018 bereits der vierte Eintrag in die Sternensaga seit 2015. Dabei handelt es sich wie auch schon bei "Rogue One: A Star Wars Story" um einen der Anthologie-Filme, die zwischen den eigentlichen Episoden der Filmreihe für sich alleine stehen sollen und das ikonische Universum durch Abbiegungen oder Ausschweifungen im besten Fall sinnvoll erweitern. Dabei bewegte sich das von Gareth Edwards inszenierte Spin-off, in dem die Geschichte zwischen den Ereignissen von "Star Wars - Episode III: Revenge of the Sith" und "Star Wars - Episode IV: A New Hope" erzählt wird, schon in problematischen Gefilden. Während der Regisseur die gegebenen Freiheiten eines Spin-offs nutzte, um dem Film den Anstrich eines schwermütigen, düsteren Kriegsfilms zu verleihen, krankte "Rogue One: A Star Wars Story" im Gegenzug an stark unterentwickelten Figuren, die dem Film selbst gleichgültig zu sein schienen und somit auch dem Zuschauer des Films.
                      Kopfzerbrechen bereitete "Solo: A Star Wars Story" schon im Vorfeld durch eine bewegte Produktionsgeschichte, bei der die "21 Jumpstreet" und "The Lego Movie"-Regisseure Phil Lord und Chris Miller große Teile des Drehbuchs bereits gedreht hatten und dann drei Wochen vor Ende der Produktion von Produzentin Kathleen Kennedy der berüchtigten "kreativen Differenzen" entlassen wurden. Kurzerhand wurde Ron Howard nach nur 2 Tagen als Ersatz angeheuert, der Berichten zufolge gut 70% des Films komplett neu drehte. Auch wenn das Spin-off rund um den jungen Han Solo als fertiger Film nahezu wie aus einem Guss wirkt und man dem Film die diversen Veränderung kaum bis gar nicht anmerkt, markiert "Solo: A Star Wars Story" nichtdestotrotz den Gipfel der Belanglosigkeit, den das Star Wars-Franchise mit diesem Werk erreicht hat.
                      Ohne Feingefühl für seine Figuren und vor allem ohne eine wirkliche Geschichte im Gepäck verlassen sich die Drehbuchautoren Lawrence und Jonathan Kasdan mit auffälliger Regelmäßigkeit auf nostalgische Reize und Auslöser, die mit dem bislang immer von Harrison Ford gespielten Han Solo in Verbindung gebracht werden können. Woher stammt der Nachname von Han? Wie ist der Schmuggler erstmals an seine Blasterpistole gekommen? Was steckt hinter dem Kessel-Run? Wie haben sich Han Solo und Chewbacca überhaupt kennengelernt? Viele Fragen, auf die sich vermutlich nicht jeder Star Wars-Fan unbedingt Antworten erhofft hat und mit "Solo: A Star Wars Story" jetzt trotzdem erhält.
                      Dabei fällt die eigentliche Handlung ebenso simpel wie reduziert aus und beschränkt die Geschichte des Films zu großen Teilen auf möglichst rasante Set Pieces, die von mitunter halsbrecherischer Action bis hin zu Diebesmanövern reichen, die dem Heist-Genre entliehen sind. Von den Wagnissen eines Rian Johnson, der die Fangemeinde mit "Star Wars: The Last Jedi" in der Mitte teilte, ist in Howards Film hingegen nichts mehr zu spüren. Stattdessen ist das Han Solo-Spin-off dem leichtfüßigen, seichten Eskapismus verschrieben, den viele als fast schon zwingende Anforderung an das Star Wars-Franchise stellen. Dabei sind einzelne Sequenzen in "Solo: A Star Wars Story" gerade auch aufgrund der gelungenen Kameraarbeit von Bradford Young spektakulär anzusehen, worunter beispielsweise der Überfall auf einen Zug fällt, der im Wechsel zwischen unten und oben über einen Gleis in der Eiswüste rast.
                      Man wünscht sich während der Sichtung immer wieder mehr von solchen Momenten, in denen die vertraute Star Wars-Magie versprüht wird, doch als überwiegend generische Franchise-Pflichterfüllung wirkt das Spin-off zu gehetzt und gleichzeitig überfordert mit den verschiedenen Figuren. Während Alden Ehrenreich schon im Vorfeld überaus kritisch beäugt wurde, da er angeblich von einem extra eingeflogenen Schauspiellehrer Coaching am Set benötigte, erweist sich der Hauptdarsteller in der Rolle des jungen Han Solo tatsächlich als holprige Besetzung, wenn Ehrenreich den lässigen Charme der Figur wieder und wieder lediglich mit einem breiten Grinsen zu beschwören versucht und als Hauptfigur ein ums andere Mal in den Hintergrund rückt.
                      Als wesentlich geglücktere Besetzungen erweisen sich hierbei eher Schauspieler wie Woody Harrelson, der den verschlagenen Kriminellen sowie Verbündeten des Titelhelden Beckett ebenso gelungen verkörpert wie Donald Glover den jüngeren Lando Calrissian mit fast schon dreister Coolness spielt. Wenn Han und Lando mehrmals beim Kartenspielen um ihre Raumschiffe zocken oder die erste, folgenreiche Begegnung zwischen der Hauptfigur und dem Fan-Liebling Chewbacca durchaus überraschend verläuft und sich schließlich umso herzlicher entwickelt, finden sich in "Solo: A Star Wars Story" doch noch gelegentliche Momente von großer Strahkraft, die von den vielen anderen Szenen, in denen der Film pures Blockbuster-Malen-nach-Zahlen darstellt, leider zu oft verdeckt werden. Am Ende, nach einem Finale, in dem der Film die doppelt und dreifachen Betrüge sowie Hintergehungen fast schon absurd verdichtet und auf die Spitze treibt, bleibt man seltsam unbeteiligt sowie unberührt zurück. Ein Gefühl, das nach einem Star Wars-Film ab sofort hoffentlich nicht zum Dauerzustand wird.

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                      • 4

                        [...] Möchte man außerhalb von Tarantinos Kino nach weiteren Referenzen Ausschau halten, so wirkt de la Iglesias Film am stärksten wie eine Mischung aus Oliver Stones Natural Born Killers und Robert Rodriguezs From Dusk Till Dawn. Sicherlich nicht rein zufällig wiederum zwei Filme, an denen Tarantino ebenfalls maßgeblich beteiligt war. Perdita Durango reicht allerdings weder an Stones brillante Mediensatire noch an Rodriguezs exzessiven Road-Movie-Grindhouse-Horror-Trip heran. Stattdessen kommt de la Iglesias Werk eher einer uninspirierten Aneinanderreihung kalkulierter Übertreibungen gleich, mit denen der spanische Regisseur um jeden Preis nach der Aufmerksamkeit seines Publikums schreit und seinem Film in gefühlt jeder zweiten Szene einen Kult-Stempel aufdrücken will, den sich dieser keineswegs verdient hat. Dabei beginnt die Ausgangssituation zunächst angenehm skurril, als sich Perdita und Romeo auf die Reise nach Las Vegas begeben, wo das Pärchen für einen Mafiaboss eine LKW-Ladung tiefgefrorener Embryonen ausliefern will, die zur Herstellung einer kosmetischen Hautcreme (!) verwendet werden sollen. Alsbald erschöpft sich der Handlungsfluss des Films jedoch in nervtötendem Overacting, bei dem allen voran ein entfesselter Javier Bardem (Das Meer in mir) versucht, sämtliche Register zu ziehen, während die ständigen Gewalteskapaden in Verbindung mit sexuellen Handlungen eher als müder Versuch des unbedingten Tabubruchs anöden. Ein junges Pärchen, das Perdita und Romeo entführt und bei einem Santería-Ritual opfern und verspeisen will, nutzt der Regisseur lediglich als regelmäßigen Spielball für psychotische Erniedrigungen und sexuellen Missbrauch, wobei in einem parallelen Handlungsstrang zusätzlich ein von James Gandolfini (The Sopranos) gespielter Agent des Drogendezernats Jagd auf Romeo macht. Auffällig ist hierbei, wie wenig de la Iglesia nach und nach seinem eigenen angepeilten Zynismus zu vertrauen scheint, wenn er die anstrengenden Antihelden im letzten Drittel des Films mehr und mehr charakterisieren sowie mit emotional angelegten Hintergrundgeschichten vermenschlichen will, während die Figuren auf der anderen Seite des Gesetzes wie getriebene, kaltschnäuzige Spürhunde Jagd auf das Paar machen. So fühlt sich selbst die eigentlich tolle Schlussszene von Perdita Durango, in der die titelgebende Protagonistin voller trauriger Verwirrung durch die glückversprechenden Illusionen der Lichter von Las Vegas torkelt, wie ein falscher Nachklapp an, den sich de la Iglesias' Film kaum verdient hat. [...]

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                          [...] Neben der beißenden Ironie, die von den Drehbuchautoren Rhett Reese, Paul Wernick sowie Hauptdarsteller Ryan Reynolds wie auch schon in Teil 1 zusammen mit unzähligen popkulturellen Referenzen, Meta-Gags und spitzen Seitenhieben gegen Superhelden aus sämtlichen Lagern abgefeuert wird, zeigt die Fortsetzung im Auftakt einen gebrochenen Deadpool, der dazu bereit ist, mit allem abzuschließen. Rückblenden enthüllen nach einem gewohnt ultrabrutalen Feldzug gegen verschiedenste Verbrecher einen persönlichen Schicksalsschlag, der den Antihelden schwer getroffen zurücklässt und an den Rand des Abgrunds befördert, von dem er durch die grundlegend humorvolle, selbstparodistische Natur des Films selbstverständlich wieder weggeführt wird. [...] Reynolds, der sich wie schon im Vorgänger mit sichtlicher Leidenschaft sowie Spielfreude in seine Figur wirft, beschrieb schon Teil 1 als Liebesgeschichte, die sich als Comic-Film maskiert hat. Der Aussage des Schauspielers und Produzenten zufolge handelt es sich bei Deadpool 2 diesmal um einen Familienfilm, der sich wieder als Comic-Film maskiert hat. Widersprechen kann man Reynolds diesbezüglich nur schwer, denn der größte Schwachpunkt an diesem Film, der sich als Gesamtwerk im Vergleich zum Erstling wie mehr vom Gleichen anfühlt, was je nach Einstellung gegenüber Deadpool wahlweise positiv oder negativ aufgefasst werden kann, ist die Tatsache, dass sich Deadpool 2 erneut niemals vollständig seinem subversiven, anarchischen Potential hinzugeben vermag. Stattdessen offenbart die Fortsetzung gerade in ihrer erzählerischen Dramaturgie ein überaus konventionelles Handlungskonstrukt, das sich mit seinem auffälligen Bezug zu familiären Schwerpunkten auf fast schon handzahme Weise der gefälligen Struktur gängiger Mainstream-Blockbuster anbiedert. Trotz des R-Ratings, das für blutige Gewalt und Flüche am laufenden Band sorgt, ist Deadpool 2 vor allem gegen Ende ein Film, der menschliche Wärme verbreiten und unbedingt beweisen will, das in ihm auch ein mitfühlendes Herz steckt. Zu schade, denn auch wenn diese eher gefälligen, konsensfähigen Aspekte den Streifen niemals vollständig zum Erliegen bringen, lassen einzelne Elemente der respektlosen Rücksichtslosigkeit doch immer wieder einen anderen Film erkennen, der sich hier ebenfalls versteckt hat und den üblichen Handlungsmustern regelmäßig aggressiv den Garaus macht. [...]

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                            [...] Das zentrale Motiv von Chantal Akermans Jeanne Dielman ist die Zeit selbst. In ihrem zweiten Spielfilm erzählt die belgische Regisseurin aus dem Leben der titelgebenden Hauptfigur, indem sie den Alltag der belgischen Hausfrau, Mutter und Prostituierten nicht nur in all seiner unscheinbar wirkenden Banalität verfolgt, sondern das Zeitempfinden von Jeanne zusätzlich für den Zuschauer des Films spürbar werden lässt. Hierfür schildert Akerman das Leben ihrer Protagonistin als Abfolge von strikten Routinen, die betont unspektakulär erscheinen, um nach und nach das Bild einer Frau zu kreieren, die sich ihren eigenen Käfig erschaffen hat. Drei Tage aus dem Leben von Jeanne bildet Jeanne Dielman ab, wobei die Regisseurin einzelne Szenen sowie Tagesabläufe der Protagonistin nahezu in Echtzeit durch zahlreiche statische Plansequenzen inszeniert. 201 Minuten ist Akermans Film lang, eine Laufzeit, die den Zuschauer dazu zwingt, den Film vielmehr aushalten zu müssen als einfach nur ansehen zu können und trotzdem 201 Minuten, von denen jede einzelne Minute ihre Daseinsberechtigung für das erschlagende Konzept erhält. [...] Durch kleine Nuancen gerät die streng kontrollierte Welt von Jeanne, die zunächst so unbedeutend und banal wirkte, aus den Fugen. In einer Szene sind die Kartoffeln für das Abendessen verkocht, wodurch die Protagonistin dazu gezwungen wird, außerhalb ihrer planmäßigen Routine das Haus zu verlassen und einen neuen Sack Kartoffeln zu kaufen. Es sind geringfügig erscheinende Abweichungen wie diese, die im ebenso hypnotischen wie ungemein auslaugenden Erzählrhythmus von Jeanne Dielman feine Risse entstehen lassen und die Existenz der Hauptfigur gleichzeitig stark ins Wanken bringt. Gemeinsam mit Hauptdarstellerin Delphine Seyrig (Letztes Jahr in Marienbad), die zum damaligen Zeitpunkt der Dreharbeiten eine berühmte Größe im Filmgeschäft war und ihre wortkarge, überwiegend gefühllos wirkende Figur mit einer apathischen Hingabe verkörpert, bei der selbst kleinste Änderungen in ihrer Mimik eine große Unruhe andeuten, enttarnt Akerman, die diesen Film im Alter von gerade einmal 25 Jahren drehte, ihre Protagonistin als stille Leidende, die sich in alltägliche, präzise aufeinander abgestimmte Tätigkeiten flüchtet, um der Leere und dem Stillstand zu entkommen. In der letzten Szene des Films, in der Jeanne mit Blut an den Händen am Tisch sitzt und die Kamera zuvor nicht wegblickt, wenn sie mit einem Mann im Schlafzimmer verschwindet, scheinen sich zum ersten Mal neue Ausdrücke im Gesicht der Hauptfigur abzuzeichnen, bevor die lethargische Ausdruckslosigkeit und stille Verzweiflung zurückkehrt. Ein weiteres Mal scheint die Zeit mit Jeanne stillzustehen und mit ihr auch man selbst. [...]

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                              über Gutland

                              [...] Die augenscheinliche Idylle mitten in der luxemburgischen Provinz fühlt sich hingegen nicht nur für die Hauptfigur sonderbar an. Auch der Zuschauer von Gutland wird bereits von Anfang an förmlich dazu angehalten, den trügerischen Landschaftsaufnahmen sowie der vermeintlichen Bequemlichkeit der eher simpel gestrickten Dorfbewohner bewusst zu misstrauen. Zu oft ist man in der Filmgeschichte bereits ähnlichen Werken ausgesetzt worden, in denen der Abstecher in die Provinz durch einen Außenseiter in der Regel stets tiefe Abgründe und gefährliche Geheimnisse ans Licht befördert. Auch Van Maele ist mit diesem Wissen oder der Vorahnung des Publikums durchaus vertraut. So versieht der Regisseur seinen Film zusätzlich mit einer ambivalenten, geheimnisvollen Hauptfigur, die sich ebenso undurchsichtig durch die einzelnen Szenen bewegt wie die Dorfbewohner, die gerade durch ihre spröde Gewöhnlichkeit oftmals den Anschein erwecken, dass im luxemburgischen Schandelsmillen so gar nichts gewöhnlich ist. Verhärtet wird diese Vermutung vom Regisseur immer wieder durch kurze Szenen und Momente, in denen Jens beispielsweise neben seinem Wohnwagen pornografische Fotos von Frauen findet, die sich offensichtlich alle im selben Haus irgendwo ganz in der Nähe aufgehalten haben. Als das Dorf eines Tages außerdem von zwei Polizisten aufgesucht wird und der Protagonist Besuch von einem unerwünschten alten Bekannten bekommt, scheint sich das Geflecht aus Geheimnissen und Abgründen mitten in der Provinz ein weiteres Mal zu entfalten. Gerade im Mittelteil scheint sich Van Maele hierbei etwas zu behäbig der eigentümlichen, langsamen Atmosphäre seines Films hinzugeben, die aus der Vermischung von Thriller-Elementen, Film Noir-Charakteren, wohligen Heimatfilm-Schauwerten und angedeutetem Horror aus dem Hinterland entsteht. [...] Einen willkommenen Dreh erhält Gutland aber erst noch einmal gegen Ende, wenn Van Maele der Geschichte plötzlich einen surrealen Dreh verleiht, der sich lediglich in vagen Ansätzen abzeichnete und dem gesamten Szenario eine angenehm irritierende Note verleiht. Wenn sich die gefährlichen Anhängsel aus Jens' jüngster Vergangenheit schließlich doch noch in dem Dorf einfinden, Identitäten und Sympathien auf einmal völlig verschwimmen und verschwunden Geglaubte als Tote aus der Jauchegrube an die Oberfläche geschwemmt werden, hat der Regisseur schlussendlich einen Film geschaffen, der es sich erlaubt, Fragen unbeantwortet zu lassen und zwischen all der finalen Surrealität trotzdem viel darüber erzählt, wie ein Mensch von fremdartigen Sitten nach und nach vollständig absorbiert und dadurch ein Teil von ihnen wird. [...]

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                                über Revenge

                                Bereits der Titel von Coralie Fargeats Filmdebüt wirkt wie das reduzierte Destillat eines ganzen Subgenres, das auf eines seiner essentiellen Kernelemente heruntergebrochen werden soll. Mit "Revenge" wagt sich die französische Regisseurin in das Rape-and-Revenge-Genre. Jene vorwiegend von männlichen Regisseuren in den 70er Jahren dominierte Abwandlung des Exploitationfilms, bei der der weibliche Körper auf brutale Weise missbraucht wird, um anschließend mithilfe kathartischer Racheakte wieder einen Funken Leben in sich spüren zu können. Subversiv inszeniert die Regisseurin ihr Werk dabei von Anfang an insofern entgegen den üblichen Konventionen des Subgenres, indem die weibliche Hauptfigur Jen ab der ersten Szene, in der sie von der Kamera eingefangen wird, als laszives Lustsymbol sowie unwiderstehliche Lollipop-Lolita erstrahlt. Anstelle einer voll ausformulierten Persönlichkeit, die den Opfern des Rape-and-Revenge-Films im Verlauf des auf 3 Akte ausgelegten Handlungsmusters geraubt wird, wenn ihre Körper zum oberflächlichen Objekt verdammt werden, ist Jen zunächst kaum mehr als eine blanke Projektionsfläche für erotische Männerfantasien, die sich unter extremen Umständen wandeln und verformen wird.
                                In einem Interview verriet Hauptdarstellerin Matilda Anna Ingrid Lutz, dass sie sich speziell für ihre Performance im ersten Akt von "Revenge" stark an Marilyn Monroe orientiert habe, deren Biographie sie als Vorbereitung auf die Dreharbeiten las. Eine Anekdote, die absolut einleuchtet, wenn der Zuschauer die Protagonistin anfangs dabei beobachtet, wie diese einem verführerischen Sexsymbol ähnelnd geradezu durch ihre Szenen schlafwandelt. Unterstützt wird ihr Spiel dabei von der bewusst voyeuristischen Inszenierung der Regisseurin, die Lutzs extrem attraktiven Körper zu zahlreichen Gelegenheiten gierig mit der Kamera abtastet.
                                In der Geschichte des Films hat sich Jen mit ihrem Liebhaber Richard, der zugleich mit einer anderen Frau verheiratet ist und Kinder hat, in ein abgelegenes, luxuriöses Ferienhaus irgendwo mitten in der Wüste begeben, wo das Paar ein romantisches Wochenende verbringen will. Unterbrochen wird das lustvolle Miteinander jedoch durch die verfrühte Ankunft von zwei Freunden Richards, mit denen dieser später auf die Jagd gehen wollte. Spontan verfallen die nun anwesenden vier Personen in Feierlaune, wobei Jen einem der beiden Männer am Abend beim Tanzen ein paar aufreizende Signale zu viel sendet.
                                Am nächsten Morgen, als Richard eine Weile nicht da ist und Jen mit den beiden Männern alleine auf dem Anwesen zurückbleibt, geschieht der unausweichliche 2. Akt der Rape-and-Revenge-Struktur. Die junge Frau wird von dem frustrierten Abgewiesenen vergewaltigt, während der andere Mann wegsieht, ebenso wie die Kamera, die mit diesem den Raum verlässt und anschließend nur noch Bruchteile der schrecklichen Tat einfängt. Mit der Rückkehr von Richard, der seine Freundin traumatisiert vorfindet, verkommt "Revenge" endgültig zu einer Art surrealem Albtraum, nachdem der attraktive Playboy beschließt, das gerade erst geschändete Opfer töten zu wollen, damit sie die Männer durch ihre Aussagen nicht ins Gefängnis bringen kann. Aufgespießt auf einem spitzen Stück Holz scheint das Ableben der Protagonistin besiegelt, doch Jen wird, getreu den geradezu mythologisch überhöhten Spielregen des Subgenres folgend, von den Toten wiederauferstehen.
                                Im ausgedehnten Racheakt der Protagonistin, bei dem von vornherein bereits drei klare Opfer festgelegt worden sind, offenbart Fargeats Film weitaus weniger Ansätze einer feministischen Dekonstruktion des Subgenres als vielmehr eine reißerische Aneignung männlich geprägter Perspektiven sowie genreinhärenter Mechanismen. Wie ein Fiebertraum, der in grell übersteuerten Farben regelmäßig auf der Leinwand explodieren darf, erscheint "Revenge" unter der sengenden Wüstensonne als knalliges Pop-Art-Inferno. Den inhaltlichen Konventionen des Rape-and-Revenge-Films begegnet die Regisseuren dabei mit verblüffenden Formen und Farben.
                                So vereinen sich unerwartete Close-up-Sequenzen, in denen zum Beispiel Bluttropfen wie Bombardements auf Ameisen niederprasseln, mit Momenten, in denen Fargeat männliche Körper, deren Füße mit Glasscherben penetriert wurden, mit ebenso erbarmungsloser Ausdauer gleichberechtigt beobachtet wie die unter dem Einfluss einer Droge halluzinierende Jen bei der lebensrettenden Wundversorgung mit Messer, Feuerzeug und einem Teil einer Bierdose. Auf eher abseitig-poetische Weise findet die Regisseurin schließlich im Finale zur Krönung ihrer visuellen Ausdruckskraft, wenn die Gänge der Ferienwohnung zum Labyrinth werden, in dem Gewehrläufe zum Takt der spannungsgetriebenen Musikuntermalung vorsichtig um Ecken spitzen und das strahlende Weiß der Innenausstattung von blutbesudeltem Rot verdrängt wird.

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                                  Kaum ein anderer Titel hätte besser zu diesem Film passen können, an dem die Regisseure, Drehbuchautoren, Produzenten sowie Darsteller Kubilay Sarikaya und Sedat Kirtan insgesamt acht Jahre lang gearbeitet haben. Dass "Familiye" nun überhaupt in den Kinos startet, haben die Verantwortlichen zu einem wesentlichen Teil Moritz Bleibtreu zu verdanken. Der wurde durch den Rapper Xatar auf das Projekt aufmerksam und war von dem Film so begeistert, dass er als Co-Produzent mit an Bord kam und aufgrund seines zugkräftigen Namens dafür sorgte, dass der Film überhaupt einen Verleih fand. Von drei Brüdern aus Berlin-Spandau, die im problematischen Lynar-Kiez leben, handelt der Film, für den bei der Titeleinblendung zu Beginn direkt auf eine wahre Geschichte verwiesen wird. Auch wenn es recht wahrscheinlich ist, dass die Verantwortlichen des Films einige Handlungsentwicklungen vollständig konstruiert haben und es sich bei diesem Film keineswegs um eine ausnahmslos wahre Geschichte handelt, so wird "Familiye" zu einem Großteil von einer rohen, ungeschönten Authentizität geprägt, die Sarikayas und Kirtans Werk überaus wahrhaftig erscheinen lässt.
                                  Von der ersten Szene an wird deutlich, dass die beiden Regisseure unmittelbar aus ihrem eigenen Leben erzählen, wodurch der Streifen an erster Stelle als klischeebefreite, unverfälschte Milieustudie funktioniert, die einen Einblick in einen Randbezirk Berlins bietet, in dem das tägliche Leben vielmehr einem täglichen Überleben gleicht. Zwischen Hartz IV, Spielcasinos, Joints, unausgefüllten Anträgen für das Sozialamt und einem kleinen Berg an Schulden manövriert sich Miko irgendwie durch einen Alltag, der ihn am Ende stets wieder nach Hause zu seinem Bruder Muhammed zurückführt. Dieser leidet am Down-Syndrom und benötigt gesonderte Aufmerksamkeit, die ihm sein arbeitsloser, spielsüchtiger Bruder nach Ansicht des Jugendamts nicht mehr widmen kann. Dass sein Bruder in ein Heim gesteckt werden soll, ist allerdings nur ein Krisenherd, vor dem Miko schon bald nicht mehr entkommen kann. Zwei vollbärtige, muskelbepackte Schuldeneintreiber sitzen ihm wegen des Geldes, das Miko ihnen noch schuldet, im Nacken und bedrohen sein Leben.
                                  Aufgrund der Fokussierung auf den Lynar-Kiez, den die Regisseure wie eine eigene Parallelgesellschaft schildern, entwickelt sich das sonst so bequeme, wenn nicht gar unspektakulär-langweilige Spandau in "Familiye" zu einem Hexenkessel, den man aus filmischer Sicht aufgrund des unruhigen Pulses und den spontanen, stellenweise improvisierten Dialogen durchaus mit Martin Scorseses zumindest im Deutschen gleichnamigen Mafiafilm vergleichen könnte. Inspiriert wurden Sarikaya und Kirtan aber außerdem ganz offensichtlich von Matthieu Kassovitzs einflussreichem Werk "La Haine", das sich aufgrund der brodelnden Vorortsatmosphäre und der Darstellung einer unruhigen, gewaltbereiten Jugend in den ebenfalls in Schwarz-Weiß gehaltenen Bildern von "Familiye" widerspiegelt.
                                  Trotz der gelegentlichen Anleihen an den klassischen Gangsterfilm, ein Genre, das Sarikaya und Kirtan lange Zeit nur beiläufig streifen, besinnt sich der Film gerade mit dem Auftauchen des dritten, ältesten Bruders noch stärker auf seine familiäre Thematik. Als der von Regisseur Sarikaya bemerkenswert gespielte Danyal nach fünf Jahren Gefängnis nach Spandau zurückkehrt, ist er derjenige, der die Verantwortung für den benachteiligten Muhammed sowie den verschuldeten, nachlässigen Miko übernehmen will und neue Schuld auf sich lädt, die den Ex-Häftling mit den tätowierten Armen und der bulligen Statur direkt wieder nahe an den Abgrund drängt.
                                  Nichtsdestotrotz ist "Familiye" weiterhin immer dann am stärksten, wenn die Regisseure den konventionellen Plot beiseiteschieben und sich stattdessen auf zwischenmenschliche Interaktionen, familiäre Rituale oder milieutypische Beobachtungen beschränken. Erst in den augenscheinlichen Abschweifungen, für die sich Sarikaya und Kirtan zum Beispiel minutenlang auf Momente zwischen den drei Brüdern konzentrieren, die liebevoll wie kleine Kinder miteinander umgehen, erhält der Streifen ein emotionales Gewicht, durch das sich der Film eher unkonkret treiben und einzelne Handlungsstränge mitunter ins Leere laufen lässt oder holprige Dialogpassagen unbekümmert ausspielt.
                                  Hierdurch ist "Familiye" aber auch ein bisweilen frustrierender Film geworden, wenn sich beispielsweise die von Violetta Schurawlow gespielte Frau, die eine düstere Vergangenheit verbirgt und von Muhammed zur Sicherheit in die Familie gebracht wird, als unterentwickelte Nebenfigur entpuppt, die an einem bestimmten Punkt recht lieblos aus der Handlung befördert wird. Ähnlich enttäuschend fällt auch das Finale des Films aus, in dem die Regisseure schlussendlich zu stark in generische Muster des Gangsterfilms verfallen. So ist "Familiye" abschließend weniger ein Film über den komplexen, berührenden und manchmal auch niederschmetternden Wert von Familie an sich, sondern nur eine weitere Betrachtung eines Teufelskreises, in dem sich die Spirale der Gewalt fortwährend unabbringbar durchsetzen wird.

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                                    Von Romy Schneiders einst so glamouröser Erscheinung ist zu Beginn von Emily Atefs "3 Tage in Quiberon" kaum mehr übrig als ein verbrauchter, ausgelaugter Körper, der sich unter einer Bettdecke zusammengekauert hat. Im Jahr 1981 hat sich die berühmte Sissi-Schauspielerin, die schon seit vielen Jahren nicht mehr Sissi sein will, selbst in ein Kurhotel in der Küstenstadt Quiberon begeben, um eine Entgiftung zu machen. In Frankreich, dem Land, in das sie mit ihrem damaligen Liebhaber Alain Delon durchbrannte, um von der deutschen Presse Abstand zu gewinnen, die ihr mit unliebsamen Fragen immer stärker auf den Leib rückte.
                                    "3 Tage in Quiberon" jedoch zeigt eine müde, abgekämpft Frau, die scheinbar vor allem an sich selbst gescheitert ist. Als ihre gute Jugendfreundin Hilde zu Besuch anreist, klagt sie darüber, im Hotel nicht essen, nicht trinken, nicht rauchen und nicht lachen zu dürfen, während sie sich mit tiefen Zügen hinter ihrer Zigarette förmlich zurückzieht. Wieder und wieder greift Romy in Atefs Film, der das Leben der Schauspielerin auf 3 bedeutende Tage verdichtet, zur Zigarette, die mit der Zeit weniger wie ein Suchtmittel und mehr wie ein Schutzmechanismus erscheint, wenn Romy manchmal fast schon hinter den Rauchschwaden verschwindet.
                                    Dazu hat die aus Österreich stammende Schauspielerin mit der Zeit auch allen Grund, denn sie offenbart sich nicht nur vor ihrer Freundin Hilde als ausgebranntes Wrack, sondern hat zudem noch einem Stern-Interview zugestimmt, für das der Journalist Michael Jürgs und der Fotograf Robert Lebeck, der schon lange ein guter Freund von Romy ist, am selben Tag wie Hilde in Quiberon anreisen. Gut 600 Fotos schoss der Fotograf in diesen Tagen von Romy, zu denen die Regisseurin vollen Zugriff erhielt und sich dadurch zu diesem Film inspirieren ließ, der ähnlich wie Lebecks Aufnahmen in wunderschönem Schwarz-Weiß erstrahlt, durch das sich die melancholische Aura der Ikone regelmäßig ihren Weg bahnt. Im Jahr nach dem Interview verstarb Romy Schneider.
                                    Genauso bedeutend wie die vereinnahmende Präsenz der Schauspielerin sind aus diesen 3 Tagen aber auch die Worte, die zwischen Jürgs und ihr gewechselt wurden. Mit dem Satz "Sie sind eine Erregung öffentlichen Ärgernisses in Deutschland, Frau Schneider" eröffnet der Journalist das Interview offensiv und treffsicher zugleich, bis von Romy später der prägende Satz "Ich bin eine unglückliche Frau von 42 Jahren und ich heiße Romy Schneider" ausgesprochen wird. Dazwischen immer das Hotelzimmer, in dem der Zigarettenqualm und die ausgetrunkenen Flaschen fast schon wie eigenständige Antworten auf ungestellte, unbequeme Fragen wirken, und in dem die sichtlich mitgenommene Schauspielerin innerhalb der kammerspielartig inszenierten Interviewsituation mehr und mehr von ihrer wirklichen Persönlichkeit hinter der Star-Persona preisgibt.
                                    Atef zeigt Romy als zweifelnde Mutter, die unglaubliche Angst davor hat, ihren 14-jährigen Sohn David an die Stiefeltern zu verlieren, und die sich schließlich nicht einmal traut ans Telefon zu gehen, als sie von ihm angerufen wird. Mit diesem Zwiespalt, der das Verhalten der Schauspielerin unentwegt durchzieht, inszeniert die Regisseurin die Ikone als nahezu schizophrene Gestalt, die in einem Moment bei einer ausgelassenen Feierlichkeit in der naheliegenden Hafenkneipe aufblüht, während der Zuschauer durch die anfänglichen Szenen längst Bescheid weiß, in was für einen Zustand die Schauspielerin anschließend wieder verfallen wird.
                                    Mit einer unwiderstehlichen Ausstrahlung spielt Marie Bäumer ihre Romy, der man am liebsten noch viele weitere Stunden dabei zusehen will, wie sie an der Zigarette zieht, sich bei Gesprächen mit ihrer Jugendfreundin dem leichten Wiener Zungenschlag hingibt, akzentfrei auf Französisch mit dem humorvoll aufgelegten Personal des Kurhotels diskutiert oder in der Bar zu tanzen beginnt. Gleichzeitig strahlt jedes Glas, das sie ein weiteres Mal mit dem teuren Champagner auffüllt, und jedes Lächeln, das sich im kurz darauffolgenden Moment als gequälte Maskerade entpuppt, eine tiefe Traurigkeit aus, durch die sich ein Schleier der tragischen Gewissheit über die Bilder dieses Films legt.
                                    Auf einem schmalen Grat zwischen Image und Menschlichkeit balanciert Atef mit "3 Tage in Quiberon", wobei der teilweise auch ungemein kühle Film den Charakter von Romy Schneider zwischen selbstverschwenderischem Exzess, depressiver Erstarrtheit und verzweifelter Frustration stimmig auslotet. Darüber hinaus gelingt es der Regisseurin zusätzlich, auch die drei anderen wichtigen Figuren in diesem Film mehrfach in unterschiedlichem Licht erscheinen zu lassen. Mit dem Journalisten, der früher einmal eigentlich über Politik schreiben wollte, dessen Talent aber eher den Star-Porträts zugeschrieben wurde, dem Fotografen, der sich von seiner großen Liebe wohl niemals lösen konnte und trotzdem nur durch die Linse des Fotoapparats dabei zusieht, wie sie vor seinen Augen verglüht, und der Jugendfreundin, die sich womöglich selbst nicht so sicher ist, wer von beiden mehr auf den anderen angewiesen ist, versammelt Atef das richtige Maß an charakterlicher Ambivalenz in ihrem Werk. Bis die Ikone ein letztes Mal erstarrt, sobald das Bild einfriert.

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                                      "The Week Of", der vierte Film des insgesamt acht Filme umfassenden Deals, den Adam Sandler mit der Streaming-Plattform Netflix abschloss, bewegt sich noch näher zu jenem warmen Humanismus, der sich in der vorangegangen Netflix-Produktion "Sandy Wexler" bereits abzeichnete. War die Mischung aus schriller Showbiz-Satire, exzentrischem Charakterporträt und romantischer Komödie noch von typischen Sandler-Markenzeichen geprägt, die sich in absurden Gag-Episoden und einem Schaulaufen an Stars äußerten, so verfolgt Regisseur Robert Smigel in "The Week Of" im wahrsten Sinne des Wortes noch stärker den familiären Aspekt, den der Schauspieler in seinen Filmen oftmals so sehr in den Vordergrund rückt.
                                      Von den vielen sichtbaren Freiheiten, die die Netflix-Kooperation Sandler ermöglicht, ist das familiäre Gefühl eine auffällige Konstante geworden. Auch wenn die Filme längst großzügig budgetiert sind, wirken die jüngsten Werke aus Sandlers eigener Happy-Madison-Schmiede meist immer noch wie die intime, ausgelassene Zusammenkunft zwischen guten Freunden, die der Schauspieler und Produzent zahlreich in seinen Filmen versammelt. Dabei ist es nur konsequent, dass "The Week Of" nicht nur wie ein einziges großes Familienfest wirkt, sondern direkt davon handelt.
                                      Um seiner Tochter Sarah den schönsten Tag ihres Lebens zu bescheren, setzt Familienvater Kenny alles daran, die anstehende Hochzeitsfeier von Sarah und ihrem Freund Tyler im Alleingang zu organisieren. Die Hochzeitsvorbereitungen, für die Kenny vor allem die zahlreichen Mitglieder beider Familien im gleichen Ort unterbringen muss, geraten jedoch zum Debakel, was auch daran liegt, dass das Oberhaupt der jüdischen Familie kaum Geld zur Verfügung hat, um seine Gäste beispielsweise in angemessenen Hotels unterzubringen. Unter Druck wird Kenny zusätzlich vom Vater des Bräutigams gesetzt. Kirby ist ein erfolgreicher Chirurg, bei dem die Stars auf dem OP-Tisch landen. Genervt von dem ganzen Trubel, den die Hochzeitsvorbereitungen unter Kennys Leitung mit sich bringen, bietet der Chirurg regelmäßig an, die Feierlichkeiten nach Manhattan zu verlagern und die entstehenden Kosten komplett zu übernehmen.
                                      Der Konflikt zwischen den beiden Vätern, bei dem unbekümmerter, aber genervter Wohlstand auf überforderte, aber jederzeit bemühte Herzlichkeit prallt, ist der Nährboden für zahlreiche Gags, bei denen die ohnehin bereits sprunghaft-chaotische Handlung wie gewohnt in episodenhafte Einzelteile zerfasert. Dabei schwankt die Qualität des Humors oftmals zwischen purem Slapstick, wenn der von Chris Rock gespielte Kirby von Kronleuchtern, heißen Ofenblechen oder dem Familienhund deutlich in Mitleidenschaft gezogen wird, Running-Gags wie die lautstarken Streitereien zwischen Kenny und seiner Frau, sowie gezielten Spitzen gegen ethnische Minderheiten oder körperlich behinderte Menschen.
                                      Nebenfiguren wie Kennys Onkel Seymour, der beide Beine durch Diabetes verloren hat und in einer Szene des Films während eines Kinder-Baseballmatchs plötzlich als Kriegsheld gefeiert wird, oder eine urkomische Szene, in der Kenny zwei fremde Schwarze, die zufällig gerade vor dem Haus vorbeilaufen, mit Mitgliedern von Tylers Familie verwechselt und diese zu sich ins Haus bittet, verkommen hingegen nie zur bloßen Provokation oder Überschreitung des guten Geschmacks. Vielmehr führt Sandler, der wie gewohnt auch am Drehbuch des Films mitgeschrieben hat, mit der Auflösung einzelner Gags die Schuld für rassistische Vorurteile oder überzogen patriotistische Gesten umgehend auf sein Land Amerika zurück, gegen das er ebenso genüsslich austeilt wie in sämtliche andere Richtungen auch.
                                      Am Ende, und das hebt "The Week Of" entscheidend von üblichen Brachialkomödien ab, schwingt sich Smigels Film trotz der tonalen Umstimmigkeiten zwischen seichtem Familienkitsch und derber, anarchistischer Gag-Parade noch in berührende Regionen auf. Speziell im Finale, in dem Sandler auch schauspielerisch an seine gefeierte Leistung aus Noah Baumbachs "The Meyerowitz Stories" anknüpft, konfrontiert der Film die beiden Väter endgültig mit den eigenen Fehlern. Als grotesk überspitztes Abziehbild von Baumbachs Film endet "The Week Of" ähnlich wie "The Meyerowitz Stories" allerdings nicht mit Fehlern, die unverbesserlich bleiben, sondern mit rührender Versöhnung und liebevollem Zusammenhalt, der die Figuren trotz ihrer vermeintlichen Unvereinbarkeit doch noch zusammenführt.

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                                        [...] Avengers 3: Infinity War ist der bislang beste Film des Marvel Cinematic Universe. Eine Lobpreisung, die zweifelsohne hoch greift und doch angebracht ist für diesen Film, der zugleich das 10-jährige Jubiläum des MCU markiert. Auf bislang 19 Filme kommt das milliardenschwere Filmuniversum von Marvel-Chef Kevin Feige, das Filmfans, Cineasten und Gelegenheitskinogänger regelmäßig in der Mitte spaltet und die Kinokassen trotzdem jedes Mal wieder aufs Neue erbeben lässt. Ließ sich über die Qualität der einzelnen Beiträge des MCU schon immer vortrefflich streiten, so vereint die 18 Filme in Anbetracht von Avengers 3: Infinity War aber doch ein gemeinsames Merkmal: Sie alle wirken rückblickend wie mühevoll und beharrlich betriebene Vorarbeit, die nun dazu geführt hat, dass der aktuelle MCU-Beitrag von Anthony Russo und Joe Russo eine Emotionalität und Drastik erreicht, die sich in derartigem Ausmaß innerhalb dieses filmischen Universums zuvor nur erahnen ließ. Dieses Gefühl, dass in Avengers 3: Infinity War diesmal tatsächlich nichts und niemand sicher ist, stellt sich dabei direkt zu Beginn des Films ein. [...] Wenig überraschend ist Avengers 3: Infinity War dadurch allerdings kein bleischweres Drama geworden, in dem die gelegentlich knallbunten Farben des MCU von grauer Tristesse verdrängt werden. Auch Humor gibt es im Film der Russos ebenfalls wieder zur Genüge. Trotzdem unterliegen die witzigen Momente dieses Films, die aufgrund der jahrelang durchexerzierten Charaktermacken der Superhelden tatsächlich ungemein komisch ausfallen, einem anderen Timing als bisher gewohnt. Dramatische sowie emotionale Momente dürfen diesmal länger ausgespielt werden und häufig dauert es, bis zur nächsten Teilgruppe der zahlreich vertretenen Heldenfiguren geschnitten wird, bis der Film schließlich doch wieder heitere Töne anschlägt. Neben der Figurendynamik, die vor allem in den Streitereien zwischen Tony Stark und Doctor Strange sowie Thor und Star-Lord Peter Quill zum Tragen kommt, sowie den wuchtigen Set-Pieces, in denen wieder einmal kaum ein Stein auf dem anderen bleibt und ganze Straßenzüge in Schutt und Asche gelegt werden, strahlt eine ernstzunehmende Emotionalität durch einen Großteil des Films. Die große Zusammenkunft der vielen unterschiedlichen Superhelden wird in Avengers 3: Infinity War neben der obligatorischen Action auch zu einer Zusammenkunft von Gefühlen aller Art, unter denen große Zweifel, schwere Erschütterungen und überraschender Pessimismus andere Stimmungslagen immer wieder überlagern. [...]

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                                        • 6 .5

                                          Wohl kein anderer Superheld musste sich im Kino bislang so vielen Wandlungen unterziehen wie Spider-Man. Während Sam Raimi der Figur mit Tobey Maguire in der Hauptrolle des Peter Parker von 2002 bis 2007 drei Filme widmete, während an das MCU noch nicht zu denken war, lieferte Sony 2012 erstmals eine weitere Neuauflage mit der freundlichen Spinne aus der Nachbarschaft. Um die Gelddruckmaschine, die Raimis Trilogie mit knapp 2,5 Milliarden Dollar Einspielergebnis zweifelsohne darstellte, am Leben zu erhalten und die Lizenzrechte nicht wieder an Marvel abgeben zu müssen, brachte das Studio mit "The Amazing Spider-Man" und "The Amazing Spider-Man 2: Rise of Electro" zwei weitere Spider-Man-Verfilmungen in die Kinos. Wieder wurde die Entstehungsgeschichte des jugendlichen Superhelden, der von einer radioaktiven Spinne gebissen wird, neu aufgerollt und eher holprig sowie überladen fortgeführt, diesmal mit Andrew Garfield in der Hauptrolle.
                                          Als holprig lässt sich auch "Spider-Man: Homecoming" beschreiben, auch wenn dieses Adjektiv in Bezug auf den ersten Solo-Auftritt des Spinnenmanns innerhalb des MCU positiv zu verstehen ist. Nachdem die Figur mit dem zuvor noch recht unbekannten Tom Holland wieder neu besetzt wurde und dieser in "Captain America: Civil War" seinen ersten Auftritt erhielt, durfte er sogleich beim großen Action-Herzstück des Films, dem Flughafen-Gefecht zwischen den verstrittenen Avengers, mitmischen. Verwackelte Handyaufnahmen zu Beginn dieses Films führen noch einmal zu den Szenen zurück, in denen sich der neue Spider-Man als ebenso überdrehtes wie tollpatschiges Energiebündel entpuppte, dessen jugendlich-naive Ausstrahlung mehr als gewöhnungsbedürftig war und durchaus an den Nerven zerrte.
                                          Im Film von Jon Watts, für den gleich sechs verschiedene Autoren am Drehbuch gearbeitet haben, geht die Rechnung dieser tonal extrovertierten Ausrichtung des Spider-Man-Charakters aber überraschenderweise auf. "Spider-Man: Homecoming" ist hin- und hergerissen zwischen leichtfüßiger High-School-Komödie, verwirrten Coming-of-Age-Tücken und actionlastigem Effekt-Bombast. Genau aus diesem chaotischen Spektakel schöpft der Film jedoch tatsächlich seine größte Stärke. Genauso wie sein Titelheld, der immer wieder dabei zu sehen ist, wie er sich in abgelegenen Gassen New Yorks übereilt in sein Kostüm zwängt und die Identität des 15-jährigen Teenagers hinter sich lässt, spiegelt Watts die sprunghaften Stimmungswechsel der Adoleszenz im Erzählrhythmus wider.
                                          Dabei nimmt Peter Parkers Alltag als pubertierender High-School-Schüler mindestens genauso viel Raum ein wie der eigentliche Nebenplot um den klassischen Bösewicht, der hier in Form des abgehängten Adrian Toomes auftritt. Acht Jahre zuvor ist dieser nach den fatalen Auswirkungen des Kampfs der Avengers gegen die außerirdischen Angreifer, welcher ganze Stadtteile in Schutt und Asche hinterließ, aus seinem eigenen Geschäft als Bergungsunternehmer gedrängt worden. Die US-Regierung entzog ihm sämtliche Genehmigungen, weitere Teile der Alien-Technologie zu bergen, die sich in den Trümmern befindet. Toomes beschließt, sein zukünftiges Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und baut mit der Alien-Technologie gefährliche Waffen, die er an Kriminelle verkauft.
                                          Seine Wandlung zum Bösewicht Vulture, der im High-Tech-Fluganzug erscheint, nimmt auf die Geschichte von Peter Parker aber zunächst nur nebenbei Einfluss. Der Teenager ist unterdessen vielmehr damit beschäftigt, von seiner Mitschülerin Liz zu schwärmen, mit seinem besten Freund Ned, einem übergewichtigen, schlagfertigen Außenseiter, abzuhängen oder in das Kostüm von Spider-Man zu schlüpfen, das dem 15-Jährigen noch viel zu groß zu sein scheint.
                                          "Spider-Man: Homecoming" lässt den Teenager dabei ganz Teenager sein, was zur Folge hat, dass sich Watts' Film parallel zur eigentlichen Geschichte um den Kampf zwischen Spider-Man und Vulture in vielen Szenen lieber der spielerischen, humorvollen Struktur des Coming-of-Age- sowie Teenie-Films hingibt. Wenn der Jugendliche beispielsweise mit der Siri-ähnlichen Stimme in seinem hochfunktionalen Anzug spricht, scheint man den knallroten Kopf unter der ohnehin schon roten Maske immer wieder erkennen zu können, so sehr versetzen ihn die weiblichen Kommentare in Verlegenheit. Auch die bohrenden Fragen seines Freunds Ned, der von Peters Doppelleben weiß und ihn unter anderem fragt, wie weit dieser seine Ladung als Spider-Man denn nun verschießen könnte, werden zum amüsant-pubertären Kommentar in diesem Marvel-Film, der scheinbar selbst noch tief in der Pubertät steckt.
                                          In der Figur von Adrian Toomes prallen für den Superhelden schließlich beide Welten, sein Leben als Peter Parker und sein Leben als Spider-Man, in einer starken Passage aufeinander. Es ist der Moment, wenn der Teenager an einer ganz bestimmten Haustür klingelt und später im Auto hinter dem Vater von Liz sitzt, seinem großen Schwarm, den er als Tanzpartner auf den Homecoming-Ball begleiten darf. Am Ende muss sich Peter entscheiden, welche Seite er wählt. Will er ein Teil der Avengers sein und sich denen anschließen, die laut der Aussage Toomes' die wahren Bösewichte sind? Dass Watts der Hauptfigur schlussendlich eine eigenständige Entscheidungsmacht zugesteht, ist zugleich der erste Schritt für den Jugendlichen in dessen pubertärem Reifeprozess, der noch längst nicht abgeschlossen ist.

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                                            War James Gunns "Guardians of the Galaxy" von 2014 noch ein unbeschwertes Popkultur-Mixtape, das mit der Formel des MCU locker-lässig durchs Weltall tanzen ging, so fühlt sich "Guardians of the Galaxy Vol. 2" schon wesentlich stärker nach dem leisen Hit zu später Stunde an, bei dem die meisten die Tanzfläche bereits verlassen haben. Ein zweites Mal hat Gunn seine intergalaktische Bande unangepasster Außenseiter zusammengetrommelt, um sie gleich zu Beginn mit poppig-bunten Schauwerten durch eine Mission zu peitschen, bei der Baby Groot ebenso niedlich wie amüsant zum Takt der Musik durch die Gegend tänzelt, während der Rest der Truppe im Hintergrund gegen ein gigantisches Tentakelmonster kämpfen muss.
                                            Was nach einem erfolgreichen Abschluss dieser Mission in anderen Marvel-Filmen das ruhmreiche Ende bedeuten könnte, führt die Guardians dagegen noch tiefer in den Schlamassel, nachdem Rocket einige der Energiezellen, die die Superhelden extra zurückgeholt haben, direkt wieder stiehlt. Auf der anschließenden Flucht vor der Raumschiffflotte der wutentbrannten Auftraggeberin, mit der Star-Lord Peter Quill kurz zuvor noch ausgiebig geflirtet hat, schwingt sich "Guardians of the Galaxy Vol. 2" wieder in jene luftig-eskapistische Höhen, in denen der Vorgänger bereits ein Feuerwerk aus sympathischem (Retro-)Charme, liebevoll entworfenen Figuren und Späßen am Rande des anarchischen Wahnsinns zündete.
                                            Nichtsdestotrotz kündigen sich in der Fortsetzung frühzeitig persönlichere Töne an. Eine außerdirdische Lebensform in menschlicher Gestalt von Kurt Russell namens Ego gibt sich Peter gegenüber als dessen Vater zu erkennen. Für den Guardian, der seine krebskranke Mutter als kleiner Junge beim Sterben begleiten musste und seinen Vater niemals kennengelernt hat, steht in "Guardians of the Galaxy Vol.2" emotional somit am meisten auf dem Spiel. In ähnlichem Maße persönlich wird es auch für Gamora, die sich mit dem Verhältnis zwischen ihr und ihrer Schwester Nebula auseinandersetzen muss. Auf die gesuchte Kriminelle ist ein Kopfgeld ausgesetzt, doch daneben hat die vernachlässigte Schwester aus familiären Gründen noch eine Rechnung mit Gamora offen.
                                            Als sich mit dem von Michael Rooker gespielten Yondu aus dem ersten Teil auch noch eine dritte Partei in die Ereignisse einmischt, wird die Heldentruppe endgültig in verschiedene Handlungsstränge aufgespalten. Dabei bremst die fehlende Dynamik zwischen sämtlichen Mitgliedern des Teams, die hier oftmals isoliert voneinander oder nur teilweise vereint agieren, den Erzählrhythmus immer wieder unsanft aus. Während sich die Guardians in ihren gemeinsamen Szenen mittlerweile wie ein eingeschworenes Team gegenseitig die Bälle zuspielen und Gunn dieses Potential gerade im ersten Drittel von Teil 2 noch offensiv auszuspielen vermag, gerät "Guardians of the Galaxy Vol.2" zunehmend in einen Konflikt zwischen dramatischen Untertönen, denen zu wenig Raum zur Entfaltung zugestanden wird, und humorvollen Brechungen, mit denen der Film überladen ist.
                                            Die schönsten Momente gelingen dem Regisseur immer wieder dann, wenn er seine Figuren doch noch zum buchstäblich zum Tanzen bringt und ihnen in kurzen Szenen eine warmherzige Menschlichkeit zugesteht. Wenn Gunn kurz vor dem unnötig überlangen Finale, das bedauerlicherweise wie gewohnt zur bloßen Effektorgie verkommt, auch noch eine Wendung enthüllt, die der Familiengeschichte von Peter eine ungeahnte Tragik verleiht, fühlt sich "Guardians of the Galaxy Vol. 2" kurzzeitig tatsächlich wie ein wuchtiges Drama an, von dessen bewegenden Facetten man zwischen all dem bonbonbunten Bombast gerne noch mehr gesehen hätte. Am Ende bleibt der zweite Ausflug zu den Guardians of the Galaxy allerdings weitestgehend kurzweilige Unterhaltung ohne den dazugehörigen Überraschungsfaktor des Vorgängers, während die wenigen emotionalen Momente wie Lichtblicke inmitten der überstrapazierten Gag-Parade wirken.

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                                              Mit hastigem Desinteresse, das förmlich an fiebrige, farbübersättigte Schnittgewitter der Marke Tony Scott erinnert, spult Regisseur Louis Leterrier im Vorspann die Origin-Story-Eckpfeiler der Figur ab, um die es in diesem Film eigentlich gehen soll. Eigentlich, denn "The Incredible Hulk" tritt sämtliches Potential, das hinter dem tragischen Schicksal von Bruce Banner/Hulk verborgen liegt, mit Füßen. Schon einmal ist dem unfreiwilligen Superhelden ein Film gewidmet worden, den Ang Lee inszeniert hat und der 2003 in die Kinos kam. Im Zuge des aufstrebenden Marvel Cinematic Universe, das mit "Iron Man" 2008 seinen Auftakt des rapide voranschreitenden Verkettungszwangs des MCU fand, war es für das Studio aber offenbar an der Zeit, dem giftgrünen, wutentbrannten Koloss ein Update zu bescheren.
                                              So übereilt Leterrier die Entwicklung des Wissenschaftlers, der sich beim Selbstversuch mit Gammastrahlen beschießt, zum Hulk in wenigen Minuten abhandelt, so wenig scheint der Franzose die Figur auch nur im Ansatz verstanden zu haben. In der Neuauflage der Comicverfilmung, die ganz explizit nicht als Fortsetzung zu Lees Erstling verstanden werden soll, verkommt die Handlung gleich zu Beginn des Films zu einem uninspirierten Actionfilm, der fast schon B-Movie-Züge trägt. Allzu weit entfernt von Filmen wie "The Transporter" und "Clash of the Titans", die Leterrier ebenfalls inszenierte, scheint "The Incredible Hulk" nicht zu sein. Wenn der Franzose die Flucht des Protagonisten vor dem amerikanischen Militär als schier endlose Abfolge generischer Action-Setpieces inszeniert, in denen die Soldaten immer wieder aufs Neue einem muskulösen, übermächtigen Wesen wie aus einem Fantasy-Universum unterliegen, dann könnte man also auch behaupten, Leterrier ist sich als Regisseur selbst treu geblieben.
                                              Eine wirklichen Mehrwert bietet der miserabel erzählte Film dadurch allerdings nicht. Mühsam werden die krawalligen Action-Momente mit alibihaften Lückenfüllern durchsetzt, in denen ein chronisch unterforderter Edward Norton in der Hauptrolle mit dem wenigen Material einer zufriedenstellenden Charakterentwicklung auskommen muss, die das bestenfalls schlichte Drehbuch hergibt. Das dünn beleuchtete Verhältnis zwischen Bruce Banner und der von Liv Tyler gespielten Betty Ross, seiner Ex-Freundin und ehemaligen Kollegin, bleibt nichts weiter als Behauptung. Ein kurzes Aufkommen von gefühlvoller Zärtlichkeit, die doch nur als Boxenstopp für die nächste überproportionierte Action-Passage dienen soll.
                                              Für das zentrale Dilemma der wohl konfliktbelasteten aller Marvel-Superheldenfiguren findet der Regisseur dagegen gar keine adäquaten Momente oder gar Bilder. Der Hulk, das unkontrollierbare Monstrum, das den Körper des geistig brillanten Wissenschaftlers regelmäßig an sich reißt und die physischen Limitierungen von Bruce Banner im Gegenzug in ungeahnte Dimensionen treibt, ist in "The Incredible Hulk" kaum mehr als ein Spielball für hohles Spektakel, das sich dementsprechend in einem Finale der endgültigen Belanglosigkeit entladen muss. Da kann selbst Tim Roth in der Rolle des Marine-Bluthunds nichts mehr retten, wenn selbst er vor dem Showdown zur CGI-Bestie mutiert, die sich vor schwammiger Computer-Kulisse mit dem Titelhelden kloppen muss. Ein austauschbares Getöse, bei dem man jede Szene direkt im Anschluss an die nächste praktisch schon wieder vergessen hat.

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                                              • 6 .5

                                                Das althergebrachte Männerbild als starkes Geschlecht ist in Jan Henrik Stahlbergs schwarzhumoriger Satire "Fikkefuchs" kaum mehr als ein übler Scherz, den der Regisseur mit hämischem Grinsen und schmerzhafter Wahrhaftigkeit wieder und wieder neu erzählt. Früher einmal soll der mittlerweile fast 50-jährige Richard, den alle nur Rocky nennen, der sogenannte Stecher von Wuppertal gewesen sein. Von seinem einstigen Ruf als strahlender Casanova, der die Frauen durch Chansons am Klavier reihenweise verführt hat, sind allerdings kaum mehr als alte Fotos übrig, die wie ein Beweisstück nur noch ab und zu mal in die Kamera gehalten werden.
                                                Anders ließe es sich kaum erklären, dass dieser Mann, den der Regisseur dem Zuschauer als eine der Hauptfiguren des Films präsentiert, jemals mehr gewesen sein soll als ein lüsternes, verzweifeltes Relikt, das vollkommen neben der Spur des Zeitgeists existiert. Aus dem Off ertönen zu Beginn wiederholt persönliche Ratschläge und Ansichten von Rocky, die dieser mit einer Seriosität und Überzeugung vorträgt, welche die Abstrusität des Gesagten nur noch verstärken. Stahlberg porträtiert Rocky, den er auch direkt noch selbst spielt, als erfolglosen Lüstling, der seine Midlife-Crisis überspielt, indem er einfach so tut, als hätten die letzten Jahrzehnte nie stattgefunden.
                                                Auf eine tiefere Auseinandersetzung mit dem tragischen Kern, der sich hinter dieser Figur offenbaren könnte, verzichtet der Regisseur dagegen konsequent. Stattdessen wird Rocky eines Tages von einem jungen Mann namens Thorben damit konfrontiert, dass er sein Vater sei. Dabei stellt Thorben, den Franz Rogowski hervorragend ebenso genüsslich wie entsetzlich spielt, das grotesk verzerrte, schamlos überzogene Abziehbild von Rocky dar, wenn dieser zu Beginn des Films beinahe eine Kassiererin vergewaltigt und anschließend in der Psychiatrie landet, aus der er umgehend flüchtet. Vor der Berliner Wohnung des Vaters, der nichts von ihm wissen will, sitzt Thorben schließlich mehrmals auf der Treppe. Rocky soll ihm zeigen, wie das mit dem Frauen anbaggern und flachlegen denn am besten funktioniert.
                                                Mit der Wiedervereinigung von Vater und Sohn entwickelt sich "Fikkefuchs" erst recht zur unbequemen Fremdscham-Groteske, in der die egoistischen, misogynen sowie realitätsfremden Wertevorstellungen der hier geschilderten Männerwelt in Zeiten der parallel stattfindenden #MeToo-Debatte krachend an einer Mauer zerschellen. Stahlberg, der den Film komplett ohne Fördergelder mithilfe von Crowdfunding realisiert hat, nimmt auch inszenatorisch permament eine sexistische Perspektive ein, wenn weite Dekolletés und enge Hosen von Frauen in Nahaufnahmen eingefangen werden. Dadurch ist der Streifen, für den der Regisseur zusätzlich beispielsweise Stöhngeräusche aus Pornos über gewöhnliche Filmszenen legt, aber keinesfalls ebenfalls sexistisch oder frauenfeindlich, wie ihm mitunter vorgeworfen wurde.
                                                Dass Rocky und Thorben, die wenig überraschend auch als offensives Flirt-Duo gnadenlos versagen, in vielen Passagen von einem fragwürdigen Frauenbild umgeben werden, liegt daran, dass sie sich in eine Ecke dieses Umfelds selbst manövriert haben. Von wirklich starken Frauen fehlt in "Fikkefuchs" jede Spur, da sie in der Welt der Protagonisten, die gleichzeitig die Welt dieses Films ist, nicht existieren. Stahlberg benötigt kein polarisierendes Gegengewicht, um den Figuren ihre bemitleidenswerte Lächerlichkeit aufzuzeigen. Das gelingt Rocky und Thorben die meiste Zeit über von ganz alleine, indem sie miteinander oder an sich selbst scheitern. Dabei zeigt das radikale Konzept des Films erst in der zweiten Hälfte Abnutzungserscheinungen, wenn innerhalb der Geschichte versucht wird, bisweilen ernstere Töne anzuschlagen.
                                                Nachdem sich herausstellt, dass Rocky an Prostatakrebs erkrankt ist und ihm nur noch eine überschaubare Zeit zu Leben übrig bleibt, scheint Stahlberg zwischenzeitlich in Richtung einer möglichen Läuterung zuzusteuern. Zwangsläufig finden Vater und Sohn wieder näher zusammen und besuchen einen Pick-Up-Kurs, in dem sie lernen sollen, wie man Frauen erfolgreich verführt. Auch wenn "Fikkefuchs" hierbei droht, durch redundante Aussagen und trügerisch versöhnliche Momente in sich zusammenzufallen, endet der Film schlussendlich glücklicherweise konsequent bösartig. Zwischen unbeholfenen Schäferstündchen mit übergewichtigen Prostituierten auf dem Rücksitz eines Autos, einem Traumurlaub der Liebesillusion und einer Beerdigung, zu der dann doch niemand mehr kommen will.

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                                                  So richtig greifen lässt es sich wieder mal nicht, was Rainer Werner Fassbinder da im Jahr 1972 mit "Acht Stunden sind kein Tag" als Mini-Serie für den WDR geschaffen hat. Inspiriert durch die massive Beliebtheit, die das Genre der Familienserie in Deutschland auf die Zuschauer ausübte, kam der WDR-Dramaturg Peter Märthesheimer damals auf die ausgefallene Idee, politisch-emanzipatorische Ansätze und Gedankengänge in das Konstrukt der Heile-Welt-Familienserie einzuflechten. Auf die Beine stellen wollte er damit etwas, das es vorher so noch nie zu sehen gab. Gelungen ist ihm dieses Vorhaben voll und ganz, nachdem Märthesheimer Fassbinder für die Realisierung seines Konzepts gewinnen konnte. Der Regisseur war sofort Feuer und Flamme für Märthesheimers Idee und schrieb die dazugehörigen Drehbücher für die Serie wie von ihm gewohnt in einem unglaublich schnellen Tempo, woraufhin die Produktion begann, die Fassbinder ebenfalls wieder unter der geplanten Drehzeit vollständig abschloss.
                                                  Entstanden ist mit "Acht Stunden sind kein Tag" ein ebenso seltsamer wie innovativer Hybrid aus seichtem, wohlgefälligem Familienkitsch und gleichzeitig anarchistischer Revolte gegen die Unterdrückung des Proletariats. Zum ersten Mal in der Geschichte des Fernsehens war es keine Familie aus der gehobenen Mittelschicht, die im Mittelpunkt der Erzählung stand, sondern die einfache Arbeiterklasse in Form einer Werkzeugmacher-Familie. Die versammelt sich zu Beginn der ersten Episode für den 60. Geburtstag der Großmutter, die von allen nur Oma genannt wird. Im Verlauf der Geburtstagsfeier etabliert Fassbinder die wichtigsten Figuren und Familienmitglieder, anhand denen der Regisseur über die restliche Spanne der insgesamt fünf Folgen ein breites Spektrum gesellschaftlicher, privater sowie politischer Themen ausbreitet.
                                                  Auch wenn jede der Episoden den Namen eines anderen Personenpaares als Titel trägt, sind es vor allem Jochen und Marion, von denen ein wesentlicher Teil der Handlungsstränge ausgeht. Am Abend der anfänglichen Geburtstagsfeier lernt der Fabrikarbeiter die hübsche Frau, die in der Anzeigen-Annahme des Kölner Stadt-Anzeigers arbeitet, kennen und lieben, als er eigentlich nur alkoholischen Nachschub vom Automaten besorgen sollte. Statt mit Sekt kehrt Jochen anschließend mit Marion und einem Glas Essiggurken zu seiner Familie zurück. Es ist der Beginn einer Liebesbeziehung, die Fassbinder fortan zwischen Arbeits- und Privatleben beleuchtet und dabei immer wieder auf die angehörigen Personen in Jochens und Marions Umfeld abschweift. Dabei setzt sich der Regisseur mit der Frage auseinander, was denn nach einem achtstündigen Arbeitstag noch vom Leben übrig bleibt, das nicht von beruflichen, politischen und familiären Problemen bestimmt ist.
                                                  Die Antwort darauf gibt Fassbinder, indem er beide Welten, das Private und das Berufliche, nicht wie sonst üblich durch eine Trennung gegenüber stellt, sondern ganz bewusst miteinander vermischt. Wenn Jochen und seine Kollegen als Fabrikarbeiter vor ein Problem gestellt werden, bei dem sie von ihrem Vorgesetzten klein gehalten oder übergangen werden sollen, dann fließen die Diskussionen darüber automatisch auch in jene Szenen ein, in denen die Figuren nach Feierabend in ihrem privaten Raum über ihren Arbeitsalltag sprechen. Entgegen der bekannten Mechanismen des Arbeiterfilms, in dem Entwicklungen wie Arbeitslosigkeit oder andere soziale Missstände thematisiert werden, wird "Acht Stunden sind kein Tag" hingegen von einem überraschenden Optimismus durchzogen, mit dem Fassbinder zugleich engagierte Aufklärung betreibt.
                                                  Nahezu jedem der angeschnittenen Problembereiche, sei es die ungerechte Behandlung der Fabrikarbeiter, die steigenden Mietpreise auf dem Kölner Wohnungsmarkt, der Missstand an sozialen Einrichtungen und Organisationen, die zunehmende Schwierigkeit in Bezug auf die Balance zwischen dem eigenen Leben und einem Beruf, der zu diesem passen soll, oder die gesellschaftliche Struktur, in der sich Frauen nur mühsam von ihren autoritären Männern lösen können, stellt der Regisseur eine zufriedenstellende Lösung gegenüber. Damit erscheint Fassbinders Serie mitunter sicherlich etwas naiv und gutgläubig, doch gerade in dem Mittel der Überspitzung offenbart sich erst der subversive Charakter dieses Werks.
                                                  In den Szenen, die sich im Wohnzimmer oder am Küchentisch der Familie abspielen, besitzt "Acht Stunden sind kein Tag" nach wie vor die Ausstrahlung einer bequemen, unkomplizierten Familienserie, in der hin und wieder diskutiert wird und schließlich doch wieder alles beim Alten bleibt. Indem Fassbinder irritierende Dialogzeilen, trockenhumorige Bemerkungen oder hölzerne Theatralik unter die scheinbare Heile-Welt-Idylle mischt und mindestens ebenso oft in der kargen Fabrikhalle verweilt wie in der gemütlichen Möbelausstattung von Oma, vermittelt der Regisseur auf gelungene Weise den Eindruck einer realen Welt, der er mithilfe von dezenter Überhöhung und bissigen Spitzen zu dramaturgischer Verfremdung verhilft.
                                                  Auch wenn Fassbinder als Vorbereitung mehrere Fabriken besucht und Gespräche mit Gewerkschaften geführt hat, erhebt der Regisseur mit seiner Serie keineswegs Anspruch auf einwandfreie Authentizität. Vielmehr ist "Acht Stunden sind kein Tag" als ebenso optimistische wie subversiv zwischen staubiger Bequemlichkeit und rebellischer Bissigkeit pendelnde Kampfansage gegen fest eingepasste Vorschriften, vermeintlich unveränderbare Strukturen und ungerechte Benachteiligung aufzufassen. Von so viel politischer Relevanz in einer vermeintlichen Unterhaltungsserie für die ganze Familie wurde schließlich auch dem WDR schwindelig. Auch wenn Fassbinder ursprünglich acht Folgen drehen wollte, zog der Sender mit Hinblick auf die verbleibenden drei Folgen, die offenbar von ausufernden Gewerksschaftsdiskussionen geprägt waren, vorzeitig den Stecker. Verloren hat Fassbinders eigenwillige, amüsante, irritierende sowie aufrührerische Serie dadurch aber kaum etwas von ihrer die Jahrzehnte überdauernden Ausstrahlung.

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                                                    [...] In ihrem Regiedebüt Der Sex Pakt zelebriert Kay Cannon, die als Drehbuchautorin bislang unter anderem alle drei Pitch Perfect-Filme geschrieben hat, die Prom Night als das, was sie in amerikanischen Filmen schon immer gewesen ist: Ein Mythos. Ein Symbol dafür, dass die High-School-Zeit nun endgültig vorüber ist und dem nächsten Schritt, der idealerweise aufs College führt, nichts mehr im Wege steht. Auch für die drei Mädels, um die sich Cannons Film dreht, soll der bevorstehende Abschlussball nicht weniger werden als eine Erinnerung fürs Leben, ein unvergesslicher Abend voller denkwürdiger Ereignisse, von dem sich auch noch Jahrzehnte später berichten lässt. Für Julie, Sam und Kayla bedeutet die Prom Night aber vor allem, dass sie ihre Jungfräulichkeit spätestens an diesem Abend endlich verlieren wollen. So deutet sich in Der Sex Pakt schon alleine aufgrund der Ausgangssituation ein vergnügliches Chaos an, denn ohne peinliche Situationen und ungeplante Überraschungen verlaufen der Weg zur Prom Night sowie der eigentliche Abend nie. Cannons Filmdebüt unterscheidet sich hierbei von den bekannten Komödien wie Superbad, die einer ganz ähnlichen Thematik folgen, indem diesmal keine hormongesteuerten Jungs im Mittelpunkt stehen, sondern junge Frauen, die schlicht und ergreifend auf ihr Recht bestehen wollen, Sex haben zu dürfen. Überdeutlich thematisiert Der Sex Pakt damit die gesellschaftliche Doppelmoral, bei der Jungs dafür gefeiert werden, wenn sie das erste Mal mit jemandem geschlafen haben, während die Mädchen wie durch einen Schutzreflex davor behütet werden sollen, ihre Jungfräulichkeit vorschnell einzubüßen. Eine Begründung hierfür findet auch die Regisseurin des Films nicht. Stattdessen greift Cannon die Absurdität dieser Tatsache auf, indem sich die Eltern der drei besten Freundinnen im Gegensatz zu ihren heranwachsenden Kindern als die wahren Kinder entpuppen. [...] Dabei ist Cannons Film weitaus weniger anstößig und grenzüberschreitend geraten, als er es stellenweise offenbar gerne gewesen wäre. Szenen wie die, in der die Eltern zufällig den Nachrichtenverlauf der Mädels verfolgen und dabei nach und nach hinter die Bedeutung der unterschiedlichen, verwendeten Emojis kommen, sind jedoch ebenso unterhaltsam getimed wie das generelle Auftreten von John Cena (Sisters), der in seiner Rolle als Mitchell immer wieder ganze Szenen an sich reißt. Wie die massive Körperspannung des hünenhaften Muskelmanns regelmäßig unter dem verblüfften, überforderten oder verzweifelten Gemüt des Vaters begraben wird, ist mitunter tatsächlich pures Comedy-Gold, durch das sich der Ex-Wrestler endgültig als waschechter Komödienstar beweist. Neben diesen unterhaltsamen Momenten folgt Der Sex Pakt als Gesamtwerk jedoch zu sehr den ausgetretenen Erzählpfaden, die spätestens am Ende zu konventionellem Wohlgefallen und übersteigerter Harmoniebedürftigkeit führen. Als sympathische Variation altbekannter Genre-Elemente besitzt Cannons Film aber das nötige Herz, indem die Regisseurin bis zuletzt ganz bei den drei Teenagerinnen bleibt und ihren Figuren nie die Würde nimmt. Trotz Prom-Night-Chaos und Erwachsenen, die hier am stärksten der Hysterie verfallen, sind Julie, Sam und Kayla alles andere als unreifer Nachwuchs. Am Ende des Abschlussballs sind sie es, die ihre Eltern tröstern oder aufmuntern, während die jungen Frauen für den nächsten Abschnitt in ihrem Leben längst bereit sind. [...]

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