Jenny von T - Kommentare

Alle Kommentare von Jenny von T

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    Mitte letzten Jahres galt "The Birth of a Nation" nach einem beispiellosen Sundance-Hype noch als großer Favorit im Hinblick auf die diesjährigen Oscars, dann aber versank der Film an den amerikanischen Kinokassen wie eine Bleiente und die Academy bedachte ihn am Ende nicht mit einer einzigen Nominierung. Dafür mag es mehrere Gründe geben, wobei ich hier nur auf einen eingehen möchte: Nate Parkers Historiendrama ist in so ziemlich allen filmisch messbaren Belangen bedeutungslos bis ärgerlich. Wer schon "12 Years a Slave" (vertretbarerweise) für konventionell inszeniert und inhaltlich mutlos hielt, wird im Nachhinein möglicherweise befinden, dass das Werk von Steve McQueen ja gar nicht mal so übel war – denn Nate Parker demonstriert nun eindrucksvoll, wie sehr man sich an einem Thema verheben kann, bei dem für jede mit Vernunft gesegnete Person doch eigentlich alles klar sein sollte.

    "Gefällig" zählt nicht unbedingt zu den Attributen, die ich einem Film über Sklaverei attestieren möchte, hier jedoch komme ich leider einfach nicht drum herum. Sei es die (erst noch "hübsch" durch den Blaugrün-Filter gejagte) pittoreske Pracht von Baumwollfeldern, der Schmetterling auf dem Hemd oder Blut auf einer Kornähre, welches offenbar den Platz von Tau eingenommen hat - die Geschmacklosigkeiten beginnen mit brechstangenartiger Prophezeiungs-Poesie, die das Regiedebüt in nicht gerade subtilen Bildern formuliert... und enden in purer Selbstbesoffenheit. Alles Ästhetische und jedes Symbol in diesen 120 dramaturgisch dürftigen Minuten wirkt haltlos zynisch.

    In unverzeihliche Sphären dringt "The Birth of a Nation" allerdings erst dadurch vor, dass Parker die Geschichte der Sklaverei als Heldensage verkauft – mit sich selbst in der Martyrer-Rolle, während Nat Turners Weggefährten unterwürfige Funktionsträger bleiben. Nicht umsonst künden die Texttafeln am Ende von einer "Legacy", also einem individuellen Erbe, welches es fortzusetzen gilt. Es geht im Wesentlichen nicht darum, rassistische Zustände zu beseitigen, sondern darum, immer weiter aufeinander einzudreschen. Falls der Film überhaupt je auf einem richtigen Weg war, so hat er das Ziel bis zum Abspann eindeutig aus den Augen verloren. Und zu welcher abweichenden Beurteilung soll man auch gelangen, wenn der Protagonist seine spätere Gattin ausgerechnet auf einer Sklavenversteigerung "auswählt"? Passend dazu beschränkt das Drehbuch den Aktionsradius der weiblichen Figuren auch im Folgenden darauf, entweder voller Hoffnung auf die Rückkehr des Helden zu warten oder die Handlung voranzutreiben, indem sie Vergewaltigungen erdulden... weinen dürfen sie immerhin. Der anschließende Aufstand Turners gegen die Unterdrücker geschieht in erster Linie aus verletztem männlichem Stolz heraus, was Parker mit göttlicher Bestimmung und lauten Priester-Parolen irgendwie zurechtbiegt (bzw. es versucht). Gerechtigkeit ist eine persönliche Angelegenheit...

    ... und manche sind eben mehr wert als andere – eine (kaum kaschierte) Botschaft, die sich in diesem Kontext ganz besonders schief anfühlt. Und ein Film, der gar nicht schnell genug in Vergessenheit geraten kann.

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      Jenny von T 16.03.2017, 20:14 Geändert 16.03.2017, 20:25

      https://www.youtube.com/watch?v=L9w0sz5y83k

      Es scheint fast so, als würde in diesen finalen Folgen genauso viel abgehen wie in den letzten 3 LOST-Staffeln zusammen. Und wer LOST gesehen hat, weiß: Das ist eine ganze Menge. Aber mich schreckt das seltsamerweise nicht ab. Denn dieser Trailer steckt schon wieder so voller Pathos, Mythen, Licht und Menschenliebe (und natürlich ABBA!), das traut sich außer Damon Lindelof in der Form irgendwie keiner. Also YES, PLEASE zu Weltuntergang, Opfergabe, Erlösung und Wiederkehr. Oder was auch immer halt passiert. Eine Serie, die in formvollendeter Schönheit sterben wird.

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      • Jenny von T 04.03.2017, 13:25 Geändert 04.03.2017, 18:22

        Hmm, wo fange ich an? Am Besten rücke ich einfach schnurstracks mit den Tatsachen heraus: Kommende Woche werde ich das Filmset zu "The House That Jack Built" besuchen und – so Gott will – dem guten Lars vielleicht zumindest für ein paar Momente leibhaftig gegenüberstehen.
        Denn vor zwei Tagen hieß es plötzlich:

        • "Wie stehst du zu Lars von Trier?"
        • "Ist mein Lieblingsregisseur!"
        • "OK, hast du am Dienstag Zeit?"
        ... und damit war es besiegelt – noch bevor die weitergeleitete Mail mit den Details in meinem Postfach landete. Als ich die Zeilen dann schließlich las, wurde mir mit jedem Wort ein bisschen schwärzer vor Augen.

        Genau an dieser Stelle hier habe ich ja bereits vor längerer Zeit (und natürlich auch zwischendurch das eine oder andere Mal) dargelegt, wie viel die Filme Lars von Triers mir bedeuten. Wenn es darum geht, was mich über die Jahre am meisten berührt hat, käme sicher noch anderes in Frage: Grunge, Guns N’ Roses, die Werke Kafkas, seit Neuerem auch das Schauspiel von Redford oder Gandolfini. Aber nein, am Ende lande ich doch bei dem bekloppten Dänen. Diese Traurigkeit, die ich praktisch mein ganzes Leben mit mir herumschleppe, bebildert er immer wieder neu und bis heute habe ich mich in der Kunst nirgends so sehr aufgehoben gefühlt. Man könnte sagen: Lars von Trier ist mein bester Freund, den ich nicht kenne. Vielleicht habt ihr ja auch so einen Regisseur, eben *diesen einen*.

        Und jetzt darf ich ihm bei der Arbeit ein bisschen über die Schulter schauen. Selbst, wenn ich ihn letztlich nur aus ein paar Metern Entfernung zu sehen bekomme, wäre das wahrscheinlich schon genug, um diesen Tag als den tollsten überhaupt zu bezeichnen.
        Wie ich mich vorbereite? Einfach gar nicht! Mit Schlaf und sonstigen Nebensächlichkeiten wird bis dahin ohnehin nicht viel her sein, also versuche ich, mich wenigstens nicht zusätzlich verrückt zu machen (leicht gesagt...).
        Und falls sich jemand fragt, wie es eigentlich dazu kommt: Eine Erklärung würde für diese Zwecke wohl den Rahmen sprengen, aber per pm stehe ich gerne Rede und Antwort. Nur so viel: Unter anderem die liebe MP-Ines (wie auch der geschätzte Kängufant) dürfte im Rahmen einer Gesamtbetrachtung einen gewissen Anteil daran gehabt haben, dass ich mich nun in dieser Situation wiederfinde. Meine momentanen Kollegen wissen hoffentlich eh Bescheid. Keine Ahnung, wie ich mich angemessen dafür bedanken soll. Ist praktisch nicht möglich.

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          Jenny von T 25.02.2017, 20:26 Geändert 25.02.2017, 20:29

          Diese sogenannte "Wohlfühlkomödie" aus Frankreich entpuppte sich für mich als ziemlicher Runterzieher. Nicht nur ist Philippe de Chauverons Symphonie der schiefen Töne gerade kein Plädoyer für das Überwinden von Vorurteilen, ich halte den Film darüber hinaus für offen rassistisch.

          Anders jedenfalls kann ich es mir kaum erklären, dass ausnahmslos jeder der Charaktere in ausnahmslos jeder einzelnen Szene über Hautfarbe ("Hmm, Schokolade!" – "Oh, mein Sahnehäubchen!") Nationalität und Religion definiert wird. Sogar dann, wenn Monsieur Claudes Schwiegersöhne eigentlich ganz harmlos einen Schneemann bauen, darf der Zuschauer keinesfalls vergessen, dass wir es mit einem Chinesen, einem Juden und einem Araber zu tun haben – schließlich sind ja kulturelle Grenzen einzuhalten! Toleranz bedeutet hier: Die Ausländer fügen sich.. zum Beispiel, indem sie lauthals mit Hand auf der Brust die französische Nationalhymne trällern, um so den strammen „Das wird man wohl noch sagen dürfen!“-Patriarchen zu Tränen zu rühren.

          Die Klischees, die das Drehbuch bis zum "lieblichen" Ende auffährt, verdienen einen Reigen an Goldenen Himbeeren: Der Jude arbeitet natürlich als Geschäftsmann und der Kung Fu-erprobte Chinese (die essen sogar Hunde, hihi) kocht Schweinefleisch, was den Juden verärgert. Mindestens genauso gut:
          - "Der Arzt meint, ich leide an einer Depression."
          - "Hast du mich erschreckt!" (bedeutet im Kontext: "Ich dachte schon, es sei etwas Schlimmes!")
          Na ja, Humor ist zum Glück subjektiv.

          Als Monsieur Claudes vierte Tochter jedenfalls auch noch einen Farbigen heiraten möchte, erreicht das Thermometer endgültig den Siedepunkt. Mit dessen Vater ist ein Zusammenfinden - stilecht bei einer schönen Flasche Wein - nur noch über geteilten Rassismus möglich, und auf diese selten dämliche Pointe (= Menschenhass verbindet Menschen) muss man, zugegeben, erst einmal kommen.
          Aber vielleicht sollte ich mit dem Film nicht allzu hart ins Gericht gehen und mich stattdessen einfach mal locker machen. Immerhin habe ich durch "Monsieur Claude" gelernt, dass es unter Ausländern auch Banker und Anwälte gibt. Die sind in Ordnung.

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            Jenny von T 15.02.2017, 20:40 Geändert 15.02.2017, 20:56
            über Fences

            Mit dem Baseballschläger gegen den Teufel…

            FENCES sollte man nicht unterschätzen. Er bringt die Auswirkungen rassistisch bedingter Isolation in Einklang mit zwischenmenschlichen Verfehlungen, die man vielleicht/wahrscheinlich auch als weißer Wohlstandseuropäer schon einmal in den eigenen vier Wänden beobachtet/durchlitten hat. Dabei fallen die Alltagsbeobachtungen des Drehbuchs über weite Strecken beglückend präzise aus (man darf in Eigenverantwortung vom Kleinen aufs Große schließen), von Anbiederei ist hier jedenfalls so gut wie nichts zu spüren – und das hebt den Film positiv von vielen Oscar-Kandidaten ab.

            Genauer gesagt erinnert mich das Ehepaar Maxson an eine Tante und einen Onkel von mir – nur, dass dort die Rollen gewissermaßen vertauscht sind. Meine Tante (nennen wir sie H.) nämlich ist diejenige, die zur Impulsivität neigt und durchweg unter Strom steht (so oder plappert sie unentwegt wie ein Wasserfall, irgendeinen Grund findet sie immer), wogegen der Mann (A.) den Ruhepol bildet. Als ich noch klein war, verbrachte ich immer wieder mal ein Wochenende bei ihnen und stets irritierte mich H.s Strenge gegenüber meinen Cousinen, zumal ich von meiner eigenen Mutter liebevollere Umgangsformen kannte. Abends brachte uns mein Onkel ins Bett, nachdem ich den Tag unter H.s Regentschaft in permanenter Angst zugebracht hatte, etwas falsch zu machen. Sie gab die Befehle, A. bewerkstelligte anschließend so etwas wie emotionale Schadensbegrenzung. Bis heute frage ich mich, wie eine so gutmütige, besonnene Person es mit dieser Frau unter einem Dach aushält, zumal A. dies bereits seit mittlerweile beinahe 40 Jahren tut. Masochismus? Resignation? Depression? "Gegensätze ziehen sich an" kann schwerlich das einzige Geheimnis dahinter lauten – so viel zur Vorgeschichte. Erst neulich (und eher durch Zufall) fand eine meiner Cousinen heraus, dass H. bereits seit Ende der 90’er eine Affäre unterhält, worauf ich als einzige nicht überrascht reagierte – was nur bedingt damit zu tun hat, dass H. mit ihren stechenden blauen Augen nach wie vor eine gewisse Attraktivität ausstrahlt. Zu ihrer Verteidigung muss ich anführen, dass sie "geständig" war und sofort mit der ganzen (?) Wahrheit herausrückte. Angeblich will sie die Verbindung zu dem anderen Mann nun auch abbrechen. Na Bravo! Innerlich applaudierte ich höhnisch – nicht unbedingt, weil sie fremdging, sondern weil sie während all der Jahre offenkundig keinen dringenden Impuls verspürte, eine klärende Entscheidung zu treffen... und sei es bloß zum Wohle ihres Umfelds.

            Ein Leben ohne Lügen indes wäre wohl kein richtiges. Auch Troy Maxson ist im Grunde nicht das, was man unter einem klassischen Sympathieträger versteht. Weil er insgeheim fürchtet, sein Sohn könne ihn eines Tages übertrumpfen, hindert er diesen an der persönlichen Entwicklung. Football ist verboten, Arbeit und Disziplin sind wichtig. Wie FENCES allerdings behutsam aufdeckt, wurde Troy durch eine Vergangenheit geformt, die ihn so sehr brach, dass er nicht weiter an eine bessere Welt glauben kann. Im Laufe des Films avanciert er zum ersten farbigen Müllautofahrer seiner Stadt, aber sein wir ehrlich: Das ist ein bisschen wenig, zumal Troy weder einen Führerschein besitzt noch jemals lesen lernte. Spätestens, als ab Mitte des Films auch noch seine Ehe auf der Kippe steht, muss man sich fragen, inwieweit Troys Situation und Seelenzustand – wenn es das überhaupt gibt - tatsächlich selbstverschuldet sind beziehungsweise welche Wunden vielmehr unheilbar in ihm fortwirken. Die Antwort darauf liefert Denzel Washington keineswegs auf dem Silbertablett serviert, was dazu führte, dass FENCES mich nachhaltig beschäftigt. Hier haben wir es gerade nicht mit einem Film zu tun, der mit Gebrüll Mauern (oder Zäune) einreißt - aber wenn sich schon nicht über solche Hindernisse hinwegschauen lässt, dann (hier sogar buchstäblich) doch immerhin zur Sonne empor. Was ja sowieso viel mehr bedeutet.

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            • Bad Blake aus "Crazy Heart".
              Weil unsere begrenzte Zeit auf dieser Welt am Ende irgendwie doch eine Aneinanderreihung von Begegnungen, Abschieden, Abstürzen und Neuanfängen ist. Jede einzelne Falte in Jeff Bridges' Gesicht scheint eine Geschichte davon zu erzählen. Eigentlich braucht es die Musik daneben gar nicht mehr - mit ihr (und das will etwas heißen) ist der Film aber *noch* besser.

              "Where do all the songs come from?"
              "Life, unfortunately."

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              • Mel Gibson hat (wenn er denn will) handwerklich was auf dem Kasten, aber verteidigen braucht man ihn definitiv nicht. Ich erkenne bei ihm insbesondere kein "Gespür für Heldengeschichten", sondern stattdessen pathetische Überhöhung und ideologische Verklärung. Für "denkwürdige Momente" sorgen seine filmisch zum Ausdruck gebrachten Erlöserphantasien zwar schon, aber eben auf zweifelhafte Art. Alles, was hier lobend steht, empfinde ich komplett gegenteilig. Es sind für mich genauer gesagt Argumente, Gibsons Regie-Arbeiten tunlichst zu meiden, zumal sie durchweg weltanschaulich-steinzeitlich gefärbt sind. Erst heute habe ich zum Beispiel "Braveheart" geschaut. Meine Zehennägel krümmen sich nach oben, wenn ich nur sehen muss, wie dort der schwule königliche Thronfolger als schwächlicher Waschlappen dargestellt wird und dessen Ehefrau mit Superkrieger William Wallace dann endlich einen "richtigen Mann" bekommt - bzw. das, was Gibson dafür hält. Am Anfang heißt es (richtigerweise) noch, man solle erst sein Hirn und dann das Schwert benutzen, doch der ach so heroische (natürlich unhinterfragt bleibende) Protagonist wirft dieses Prinzip erschreckend schnell über Bord... schließlich gibt es nichts Ehrenhafteres als fürs Vaterland zu sterben. Und irgendwie weiß man damit schon das Wichtigste über Gibsons Verständnis einer guten Geschichte.
                Formal wiederum reichen seine Filme von überragend ("Apocalypto") über konventionell (besagter "Braveheart") bis katastrophal ("Hacksaw Ridge"). Aber selbst die makelloseste Inszenierung kann mir Gibsons reaktionäres Gedankengut - welches er ja auch kaum zu verstecken versucht - nicht schmackhaft machen.

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                • 8
                  Jenny von T 29.01.2017, 16:53 Geändert 29.01.2017, 17:22

                  Ang Lee versäumt es nie, mich zu beeindrucken. Sein BILLY LYNN’S LONG HALFTIME WALK mag in manch anderen Aspekten nicht perfekt sein, aber er widersteht jeglicher ästhetischen wie auch erzählerischen Versuchung, die dem Genre des Kriegsfilms wohl leider immanent ist: Der Faszination für Gewalt und das Töten zu erliegen. Selbst in den Rückblenden, einzig sie spielen im unmittelbaren Kriegsgebiet, gilt sein alleiniges Interesse menschlichem Befinden – und eben nicht dem Spektakel. Die allgegenwärtige Sehnsucht nach Helden(geschichten), welche zu inszenierten Wahrheiten führt, erörtert der Regisseur ziemlich virtuos gleich mit. Oder eher: gewohnt virtuos. Eine vergleichbare Umsicht und Klugheit auf diesem Terrain habe ich vermisst.

                  Teils wird dem Film vorgeworfen, ihm fehle es an Biss, aber Ang Lee war nie Satiriker und das Anklagen nicht sein Ding. Ich finde, im Gegenteil, dass zahlreiche Eindrücke für sich selbst stehen: Wenn die Kompanie auf der Bühne hinter den punktgenau performenden Grazien von Destiny’s Child buchstäblich die zweite Reihe bildet, oder allgemein die geballte mediale verlogene Lüsternheit, der die Soldaten sich direkt nach ihrem Einsatz ausgesetzt sehen. Der Krach eines Feuerwerks leitet über in den eines Kugelhagels - und auf den Horror an der Front folgt die kommerzielle Ausschlachtung von Halbwahrheiten. Zwar beweist der junge Protagonist großen Mut, als er Shroom (Vin Diesel) unter Beschuss zu Hilfe eilt, jedoch verschweigt die Berichterstattung mehr oder weniger, dass der Sergeant am Ende trotzdem seinen Verletzungen erlag. In einer Schlüsselszene äußert Billy absolut glaubhaft Verwunderung darüber, für den schlimmsten Tag seines Lebens gefeiert zu werden.

                  Überhaupt konfrontiert Lee uns mit einer im besten Sinne nebulösen, gespaltenen Hauptfigur. Einerseits weiß Lynn scheinbar noch immer um die Bedeutung eines Menschenlebens, obwohl diese im Angesicht des Krieges zu einem weißen Fleck verblasst. Auch das Verlangen nach Liebe/romantischer Erfüllung ist ihm keineswegs vollends abhanden gekommen. Andererseits schreitet er beispielsweise – obwohl unmittelbar daneben sitzend – erst relativ spät ein, als jemand aus seiner Gruppe im Football-Stadion einen provozierenden Fan zu erwürgen droht. Seine Schwester Kat (Kristen Stewart) kündigt – was sie wohl ernst meint - ihren Selbstmord an für den Fall, dass Billy etwas zustoße, aber dieser entgegnet einigermaßen kühl und zudem ohne Begründung, dass er zurück in den Irak müsse. Kat ist diejenige, die den ganzen Wahnsinn direkt ausspricht und ihren Bruder einfach nur lebend wähnen will. Aber niemand versteht vollumfänglich, was der Krieg mit und in einem anrichtet; höchstens die Betroffenen untereinander ("I love you"?). Dies erfährt hier nicht zuletzt der Zuschauer, indem Ang Lee sich weigert, Billy Lynn zu erklären – so nahe die Kamera dem Gesicht von Joe Alwyn auch kommt. Wie seine Tränen beim Salutieren bis zum Kinn herunterlaufen während seine rechte Hand zittert, zählt vermutlich schon jetzt zu den ausdrucksstärksten Bildern des Kinojahres.

                  Denn was helfen ihm die Schulterklopfer, wenn der Tod zum Alltag gehört? Und wer dieser Leute gedenkt ihm, sollte er demnächst allein hinter einer Mauer verbluten? – dem Held aus der Halbzeitpause.

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                  • 8 .5

                    Zum Jahresbeginn bin ich ziemlich überstürzt von einer mittelgroßen (das heißt: im Vergleich irgendwie doch ziemlich winzigen) Stadt nach Berlin gezogen und finde mich jetzt am anderen Ende von Deutschland wieder. Wann immer ich durch eine Unterführung oder unter einer Brücke hindurch schlendere, höre ich Züge und S-Bahnen über mich hinweg brettern; meine neue Laufstrecke zwingt mich, mindestens 5 Ampeln auszusitzen (ein bisschen ärgerlich, aber OK) und generell schläft dieser Ort natürlich nie. Nun kann ich viel mehr Filme im Kino schauen als in dem "Provinznest", wo ich herkomme. Früher musste ich – gleichwohl ich es gern tat - für so manche Arthouse-Produktion zig Kilometer zurücklegen. Doch in Berlin sind selbst OmU-Vorstellungen teils extrem gut besucht... gestern zum Beispiel war der Saal sogar gerammelt voll. In der Reihe hinter mir fachsimpelten zwei Leute über den kommenden Scorsese. Ich war langfristig – und dies ist die andere Seite - noch nie über eine vergleichbare Distanz von meiner Familie getrennt, komme jedoch besser zu Recht als ich es mir selbst zugetraut hätte. Und gestern wurde mir versichert: Mit dem richtigen Film fühle ich mich – zumindest für eineinhalb bis zwei Stunden - überall zu Hause.

                    Die kleinen Schönheitsfehler an MANCHESTER BY THE SEA will ich zuerst abhaken, um das schnell vom Tisch zu räumen: Der gelegentlich aufblitzende Humor schien mir nicht immer perfekt platziert und zwei bis drei Szenen (Stichwort: Das Dinner bei Patricks Mutter) hätte man weniger harsch ausrichten können.

                    Die Stärke des Films indes trägt einen Namen: Casey Affleck. Wer seine Schauspiel-Implosionen als "apathisches Dreinblicken" aburteilt, der verpasst eine ganze Menge, denn die Figur, die Affleck so intim verkörpert, mag vieles sein, aber gewiss nicht teilnahmslos. Dies zeigt sich, wenn Lee Chandler Abschied von seinem verstorbenen Bruder nimmt, "normale" Lebewohls andererseits abwürgt. Wenn er eine Umarmung nur sehr zaghaft erwidert oder seine Stimme – eigentlich klingt Affleck ohnehin, als befände er sich gewissermaßen noch mitten im Stimmbruch – absackt, weil ihm die Tränen kommen, um im letzten Moment dann doch in seinen Augen stecken zu bleiben. Aussprachen zählen ebenfalls nicht unbedingt zu seinen Spezialitäten. Obwohl nicht von besonders hoher oder breiter Statur, traut man diesem Typ ohne weiteres zu, im Pub eine Schlägerei zu provozieren. Lee Chandler weiß weder wohin mit seinem Selbsthass noch mit seiner unverarbeiteten Trauer. Seine Jeans sind ausgewaschen, dasselbe gilt für ihn.
                    Und nun müssen er und sein Neffe Patrick einen familiären Todesfall überstehen. Lee, plötzlich mit Verantwortung ausgestattet, möchte zunächst den für ihn bequemsten Weg einschlagen, überwindet allerdings irgendwann die Tatsache, dass er nicht der einzige Mensch auf der Welt ist, wogegen Patrick noch sein gesamtes Leben vor sich hat und man ihm demnach vielleicht das Recht zugestehen sollte, eigene zukunftsträchtige Entscheidungen zu treffen. Das klingt nach wenig, erfordert tatsächlich hingegen eine geradezu gigantische innere Entwicklung, die der Film behutsam nachzeichnet und erforscht.

                    Familie ist manchmal wie eine Plastiktüte, die einem übergestülpt wird. Sie ist – egal, wie weit entfernt - aber auch das, was fortwirkt, wenn nichts mehr geht. Dies demonstriert zu kriegen empfand ich gestern als sehr tröstlich. In verklammernden Rückblenden inszeniert Kenneth Lonergan gemeinsame Ausflüge von Lee, Joe und dem kleinen Patrick mit dem Fischerboot – auf jenem wasserschaukelnden Terrain endet MANCHESTER BY THE SEA übrigens auch - und gleichwohl diese Zeit über 10 Jahre zurück liegen muss, gab man sich im Rahmen der Dreharbeiten offenbar keine Mühe, Affleck und Kyle Chandler jünger aussehen zu lassen. Manches überdauert eben die Jahre.

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                    • 7
                      Jenny von T 14.01.2017, 12:41 Geändert 14.01.2017, 13:44

                      LA LA LAND bescherte mir eine positive Überraschung. Nach den Trailern erwartete ich ein eher steriles und vor allem seichtes Filmchen, das zu sehr damit beschäftigt ist, seine Vorbilder nachzubuchstabieren, um eigenen Glanz auszustrahlen. Allerdings ließ ich mich gerne eines Besseren belehren.

                      Natürlich: Chazelles Einflüsse kleben gebündelt auf dem Präsentierteller. Der Jungregisseur, der sich mit gerade einmal 32 Jahren auf einen regelrechten Oscar-Regen gefasst machen darf, hat seine Hausaufgaben mit Bravour bewältigt. Zwar bin ich beileibe keine Musical-Expertin, aber inszenatorisch bewegt sich das hier für meine Begriffe auf allerhöchstem Niveau (den Beteiligten vorzuwerfen, dass sie sich Mühe gegeben haben, liegt übrigens fernab meines Verständnisses).
                      LA LA LAND anzuschauen ist beinahe so, wie selbst zu tanzen – denn nicht nur sind Emma Stone und Ryan Gosling permanent in Aktion, auch die einzelnen Szenen fließen rhythmisch ineinander. Ein harmonisches Ganzes auf die Beine zu stellen finde ich speziell bei Musikfilmen relativ schwierig, schließlich gilt es, Gesangs- und/oder Stepp-Einlagen aufzufahren ohne dabei die eigentliche Geschichte sowie die Charaktere zu vernachlässigen. Im Idealfall erzählen die Songs gleich mit. Chazelle meistert diesen Spagat, als habe er sein Leben lang nichts anderes getan. Die zwei Stunden vergehen daher wie im Fluge.

                      Doch bei aller (wie gesagt: nicht unberechtigten) formalen Verzückung scheint im Allgemeinen ein wenig unterzugehen, dass LA LA LAND inhaltlich durchaus mit klassischen Formeln bricht. Eines seiner Hauptanliegen ist die Utopie vollkommenen Glücks, welche damit beginnt, dass wohl jeder im Laufe des Lebens einmal zwischen verschiedenen Optionen wählen muss... mit einschneidenden Konsequenzen. Manchmal ist man sogar gezwungen, eine tragende Säule vollständig für eine andere loszulassen (oder das festigende Band zumindest wesentlich zu lockern). Dies ist der Punkt, an dem das Träumen einsetzt. Denn sobald wir unseren Weg eingeschlagen haben, malen wir uns aus, wie es eben auch hätte kommen können – und den Rest der Zeit verbringt man schließlich damit, sich von den Tatsachen abzulenken.

                      Damien Chazelle weiß um die Macht des Blicks, schon WHIPLASH legte darüber Zeugnis ab. Auch LA LA LANDs finale Szene gehört ganz den Augen der Hauptdarsteller, die einander etwas versichern. In ihnen steht geschrieben: Wehmut, Dankbarkeit, daneben bittersüße Gewissheit. In diesem Film nämlich entscheiden sich die Liebenden gegen ihr Schicksal, gleichwohl dies logischerweise unmöglich ist – nicht ohne Grund laufen die Pfade von Mia und Sebastian immer wieder zusammen, egal was die beiden auch tun. Genau genommen bleibt sogar unklar, was von dem Gezeigten wirklich geschah und was lediglich den abschweifenden Gedanken der Figuren entsprang – denn ein Träumer legt bekanntlich selbst fest, was für ihn real ist. Filme wiederum können zugleich romantisch und ehrlich, altmodisch und doch modern sein. Schön, dass Damien Chazelle uns mit LA LA LAND daran erinnert.

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                      • 8

                        THE BAD SLEEP WELL sieht aus und klingt wie ein film noir. Verlorene Seelen irren durch einen düsteren Nachkriegs-Großstadtdschungel, bis ihre Silhouetten in der Nacht verschmelzen und sich ins unabwendbare Inferno schleppen. Auch und vor allem aber ist er ein Kurosawa noir. Eine Filmgattung mit ihren Regeln zu beherrschen ist gut, sie sich ganz und gar zu eigen zu machen allerdings noch besser. Nicht, dass Kurosawa mir noch etwas hätte beweisen müssen... vielleicht sollte ich sachlich bleiben.

                        Toshirō Mifune schlüpft in die Rolle eines zunächst unscheinbaren Sekretärs, der in eine Industriellen-Familie mit – so viel sei verraten – unschönen Machenschaften hinein heiratet. Jedoch ist der junge Mann von klaren Motiven getrieben, die er um jeden Preis in die Tat umzusetzen gedenkt. Als er beginnt, echte Innigkeit für seine Ehefrau zu entwickeln, verkompliziert sich die Situation weiter und der Zuschauer muss sich so langsam auf eine Katastrophe shakespeare'schen Ausmaßes gefasst machen (der Film basiert tatsächlich lose auf dem Stück "Hamlet").

                        Lesbar ist THE BAD SLEEP WELL sicherlich als Anklage gegen das kapitalistische System, insoweit zählt er vielleicht sogar zu Kurosawas radikalsten, unmissverständlichsten und zeitkritischsten Werken. In gewisser Weise hat er hier, wenn man so möchte, seine Version von DER PATE gedreht, zumal der Regisseur sogar ebenfalls mit einer Hochzeitszeremonie einsteigt. Das Unheil kündigt sich bereits sehr früh an, genauer gesagt durch die feierliche Torte.

                        Eine Tragödie bricht dort Bahn, wo jemand etwas per se Gutes (oder zumindest als gerecht Empfundenes) tun möchte und trotzdem in der Hölle landet – zum Beispiel, weil die Person sich in Emotionen verrennt, zu den falschen Mitteln greift oder die Situation nicht (mehr) umfassend überblickt. In THE BAD SLEEP WELL verschafft eine unkalkulierte Zuneigung dem Protagonisten die Einsicht, dass er – blind vor Rachsucht – auf dem besten Weg war, genauso skrupellos zu werden wie die Gruppe Männer, die er eigentlich bekämpft. Sein daraus resultierendes Zögern jedoch ist zugleich sein Verhängnis. Liebe und Tod, Hoffnung und Untergang – alle Zeichen sind ultimativ verdreht. Das Feuer lodert heftig, aber eben nur kurz. Und ein guter Dramatiker weiß: Menschen sind ihren Gefühlen ausgeliefert und niemals vorbereitet.

                        Kurosawa kommt dem entgegen, erst dadurch veredelt er diesen Film. So kann selbst ein jahrzehntelanger krimineller Mitläufer nicht ewig sein schuldbeladenes Gewissen unterdrücken, während ein anderer für einen flüchtigen Moment den Teufelskreis durchbricht, indem er schlicht verzeiht. Kurosawa ist also (im Hinblick auf den fatalistischen Ausgang der Geschichte) kein Pessimist, weil er es so will, sondern weil er muss. Humanist zu sein bedeutet nicht, die Augen vor allem Schlechten in der Welt zu verschließen. Es bedeutet hinzusehen in der Absicht, zu verstehen.

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                        • Jenny von T 29.12.2016, 10:12 Geändert 29.12.2016, 10:16

                          Coole, weil abwechslungsreiche Liste, gleichwohl ich nicht alles hiervon überragend fand (3 der Nennungen muss ich allerdings noch nachholen). Die Aufzählung ist fast so crazy wie die Herzog-Doku, die sie beinhaltet. Daher Sympathien meinerseits, zumal hier konsequent an sämtlichen Negativ-Trends des diesjährigen Kinos vorbeigedacht wurde. Stattdessen Lob für z.B. Apichatpong Weerasethakuls Entschleunigung oder den klugen The Hateful Eight, der laut vieler Stimmen ja der schlechteste Tarantino seit Langem sein soll (in meinen Augen ist es eher einer seiner Besten). Selbst in einem so dürftigen Jahr wie 2016 gibt es immer noch erfreuliche Alternativen - auch, wenn man manche dieser Lichtblicke schon gar nicht mehr oder nur kurz im Kino zu sehen bekommt (Netflix, Direct-to-DVD releases usw.).

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                          • Jenny von T 25.12.2016, 10:49 Geändert 25.12.2016, 10:56

                            Ich hätte nicht gedacht, mich einmal über Bales Visage auf einem Headerbild zu freuen.^^
                            The Big Short ist selbstverständlich in der korrekten Jahresliste (nämlich der FLOP 10) gelandet. Ich müsste sicher länger überlegen, bis mir ein Film einfiele, dem ähnlich stark daran gelegen ist, seine "Intelligenz" auszustellen. Wohl allenfalls die frühen Godards können in Sachen Penetranz noch mithalten, wobei die wenigstens inszenatorisch eine Marke setzten. Hier aber sind die Macher dem Irrglauben erlegen, die filmische Aufbereitung von Wikipedia-Fakten sei schon dann künstlerisch wertvoll, wenn Margot Robbie halbnackt in einer Badewanne sitzend eben diese vorträgt.
                            Auch ansonsten geht die Aufzählung absolut klar. Ich vermisse allerdings Sully ein bisschen, auf den du offenbar ja ebenfalls einen ziemlichen Hals hattest. Aber 2016 bescherte uns einfach zu viele Nieten, sodass die Auswahl wohl leider dementsprechend schwer fiel.

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                              Jenny von T 23.12.2016, 11:03 Geändert 23.12.2016, 11:25

                              NOCTURNAL ANIMALS will zu viel mit zu einfachen Mitteln, das ist sein Problem. Zwar scheut Tom Ford keinen erzählerischen Aufwand, andererseits wird ihm genau das zum Verhängnis, indem [Achtung, Spoiler] ein groß aufgezogener, aber im Wesentlichen äußerst konventioneller Genrefilm-im-Film als Verlust-Parabel auf eine gescheiterte Beziehung herhalten soll.

                              Einige stilistische Kniffe machen dabei durchaus noch etwas her. So muss dem Zuschauer klar sein, dass wir über die gesamte Laufzeit hinweg die Perspektive Susans einnehmen, während sie in der Gegenwart das Manuskript ihres Ex-Gatten Edward liest. Die männliche Hauptrolle des literarischen Werks besetzt sie geistig mit Edward. Dies passt zu einem Einblick, den der Film später eröffnet - in einer Rückblende nämlich wirft Susan dem (damals noch angehenden/erfolglosen) Autor vor, nur über die eigene Person zu schreiben und damit zu langweilen. Vermeintlich konsequent wäre es nun, würde Susan – zumal ihr das Buch gewidmet ist – in Gedanken auch sich selbst in der weiblichen Rolle positionieren. Das jedoch tritt nicht ein, vielmehr wird Jake Gyllenhaals Frau in der Erzählung von Isla Fisher (und eben nicht von Amy Adams) verkörpert. Susan spricht sich damit wider besseres Wissen von jenem Einfluss frei, den sie offensichtlich auf den Entstehungsprozess des verstörenden Thrillers ausübte – und damit auch von dem seelischen Leid, welches sie ihrem einstigen Partner Edward zufügte, den sie betrog und dessen Kind sie abtreiben ließ. Mit anderen Worten: Sie leugnet ihre Schuld, was schließlich irgendwann auf sie zurückwirken muss.

                              Um dem ganzen Tohuwabohu zwischen Flashbacks, dem Hier und Jetzt sowie dem fiktiven Element Herr zu werden, bedient sich Tom Ford unter anderem geschickter Cuts, die NOCTURNAL ANIMALS eine gewisse Eleganz verleihen, für meinen Geschmack allerdings nicht vollends über die fahrige Konstruktion des Gesamtprodukts hinwegtäuschen. Manchmal rutscht der Regisseur gar in plattestes Thesenkino ab – zum Beispiel, wenn er anhand seiner Protagonistin Susan bestätigt, dass jedes Mädchen eines Tages unweigerlich so wird wie ihre Mutter. Sicher wäre es auch ohne erhobenen Zeigefinger gegangen.

                              Ebenso wenig gewinnt Ford mit seiner Zeitgeist-Kritik einen Blumentopf. Susan, ihres Zeichens Betreiberin eines Kunstmuseums, führt ein Leben in Wohlstand und ist dennoch unzufrieden in ihrer recht lieblosen, unaufrichtigen neuen Ehe. Damit nicht genug, muss sie sich zudem beruflich mit Menschen umgeben, für die Oberflächen und Gewinnstreben an erster Stelle stehen. Als Amy Adams versehentlich das Luxus-Phone einer Kollegin aus der Hand fällt, meint diese nur unbeeindruckt, dass nächste Woche ja ohnehin das neue Modell auf den Markt komme. Ähnlich subtil glänzte dieses Jahr Refns THE NEON DEMON.

                              Der Modedesigner Ford bestätigt letztlich metakräftig seine in NOCTURNAL ANIMALS aufgeworfene These, ein Künstler könne sich nie ganz hinter seinem Werk verstecken – denn so stilvoll die Fassade auch anmutet, so sehr fehlt es mir an Tiefgang, Differenziertheit und Nachwirkung.

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                              • Jenny von T 20.12.2016, 19:36 Geändert 20.12.2016, 20:05

                                Jetzt hat der Herdentrieb auch mich erfasst. :-p Hier meine all time top 10:

                                1. Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford (2007)
                                2. Die werckmeisterschen Harmonien (2000)
                                3. The Man Who Wasn't There (2001)
                                4. 2001: Odyssee im Weltraum (1968)
                                5. Mulholland Drive (2001)
                                6. Die Klavierspielerin (2001)
                                7. Aus der Mitte entspringt ein Fluss (1992)
                                8. Nostalghia (1983)
                                9. Breaking the Waves (1996)
                                10. Herbstsonate (1978)

                                Wie sicher jede Bestenliste hier unterliegt meine ebenso gewissen Schwankungen. Wer Filme liebt und einmal versucht hat, sich auf 10 Favoriten festzulegen, wird das nachvollziehen können. :-)

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                                  Jenny von T 16.12.2016, 18:08 Geändert 16.12.2016, 18:46

                                  Wahrscheinlich Mel Gibsons ideologisches Opus Magnum, was absolut nichts Gutes bedeuten kann. Hier bündelt er alles in einem irren Mix: Seinen Patriotismus, den religiösen Fundamentalismus, spirituelle "Reinheit", Erlöserphantasien und mehr. Kurzum: Die totale Verblendung.

                                  Ich muss eingestehen, mich mit dem echten Desmond Doss nicht hinreichend befasst zu haben, daher nehme ich allein Bezug darauf, wie Gibson ihn bzw. dessen Lebensgeschichte darstellt.
                                  Hier ist der junge Mann glühender Patriot, aber zugleich überzeugter Pazifist, was der Regisseur keineswegs als Widerspruch auffasst, sondern als geradezu göttlich verkauft. Dem Vaterland dienen also – wenn nötig - bis in den Tod, jedoch unter Ablehnung von Gewalt jeglicher Form. Ich persönlich bin mir da ehrlich gesagt nicht ganz so sicher. Oder vielleicht denke ich zu pragmatisch, wenn ich die Ansicht vertrete, dass man auch als Corporal in einer Sanitätseinheit auf eine Weise sehr wohl den Krieg unterstützt: Man flickt die Kameraden (also die, die noch nicht tot sind) zusammen, damit sie im Idealfall gleich wieder aufs Schlachtfeld ziehen können. Ja, das klingt verdammt zynisch, aber das bin nicht ich, sondern das – unter anderem - ist das Wesen des Kriegs. Und eben jenes feiert Gibson aus vollen Rohren ab: Mit jumpscares (!!!), Handgranaten-Catching, Dumpfbacken-Action à la Michael Bay und Pathos im Schützengraben.
                                  Er suggeriert, im Krieg existiere so etwas wie Schadensbegrenzung, oder viel mehr noch: Heldengeburten. Aber auch dann, wenn Doss Tausende gerettet hätte, überwiegt das universelle Grauen immer noch bei Weitem. Es ist stärker als der Einzelne, gleichwohl Hollywood nicht zum ersten Mal am Gegenteil festhält.

                                  Und das Trauerspiel kennt kein Erbarmen. Um den Protagonist ins hellste Licht zu rücken, muss dieser als schlichtes Gemüt herhalten, das einfach nur für alle das Beste will. Er ist "einer von uns" – eine Masche, die bekanntlich sehr gut zieht, egal ob auf der Leinwand oder gar im Wahlkampf. Das Mädchen, dem Doss von der ersten Begegnung an zu Füßen liegt, erwidert seine Gefühle zunächst nur bedingt. Erst, als er der Angebeteten einen Kuss aufzwängt, ist sie plötzlich Feuer und Flamme. Diese mehr als fragwürdige Aktion verklärt der Film peinlichst durch Doss' Unbeholfenheit in Beziehungsfragen, womit nebenbei schließlich auch noch Gibsons problematisches Frauenbild manifestiert wäre. Glückwunsch dazu.

                                  Warum ich im Ergebnis überhaupt 3 Punkte springen lasse, weiß ich selbst nicht genau. Vielleicht liegt es an meinen ungebrochenen Sympathien für Andrew Garfield, den ich weiterhin für einen der 5 talentiertesten Schauspieler seiner Generation halte (wer mich deshalb für verrückt erklärt, dem empfehle ich 99 HOMES oder BOY A). Seine Bescheidenheit ist stets authentisch und das ist wirklich das einzig Positive, das ich über HACKSAW RIDGE sagen möchte.

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                                    Jenny von T 04.12.2016, 20:07 Geändert 04.12.2016, 21:45
                                    über Sully

                                    Bieder, eindimensional, uninteressant – das sind noch nettere Umschreibungen, die mir auf Anhieb zum neuen Eastwood einfallen. Zwar steht – jener Umstand ist wohlgemerkt bereits verwirrend genug - SULLYs Wertekatalog dem von AMERICAN SNIPER diametral entgegen und doch lässt das Endprodukt ähnliche Schlüsse zu: Mit moralischen Grauzonen (also Kunst) hat die Hollywood-Legende offenbar nicht mehr viel am Hut. Stattdessen gibt es nur noch das Extreme.
                                    Gegen die guten Absichten von SULLY lässt sich dabei zunächst einmal natürlich nichts einwenden. Im Gegenteil finde ich es löblich, den Faktor Mensch auf der Leinwand zu betonen, während wir in der Realität einander immer mehr zu bloßen Objekten degradieren. Für die Arbeitswelt veranschaulichte dies zuletzt Stéphane Brizé unaufgeregt und präzise mit LA LOI DU MARCHÉ. In dieselbe Kerbe schlägt der diesjährige Cannes-Sieger I, DANIEL BLAKE und auch die Auswirkungen zunehmender Digitalisierung avancieren zum thematischen Entfremdungs-Dauerbrenner.
                                    Aber wie das mit guten Absichten nun einmal so ist: Nur, weil jeder sie für sein Handeln beansprucht, führen sie noch lange nicht ans Ziel. Nicht selten geht jede Glaubwürdigkeit verloren, wenn man meint, über die Steine auf dem Weg einfach hinweg fliegen zu können.
                                    So erkläre ich mir, dass SULLY im Ergebnis anmutet wie ein Zerrbild, torkelnd zwischen (behaupteter) Dokumentation und Manipulation. Denn vermutlich niemand bei vollem Verstand würde Kapitän Chesley Sullenberger, der 2009 eine Maschine sicher (meint: Es gab weder Tote noch Schwerverletzte) auf dem Hudson River landete, den verdienten Respekt verweigern. Eastwood indes fällt rein gar nichts anderes ein, als in schnödester Fernsehoptik auf der Heldenhaftigkeit seines bescheidenen Protagonisten herumzureiten – ironischerweise, bis dieser fast tatsächlich unsympathisch wird. Und das wiederum will mit Tom Hanks in der Hauptrolle wirklich etwas heißen.
                                    Was mit der Verniedlichungsform im Filmtitel beginnt, setzt sich im eigentlichen Werk konsequent fort. Und dabei bleibt es nicht: Der Regisseur stimmt die ganz alte "Wir können die Katastrophe bewältigen, wenn wir nur zusammenhalten"-Leier an, von der ich mir einbildete, Roland Emmerich habe sie längst zu Grabe getragen.
                                    Ratlos lässt Clint Eastwood mich zurück. Erst setzt er einem Serienkiller ein Denkmal, um unmittelbar darauf - sozusagen im Sturzflug - einen radikalten humanistischen Richtungswechsel einzuleiten, der mich jedoch kaum berührt. SULLY wirkt wie ein Spielberg, der aufgegeben hat, an seine Ideale zu glauben. Und vielleicht tut sich genau hier der entscheidende Faktor auf - die Filme des einen schätze ich nämlich auch heute noch für ihre aufrichtige Warmherzigkeit, dem anderen hingegen würde ich so langsam ein Ende der Regie-Karriere nahelegen...

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                                      Jenny von T 26.11.2016, 18:59 Geändert 26.11.2016, 19:54
                                      über Arrival

                                      Vielleicht habe ich GRAVITY vor 3 Jahren unterschätzt. Es zeichnet sich nämlich ab, dass Alfonso Cuarón eine Welle losgetreten hat. Sie betrifft den aktuellen Trend, das Sci-Fi-Genre mit tonnenweise Familien- und/oder Selbstfindungskitsch zu übergießen und damit – siehe Nolans INTERSTELLAR - zu vertuschen, dass man in Wahrheit bei aller inszenatorischen Pracht den eigenen inhaltlichen Ambitionen hinterherhinkt. Wo diese bei GRAVITY sowie THE MARTIAN von vorneherein noch überschaubar ausfielen, hat sich Denis Villeneuve zweifellos eine Menge vorgenommen. Ohne wichtige Details zu verraten, kann man preisgeben, dass sein Film die Macht von Verständigung (im engeren Sinne: Sprache, im weiteren Sinne: Diplomatie) behandelt und - damit untrennbar verknüpft - den freien Willen des Menschen auf eine harte Probe stellt.
                                      Doch leider wählt der Regie-shooting star bei jenen Vorhaben den denkbar einfachsten Weg. So besiegelt [Achtung, ab hier Spoiler] ein einziger Anruf nach China nicht nur den Weltfrieden, sondern auch das "Ja!" zum Leben und ARRIVAL landet letztlich eben doch im Schongang auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner der Kinogänger, während die Schlüssigkeit des Drehbuchs Lichtjahre hinten ansteht.
                                      Wieder einmal überwindet die Liebe sämtliche Dimensionen und wir klatschen in die Hände ob dieses ach so originellen Meisterstücks.
                                      Die eigentliche Tragik der Figur von Amy Adams hingegen kriegt Villeneuve kaum zu fassen: Angesichts des Wegfalls von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft scheint jegliches Geschehen bzw. Tun praktisch egal – also in der Weise, dass eine Einflussnahme auf die Ereignisse somit im Grunde schlechthin ausscheidet, zumal die Dinge ja bereits in Stein gemeißelt sind. Das bedeutet: Jede Vision von Amy Adams ist praktisch im selben Moment real. Dieser Gedanke wiederum ist an sich schon ziemlich bind-mending, aber nicht minder melancholisch, und wahrscheinlich vergebe ich dafür meine 5.5 Punkte. Sollten Aliens unter uns weilen, male ich sie gerne auch in einem Kreis auf, gleich neben "verschenktes Potenzial". ;-)

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                                        Jenny von T 19.11.2016, 18:24 Geändert 19.11.2016, 18:40

                                        Auf nächtlichen Schienen beginnt THE CHILDHOOD OF A LEADER und gewissermaßen endet der Film dort auch. Man könnte sagen, ihm ist ein Determinismus eingeschrieben, der ab Minute 1 seine vernichtenden Kreise zieht und vom jungen Prescott, dessen Name – obwohl er die Hauptfigur ist - sicher nicht umsonst bloß ein einziges Mal in den kommenden zwei Stunden fällt, Besitz ergreift.
                                        Ins Schwärmen gerate ich hier schon, wenn wir zu Anfang durch ein Fenster schauen und kleine Gestalten mit Flügeln – eine nach dem anderen – das Blickfeld des Zuschauers streifen. Einzig Kerzenlicht bestrahlt die Szenerie und man fühlt sich ein wenig an Stanley Kubrick bzw. seinen BARRY LYNDON erinnert. Wäre da nicht der pumpende, fatalistisch-nervöse Score von Scott Walker, würde man gar meinen, tatsächlich aus dem Dunkeln heraus eine Engels-Zeremonie zu beobachten, doch es sind "nur" verkleidete Kinder, die eine Weihnachtsaufführung proben.

                                        Brady Corbet arbeitete – was ihn sichtlich prägte - als Darsteller bereits mit einigen Schwergewichten des Autorenkinos zusammen. Jetzt nimmt er erstmals auf dem Regie-Stuhl Platz und das Ergebnis ist ziemlich beeindruckend, zumal für einen erst 28-Jährigen. Sein Debüt fällt insgesamt angenehm unprätentiös aus, denn weder hat Corbet – wie viele andere Newcomer es ja gerne tun – sich selbst gecastet noch langweilt er sein Publikum mit poserhaften Manierismen. Vielmehr spürt er im Frankreich des frühen 20. Jahrhunderts intuitiv, aber konzentriert und stilbewusst den Ursachen nach, die einen Menschen zum Faschisten machen, womit er inhaltlich auf den Spuren Michael Hanekes (DAS WEISSE BAND) wandelt. Dabei hängt THE CHILDHOOD OF A LEADER sich ebenso wenig an Thesen auf, im Gegenteil gelingt das dämmrige Puzzle einer zerfallenden Seele. Über die starke Atmosphäre setzt es sich im Kopf wie von ganz allein zusammen.

                                        Warum Prescott so ist, wie er eben ist bleibt mithin das eigentliche Rätsel, welches Corbet auch gar nicht abschließend zu lösen vorgibt. Allerdings wimmelt sein Erstling von bedeutsamen Details… kleinen Gesten der Ignoranz und des Machtmissbrauchs, die – so will es der Film - vom Privaten auf das Politische deuten.
                                        Ein Kind wählt seine Eltern nicht, deren Vorstellungen über Erziehung ist es gewissermaßen ausgeliefert. Gleichwohl trägt man ein Leben lang mit sich herum, was man in jenen Jahren lernte – und mit "lernen" meine ich nicht das Alphabet oder das Einmaleins. Zum Beispiel kann man lernen, dass Gefühle verboten sind oder Erkenntlichkeit, wenn überhaupt, lediglich als Lohn von Disziplin und Gehorsam winkt. Wer jedoch nicht mit Liebe aufwuchs, kann diese später schwerlich weitergeben. Eher wird die entsprechende Person nach Schuldigen suchen. Einst erfahrene Demütigungen bringen eines Tages vielleicht sogar das Hässlichste aus einem Menschen hervor, und wie vielschichtig diese Niederlagen bei wehrlosen Gegnern auftreten, darüber gibt THE CHILDHOOD OF A LEADER erschreckenden Aufschluss. Die Mechanismen von Gewalt fasst er außerdem in nachwirkende Aufnahmen, wenn Corbet uns informiert, dass sein Protagonist bereits durch Albträume die Zukunft kannte.
                                        "I don't believe in praying anymore!" – ja, das glaubt man Prescott ohne weiteres. Manchmal scheint er sich in den eigenen vier Wänden wie ein Geist zu verselbstständigen, dann wieder lässt er nichts unversucht, um wenigstens irgendwie gehört zu werden. Doch wie lange währt seine Unschuld?
                                        Ein Film, der womöglich aktueller daherkommt, als man wahrhaben will.

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                                          Jenny von T 05.11.2016, 11:56 Geändert 06.11.2016, 00:39

                                          In etwa so stelle ich mir einen perfekten Actioner vor. Manchmal war ich unsicher, in RUNAYWAY TRAIN nicht doch bloß einem zynischen Genre-Reißer beizuwohnen, tatsächlich aber ist dieser beinharte Hochgeschwindigkeitsfilm ein ausnehmend kluger, mitreißender ebenso wie nachdenklich stimmender Vertreter seiner Zunft. Mich zum Beispiel brachte er ins Grübeln darüber, wie die meisten – und da schließe ich mich selbst keineswegs aus - sich mit einem doch zumindest teilweise unfreien Dasein einfach arrangiert haben. Zu wenig Geld für zu viel Arbeit und am Ende des Monats reicht es gerade einmal für die Miete, Essen, hin und wieder vielleich für etwas darüber hinaus – wenn überhaupt. Und selbst jene, die ein bisschen mehr verdienen (irgendwelche Bonzen außen vor), dürften mitunter kaum Gelegenheit finden, sich daran zu erfreuen. Ein paar einstige Kommilitonen von mir sind beispielsweise in Großkanzleien gelandet, verbringen bis zu über 12 Stunden täglich auf Achse bzw. vor allem im Büro – wofür? Entschädigt finanzieller Wohlstand wirklich für all die verpasste Zeit?

                                          Nun sehe ich diesen ausbrechenden Sträfling Manny. Er reibt seinen Körper mit stinkendem Fett ein, watet durch die Kanalisation, schwimmt bei Eiseskälte im American River, trotzt einem fahrenden Zug genau wie dem Gefängsnisdirektor; wenn es sein muss, mit Fäusten. Nicht einmal seine kaputte Hand vermag ihn aufzuhalten. Und das "nur", um frei zu sein - eben so frei, wie ein entflohener Gewaltverbrecher nun einmal sein kann... also nicht besonders. Empathische Regungen für andere scheint Manny lange abgelegt zu haben, Hoffnungen in die Zukunft sowieso. Doch was erwartet man von jemandem, der zahlreiche Jahre in Einzelhaft zubrachte, buchstäblich in Ketten gelegt? Zwar lässt der Film offen, inwieweit diese Figur vielleicht schon immer ein "Tier" war, die unmenschlichen Bedingungen im Knast hingegen haben ganz gewiss keine positive Entwicklung in Gang gesetzt.
                                          Aber nicht bloß aus Mannys Augen, auch aus seinen Taten spricht der unbedingte Wille. So sehr, dass ich mich frage: Wer von uns kann eigentlich behaupten, jemals für etwas richtig gekämpft zu haben? Geschweigedenn für etwas, das im Grunde unerreichbar ist? Manny weiß: Eine normale oder gar sorgenfreie Existenz bleibt gerade für ihn auf ewig reine Illusion, doch wenn schon sterben, dann überall, doch bitte nicht in einer Zelle. In Anbetracht der schicksalsschweren Situation also liegt die Vermutung nahe, aus Manny spreche in Wahrheit eine Todessehnsucht, zugleich allerdings empfand ich RUNAWAY TRAIN als lebensbejahend in der Weise, wie kompromisslos er noch mit erfrorenen Gliedern den Wert des Menschen hochhält. Die moralisch schlechtin unbewertbaren Schlussmomente leisten dann sogar das Übrige und verschaffen mir endgültig Gewissheit, hier weitaus mehr gesehen zu haben als einen 08/15-Actionfilm.

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                                            Jenny von T 24.10.2016, 15:39 Geändert 24.10.2016, 15:47

                                            Ein Hype-Train, dem ich nur ratlos hinterher schauen kann, nachdem er flackernd und mit vollem Bass an mir vorbei gebraust ist. Ja, bei dem NACHTMAHR haben wir es mit einem deutschen Film zu tun, der mal nicht aussieht (und sich auch nicht so anfühlt) wie ein beliebiger Tatort oder sonstige TV-Klamotten. Aber ist das bereits Anlass genug, in hemmungslose Euphorie zu verfallen? Für mich leider nicht.

                                            Akiz bezeichnet David Lynch explizit als eines seiner prägendsten Vorbilder und das merkt man, denn auf sehr ähnliche Weise versucht der Regisseur hier, seine Protagonistin in eine düstere Möbiusschleife zu manövrieren, welche er erst ganz am Ende schließt. Der Zuschauer soll miträtseln und Hinweise auf den wahren Verbleib von Tina zwischen Tod und Traum sammeln - allein ist mir deren Schicksal ziemlich egal, was ich unter anderem auf eine schwache Charakterzeichnung in Kombination mit dürftigem Schauspiel zurückführe, das streckenweise an Bauerntheater grenzt. Beinahe dankbar ist man gar für so manchen Dialog, der Akiz' audiovisuellen Lärm komplett zum Opfer fiel und einzig durch Untertitel gerettet werden kann.
                                            Die permanente Reizüberflutung bescherte mir allerdings gerade keine bewusstseinserweiternde Erfahrung, sondern hielt mich - im Gegenteil - von einem Abtauchen fern (jetzt weiß ich wieder, warum ich Discos und vergleichbare Lokalitäten meide wie der Teufel das Weihwasser...). So wird hinter dem ganzen Bühnennebel aus der Maschine schließlich sichtbar, dass Akiz seine Hauptfigur nach Strich und Faden aufs Langweiligste durchpsychologisiert, was in "mysteriösen" Zeichnungen gipfelt, die unbedingt gedeutet werden wollen. Das figurenlose Schachbrett finde ich dabei genauso grobschlächtig wie das Hauptmotiv: Ein leibhaftiger Dämon, welcher in Wahrheit natürlich – wer hätte es gedacht? - Tina selbst ist. Elterliche Konflikte, Angst vor einer Abfuhr durch den Schwarm sowie ein allgemeines Unverstandenfühlen in einer Welt, die sich mehr und mehr als absurd-endlose Einbahnstraße ohne Verkehrszeichen zu erkennen gibt – inszeniert als BRAVO Foto-Lovestory auf Ecstasy.
                                            Eigentlich begrüße ich es, wenn Filme mir etwas zum Tüfteln an die Hand geben, aber hier ist ja bereits alles eindeutig (bzw. irrelevant) und nichts wirklich sinnlich... abgesehen vielleicht von gelegentlichen Kopfschmerzen, die DER NACHTMAHR bei mir hervorrief.

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                                              Laut einer BBC-Umfrage ist es MULHOLLAND DRIVE. Der bisher beste Film dieses 16 Jahre jungen Jahrhunderts. Gestern wollte ich meiner Erinnerung auf den Zahn fühlen und kann am Tag darauf mit neuer Gewissheit sagen: Zwar sollte Kunst eigentlich kein Wettbewerb sein, aber der Mensch erstellt nun einmal gerne Listen und die Wahl geht in Ordnung.

                                              [Spoiler]

                                              Kino, Ort der Verführung. Über mehr als zwei Drittel der Laufzeit tischt David Lynch uns eine zutiefst anrührende Romanze zweier Frauen auf, die gemeinsam einem Geheimnis auf die Spur kommen möchten. Die vorsichtige, allerdings umso intensivere Chemie zwischen den beiden zu beschreiben, wäre ein heilloses Unterfangen. Mich brachte vor dem Bildschirm schon so manches zum Weinen, aber noch keine Sexszene. Es ist ein bisschen so, als würden Sterne vom Himmel fallen. Danke, MD.
                                              Dann jedoch stürzt ein ganzes Schauder-Paradies in wenigen Minuten ein. Denn das düsterschöne Wunder entpuppt sich als entweder reines Märchen oder – der Zuschauer mag selbst entscheiden - lediglich Teil der Wahrheit, und somit gleichsam als Lüge. Die Krux dabei: Man kann dem Film also kaum zu Füßen liegen ohne auch besagte Lüge mit Genuss zu schlucken. Ja, vielleicht bettelt man sogar um mehr davon. Selbstverständlich hat der Regisseur dies bereits verhandelt - Rebekah Del Rio singt "Llorando" nur Playback, das anwesende Publikum wird darüber vorab informiert. Spätestens, als die Sängerin mitten auf der Bühne zusammenbricht, die Musik hingegen weiterläuft, lässt es sich gar nicht mehr leugnen. Trotzdem herrscht Ergriffenheit im Saal, vor allem bei Betty und Rita. Nicht zu vergessen der Cowboy, der einer Toten befiehlt, wieder aufzustehen. Verführung ist Betrug, den man genießt – und Tränen sind echt.

                                              Imposant, wie hier außerdem das Schicksalhafte erfahrbar gemacht wird. Schließlich erfolgt mit der späten Wendung ein buchstäblicher Rollentausch. Zuerst erleidet die Brünette einen Autounfall und verliert ihr Gedächtnis, der 2. Teil des Films zeigt sie sodann als Filmstar. Die blonde Frau hingegen absolviert eingangs ein (mutmaßlich) erfolgreiches Vorsprechen, bevor sie am Ende an Demütigungen und Liebesentzug zugrunde geht. Das eine scheint bei wertender Betrachtung nicht weniger plausibel als das andere, man hört praktisch einen Schmetterling die Flügel spannen. Auch, wenn MULHOLLAND DRIVE insbesondere das scheinheilige Hollywood zur Rechenschaft zieht (gewissermaßen ist dort letztlich jeder ein tragischer Verlierer), reichen die Gedanken weit darüber hinaus direkt in unsere Wohnzimmer. Was, wenn Betty am Set eben nicht vor Adam die Flucht ergriffen hätte?

                                              Der Film macht mit mir, was er will. Quälend langsam fährt die Kamera durch den Hinterhof des Winkie's. Obwohl man die ominöse Gestalt bereits kennen lernen durfte, kaut man schon wieder nervös Fingernägel (die vermutlich einzige Bewegung, die man in dem Moment zustande bringt). Dieses Mal pausierte ich übrigens todesmutig die Aufnahme und stellte fest, dass dieses "Monster" ziemlich traurig-friedvolle Augen hat und vielleicht bloß deshalb so viel Schrecken verbreitet, weil es erstens eben sehr schmutzig ist und zweitens niemand wagt, näher hinzuschauen. Am Schluss gehört ihm jedenfalls die blaue Box und irgendetwas sagt mir, dass hier David Lynch, der Humanist, am Steuer sitzt.

                                              Was ist real, was ist möglich? Die Fahrt auf der Straße der Finsternis schüttelt mich gewaltig durcheinander, aber vielleicht liegt genau darin eine Aufgabe des Kinos: Die Abgründe benennen und erst durch deren Akzeptanz Unverstelltes, Grenzenloses, Menschliches schaffen. Mich Dinge verstehen lassen, die ich nicht verstehe. Danke, MD.

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                                              • 9 .5
                                                Jenny von T 06.10.2016, 15:28 Geändert 06.10.2016, 16:17

                                                Viele erheiternde, einsichtsreiche Stunden habe ich mit der Familie Soprano zugebracht und tue es noch immer. Vor der allerletzten Folge (gestern begann ich mit Staffel 6) habe ich sogar ein wenig Angst. Sie ähnelt jener Sorte Angst, die man auch vor einem unausweichlichen Abschied von guten Freunden spürt. Zugleich freue ich mich schon jetzt darauf, die (Mutter aller) Serie(n) in 5, 10, 15 Jahren wiederzuentdecken (die DVD-Box erhielt vorzeitig einen zentralen Ehrenplatz in meinem Regal).
                                                Von einem bestimmten Dilemma komme ich dabei nicht los: Wie weit "darf" das Publikum mit einem Verbrecher, Choleriker, Gauner, Mörder – ja, nennen wir das Kind ruhig beim Namen – sympathisieren? Gewiss kannte das Kino diese brisante Frage lange vor der Jahrtausendwende, doch hier ist es nicht ganz dasselbe. Denn etwas Wesentliches unterscheidet Anthony Soprano von vielen seiner filmischen Mafioso-Kollegen wie beispielsweise Tony Montana: Er verschwindet nicht hinter einem überlebensgroßen Mythos. Morgens schlurft er, in Bademantel und Shorts, gemächlich zum Briefkasten, der 2. Gang führt stets zum Kühlschrank. Ihn plagen Magenverstimmungen, Ohnmachtsanfälle, Mutterkomplexe, Verlust- und Versagensängste (das meiste seit der Kindheit). Seine schwere Atmung bereitet mitunter Sorgen. Das Klischee besagt: Männer reagieren auf ungelöste Konflikte mit Aggression, Frauen mit Depression. Soprano, mit gelegentlichem Hang zur Selbstzerstörung, wird gebrandmarkt von beidem zugleich. Sein Herz ist zugestopft, der Körper ebenso. Er ist der Typ, der dich erst krankenhausreif schlägt, um dann freiwillig für die Behandlungskosten aufzukommen.

                                                Ausladende Posen hat die Serie nicht nötig. Die Bandenmitglieder um den Skipper tragen ihre Goldkettchen am Billard-Tisch zu ziemlich hässlichen Jogging-Anzügen. Und wenn Christopher Moltisanti Frauen verprügelt oder – offenbar ohne eine Spur emotionaler Regung – Leichen für deren spätere "Entsorgung" zerstückelt, ist das vieles, aber sicher nicht cool. Knallhart entlarvt das Team um Gründer David Chase außerdem mehrmals die eigentliche Auge um Auge- Menschenfeindlichkeit hinter dem Mafia-"Ehrenkodex". Man kann den Autoren somit wahrlich nicht vorwerfen, sie würden ihre kriminellen, doppelmoralischen Protagonisten mit Samthandschuhen anpacken... trotzdem hat man keine Wahl als sich vollumfänglich auf diese bekloppte Bande mitsamt ihren widerlichen Machenschaften einzulassen. Der Humor mag insoweit manches auflösen – vielleicht deshalb, weil Lachen manchmal als vielleicht einziges Mittel zur Verarbeitung verbleibt.

                                                Der Chef muss unantastbar sein, aber "Tone" erweist sich als das krasse Gegenteil. Oft genug ist er ein Häufchen Elend, das sich hinter einer Maske aus hässlicher Egomanie verschanzt. Das maskuline Gesellschafts-Ideal bröckelt dahin wie ein altes Stück Lebkuchen. Vor allem Sopranos Psychiaterin Jennifer Melfi kann davon ein Lied singen. Ihre Situation finde ich irgendwie symptomatisch für die des Zuschauers: Eine verwirrende Faszination kettet sie an den charismatischen Patient, eine Handfläche Abstand jedoch zwingt sie sich einzuhalten.
                                                Ja, auch ich bin James Gandolfini erlegen. Jegliche Eitelkeiten streifte er - soweit überhaupt vorhanden - für die Rolle ab wie ein Kleidungsstück vor dem Zu Bett gehen. Kein Wunder, dass seine Leistung auf massig Gegenliebe trifft. Dank ihm ist Tony Soprano ein mürrischer kleiner Junge, der einfach ein paar Haare verloren hat. In ausgewählten Momenten spricht aus ihm der Schalk wie aus den Augen eines Lausbuben und kriegt er mal nicht, was er will (Frauen eingeschlossen), geht er eben an die Decke. Was ihm an Vernunft, Einsicht und Besonnenheit fehlt, macht er durch Bauernschläue wett. Umarmt er dich, verschwindet dein gesamter Nacken für eine Sekunde unter seinen fleischigen Fingern. The strong, silent type.

                                                Nun stehe ich glückselig-wehmütig bei Episode 69. 18 weitere liegen vor mir, was mehr klingt als es ist. Bye bye, Tone... du bist der Beste.

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                                                  Jenny von T 27.09.2016, 13:09 Geändert 27.09.2016, 16:43

                                                  Dem todkranken Louis bleibt nicht mehr lange. Nicht zum Leben und noch weniger, um die eigene Familie nach 12 Jahren Abwesenheit über seinen Zustand zu unterrichten. Genauer gesagt ein einziger Nachmittag. Die verlorene Zeit aufholen oder die noch übrige verkünden, mutmaßte bereits der internationale Trailer lyrisch über das Unmögliche.
                                                  Wer die Hochgenuss-Montagen von Xavier Dolan liebt, kommt bei JUSTE LA FIN DU MONDE nur eingeschränkt auf seine Kosten. Vorwiegend nämlich hält der Regie-Jungstar seinem Kammerspiel die Treue und sich selbst mit audiovisuellen Ausbrüchen zurück. In MOMMY durften wir, zu Ludovico Einaudi, teilnehmen an den Träumen einer Mutter - dieses Mal sind es Erinnerungen eines Sohnes, der in die Zukunft zu träumen nicht mehr wagt.
                                                  Aber was für Eindrücke hier losbrechen: Zu "Dragostea Din Tae" inszeniert Dolan sprudelartig einen Ausflug ins Grüne, der Himmel und eine karierte Picknick-Decke werden eins. Plötzlich ist erwähntes Europop-Verbrechen aus den frühen 00'er Jahren von einer süßen Nostalgie durchwoben, womit der Kanadier seinen Status als mein liebster DJ quasi im Vorbeigehen festigt. Ein späterer, kaum minder aufwühlender Rückblick gilt dann Louis' Jugendliebe, entgegen den Bildern sehr viel nachwirkender als der in Sekunden schwindende Händeabdruck auf einer beschlagenen Fensterscheibe. Ja, manche Kritiker schimpfen das abfällig Überwältigungskino und natürlich ist der Effekt kalkuliert (andererseits: Was wäre Kunst ohne Effekt?). Doch was, wenn ich davon tatsächlich überwältigt bin? Es ist Dolans persönliche Note, die ebenso in dieses Bühnenstück einfließt, wenngleich es nicht originiär aus seiner Feder stammt. In die Sinnlichkeit, die er auf der Leinwand (erneut) entfacht, möchte ich hineinfallen wie ein Regentropfen in einen dichten, dicken Teppichflor.

                                                  Allerdings leidet JUSTE LA FIN DU MONDE daneben unter einigen Makeln, die meine Euphorie ein bisschen bremsen. Ich halte es für Dolans bis dato konventionellstes Werk, was bei den recht mutlosen Casting-Entscheidungen beginnt. Vincent Cassel als brodelnder Vulkan nutzt sich für meine Begriffe langsam ab, auch die anderen Darsteller sorgen nicht unbedingt für Überraschungen – am Ehesten noch Nathalie Baye, die die Mutter herrlich überkandidelt, Fingernägel föhnend, aber eben nicht *zu* exzentrisch verkörpert. Sie lässt Raum für Geheimnisse, wogegen Antoines Freundin Catherine (Marion Cotillard) den Zuschauer mit ihrer strapaziösen Unsicherheit bisweilen vor eine echte Nervenprobe stellt. Für Schwester Suzanne hat Louis sich derweil in einen Mythos transzendiert, traurig zählte sie seine lieblosen Postkarten aus der Ferne an die Familie. Irgendwie recht evident, eventuell sogar banal? JUSTE LA FIN DU MONDE ist kein Film der Charakter-Offenbarungen. Bevor die Dialoge überhaupt ans Eingemachte gehen könnten, hat regelmäßig schon jemand die Runde wegen einer Nichtigkeit verlassen (zumeist Bruder Antoine, weil er zum Beispiel O-Zone nicht mag), die somit zugleich eine Grenze der Eskalation absteckt. Das frustriert mitunter, führt leicht zu Irritationen und ließ auch mich zum Ende hin relativ unbeteiligt zurück, Cassels blutunterlaufene Augen in allen Ehren.

                                                  Man möchte Louis nicht vorwerfen, dass aus ihm ein erfolgreicher Autor geworden ist. Gleichwohl leiden die Beteiligten unter jener Entfremdung, die deshalb (bzw. aufgrund seines Fehlens) eintrat. Um dies zu vermitteln, grast Dolan unentwegt die Gesichter seiner Akteure ab, findet in ihnen jedoch weniger als ich mir vorab erhofft hatte – namentlich ratlose Monotonie, wie man sie vor allem in misslungeneren Arthouse-Produktionen antrifft. In einer bestimmten Szene wiederum fragt die Mutter Louis nach dessen Meinung zu ihrem am Hals aufgetragenen Parfum, woraus schließlich eine Umarmung erblüht – es ist ein typisch zärtlicher Dolan-Moment, etwa vergleichbar mit dem "Handkuss" aus MOMMY. Hier hingegen existiert dazu leider eine Score-Untermalung, die mir vorschreibt, was ich fühlen soll (zwar nicht so penetrant wie in den schlimmsten Kitsch-Streifen, aber dennoch störend). Jene Unentschlossenheit (vielleicht auch ein Zu-Viel-Wollen) sorgt für einen entsprechend durchwachsenen Gesamteindruck und macht mich glauben, Dolan befände sich, und das grundlos, an einer Art Scheideweg. Das häusliche Szenario scheint ihn, der für mich - jetzt umso deutlicher - ein Regisseur des "Exzesses" ist, jedenfalls im doppelten Sinne einzuengen. Sollte also auch er der Kuckuck in der Uhr sein, hoffe ich demnächst auf wieder mehr Musik. Bis dahin geht die Welt nicht unter wegen einem Dolan-Film, der zur Abwechslung "nur" gut ist.

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                                                  • Jenny von T 20.09.2016, 14:46 Geändert 20.09.2016, 15:06

                                                    Wenn es wirklich so ist, dass man sich selbst belügt, indem man Werk und Künstler voneinander trennt, tun wir das wohl alle zu einem gewissen Grad.
                                                    Ingmar Bergman war während seiner Jugend glühender Hitler-Verehrer. Jean-Luc Godards Ansichten zum Judentum sind - vorsichtig ausgedrückt - ein wenig undurchsichtig. Clint Eastwood spricht auf Republikaner-Parteitagen mit einem Stuhl. Tom Cruise ist Scientology-Mitglied. Mel Gibsons Karriere überschatten diverse Ausraster. Bei Polanski steht eine Vergewaltigung im Raum, Bill Cosby wird sogar von mehreren Frauen beschuldigt. Woody Allen soll seine Adoptivtochter missbraucht haben.
                                                    Ich kenne allerdings niemanden, der all diese Stars konsequent boykottiert. Zunächst einmal muss man für sich persönlich die Frage beantworten, ab wann jemand "Dreck am Stecken" hat. Ist es gerade noch verzeihlich, wenn der Künstler als Privatmensch "nur" ein äußerst wirres Weltbild vertritt, darüber hinaus - also beispielsweise durch körperliche Gewalt - aber nicht (oder zumindest nicht erwiesen) negativ auffällt? Hier mit einer simplen Formel jedem Einzelfall in sämtlichen Details moralisch gerecht zu werden, scheint mir unmöglich.
                                                    Und ja, vielleicht belüge ich mich selbst, aber ich bin der Meinung, die breite Öffentlichkeit ist jedenfalls nicht dazu da, sich zum Richter aufzuschwingen, ohne die genaue Beweislage zu kennen. Doch was haben wir diesbezüglich an der Hand? In der Regel nur das, was die Medien berichten - jene, die sich überwiegend auf Skandale stürzen wie eine Horde Piranhas. Und zwar nicht, um neutrale Informationen ans Licht zu bringen, sondern in erster Linie, um Sachverhalte gnadenlos auszuschlachten und so nicht zuletzt auf Kosten anderer Kasse zu machen. Bevor ich mir darauf basierend ein tendenziöses Kartenhaus zusammenschustere (bzw. pauschal von woanders übernehme), halte ich mich daher lieber zurück.
                                                    Was Fälle wie Gibson betrifft, habe ich kein Problem damit, beispielsweise APOCALYPTO als handwerklich herausragendes Werk anzuerkennen und mich zugleich an einigen seiner Inhalte zu stören. Die Welt ist manchmal eben nicht eindeutig.

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