Dergestalt - Kommentare

Alle Kommentare von Dergestalt

  • 6 .5

    "Uncle Boonmee..." kann man sich wahrscheinlich am besten über seinen kulturellen Kontext nähern. Ähnlich wie die Religion des Buddhismus, die den Alltag in Thailand prägt, ist auch dieser Film von achtsamen Betrachtungen, der absoluten Aufmerksamkeit für jedes Element, geprägt.
    Zunächst zeigt sich dies im meditativ-darstellenden Erzählton des Films, der nie wertend wirkt. Dann aber auch in der Gleichstellung der verschiedensten Elemente: Familienszenen, Politik, Popkultur, Geister, Märchen... alles scheint in ein einziges ruhiges Bild gefügt. Eine Hierarchie und damit eine greifbare Deutungsmöglichkeit wird nicht gegeben. Das ist oft langatmig, da jedes (scheinbar?) unwichtige Element hier viel Raum bekommt, in einigen Einstellungen aber auch faszinierend, irritierend, wunderschön und spannend. Gerade nach den ersten 40 Minuten bekommt die "Handlung" etwas Fahrt und der Film wird zum souverän inszenierten, visuellen Experiment mit Hypnosegefahr. Für Filmliebhaber mit Ruhe im Blut sicher eine Empfehlung.

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    • Sehr schöne Liste! Mein Entspannungs- und Aussprache-Hit ist immer noch "Possession", da bleibt kein Auge trocken! :D

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        Dergestalt 09.03.2015, 12:04 Geändert 14.04.2020, 11:41

        Zunächst ist "Die Frau des Polizisten" ein bemerkenswerter Film und allen, die eine filmische Grenzerfahrung suchen, erst einmal empfohlen. Ich kenne jedenfalls keinen Film, der mich so sehr zwischen radikaler Langeweile und radikaler Verstörung hin und her geworfen hat. Durch diese harten Kontraste funktioniert der Film als schockierendes Alltagszeugnis wunderbar. Immer dann, wenn man vor hochstilisierten Alltagsbeobachtungen schon wieder dabei ist, beinahe wegzudämmern, schlägt der Film mit seiner unmittelbaren Brutalität zu und zeigt konsequent auf: Häusliche Gewalt ist unvorhersehbar, ungreifbar.
        Unmittelbarkeit ist überhaupt das Schlüsselwort für diesen Film. Nicht nur die Ereignisse scheinen in ihrer Normalität, subtilen oder auch offensiven Drastik direkt aus dem Leben entnommen, sondern auch deren Darstellung. Neben den fast dokumentarisch dargebotenen Alltagsbegebenheiten, die manchmal mehr, manchmal weniger symbolisch aufgeladen sind, zeigt der Film gerade gegenüber der Figur des Kindes immer wieder verschwimmend-warme Nahaufnahmen, die nicht selten ins Abstrakte kippen und damit kongenial die quasi vorgeburtliche Bindung des Kindes zur Familie symbolisieren. Gerade dem stehen die brutal-nüchtern dargestellten Brutalitäten scharf entgegen und greifen bis ins Unerträgliche über. Hier werden Grenzen übertreten, die zu tief wurzeln, als dass man nicht verstört werden würde. Es entsteht ein Missbrauch am Urvertrauen, der als Filmerlebnis so einschneidend wirkt, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass man am Ende unbeeindruckt bleiben wird. Ich zumindest war verstört.
        Andererseits gibt sich der Film durchweg Mühe, anstrengend zu sein. Vor allem dadurch, dass er ständig seine Kapitelenden und Kapitelanfänge in aller Ruhe ein- und ausblenden muss und so nicht nur den Erzählfluss hemmt, sondern auch die kleinsten Beobachtungen maßlos überstilisiert. Die Bezeichnung "Kapitel" kommt mir für manche kurze Beobachtungen auch wirklich grotesk vor.
        Dazu kommt das überhaupt langsame, fast aufgehobene Erzähltempo. Viele Darstellungen sind zwar intelligent, aussagekräftig und metaphorisch griffig, werden aber oft unnötig stark in die Länge gezogen oder in aller dokumentarischen Ruhe wiederholt. Hier wäre eine Vernachlässigung der Erlebnisästhetik zugunsten eines irgendwie konsumierbaren Filmerlebnisses angebracht gewesen, oder: Ich hätte gegenüber der normalen Filmfassung gerne eine "Viewer's Cut" gehabt, die ohne die ganzen ästhetischen Schmankerl und vor allem ohne die Zwischentitel vielleicht 120 Minuten gedauert hätte und die Botschaften des Films so sicher eher an den Zuschauer gebracht hätte. Mit seinen faktischen 179 Minuten bleibt der Film hingegen eine intelligente, feinfühlige, verstörende aber größtenteils auch abartig langweilige Abhandlung über ein wichtiges Thema.

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        • Dergestalt 07.03.2015, 18:04 Geändert 07.03.2015, 18:04

          Hier auch ein schöner Verdreher: "Dodgeball" -> "Voll auf die Nüsse". Das tut wahrhaftig weh. Ansonsten auch: Schöne Liste! Muss nur viel mehr!

          • Oha! Eröffnet sich da eine neue Welt radikal-surrealistischer Perlen? Ich bin gespannt! Habe von Grillet bisher nur die wirklich radikal reduzierte Geschichte "Die Jalousie..." gelesen und eben den großen kühlen "Marienbad" gesehen.

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            • (Da noch nicht eingetragen: Letzte Lösung war "Felidae") Und hier das Rätsel: Hinter einem Restaurant lauert das grauenhafte Wesen.

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                Dergestalt 06.03.2015, 17:40 Geändert 16.10.2019, 22:42

                Was für ein schöner Film! Man stelle sich vor, Lynch nähme sein düsteres Symbolkabinett und jage es auf einer Überdosis LSD durch die eigenen Eingeweide, nur um es am Ende tiefschimmernd wieder auszuscheiden. In ein solches Kabinett darf sich der Zuschauer dieses Films dann einfinden. Zwar gibt es eine grob abgesteckte Handlung, die gerade in ihren Verweisen auf eine klare Problemstellung durchaus bis zum Ende durchgehalten wird, jedoch erhält sie in diesem Schnittzirkus unendlicher Bilder so viele Risse, dass man am Ende gar nicht mehr weiß, was eigentlich passiert ist. Aber man ist glücklich - ich zumindest, denn man wird satt. An Bildern, an Klängen, an purer filmischer Physis.
                Eine schillernde Psychopathenhölle ergibt das, die in ihren Bildverweisen zwar gebrochen, aber als gebrochenes Gemälde wunderbar geschlossen wirkt. Moderne Kunst eben, aber richtig gekonnt und richtig lebendig.
                Als kleine Konturenhilfe vielleicht noch, dass ich letztlich vermute, dass der Film eine hochexpressive Darstellung von Affäre und Fehlgeburt darstellt. Längst kein hinreichendes Szenario, in seinen Verweisen im Film an einigen Stellen aber großzügig angedeutet. Wahrscheinlich aber auch nur ein weiteres Fragment im glitzernden Farbenrausch.

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                  Dergestalt 05.03.2015, 22:16 Geändert 14.04.2020, 11:35

                  Eigentlich bin ich ein großer Freund des bildgewaltigen Kinos. Suggestion ist in der Kunst nicht falsch und wenn man darüber die formulierbaren Inhalte vergisst, muss das nichts Schlechtes sein.
                  Doch was Terrence Malick, der mir schon den enorm prätentiösen "To the Wonder" vorgesetzt hatte, hier über die Leinwand gießt, ist nichts anderes als süßer, aber bei weitem zu fetter und schließlich Magenkrämpfe provozierender Honig.
                  Es ist sicherlich nicht falsch, sich dem ganz alten Theodizee-Konflikt anzunehmen. Und man muss dabei sicher keine psychologischen Spannungsfelder aufbauen, wie es Heinrich von Kleist getan hatte, aber ein bisschen mehr als ein paar grob konturierte Archetypen, unmotiviert angerissene Handlungsklischees und stereotype Hochglanzbilder dürfen es doch schon sein.
                  Dabei ist die visuelle Herangehensweise Malicks nicht einmal unattraktiv. Die fließenden Kamerabewegungen und tollen Lichtstimmungen haben mich gerade zu Beginn trotz pathosgeladener Phrasen noch mitgenommen, die kleine Zeitreise zur Entstehung der Welt hin ist zudem bildgewaltig gelungen. Und auch das Aufwachsen der Kinder, die wilde, aber auch zauberhafte Welt bekommt er wunderbar lebendig auf die Leinwand. Nur bleibt er stecken, als er sich seinem zentralen Vater-Konflikt zuwendet.
                  "Seelenlos" dürfte es treffen. Zwar suggeriert Malicks intim-dichte Kameraführung eine deutliche Annäherung an die Figuren, die auch alle gut gespielt sind, aber wirklich greifbare Konflikte, seien sie durch Dialoge, Symbole oder die Musik beschrieben, fehlen. Stattdessen bekommt man Phrasen, Kalendermetaphorik und endlos-schwere Klangteppiche serviert. Der Film schwirrt über die Oberfläche seines großen "Warums" und pumpt Stimmungen in das Ganze.
                  Karge Voice-Over-Phrasen ersetzen Auseinandersetzungen, die Charaktere hängen in dumpfer, unerklärlicher Passivität. Und als schließlich die Wut hinausbricht, die man intuitiv viel früher verspürt, verpufft sie schon wieder in sanften Selbstbekenntnissen, die nicht nur abrupt, sondern auch ziemlich willkürlich gesetzt sind. Stimmungsmildernd ergießt sich ein sanfter Reigen glänzender Bilder. Von der Urgewalt, die der Film zu Beginn heraufbeschworen hat, der Düsternis, ist plötzlich nichts mehr zu sehen.
                  "Wo bist du?", möchte ich da dem Film selbst zurufen.
                  "Hinter den Bildern verschwunden!", tönt es sanft zurück und auch ich kann mich endlich verabschieden.

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                  • Interessanter Film. Spannend auch, dass sich Kubrick von ihm inspirieren lassen hat. Musste ohne das Hintergrundwissen in der einen Zeitrafferszene mit dieser Musik einfach an "Clockwork Orange" denken.
                    Gerade was Sujet und Umsetzung angeht, hat mich der Film auch an Xavier Dolan erinnert, der ähnlich expressive Zwischenschaltungen von metaphorischen Bildern bringt. Auch "Tausendschönchen" ist ein guter Vergleich, der ist in einem ähnlichen Klima entstanden, wenngleich er aus Tschechien kommt.

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                      Dergestalt 25.02.2015, 22:36 Geändert 25.02.2015, 22:38

                      Eine psychologisch motivierte Handlung in einem Jodorowsky-Film - dass es so etwas gibt! Zwar weist "Santa Sangre" die typische Handschrift Jodorowskys keineswegs von sich, denn auch hier gibt es mystisch-surreale Bildkomplexe, die sich dem Zuschauer nicht immer erschließen dürften. Aber das Meiste, was früher jegliche Handlung zur Seite gedrängt hatte, bekommt hier einen fein motivierten Stellplatz. Große Bildexplosionen gibt es kaum mehr, ausufernde, herrlich selbstgefällige Exzesse ebensowenig. Dafür deutliche Genremerkmale (Drama, Thriller), charakterorientiere Handlungsverläufe und Psychologie, Psychologie, Psychologie.
                      Man könnte nun mutmaßen, dass dies nicht unbedingt Jodorowskys Spezialgebiet ist, denn die ganze Handlung wirkt schon sehr konstruiert bis sogar kitschig. Wären da nicht die wunderbare Musik, die schönen Bilder und diese leidenschaftlichen Szenen, wäre der Film wohl ein echter Wannabe. So aber bleibt er ein erstaunlich ehrlicher, direkter, wenn auch unbeholfener Blick auf das schwere Schicksal eines Menschen. Vielleicht gerade die Perspektive eines kleinen Jungen, der nur noch in den bunten Farben seiner verlorenen Kindheit denken will.

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                        Dergestalt 25.02.2015, 18:29 Geändert 16.10.2019, 22:30

                        Ein Film als einziges kunterbuntes Treiben, überschwänglich, wild und auch ein wenig kontrovers. Die Post-Hippie-Umsetzung des Romans "Candide" von Voltaire dürfte "Mondo Candido" gelungen sein. Ebenso wie in der Vorlage gibt es Gewalt, Perversion, schrille und sarkastische Kommentare zu Philosophie und Politik. Eben auch ganz in der Tradition des "Mondo"-Films, von demher alles sehr konsequent.
                        Die naive Liebeshandlung wird in "Mondo Candido" zum wilden Run durch Zeit und Raum. Wie bei Voltaire bleibt dabei keine der Figuren ideal. Abgesehen vom kindlichen Candid lässt sich jeder korrumpieren, sei es durch die Medien, das Militär oder auch die Religion. Nur in der radikalen Abkehr von allen zweckrationalistischen Philosophien hin zu einem positiven Nihilismus gibt es noch das Glück. Da ist der Film ganz der Hippie-Ära verpflichtet.
                        Für große Programmatiken lässt sich der Film selbst jedoch wenig Zeit. Wie beim vergleichbaren Jodorowsky erscheinen alle philosophischen Kontexte symbolträchtig codiert, statt langen Diskussionen gibt es einen surrealen Bilderreigen voller wahnwitziger Situationen. Ich jedenfalls kenne keinen Film, der in seiner Machart so sehr an "Holy Mountain" erinnert wie dieser. Vergleichbar sind auch die omnipräsente Gewalt und der Sex, wobei der Film, was mich angesichts seiner "Mondo"-Tradition überrascht hat, kaum explizit wird. Hauptsächlich geht er mit einer lockeren spöttelnden Bewegung an allem vorbei, was eigentlich Bedeutung haben sollte.

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                        • Der arme tolle "Ex Drummer", aber ich verstehe nur zu gut, warum man den Film nicht leiden kann. :D Er legts ja auch echt drauf an.

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                          • Dergestalt 24.02.2015, 00:34 Geändert 27.07.2016, 10:38

                            Gott, sieht der lieb aus! Schwer vorstellbar, dass er unter einer Maske in "Trash Humpers" mitgespielt hat.

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                              Dergestalt 24.02.2015, 00:22 Geändert 16.10.2019, 22:10

                              "Trash Humpers" ist tatsächlich absurd. Wenn das einzig verbindende Element das titelgebende Mülltonnenficken ist, muss etwas Komisches vor sich gehen. Und dieser Film ist definitiv komisch. Komisch einmal im humoristischen Sinne, da manche Szenen einfach lustig sind, komisch aber auch, da hier so gar nichts irgendeine Begründung erfährt. Insofern ist "Trash Humpers" ein absurder, wirklich sinnloser Film, der sogar die Erwartungen an einen abgedrehten Film unterlaufen dürfte. Dafür ist der Film zu sinnentleert und wahrscheinlich gerade darin wiederum abgedreht. Kurzum: Fassen lässt sich der Film nicht.
                              Ich habe wirklich keine Ahnung, was ich weiter mit ihm anstellen soll. Eine Sichtung kann ich insgesamt aber trotzdem empfehlen. Manche Bilder bleiben hängen, andere werden von der grenzenlose Leere gefressen, die diesen ewigen, radikalen Sonntagnachmittag von einem Film auszeichnet. Auch eine Kunst für sich, wenn vielleicht auch nicht im Sinne von "Können".

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                                Dergestalt 23.02.2015, 00:58 Geändert 14.04.2020, 11:35
                                über Gozu

                                Was zunächst wie ein stilsicherer Genre-Mix aus Krimi, Witz und Suspense daherkommt, wird schließlich zum irren Mindfuck, der immer mehr Absurditäten stapelt, bevor er am Ende alles niederbrennt. Ob Horror, Trash, Mystery oder Gangsterkomödie - in "Gozu" steckt alles drin und das in so wahnwitziger Verbindung, dass es einem bald schlicht unwirklich vorkommt.
                                Die Kunst des Films dürfte dabei sein, dass er seine so unterschiedlichen Zutaten wie nebenher, beiläufig, zusammenwirft, dabei mal diesen Aspekt, mal einen anderen gewichtet. Das wirkt bisweilen sehr trashig, aber irgendwie auch gekonnt. Einordnen lässt sich das Ganze jedenfalls nicht.
                                Als Freund des irren Kinos muss mir der Film schließlich gefallen, auch wenn er wirklich seine Längen hat, was vielleicht auch gerade daraus resultiert, dass er wirklich jede Fährte aufnimmt, aber so richtig keine von ihnen verfolgt. Was eigentlich nur konsequent ist: Pure Anarchie.

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                                  Dergestalt 22.02.2015, 18:02 Geändert 16.10.2019, 22:41

                                  "Visitor Q" ist sicherlich ein kranker Film. Nicht im Bezug auf das, was er darstellt, sondern wie er es darstellt. Die Folie der dysfunktionalen Familie dient hier für einen echten Spielplatz hochkontroverser Themen: Inzest, Vergewaltigung, Nekrophilie und auch einige sexuelle Fetische, die nicht selten den S/M-Bereich streifen. Das Wort "Spielplatz" wähle ich dafür bewusst, denn es ist wirklich unglaublich, wie schrill, locker und spaßig der Film mit diesen Themen verfährt. Als Betrachter schreckt man davor entweder zurück, denn das hier strapaziert jeden Humor, oder verfällt in ein Lachen, das einem selbst irgendwann pathologisch vorkommen muss. Oder aber man trifft auf eine andere, abgründige Erkenntnis: Ist die Menschenwürde lediglich Konvention und lässt sich medial einfach abschaffen, sodass man darüber bloß noch lachen kann?
                                  Obwohl ich den Film für sehr schwierig halte, macht ihn seine lockere Art doch größtenteils unterhaltsam. Vorausgesetzt natürlich, man hat eine Vorliebe für düstere Themen und kann von diesen auch abstrahieren. Dann erwartet einen ein hoch abstruser, schriller Zirkus voller kreativer Ideen, der auf merkwürdige Weise sogar inhärent Sinn ergibt. Auch wenn man das vielleicht nur ungerne zugeben möchte.
                                  Das möchte ich kurz erklären, denn es macht den Film für mich nicht nur wahnwitzig unterhaltsam, sondern auch spannend. Zunächst einmal ist die medienkritische Perspektive, die der Film eröffnet, zwar äußerst schockierend und gelungen umgesetzt, aber nicht unbedingt tiefgründig. "Mann beißt Hund" hatte das schon konsequenter behandelt. Der Film wird eher dort wirklich interessant, wo er sich bemüht, die eigentlich psychologisch unfassbaren Figuren zu zeichnen. Dafür bedient er sich einer Symbolik, die den meisten Zuschauern wohl nicht schmecken dürfte.
                                  Gerade in seinen irritierendsten Szenen fügt der Film Elemente zusammen, die vor dem Hintergrund der Charaktere einen sehr unangenehmen, aber assoziativ schlüssigen Sinn ergeben. (Etwa Milch, Puzzle, Fotografie) Da wird der Film sogar poetisch und auf eine sehr verschroben düstere Art auch schön. Diese Metaebene geht über die Medienkritik weit hinaus. Sie konfrontiert den Zuschauer mit der neuen Realität, die über die Medien hier nicht nur greifbar, sondern auch lebbar wird. Und das letztlich nicht einmal auf unglückliche Art.
                                  "Visitor Q" ist an dieser Stelle weit mehr als bloßer schwarzer Humor. Er verwandelt die ironische Distanz des Zuschauers zwar nicht unbedingt in Sympathie für das Geschehen, aber zeigt ihm mit einer gewissen Empathie doch dessen Lebbarkeit auf. Das dürfte dann endgültig krank sein. Also ihr gesunden Kinder, bitte nicht nachmachen!
                                  Abschließend noch ein kleiner Filmvergleich. Ich hatte nämlich lange überlegt, ob diesem irren Film irgendein anderer (irrer) Film nahekommt. Und tatsächlich!
                                  Oberflächlich gesehen bietet sich natürlich der ähnlich gelagerte "Dogtooth" an, von der inhaltlichen Struktur und auch der Entwicklung der Storyline, lässt sich "Visitor Q" aber eher mit dem belgischen "Ex Drummer" vergleichen. Auch hier tritt ein souveräner Außenstehender in selbstzerstörerische Verhältnisse ein. Der Verlauf ist ähnlich, wenngleich etwas expliziter in seiner Gewaltdarstellung. Für Freunde von "Visitor Q" eine echte Empfehlung.

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                                    Dergestalt 22.02.2015, 00:13 Geändert 16.10.2019, 22:33

                                    "Sweet Movie" darf sich ohne Zweifel neben den Filmen Jodoroswkys zum tief kontroversen Filmerbe der Hippie-Zeit zählen. Als die Zeit der Kommunen gekommen war, schien wohl alles zu gehen, eben auch vor der Kamera, eben auch als Kunst: Urin, Ausscheidungen, das Stillen von Erwachsenen, Fressorgien, Aufnahmen zerfallener Leichen oder schlichtweg Sex in allen Spielarten, die Pädophilie eingerechnet. Ausgenommen von letzterem ist man hier bei allem live und ohne Zensur dabei. Eigentlich eine einzige Merkwürdigkeit, dass dieser Film mit seinen radikalen Grenzüberschreitungen überhaupt existiert.
                                    "Sweet Movie" auf seine Kontroversen zu reduzieren, dürfte ihm jedoch sicher nicht gerecht werden. Dafür ist er schlicht zu bildgewaltig und abgedreht. Die zwei Handlungsstränge geben dem Film zwar eine grobe narrative Struktur, alles dazwischen bleibt aber in wirren Odysseen stecken, die allesamt im Exzess münden. Dabei wird schnell unwichtig, ob das Ganze überhaupt irgendeine Bedeutung hat. Zwar ist der anarchisch-kontroverse Zeitgeist ständig präsent, sodass der Film in seinen Grenzüberschreitungen auch stets politisch aufgeladen ist, eine tiefere Interpretationsebene ist im Gewirr der Stimmen, Bilder und Sentenzen aber nur schwer auszumachen. Doch neben so grandiosen Bilder braucht es das auch nicht. Eine Live-Gynäkologie, ein goldener Penis, eine begehbare Milchflasche, ein Marxboot oder sadistischer Sex im Zuckerbad. Der Film hat alles, was man zum surrealen Vergnügen braucht und dürfte selbst die ganz abgebrühten Experimentalfilmer hinter dem Ofen hervorlocken.

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                                      Dergestalt 21.02.2015, 15:17 Geändert 14.04.2020, 11:37

                                      Tim Burton meets "Eraserhead". Das Szenario ist zunächst durchaus greifbar und passt gut in Burtons Sicht der Dinge: Kleiner musisch begabter Junge vs. grotesk-böse Erwachsenenwelt. Durch eigene Schöpfungskraft gelingt es ihm eine liebevolle Gegenfigur zur dunklen Wirklichkeit zu schaffen. Was allen burtonesken Anteilen jedoch vollkommen entgegensteht, ist die wiederum lyncheske Unheimlichkeit, die hier noch dazu ins Pechschwarze geht. Die Szenarien sind wie bei "Eraserhead" düster, durch kalte Klänge untermalt und harte Schnitte gebrochen. Einige kritzelige, animierte Zeichnungen erinnern an Lynchs Experiment "Six Men Getting Sick".
                                      Lynch macht es einem nicht leicht, innerhalb dieses expressiven Pechklumpens so etwas wie Hoffnung für den kleinen Jungen zu finden. Dennoch: Man spürt die Sympathien des Regisseurs zum Protagonisten, was den Film schließlich doch ein wenig heller, empathischer, und damit burtonesker werden lässt als seinen großen kalten Bruder "Eraserhead".
                                      "The Grandmother" ist enorm skurril und besitzt sicher seine irritierenden bis verstörenden Elemente. Die 30 Minuten vergehen dabei wie im Fluge, da Lynch sehr ausdrucksstarke Bilder wählt, die zwar merkwürdig bleiben, in ihrer Suggestion aber nie willkürlich oder deplatziert wirken. Wenn etwa die aufgehende hoffnungsstiftende Sonne zum Bettnässerfleck und damit zur Verzweiflung des Jungen wird, ist das nicht nur visuell kühn, sondern auch voller spannender Implikationen.
                                      Der Film ist also sicher weit mehr als ein kleines Spielchen zu Beginn von Lynchs Karriere, eher ein Werk, das sich hinter "Eraserhead" nicht zu verstecken braucht, wenngleich die ganz großen Meisterstücke Lynchs noch folgen werden.

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                                      • Sehr schöner Artikel, sehr aufschlussreich. :)
                                        "Her" fand ich großartig, "Being John Malkovich" leider nur okay, mal schauen, was die Zukunft bringt. :D

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                                          Dergestalt 17.02.2015, 10:01 Geändert 14.04.2020, 11:38

                                          Das ganze Lob für "Birdman" kann ich dort vollkommen nachvollziehen, wo es um Kamera, Schauspieler und Musik geht. Alleine der Mut Iñárritus, den Großteil des Films in einer (wahrgenommenen) Einstellung zu zeigen, ist schon bewundernswert und rechtfertigt jeden Hype. Bis jetzt kannte ich extrem lange Einstellungen lediglich aus Filmen von Gaspar Noé und selbst da waren noch deutlich mehr Schnitte drin.
                                          Aber Iñárritu ist nicht ein bloßer Formkünstler, der Noé schon eher ist: Er nutzt die lange Einstellung für ein perfekt perfides Spiel mit der Zeit- und Raumwahrnehmung. Indem er dem Zuschauer vorgaukelt, durch diese eine Einstellung immer unmittelbar dabei zu sein, wirft er kühn mit den Zeit- und Ortsebenen um sich, was schließlich in beinahe surrealen Begegnungen gipfelt. Und das Ganze bleibt nicht nur Spielerei, sondern deckt sich - wie ein Kommentator hier bereits schön herausgestellt hat - mit dem konfusen Vorbeileben der Protagonisten an der Wirklichkeit und thematisiert außerdem die Grenze zwischen Schauspiel und Realität, wie es ähnlich genial bisher nur "Inland Empire" geschafft hat.
                                          Radikale Subjektivität, filmisch kongenial eingefangen.
                                          Damit zum nächsten Punkt, den Charakteren: Die sind in ihren widersprüchlichen Haltungen und ihrer Verzweiflung nicht nur toll geschrieben, sondern auch fantastisch umgesetzt. Es würde schwerfallen, irgendeinen Schauspieler hervorzuheben, da hier wirklich alle grandios sind. Die Dialoge sind pointiert, gleichzeitig aber immer lebendig und meist auch bitterböse. Der Film entfaltet hier eine Hollywoodkritik, die mich in ihrer Schonungslosigkeit und auch eigenen Verzweiflung sehr an Cronenbergs "Maps to the Stars" erinnert. Hier nur etwas trockener und irgendwo auch liebevoller. Zumindest dem Protagonisten dürften trotz seiner Rücksichtslosigkeiten am Ende alle Sympathien zu-"fliegen".
                                          Und schließlich auch die Musik: Das assoziativ scheppernde Schlagzeug als Hauptbestandteil ist nicht bloß extrem originell, sondern versinnbildlicht das innere Chaos des Protagonisten ebenfalls kongenial. In seiner Pointiertheit dürfte dieses Element nur wenig Konkurrenz innerhalb der Filmgeschichte haben. Zum herrlich funktionalisierten Bombast-Score möchte ich dann gar nichts mehr sagen - einfach klasse.
                                          Soweit so viel Lob, der Film hat tolle Ideen und setzt sie grandios um, ohne Abstriche.
                                          Was mich allerdings von den höheren Wertungen abbringt, ist zunächst die Ziellosigkeit der Handlung. Zwar passt auch die zu den Charakteren, aber das überlange Kammerspiel bedeutet auch für mich als Zuschauer eine gewisse Geduldsprobe, da die Erwartungen an ein paar schöne Wendungen zwar durch tolle Dialoge stückweise eingelöst, aber nie wirklich erfüllt werden. Langweilig würde ich das nicht nennen, dafür lebt der Film zu sehr, jedoch fehlen schließlich ein paar wirklich spannende Einschnitte oder Bilder. Der Film ist mir fast zu homogen oder konsequent gestaltet.
                                          Gerade, wenn nun jemand einwerfen sollte, dass diese Einlösung vielleicht spät, aber mit den Szenen des echten Birdman doch genial eintrifft, muss ich leider zum zweiten Negativpunkt kommen. Die sehr subversive Art, den Zuschauer zu verwirren, verliert mit den Superheldenszenen zwar nicht sofort, dafür ist die Grenze
                                          zwischen Realität und Fiktion noch zu verwaschen, aber auf Dauer schon. Der pathetische Schluss passt schließlich überhaupt nicht zum Film. Vielmehr lässt er die ganzen hochspannenden und beinahe verwirrend komplexen Gedanken des ruhigeren Parts leider zugunsten einer runden Auflösung beiseite.
                                          Schließlich wandert der Film aber auch auf schmalem Grad. Kritik an Hollywood und dem Studiosystem etc. ist ungefähr so innovativ und subversiv wie Hollywood selbst, da muss man heute schon sehr neue Akzente setzen. Das tut Iñárritu im kammerspielartigen und auch etwas spannungsarmen Part zwar, löst diese Akzente gegen Ende allerdings wieder zugunsten typischer Medien- und Freiheitsthemen auf. Daran rütteln auch die etwas willkürlich eingefügten Assoziationen des Birdman vor Ende nicht. Wirklich schade.
                                          Aber dennoch: Dieser Film atmet eine ganz eigene, merkwürdige Rebellion. Der filmhistorische Wert von "Birdman" und das Talent Iñárritus sind offensichtlich.

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                                          • Dergestalt 16.02.2015, 10:45 Geändert 16.02.2015, 10:46

                                            Ganz schwieriger Fall. Einerseits wirkt er mir als Schauspieler (und auch Sänger) teils zu glatt, andererseits spielt er nicht nur in anspruchsvollen Filmen mit, sondern bleibt da auch noch sehr glaubhaft ("Mr. Nobody", "Requiem for a Dream"). Vielleicht, weil er diese unsicher-verstörte Miene, die er ständig draufhat, unglaublich perfektioniert hat? Kristin Steward in männlich und gut?

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                                            • Dass sie in zwei so abartig verschiedenen Filmen wie "You're Next" und "Upstream Color" mitgespielt hat, ist bemerkenswert. Dass ich beide Filme auch noch mag, ehrt sie. :D

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                                              • Wunderbar! Danke! Immer nur her mit den "weirdest"-Listen! :)

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                                                  Dergestalt 15.02.2015, 02:04 Geändert 14.04.2020, 11:38

                                                  "Tideland" hat mich tatsächlich ziemlich enttäuscht. Zu gerne hätte ich ihn in meine Liste "Kino als Wahn" aufgenommen, so sehr hatten die Erwartungen dafür gesprochen und wenn ich mir die Kommentare hier so ansehe, hätten sie auch bestätigt werden sollen.
                                                  Wurde aber nichts draus: "Tideland" ist durchaus fantasievoll, skurril, hat einige schöne Bilder und einen angenehm düsteren Touch, sonderlich aufregend ist er aber noch lange nicht.
                                                  Zunächst einmal ist der Einstieg über die Drogenfamilie von Jeliza-Rose sehr gelungen. Das ständige Rumgeseiere (Jeff Bridges ist als besessen-liebevoller Drogenpapa der bessere Dude) und die trunkenen Kamerabewegungen haben mich schon sehr an Gilliams wahnwitzigen "Fear and Loathing" erinnert. Anders als der ist das Kommende dann aber weitaus weniger raum-, zeit- oder logikfeindlich. Im Grunde bleibt es ein etwas schrulliger Fantasyfilm mit seinen bekannten Gestalten und Prämissen, der an zu vielen Stellen versucht, irre zu wirken, letztlich aber bloß wie eine Kostümshow anmutet. Zu wenig gelingt es Gilliam, die verrückten Figuren mit Konturen auszustatten, zu selten verbindet er die Einzeleindrücke miteinander zu einem fließenden Filmerlebnis.
                                                  Im Ganzen eine eher lose Angelegenheit, die eigentlich nie wirklich in die Gänge kommt, also weder eine richtige Handlung entwickelt, noch einen wirklich kreativen Ideenwirbel in Gang bringt. Damit wird der Film über weite Strecken langatmig, etwas wirklich Besonderes passiert einfach nicht - bloß das fast schon routiniert wirkende Rumgespinne von ein paar Freaks. So richtig gelangweilt ist man zwar nicht, dafür ist die Hauptdarstellerin schlicht zu gut, die Bilder insgesamt zu schön und stimmig und manche Ideen dann doch sehr interessant. Einen guten Film macht das aber noch lange nicht, dazu fehlt dem Film schlicht der Mut, seine halbherzig übergestülpte Fantasyhandlung konsequent auszubauen oder gänzlich zu zerstören.

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                                                    Dergestalt 12.02.2015, 22:51 Geändert 16.10.2019, 22:42

                                                    Zunächst einmal ist "Synecdoche, New York" erschlagend. Obwohl der Film mit seiner Laufzeit von zwei Stunden einigermaßen gezähmt scheint, ist seine inhaltliche Dichte enorm. Die wahnwitzigen Verschachtelungen, Doppelbesetzungen, Raum- und Zeitsprünge, sowie die ständig wechselnde Stimmungslage, die an all diesen Faktoren hängt, sorgen erst einmal für einen Overkill an Gedanken und Gefühlen. Kurz: Großes Kino, forderndes Kino.
                                                    Lässt man dem Film nach seinem Abspann aber etwas Zeit zu wirken, muss man unweigerlich feststellen, dass dieses Monster unfassbar schlüssig ist. Verschiedene Elemente fügen sich zwar versetzt, aber dann wieder nahtlos ineinander, merkwürdige Sentenzen treffen plötzlich den Sinn ganzer Szenen und surreale Arrangements werden zu pointierten Darstellungen (was diese wiederum umso surrealer werden lässt). Dazu kommen die durchweg lebendigen Darstellungen, die nicht selten packend sind. Vor allem der Schluss dürfte hierfür ein wunderbares Beispiel bieten. Wahnwitz trifft hier auf das pure Gefühl, beides scheint wie logisch ineinander zu greifen.
                                                    Und das dürfte die große Kunst des Films sein: Obwohl gedanklich unglaublich verschachtelt, verliert er nie den direkten Bezug zu seinen Figuren und den Gefühlen, die sie treiben. Den Film als große Introspektion, als Seelenschau, zu betrachten, liegt nahe. Damit dies aber funktioniert, muss der Hauptdarsteller, der hier eine ganze Stadt verkörpern will, viel leisten. Und Philip Seymour Hoffman zeigt sich als Idealbesetzung: Melancholisch, lakonisch, krankhaft, liebevoll - irgendwie schafft es Hoffmann, jeden Aspekt in jeder Szene glaubwürdig wiederzugeben. Sein feines understatement, seine zurückgehaltene Heftigkeit sind durchweg überzeugend und beinahe unheimlich echt. Damit schafft er eine Kontinuität, die diesem scheinbar hochfragmentierten Film die richtige Erdung gibt und ihn so niemals langweilig oder gewollt wirken lässt.

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