Dergestalt - Kommentare

Alle Kommentare von Dergestalt

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    Dergestalt 29.02.2016, 23:28 Geändert 14.04.2020, 12:06

    "Kontroll" ist auf jeden Fall und in erster Linie ein sympathischer, kreativer Film. Viel magischer Realismus in einem Setting, das fortwährend zwischen Arbeitsalltag und Mystifizierung changiert. Sind es auf der einen Seite die tagtäglichen Auseinandersetzungen der Kontrolleure mit skurrilen Fahrgästen, so sind es auf der anderen Seite die nächtlichen Begebenheiten im U-Bahn-Netz, in dem Eulen, verlorene Gänge oder merkwürdige Mörder poetisch-irreale Momente erzeugen. Die damit einhergehende Genremischung aus Komödie mit ihren sympathisch-schrulligen Charakteren, Kunstfilm in seinen irreal-verspielten Momenten und Noir-Drama (inklusive rauchigem Saxophon im Hintergrund) des verlorenen Antihelden ist zweifellos aufregend und macht neugierig.
    Gerade der Ansatz, die U-Bahn-Welt zum geschlossenen Mikrokosmos zu stilisieren und als solchen auch zu problematisieren, da er jegliche Ausflucht verbietet, ist interessant und funktioniert, da "Kontroll" voller lebendiger Charaktere und Details ist. Weit weniger funktioniert, den ganzen Mikrokosmos packend zu gestalten. Man sieht gerne zu, eintauchen kann man jedoch nur schwerlich. Dazu ist die Atmosphäre trotz düsterem Einschlag kaum dringlich, eine wirkliche Handlung ergibt sich auch nicht bzw. wird kaum vertieft. Alle klugen Ansätze des Films bleiben letztlich an der Oberfläche, sodass neben inspirierenden Momenten schließlich nur wenige Möglichkeiten zum Weiterdenken gegeben sind. Bleibt also bloß ein schöner Ausflug ohne Fahrkarte.

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    • Lustige Liste. Wobei ich die Chestbuster-Szene mit der kleinen, knuffigen Alienpuppe eher niedlich finde.

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        Dergestalt 27.02.2016, 11:45 Geändert 14.04.2020, 12:06

        Der gute alte Horrorfilm - ist ja immer wieder schön, wenn sich jemand um ihn bemüht. Hier auch gleich ein Newcomer, Rodrigo Gudiño, der mit schwebenden Kamerafahrten, Choral-Gothic-Soundtrack, schicksalsschwerem Voice-Over und ordentlich dekadentem Setdesign heftig gen Gothic-Horror dringt. Überhaupt wirkt die Thematik von Glaube und Dämonie, der Allegorisierung des Schreckens, ziemlich altmodisch, scheint in dieser Inszenierung aber kongenial umgesetzt. Gut, der Protagonist bleibt blass, der Grusel will nur vorsichtig, eigentlich gar nicht kommen, aber man freut sich doch über die hübsche Bedächtigkeit Gudiños.
        Irgendwann muss der arme Mann aber leibhaftig vom Teufel besucht worden sein. Irgendein Dämon muss das Drehbuch attackiert haben, denn was Gudiño ab der Hälfte für einen visuell und erzählerisch miesen Horror folgen lässt, spottet jedem Schauerroman. Nicht nur, dass alles ganz plötzlich und überhastet geschieht, es sieht auch noch furchtbar aus. Hatte Gudiño zuvor mit fein komponierten, schön ausgeleuchteten Bildern gearbeitet, großzügig mit allerlei symbolhaften Gegenständen versehen, zerbomt er diese jetzt mit hässlichem CGI, simplen Action- und Schockmomenten. Und da man noch hofft, er werde davon noch irgendwie abweichen, legt er einem ohne erzählerische Hinführung ein dröges Fazit vor die Nase. Ja, so einfach kann man gute Ansätze verpfuschen.

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        • Das ist definitiv ein Stück Kindheit, das da mit ihm stirbt. Die Erinnerung bleibt, klar, aber es ist trotzdem erschreckend und so traurig.

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            Dergestalt 23.02.2016, 19:48 Geändert 14.04.2020, 12:07

            Ein Film als einzig bunt schreiende Collage aus Gewalt, Sex und Macht. Stanley Kubricks Kultverfilmung des Kultbuchs von Anthony Burgess zeigt sich als visionäre Schau über den menschlichen Geist und dessen diffuse Untiefen, in denen Gewalt und Sexualität eigenartige Mischungen eingehen. Die Untaten der Droogs erscheinen immer als sexuell, gerne als phallisch, überhaupt als künstlerisch. Als Zuschauer staunt man, wippt mit und freut sich. Denn Kubricks punktgenaue und gleichzeitig überschwengliche Inszenierung ist ein einziges audiovisuelles Fest. Man sieht gerne zu, will unbedingt wissen, wie es weiter geht, ungeachtet, wie schrecklich das sein mag. "A Clockwork Orange" ist rücksichtslose, pure visuelle Lust und schon 1971 berauschender als die meisten Filme bis heute.
            Aber Kubrick verherrlicht hier keineswegs, er zeigt nur, was im Menschen ist: Schläge, sinfonische Klänge, expressive Malerei als Ausdruck lustvollen Empfindens. Wer kann denn Lust und Schmerz noch sauber voneinander trennen?
            Seine Leistung ist es, den Zuschauer all das mitempfinden zu lassen, Faszination und Identifikation mit Alex zu schaffen, nur um ihn schließlich zu verstören. Im Unbewussten zu wühlen ist befriedigend, schockiert aber auch, konfrontiert man es mit den eigenen Werten, dem Wohlergehen anderer, der Gesellschaft. Und auch die stellt Kubrick hier dar. Keineswegs jedoch als klaren Gegenüber zum sadistischen Ich - auch sie basiert letztlich auf getriebenen Individuen. Ihr Ausdruck ist Macht und Korrumption. Nur wer mitspielt, kann seinem ureigenen Egoismus vollkommenen Ausdruck verleihen. Ein äußerst pessimistischer Ausblick.

            [Dieser kurze Artikel ist ein Produkt des Podcasts "Nighttime Panel":
            https://nebendwo.wordpress.com/2016/02/23/nighttime-panel-review-a-clockwork-orange-1971/]

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              Dergestalt 19.02.2016, 12:41 Geändert 19.02.2016, 12:43
              über Pin

              "Pin" ist ein durchweg psychologischer Gruselstreifen mit skurriler Ausgangslage. Die Unbekanntheit des Films liegt jetzt nicht tragisch, da er letztlich doch ein eher brav gestaltetes Werk geworden ist. Die Gruseleffekte sind allesamt zahm geraten, erschreckt, verängstigt wird der heutige Zuschauer nie, es bleibt bei kurzen, netten Spannungsmomenten.
              Vom Horror entfernt sich dieser Film überhaupt schnell und wird vielmehr zum klug aufgezogenen Psychothriller, der einige Abgründe beschreibt, jedoch nur selten wagt, einmal tiefer hinabzublicken. In meinen Augen hätte man der Puppe da deutlich mehr unheimliche Aura abtrotzen können - aber sollte wohl nicht sein.

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                Dergestalt 18.02.2016, 20:19 Geändert 16.10.2019, 22:13

                Aha! Ich wusste gar nicht, dass es zur europäischen Film-Avantgarde zwischen Dada und Surrealismus eine asiatische Entsprechung gab. "A Page of Madness" scheint den René Clairs und Hans Richters dieser Welt unglaublich nahe. Auch hier gibt es wilde Bildfolgen, sprunghafte Assoziationen und noch dazu, hat man die richtige Version, einen atonal-noisigen Soundtrack. Das ganze schafft einen wilden Sog, der ständig versucht, die spärlich gesäte Kohärenz der Handlung zu durchbrechen.
                Man sieht zwar wiederkehrende Gesichter, erkennt plausible Reaktionsmuster, kapituliert aber immer wieder angesichts der schrillen Bildwechsel und der fehlenden Zwischentitel.
                "A Page of Madness" ist ein visuell fesselndes, wenn auch anstrengendes Experimentalfilmchen, das den Wahnsinn der hier gezeigten Anstalt unmittelbar visualisiert. Zwar ermöglichen diverse Handlungssequenzen mögliche Distanzierungen vom irren Geschehen, ergeben schließlich aber doch keinen wirklichen Sinn. Also muss man den Unsinn hier nehmen wie er ist, oder besser etwas anderes schauen.

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                • Dergestalt 18.02.2016, 18:54 Geändert 18.02.2016, 18:55

                  Wirklich ein guter, plausibler Artikel. Vergleichbar mit dem Jazz ist es wahrscheinlich auch im langsamen Kino so, dass es immer schwieriger wird, umso länger man mit einer Einstellung ausharrt. Man muss sie eben zu füllen oder zu rhythmisieren wissen, sofern nicht mit großen Bildern, eben mit viel Implikationen. Da halte ich das Bild des Schlafenden, das hier erwähnt wird, für ein gutes Beispiel - das Kinobild wird zum Spiegel tieferer, bildferner Befindlichkeiten. Ist leider nur, wie im Falle Apichatpong Weerasethakuls, oft stinklangweilig. Tarkovsky liefert hingegen großartige Bilder für lange Sequenzen, gerade die hier im Bild zitierte Sequenz aus "Der Spiegel" (oder die technisch wahnwitzige Schlusssequenz in "Das Opfer") - da konnte ich mich kaum sattsehen. Ich bin oberflächlich, ich weiß.

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                  • Andrzej Zulawski ist tot und man erfährt hier nichts davon. Das muss sich ändern!

                    Mit "Possession" hat er einen der tollsten Mindfucks geschaffen. Ein Meisterstreich zwischen Horror, Beziehungsdrama und wundervoller Kunst. Man möge ihm gedenken und sehe diesen Film!

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                      Wer braucht schon bloßen Horror, wenn er Sci-Fi hat? Was "The Signal" stimmungsmäßig aus seinem kruden Hirnwäschen-Zombie-Plot herausholt ist schon erstaunlich bis grandios. Hier hat man tatsächlich einen Film, der romantisch-sehnsuchtsvoll, apokalyptisch, brutal, psychedelisch und slapstickhaft ist, teilweise in abruptem Wechsel. Und trotzdem zerfällt er nicht - schon beeindruckend. Was allerdings auch nicht heißt, dass es nicht einige Durchhänger gibt, denn irgendwie will "The Signal" ja doch eine kohärente Geschichte erzählen, ein bisschen zum Nachdenken anregen - da passt der vehemente Originalitätsanspruch nicht immer dazwischen. Das Biest zuckt also auf seinen etwa 100 Minuten ordentlich, nimmt den Zuschauer nicht immer mit, konfrontiert und provoziert ihn aber stets - das auf jeden Fall gilt es loben.

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                        "Liquid Sky" ist der Himmel voller Drogen, ein verschwurbeltes Etwas jenseits fixer Erzählnormen und vor allem eine grell leuchtende Hymne auf das Queersein. Der unbequeme Synthiesoundtrack, die neonschrillen Bilder, die selbstsucherischen Fuck-Dialoge - all das ergibt eine ganz eigenartige Mischung, eine Art Trance-Zustand, der einen jenseits aller nachvollziehbaren Weltbezüge irgendwo zwischen "Clockwork Orange", "Hedwig and the Angry Inch" und "Enter the Void" herumeiern lässt. Das ist bisweilen anstrengend, nervig, aber immer auch faszinierend und auf seine Weise fordernd. Denn die sture Ehrlichkeit und Rücksichtslosigkeit des Films lässt auch die Trash-Ausflucht nicht gelten, entweder man konsumiert ihn vollkommen oder dreht ihn entnervt ab. "Liquid Sky" ist eine Passion, ein Plädoyer auf das Anderssein und als ein solches nicht zu übersehen.

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                          Dergestalt 14.02.2016, 16:11 Geändert 14.04.2020, 12:01

                          David Robert Mitchells Erstling hat, anders als sein großartiger Horrorfilm "It Follows", gar nichts mit Thrill, Suspense oder ähnlichem zu tun. Im Gegenteil: "The Myth of the American Sleepover" ist ein langsam treibender, nachdenklicher Film über die großen Themen des Erwachsenwerdens.
                          So sehr der Film in seiner Gangart aber von seinem Nachfolger abweicht, so nahe ist er ihm inhaltlich und stilistisch. Mitchells Schaffen zeichnet sich schon jetzt durch eine melancholische bis triste Nachsommer-Atmosphäre aus, in welcher der Abschied von Jugend und Unschuld im Fokus steht. Während zu Anfang dessen in "It Follows" der Sex steht, ist es hier zunächst die vorsichtige Liebe.
                          "The Myth of the American Sleepover" zeigt ohne Zuspitzungen ein paar Jugendliche auf ihrer Suche nach Liebe und Anerkennung. Ein sehr einfaches, schon oft bearbeitetes Thema. Unter all den Coming-Of-Age-Dramen bleibt der Film trotzdem herausragend. Mitchell gelingt es immer wieder feinfühlige Szenen zu schaffen, vorsichtige Annäherungen einzufangen, die unausgesprochen oft besonders stark wirken. Daneben stehen die Sommeratmosphäre, die leise Melancholie am Abend - beides ohne große Visualität treffend dargestellt. Ohne Endgültigkeitsanspruch zeigt der Film Eindrücke, Spannungen, leichte Entwicklungen, geht über diese aber selten hinaus. Das ist schön, empathisch, bietet viel Identifikations- und Imaginationspotential, verhallt letztlich aber auch sanft. Ein interessantes Debüt, dessen kluge Beobachtungsgabe und atmosphärische Stärke Mitchell aber erst in seinem Nachfolger zu einnehmender Kraft gestalten wird.

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                            Jaja, die bösen Kinder. Eigentlich keine Besonderheit, wenn Heranwachsende die Grenzen testen, das starre, mitunter lebensfeindliche Prinzip der Eltern spielerisch verwerfen. Was aber, wenn das Spiel immer weiter geht, die Grenzen des Kindlichen verlässt und die grundsätzliche Humanität verletzt?
                            Joël Sérias Film ist bis heute schockierend, da er die gefährliche Konfrontation von kindlicher Unschuld und kindlicher Unwilligkeit und Zerstörungslust wagt. Und dabei geht er erstaunlich weit.
                            Indem sich Séria nicht scheut, Tabuzonen wie sexualisierte Mädchenkörper, pädophile Gelüste oder den Missbrauch abhängiger Menschen und Tiere explizit darzustellen, begibt er sich weit in den Bereich fragwürdigen Filmschaffens. Statt eines bloßen, grundlosen Sadismus zweier Individuen zeigt er jedoch ein deutlich gesellschaftskritisches Bild. Die beiden Mädchen erscheinen zwar als gemein, verkörpern das Böse aber weniger, als dass sie es letztlich auslösen. Am Ende sind es doch die Erwachsenen, die gewaltgeil agieren, die Moralverletzungen der Mädchen als Vorarbeit nutzen, selbst sündhaft zu werden. Gerade die Schlussszene zeigt diesen geilen Charakter der Elterngeneration, die ihre Kinder längst nicht mehr im Blick behält. Lieber lässt sie diese alleine, durchdrehen und braucht sehr lange und heftige Gewalt, um schließlich zu verstehen.
                            Gleichzeitig frönt der Film aber auch der Ästhetisierung der Gewalt, indem er Lautréamonts abartig-schönes Werk rezitieren lässt, faszinierend obskure Rituale inszeniert oder eine morbide-kunstvolle Theaterdarbietung ungebrochen in die Totale setzt. Als eindringliches Werk urteilt er schließlich nicht, zeigt vielmehr mit bitterem Zynismus die Wirklichkeit einer gewaltätigen Welt, aber auch die Schönheit einer solchen.

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                              Dergestalt 13.02.2016, 17:51 Geändert 14.04.2020, 12:01

                              Sicher eine wunderbare Einstiegsdoku. Wer noch kaum etwas über das große Mitternachtskino und dessen Einflüsse gehört hat, kann hier auf ein echtes Schatzkästchen treffen. Überhaupt auch ein Tipp für jeden, der auf seltsames Kino steht, denn gerade das wurde in den 70ern definitiv geboten.
                              Stuart Samuels Film zeigt die einzelnen Midnight-Movies und deren faszinierende Rezeptionsgeschichte in aussagekräftigen Filmszenen und Interviews mit den jeweiligen Regisseuren (!). So bleibt der Zuschauer immer nah am Stoff und hat, wie in vielen anderen Dokus, nicht das Gefühl, etwas vorgekaut zu bekommen. Natürlich könnte man an vielen Punkten tiefer einsteigen, wesentliche Stilmotive herausarbeiten und gerade den "Mainstream"-Einfluss mit richtigen Mainstream-Filmbeispielen deutlicher aufzeigen. Aber man weiß auch so, worauf die Doku hinausmöchte und erhält alles, um mit voller Freude (wieder) an die Klassiker zu gehen. Denn der publikumsnahe Enthusiasmus der Dokumentation zieht, spätestens mit George A. Romeros sympathischem Auftritt, definitiv mit.

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                              • Dergestalt 13.02.2016, 14:21 Geändert 13.02.2016, 14:22

                                Interessant finde ich da auch "Hot Fuzz", der ab 16 freigegeben wurde und ungeachtet des Komödienpuffers derbe Splatterszenen aneinanderreiht, die alle gegen (teils unschuldige!) Menschen gehen.

                                Ansonsten kann man sich über all die prä-90er-Filme lustig machen, welche die FSK damals indiziert hat und seitdem nicht mehr neu geprüft hat.

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                                • Ich schließe mich Moritz an: "Only God Forgives" gefällt mir wegen seiner sturen Visualität, Terrence Malick nervt mich mit seiner sturen Visualität. Man kommt in beiden Fällen wohl nicht weit, legt man Erzählkino-Maßstäbe an.

                                  Ah, und noch was: "Only God Forgives" ist mein liebster Refn-Film.

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                                  • Wenn ich das hier so lese, scheint sich das Urteil, die Serie bringe nur noch Beziehungsscheiß, zu bestätigen.

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                                      Dergestalt 11.02.2016, 21:29 Geändert 14.04.2020, 12:02

                                      Die tragisch-groteske Erzählung "Die Verwandlung" gehört längst zur Weltliteratur und ist überdies eins von Franz Kafkas bekanntesten Werken. Darüber hinaus besitzt es ikonischen Status. Der Käfer ist Zeichen enormer, kafkatypischer Entfremdung, der sowohl monströse Macht als auch tragische Isolation zukommen. Indem Kafka den zuvor unscheinbaren Angestellten Gregor Samsa in eine solche Form setzt, stellt er einen harten Kontrast zwischen blassem modernen Menschen und grundsätzlich ekelhaftem Tier her. Als Käfer kann sich Samsa sozial nicht mehr einfügen, er wird zum unübersehbaren, missverstandenen Ungetüm.
                                      Jan Němecs TV-Umsetzung versucht diese tragische Isolationserfahrung ebenso unmittelbar wie Kafka einzufangen. Mithilfe einer subjektiven Kamera wird der Zuschauer selbst in den abstoßenden Körper Gregors gesetzt, darf ebenso hilflos wie er die schockierten Reaktionen seiner Umwelt erfahren. Eine Selbstbeschau gibt es nicht, keine Möglichkeit, das Unheil greif- und somit irgendwie verhandelbar zu machen. Der Schrecken ist hier kafkatypisch unfassbar und damit total.
                                      Neben diese subjektive Kamera stellt Němec freie Einstellungen, die zwischen den menschlichen Charakteren in Gregors Umwelt wechseln. Bereits rein visuell entsteht so ein großer Kontrast. Verbindend ist hingegen die gemeinsame Umgebung. Der Großteil des Films spielt in einer engen, farblosen Wohnung, womit nicht nur die Isolation Gregors, sondern auch die seiner Familie deutlich wird. Wie gesagt, das Grauen bei Kafka ist total.
                                      Wenige Mittel werden hier also sinnvoll angewandt und auch die Schauspieler sind solide bis gut. Die geringe Länge des Films lässt den kleinen Spielraum nie zu eintönig wirken und bleibt so auch der prägnanten Buchvorlage treu. Durchbrochen wird die statische Atmosphäre durch die abenteuerlichen Kameraeinstellungen aus Gregors Perspektive und die ironisch-grotesken, durchaus gesellschaftskritischen Blicke auf den Mikrokosmos der Familie Samsa. Bedrückend bleibt er dennoch, dieser kongeniale Film.

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                                      • Ja! ARTE zeigt eine Dokumentation (bis 17.02 online):
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                                        • Sehr lustig, kurzweilig und auf lockere Weise subversiv. Darf man sich ansehen.

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                                          • Brauchbare Übersicht, auch wenn das meiste doch eher abgedroschen bis gewaltig over-the-top und damit ungruselig wirkt. Auf "The Witch" freue ich mich aber sehr - der Trailer verspricht großartige Bilder und ein angenehm pessimistisches Setting.

                                            Nur: Dieser beiläufig-plappernde Sprecher erinnert auf unangenehme Weise an "Media Markt" und Co. Muss nicht sein, ist weder witzig noch sympathisch.

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                                              Dergestalt 28.01.2016, 23:41 Geändert 16.10.2019, 22:06

                                              War "El Topo" noch Jodorowskys Genre-Sprungbrett in den Surrealismus, teils eher noch Bewegung als Erfüllung, ist "Holy Mountain" nun die absolute Inkarnation seiner Utopie aus Mystik, Wahnwitz und satirischer Groteske. Für alles andere, was den üblichen Erzählfilm auszeichnet, lässt er wenig Raum. Die Bildassoziationen explodieren an vielen Stellen, die Handlung scheint oft auf ein bloßes Hilfskonstrukt heruntergebrochen. Überhaupt, das macht Jodorosky klar, ist das Ziel eben nicht das Ziel, vielmehr der Weg dorthin, die Mittel, die man nutzt. Entsprechend verselbstständigt sich der Film an vielen Punkten - oft bleibt nur pure Ratlosigkeit, wenn nicht der WTF-Effekt bis dahin alle Denktätigkeit weggebrannt hat.
                                              Denn Jodorowsky schafft hier einen maximal grotesken Farbspiegel fantastischer bis krank-verschrobener Bilder. Heftig wühlt er im Unterbewusstsein der Kultur, legt tiefste Triebe fest auf den Tisch, nur um sie umgehend wieder zu verzerren. In seinem Bilderrausch verliert er das Gespür für hochkonzentrierte Satire jedoch nie. Wenig überraschend für seine Entstehungszeit, geht es auch hier gegen Massenkonsum, Industrialisierungszwänge (bis hin zur totalitären Vernichtungsindustrie), Bigotterie und Vergnügungswahn. Die hier (zunächst!) angestrebte Selbstsuche zeigt sich da als radikal-unerbittliches Gegenbild.
                                              Bringt man als Zuschauer nicht die nötige Lockerheit mit, kann diese hochpenetrante Werbung für das Asketische dabei schon ins Ärgerliche gehen. Lässt man sich aber mitreißen vom gewitzten Surrealismus, der sonst vorherrscht, kann man schließlich auch darüber lachen. Über den übertriebenen Ernst, die vielen simplen Sentenzen, die den grotesken Bildern oft irritierend entgegenstehen. Am besten funktioniert "Holy Mountain" überhaupt als Rauschkino, das seine subversive Schlagkraft gerade ohne Verstandestätigkeit entfacht. Dann hagelt es Surrealismus unvermindert wie beim frühen Buñuel/Dalí und man ist als Fan irren Kinos einfach nur glücklich.

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                                                Dergestalt 28.01.2016, 14:37 Geändert 14.04.2020, 12:02

                                                [LEICHTE SPOILERGEFAHR]

                                                Charlie Kaufman ist wieder da. Grenzenlose Melancholie, milder Zynismus, aber auch sanfte Naivität. Wie in seinem großartig vielsinnigen Regiedebüt "Synecdoche New York" setzt er auch hier auf eindrückliche Verfremdungseffekte, um den üblen Seelenzustand seines Protagonisten zu veräußerlichen. Zerfallende Gesichter, ewiggleiche Stimmen, Missverständnisse, entfremdende Skurrilität. "Anomalisa" ist zwar der nähere, kleinere, sicher auch sanftere Film, bedient sich mit seinem Meta-Zugang aber ganz beim großen Bruder und schafft ein ähnlich skurril-realistisches Zeugnis, das damals Philip Seymour Hoffman so großartig verkörperte.
                                                Hauptcharakter Michael Stone liegt diesem auch gar nicht so fern. Auch er treibt in seiner äußeren und inneren Ziellosigkeit umher. Lange Hotelflure, groteske Bürokratie, ergebnislose Griffe nach Nähe, ohne innerlich spürbaren Zusammenhang. Wie beim tief wesensverwandten Bob Harris ("Lost in Translation") braucht es eine frische, zweifelnd-offenherzige Stimme, die ihm wieder einen Fokus, Licht schenkt.
                                                Auf beinahe schicksalhafte Weise tritt Lisa auf und Michael ist sofort verzaubert. Ganz egal, dass Lisa mit ihrer mitleidig-quassligen Selbstinszenierung zunächst weniger Akzente als akustische Overkills setzt, Michael kommt sie gerade im richtigen Augenblick.
                                                Da mag man sich als Zuschauer die Augen reiben, denn so unverstellt, fast kindlich hätte man Kaufman zunächst nicht eingeschätzt. Dem vielsinnigen Formalen stellt er eine sehr einfache Liebesgeschichte entgegen, die zunächst so hölzern-realistisch ist, dass man den Grund des Films (LIEBE) sofort zu verstehen meint. Sogar ein bisschen pathetisches "Us Against the World" klingt dabei an. Aber Kaufman kennt die Unsicherheit fester Böden, oder die Nichtigkeit fixer "Lektionen". Das dunkle Innere lässt sich durch das neue Licht nicht hollywoodesk-magisch erhellen, allerhöchstens verblenden. Alles geht doch zu schnell, zu hart, wenn man innerlich noch im langsam Schwermütigen hängt. Den Zweifel kann man nicht lassen und niemand kann ihn einem nehmen. Kaufman kennt das Depressive.
                                                Das ist hart und direkt, gleichzeitig aber auch mit milder Nachsicht eingefangen. Denn schließlich ist es hier doch so simpel: Die Liebe eines Augenblicks zählt. Mehr kann man vielleicht auch nicht sagen.

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                                                  Dergestalt 21.01.2016, 23:40 Geändert 16.10.2019, 22:32
                                                  über El Topo

                                                  Über den historischen Wert von "El Topo" muss nicht mehr gesprochen werden. Über dessen inhaltlich-formale Vielschichtigkeit kann man aber unmöglich schweigen. Denn Jodorowskys Acid-Western schreit dem Zuschauer in seiner Verquertheit, Plakativität, aber auch kontextloser Brutalität entgegen, zwingt diesen, irgendeine Haltung zu entwickeln, denn beiseite kann man diesen lebendigen Film kaum lassen.
                                                  Zwischen Westernposen, comichafter Groteske und Spiritualität versucht "El Topo" elementaren Fragen nicht nur inhaltlich, sondern auch formal zu entsprechen. Und das ist neu, schwierig, lässt Leute diesen Film gerne voreilig als Schwachsinn oder kombinatorisches Kunststückchen abtun. Jedoch ist er das sicher nicht. "El Topo" ist in seinen Verweisen nicht nur sehr deutlich und konsequent, sondern fügt auch seine vielen surreal-unerklärlichen Schübe in ein solches Verweissystem. Das Undenkbare wird in einem neuen System greifbar, fühlbar, wenn auch nie richtig denkbar. Aber gerade dieser feine, ewige Abstand zwischen Zuschauer und Film macht "El Topo" dann doch so interessant.
                                                  Protagonist El Topo ist weit mehr als ein Westernheld. Jodorowsky bedient sich beim Westerngenre, gern spielerisch bis ins Groteske verzogen, wie die Banditenszenen zu Anfang beweisen. Er verwirft es aber auch wieder, wenn klar wird, dass man dem Spirituellen mit Waffengewalt und noch so großen Kampffähigkeiten nicht nahekommen kann. Schließlich ist es vielmehr eine Art der Humanität, die auf die ureigenen, positiv-schaffenden Fähigkeiten zurückgeht. El Topo ist qua Name der geborene Gräber, so kann er für andere ein besseres Leben erstreben statt es bloß zu nehmen. Gleichzeitig macht er sich so auch verletzlich, darin liegt die Tragik seiner Geschichte. Der einsam-harte Westernheld zeigt sich bei Jodorowsky als zu einfache Figur. Wie in seinem opus magnum "The Holy Mountain" muss es am Ende zum Bruch mit dem Bekannten oder Vermeintlichen kommen, um tiefere Sinnschichten freizulegen. Am Ende muss die schöne Westernwelt untergehen.
                                                  "El Topo" ist sicher kein einfacher, aber dennoch lohnenswerter Film. Gerade in seiner ersten Hälfte bietet er fantastische Bilder, großartige Farbkontraste und wahnwitzige Begegnungen. Die zweite Hälfte fällt dagegen geordneter, psychologischer und klar gesellschaftskritisch aus. Die Beschäftigung mit Menschlichkeit und Verantwortung lässt hier leider auch weniger Platz für das Irreale. Mehr Radikalität hätte mir da gefallen, aber auch die schenkt Jodorowsky dem Zuschauer nicht einfach.

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                                                    Dergestalt 19.01.2016, 00:06 Geändert 14.04.2020, 12:03

                                                    Iñárritu ist für narrativ-spannendes Kino bekannt. In seinen ersten drei Filmen ging er episodisch vor, ent- und verrätselte verschiedene Begegnungen gekonnt auf poetische Weise. Nach dem erzählerisch vergleichsweise geerdeten "Biutiful" folgten die umso radikaleren "Birdman" und "The Revenant". Beide Filme kommen der zeitgenössischen Tendenz zum unmittelbaren Erfahrungskino ("Victoria", "Es ist schwer ein Gott zu sein", "Love Exposure", Nicolas Winding Refn, Gaspar Noé) nach und stellen sich so bewusst gegen jede konturierte Zuschauerführung. War "Birdman" dabei der hochartifizielle Meta-Angriff auf das Erzählkino, so ist "The Revenant" das düster-fahle Suchen in dessen Eingeweiden.
                                                    Entsprechend radikal beginnt der Film auch. In einer langen Plansequenz wird ein Trapperlager gezeigt, die Gesichter sind nah, die Kamera umschleicht sie fast gierig, versucht, wie schon in "Es ist schwer ein Gott zu sein", den ganzen Dreck, die ganze schwermütige Atmosphäre in sich aufzunehmen. Gleichzeitig behält sie etwas schwebend-beinahe Ätherisches, welches durch die klare Luft, das feine Licht Nordamerikas noch unterstützt wird. Dann aber die Gewalt und zunehmend zersetzt sich die klare Ausgangslage zu einem wilden Taumel, der in seiner radikalen Physis deutlich gegen den Zuschauer ausschlägt, ihn mitreißt und, wie auch Hugh Glass, gen Boden presst. Großes Erfahrungskino.
                                                    Dann aber folgt die Leere mit der ein einsamer Trapper zu kämpfen hat, die schiere Verzweiflung. Das harte Gegenüber von Geist und hilfloser Physis, das hart Existentielle eines wortlosen Films. Nur fragmentarisch werden dabei Hintergründe gezeigt, nur vorsichtig werden Protagonist und Antagonist mittels Parallelmontage gegenübergestellt. Vor allem hängt der Film aber im Wald, am Leib Hughs. Was man im Duktus des Erfahrungskinos mit ihm erfährt sind vor allem Schmerz und Leere. Den einen freut es, den anderen langweilt es. Bald nämlich ist auch die radikale Physis aufgeschöpft, die Kamera beobachtet Landschaft und Protagonisten, setzt Traumbilder ein, schreitet und lauert mit ihm. Gerade auch angesichts austauschbarer Subtexte wird dies doch ernüchternd und kaum mehr eindringlich, maximal erstaunlich. Erst gegen Ende spitzt sich die Narration wieder zu, nimmt sogar etwas zu viel Dramaturgie auf, lässt den Film fast genretypisch werden, nur um schließlich doch dem Moralischen und Metaphysischen Wert zu zollen. Denn darum geht es Iñárritu doch immer wieder: Um Gerechtigkeit, Schicksal. Das wirkt am Ende sehr kahl, einfach, passend zum reduzierten Setting, aber auch nicht besonders aufregend. Vor allem stiftet es kaum zur weiteren Beschäftigung an. Man erlebt den Film, man leidet/staunt mit, man langweilt sich und man verlässt ihn wieder.

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